– Zu Harald Hartungs Gedicht „Blick in den Hof“ aus Harald Hartung: Aktennotiz meines Engels. –
HARALD HARTUNG
Blick in den Hof
Während es anfängt zu schneien
schaukelt das Mädchen im Hof
schaukelt sich tief
ins wachsende weiße Dunkel
Glück ist ein Sekundenschlaf
Ich schaue auf, die leere Schaukel
schwingt noch ein wenig nach
Hase und Hegel (1970) favorisiert Harald Hartung einen diskreten Realismus, der an einer angelsächsischen Lakonie geschult ist und eine entpathetisierende Haltung mit ironischem Understatement verbindet. Hartung ist ein Meister der poetischen Verhaltenheit; statt auf hochfahrende Stilisierungen verlässt er sich wie sein Vorbild Philip Larkin auf die „nüchterne Wahrheit“ des Verses. „Ich könnte stundenlang zusehn, wie es schneit“, hat Hartung in seinem Gedichtband Langsamer träumen (2002) geschrieben – und auch der poetische Augenblick des vorliegenden Gedichts ist so ein traumversunkener Moment, der das innige Schauen, das Betrachten des Schneefalls in eins fallen lässt mit der Aufhebung der Grenzen zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Hell und Dunkel. Zunächst sehen wir nur ein schaukelndes Kind. Die Szene entfaltet sich aber gleich zu einem Augenblick der Selbstvergessenheit, des Eintauchens in ein „wachsendes weißes Dunkel“, das die Grenze zwischen Beobachtung und Imagination aufhebt. Das „wachsende weiße Dunkel“ ist dabei nicht nur die hereinbrechende Abenddämmerung, sondern auch das vom Melancholiker registrierte Dunkel des Lebens. Es ist zugleich ein Augenblick des schmerzhaften Abschieds. Das Mädchen im Hof, erinnert vielleicht aus der Kinderzeit, ist nur für wenige Momente des imaginierten Schaukelns da, schwingt nur einen Augen-Blick lang in das „weiße Dunkel“ und zugleich hinein in das Vergessen. Die leere Schaukel, die nachschwingt – das markiert auch den Verlust des Glücks, das im „Sekundenschlaf“, der blitzhaften Traumszene, noch anwesend war.
Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2017
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