– Zu Hilde Domins Gedicht „,Ein blauer Tag‘“ aus Hilde Domin: Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf. –
HILDE DOMIN
„Ein blauer Tag“
Ein blauer Tag
Nichts Böses kann dir kommen
an einem blauen Tag.
Ein blauer Tag
die Kriegserklärung.
Die Blumen öffneten ihr Nein,
Die Vögel sangen Nein,
ein König weinte.
Niemand konnte es glauben.
Ein blauer Tag
und doch war Krieg.
Gestorben wird auch an blauen Tagen,
bei jedem Wetter.
Auch an blauen Tagen wirst du verlassen
und verläßt du,
begnadigst nicht
und wirst nicht begnadigt,
Auch an blauen Tagen
wird nichts zurückgenommen.
Niemand kann es glauben:
Auch an blauen Tagen
bricht das Herz.
Blau ist die Farbe der Dichter. Die Expressionisten haben ihre Kälte und ihre Klarheit geliebt, Benn und Bachmann haben das vergängliche Liebesglück der „Blauen Stunde“ besungen. Hilde Domin hat in ihrem langen Leben die Kehrseite scheinbar „blauer Tage“ erfahren, in ihrer Geburtsstadt Köln, wo ihr Vater, ein jüdischer Rechtsanwalt, auf der Straße verhöhnt wurde, im Exil im karibischen Santo Domingo, wo das einzig Vertraute die deutsche Sprache war, die ihr die nationalsozialistischen Verfolger nicht nehmen konnten, in der Bundesrepublik, wo der späte Ruhm nicht die Angst vor der Wiederkehr „grauer Zeiten“ bannen konnte.
Der Titel des Gedichts, durch Anführungszeichen in Distanz gesetzt, ist eine schillernde Wortfigur, eine Enallage; er verheißt für den Tag, was der Himmel zeigt, widerruft aber schon im fünften Vers alle romantischen Erwartungen, die sich an einen schönen Ausflugstag knüpfen könnten. Denn nach dem beschwichtigenden „Nichts Böses kann dir kommen“ bricht die „Kriegserklärung“ wie aus heiterem Himmel über die Welt herein. Man soll sich hier nichts vormachen, die moderne Literatur ist wetterfühlig und hat nicht zufällig die meteorologischen Umstände historischer Daten kommentiert. Kafka ließ sich, als 1914 nach dem Doppelattentat auf das österreichische Thronfolgerehepaar Deutschland in den Krieg eintrat, nicht davon abhalten, baden zu gehen:
Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.
Stefan Zweig, der sich ebenso wie Hilde Domin im Spätsommer des Jahres 1939 in Südengland aufhielt, vergleicht die politische Großwetterlage von 1939 mit der von 1914:
Abermals der weiche, seidigblaue Himmel wie ein Friedenszelt Gottes… Unglaubwürdig wie damals schien der Wahnsinn angesichts dieses stillen, beharrlichen, üppigen Blühens, dieser atmend sich selbst genießenden Ruhe in den Tälern von Bath.
Die Sprache der Blumen und Vögel widerspricht der Erklärung des Krieges. Doch eine Flucht in wohlfeile Naturmetaphern liegt Domin fern. Sie läßt den König weinen und mit den Tränen seine Ohnmacht beglaubigen. Angesichts des Krieges zeigt der Mächtige seine Menschlichkeit.
In expressionistischen Gedichten wird der Krieg oft zum Dämon mythisiert. Nichts davon in diesem Gedicht. Der zweite Teil, an Versen dem ersten gleichgestellt, nimmt das Thema wieder auf und gibt ihm eine bezeichnende Wendung ins Subjektive und Gegenwärtige. Die Verben, nun im Präsens, beschreiben verschiedene Leidensformen eines Du. Nicht das kollektive „Böse“ des Krieges steht am Horizont der „blauen Tage“; jetzt ist die Rede von den individuellen menschlichen Todesarten: durch Verlassen und Verstoßenwerden, durch Nichtbegnadigung, durch das „schwarze Wort“, das immer ankommt und ins Herz trifft.
Das Ende dieses unglaublichen Liedes ist also der Herzensbruch, der im altertümlichen Sinne Verlust oder Verlassen eines geliebten Menschen bedeutet. Mittelalterliche Texte kennen noch das „Krachen“ der Herzen. Hilde Domin selbst verlor im Juli 1988 Erwin Walter Palm, den Gefährten ihres Lebens. Die subjektive Erfahrung verlierbaren Lebens ist der schärfste Kontrast, den man sich zu einem „blauen Tag“ ausdenken kann.
Hilde Domin hat das Gedicht, eines ihrer letzten, im Alter von 80 Jahren geschrieben. Es fehlt in ihren Gesammelten Gedichten. Mottoartig ist es den Gesammelten Autobiographischen Schriften (1992) vorangestellt. Mit der Lieblingsfarbe der Dichter beginnend und einer anderen lyrischen Hauptvokabel endend, hält es in sparsamen Worten und apodiktischen Sätzen den unglaublichen Widerspruch von Schein und Sein, von Himmelsglück und Herzensbruch fest.
Michael Braun, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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