– Zu Katharina Schultens’ Gedicht „knochenorakel“ aus Katharina Schultens: Untoter Schwan. –
KATHARINA SCHULTENS
knochenorakel
es ist eine wolke gekommen, aus dem wolkenfeld hinter simplon
eine riesige meeresschildkröte, jetzt schwimme ich in ihrem innern
ihr sucht panorama, ich bevorzuge schutz. horn um horn
stößt aus weicher erde, widderhörner, ziegenhörner:
nest-, fletsch- und schreckhorn nennt ihr, weiß- und schwarzhorn
allalinhorn, sage ich, rimpfischhorn, satamar, héremence!
reichts nicht, dass ihr wisst, wie sie heißen?
könnt sie benennen, habt alle namen aller orte, werdet
eine gegend erzeugen. ich kann zu wenig sehen, sagt ihr da.
mach mal eine silbe auf meine haut, da wo die dorne war
sagt das kind: ich lasse diesen hellen vokal, wie er ist.
wird ein grandioses Naturtheater aufgeführt – wobei sich der Naturstoff mit sinnlich erfahrener Sprachmaterie verbindet. Der Blick des schreibenden Ich richtet sich zunächst auf „die flüchtigsten aller Meisterwerke“ (H.M. Enzensberger), die am Himmel hinter dem Simplonpass auftauchen, der Transitachse zwischen dem Schweizer Kanton Wallis und Norditalien. Es sind die in majestätischem Weiß dahintreibenden Wolken, die sich unablässig neue fantastische Gestalten hervorbringen, ein Festzug von imaginären Tieren mit Schuppenpanzern und Hörnern. Katharina Schultens hat 2015 als Spycher-Literaturpreisträgerin einige Zeit im Wallis verbracht. Ihr Gedicht entziffert die Metamorphosen der Wolkenformationen als ein Szenarium gehörnter Tiere und Bergrücken. So entsteht in der Auflistung von Berggipfeln einerseits eine Topografie der Walliser Alpen, andererseits eine Ansammlung geheimnisvoller Chiffren, die in ihrer opaken Verschlossenheit und KOLUMNE ihrem geheimnisvollen Klang (z.B. „allalinhorn“ oder „satamar“) ein „seltsames Verhältnisspiel der Dinge“ (Novalis) suggerieren. Wie sehr sich die Dichterin von Verbalreizen inspirieren lässt, zeigt das Schlussbild, in der ein Benennungsfehler zum poetischen Movens wird: Die heilende „Salbe“ und die lyrisch strukturgebende „Silbe“ fallen zusammen.
Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2017
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