Michael Braun: Zu Michael Krügers Gedicht „Im Winter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Michael Krügers Gedicht „Im Winter“ aus Michael Krüger: Einmal einfach. –

 

 

 

 

MICHAEL KRÜGER

Im Winter

Bei der Schneewehe lag ich,
bei den Lärchen, wo im Herbst
der Wind die Schafe sammelt,
und wartete auf das Ende
der Zerstreuung. Kein Vogel mehr
in den Ebereschen, kein Laut,
kein Durcheinander im weißen Staat.
Unergründlich und leer.
Ich sah, bei geschlossenen Augen,
die rissigen Hände meiner Großmutter,
wie sie den Apfel viertelte
mit sicherer Hand
und uns zu Gleichen machte
an einem Nachmittag im Winter.

 

Michael Krügers späte Gedichte

verstehen sich als „Meditationen unter freiem Himmel“, die mit ein paar wenigen Strichen die Landschaft seiner Kindheit skizzieren, Erinnerungsbilder aus dem sächsischen Marktflecken Wittgendorf im Herzen Mitteldeutschlands. Es sind sehr konzentrierte, emphatische Vergegenwärtigungen einer untergegangenen agrarischen Welt, elegische Genrebilder einer Lebensform, in der man „die Ehrfurcht des Staunens“ und die Wahrnehmung der Welt einüben kann. Wenn hier „schwere Wolken über den sächsischen Himmel“ ziehen, wie es etwa im Gedicht „Wo ich geboren wurde“ heißt, dann erfährt das lyrische Ich in dieser Sehnsuchtslandschaft die Stunden der wahren Empfindung. In seinem jüngsten Gedichtband Einmal einfach (2018) präsentiert sich Michael Krüger so entschlossen wie nie zuvor als Landschaftsmaler, der die Natur als paradiesischen Raum erlebt, aus dem man vertrieben worden ist und in den man nur mit Hilfe von Gedichten zurückkehren kann. Dabei ist es vor allem die sinnliche Erscheinung der Bäume, ihre phänomenale Präsenz, die der Dichter als Offenbarung erlebt. Auch im vorliegenden Gedicht verwandelt die Erinnerung den stillen Moment eines Wintertags in eine mystische Erfahrung. Das Ich ist über und über beschneit von einem Erinnerungsbild, in dem die Welt für ein paar Sekunden stillsteht und der „weiße Staat“, das Regime des Schnees die Schönheit der Bäume und den Gesang der Vögel verstummen lässt. Es ist der mystische Moment, das „Nunc stans“, das aus dem Jetzt und Hier hervortritt („Unergründlich und leer“). Die Apfelteilung der Großmutter erscheint als Initiationsritus: Sie ermöglicht ein Grundvertrauen in die Welt, das später verloren geht und nur von der Dichtung zurückerobert werden kann.

Michael Braun, Volltext, Heft 1, 2018

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