– Zu Ror Wolfs Gedicht „Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben.Dritter unvollständiger Versuch“ aus Ror Wolf: Die Gedichte. –
ROR WOLF
Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben
Dritter unvollständiger Versuch
Zweiunddreißig, Juni, nachts zwei Uhr,
als ich nass aus meiner Mutter fuhr,
als ich stumm aus meiner Mutter kroch,
aus dem einen in ein andres Loch,
aus dem Fleisch heraus hinein ins Leben,
sagte man mir: So ist das eben.
Im November nachts Zweitausendeins
lag ich nackt und aufgeschlitzt in Mainz,
tief im Blut und alle Tropfe tropften,
die Kanüle, die Katheter klopften,
alles floß hinein in das Plumeau,
und man sagt zu mir: Das ist halt so.
lässt sich die Daseinsstrecke eines Menschen wohl kaum bilanzieren. Der Dichter und Prosa-Anarchist Ror Wolf ist ein Meister in der Erfindung leichthändig dahingeworfener Nihilismen und katastrophischer Lebensverläufe. Die Grundstimmung seiner Literatur sei ein „Komplott aus Leichtigkeit, Schwermut, Spiel, Ernst, Skurrilität, Lust, Spaß und Entsetzen“, hat Wolf einmal erklärt – und auch in diesem Selbstporträt ist die Lust am Reim-Spiel nicht ohne einen makabren Blick in den Abgrund zu haben. 230 Jahre nach der barocken Vermessung der menschlichen Lebensfrist durch den großen Matthias Claudius im Gedicht „Der Mensch“ hat Wolf eine sehr knappe Beschreibung davon gegeben, was geschieht, wenn wir das Licht der Welt erblicken und – so heißt es bei Claudius – „empfangen und genähret“ werden, „vom Weibe wunderbar“. Kaum ist der Mutterschoß verlassen, sind wir offenbar in einem weiteren schwarzen Loch verschwunden, das als „Leben“ annonciert ist. Der Text setzt ein wie das nüchterne Protokoll eines Geburtsvorgangs, verwandelt sich dann aber zu einer metaphysischen Studie über das Ausgesetztsein desjenigen, der den Schock über den „Nachteil, geboren zu sein“ (Emil Cioran) überwinden muss, um am „Leben“ teilzuhaben. Der Ursprung des Menschen wird als ein blutiges Ereignis markiert, strukturverwandt mit dem operativen Eingriff in den Leib eines Schwerkranken, der hier offenbar, wie es eine doppelbödige Redensart so schön ambivalent konstatiert, mit dem Leben davonkommt.
Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2017
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