– Zu Wilhelm Bartschs Gedicht „Mit der Muse des Hipponax“ aus dem Band Wilhelm Bart: Übungen im Joch. –
WILHELM BARTSCH
Mit der Muse des Hipponax
Für R. R. und R. R.
aaaaaPimpelige Pimpleiden
aaaaaBauschen ärmelweit Weltfrieden,
aaaaaAber lassen sich gern kitzeln
aaaaaBeim Kottabitzeln, Sybaritzeln,
aaaaaHaben Haare nicht, nur Eppich,
aaaaaAber ich knack meinen Rettich
aaaaaHier unbemust und ohne Witzeln.
Wenn aber mir mal eine Muse unterkam,
Ich küßte sie, und drauf!, zerknüllte Papierkram,
Und flog mit fremden Federn, hinkte auf eignem Fuß
Noch lieber, nicht zum Helikon – ein Paß fehlt mir:
Aus Ephesos Freund Epikur, Freund Hipponax,
Anstinkend, unteilbar: Trinkt also hier mein Bier!
aaaaaHier: Zur Goethedämmerung
aaaaaKlopstocks Eimerdrämmerung:
aaaaaNoch ein Tropfen und wir laufen
aaaaaÜber in die Feuertraufen.
aaaaaDoch noch hör ich Musensöhne
aaaaa(Mich?) die alten Flötentöne
aaaaaFlau an Euterpens Eutern schnaufen.
War aber mir mal eine Muse, meine, frisch:
Sie stampfte, dampfend, nackt herum um den Schreibtisch,
Als wär’s ein Knackwurstkessel: Dampf mach! Schreibe, Schrat!
Ich brauchte nicht mehr Kalliope noch Ohrenpax
Und konnte schrein: „Dein Weib ist jetzt da, und ich pack’s!
He Hades, hier die Halbwelt, Halle, am Apparat!
Hör: Hendrix harft! Wir wehrn uns noch, Freund Hipponax!“
Wilhelm Bartsch: einer der vielen neuen Autoren der letzten Jahre, der mit einzelnen Gedichten, mit einem Poesiealbum (1985) aufmerken ließ. Nun, mit 37 Jahren, der erste „ausgewachsene“ Band, Ausweis einer wichtigen Begabung.
Ich lese „Mit der Muse des Hipponax“, ein Gedicht, das Bartsch mit folgenden Anmerkungen versieht: „Hipponax – derb-volkstümlicher Dichter Griechenlands des 6. Jh. v.u.Z.“, „Pimpleiden – die Musen“, „Kottabitzeln, Sybaritzeln – etwa: Trinken, Prassen; siehe dazu Aristophanes, ,Der Frieden‘, V. Akt.“
Ich übersetze die erste Strophe: Wehleidige, verzärtelte Musen, in Gewändern mit weiten Ärmeln, die sich bauschen, die aufbauschen; Weltfrieden bauschen – und die sich, die Musen, zugleich doch gern kitzeln lassen beim Trinken und Prassen (die ihren kleinen, behüteten, wohllebigen Frieden zum großen Weltfrieden bauschen?). Während ich, der Dichter, unbemust (unbeweibt?), ohne Witzeln jetzt, mein spartanisches, vegetarisches Mahl knacke.
Ich merke: Die „Übersetzung“ macht den Text enger und weiter. Weiter, weil sie ergänzen, kommentieren, Varianten anführen muß. Darin auch zugleich enger, weil die Ergänzung Offenes eindeutig macht, Enger auch, weil Assoziationen entfallen, die sich über Klang und Rhythmus herstellen. „Pimpelige Pimpleiden“, „Zimperliche Zimperliesen“. Dazu der Rhythmus, ein schwungvoller vierhebiger Trochäus mit wohlplazierten Abweichungen. So die Einfügung eines Auftakts in Vers vier und sieben, der sich auch als Nebenhebung lesen läßt, Stauung und nachfolgende Beschleunigung bringend:
[´= Hebung, `= Nebenhebung, – = unbetonte Silbe]
Beim Kottabitzeln…
`´-´-
Hier unbemust…
`´-´-
In die gleiche Richtung wirkt die andere Abweichung, eingeschobener Hebungsprall nach der dritten Hebung:
… ärmelweit Weltfrieden
´-` ` `-
… lassen sich gern kitzeln
´-` ` `-
Der Trochäus schwingt, und er hinkt. Gibt’s das?
Das Gedicht trägt den Titel „Mit der Muse des Hipponax“. Jener gilt als Vater des „Hinkjambus“, der in Eindeutschung etwa so aussieht (der letzte Takt läuft gegen das Metrum, er „hinkt“):
-´-´-´-´-´´
Die Trochäen des Eingangs also spiegeln nicht nur in Wortwahl und Wortspiel den derb-volkstümlichen Charakter des Griechen, sondern erinnern an das von ihm favorisierte und vielleicht erfundene Versmaß, indem wenigstens zwei der sieben Zeilen ähnlich gestaut sind.
Das Gedicht geht weiter. Es besteht aus vier Strophen, deren erste und dritte kürzer und eingerückt sind und den vierhebigen Trochäus zum Grundmuster haben. Die zweite und vierte Strophe ahmt den Hinkejambus nach, nicht sklavisch, aber prägnant.
Was aber sollen hier philologische Fachprobleme? Das Gedicht, bitteschön, fußt darauf.
Hipponax also, und ein neuer Dichter setzt sich mit ihm ins Benehmen. Er sitzt, der Neue, unbemust beim Rettichmahl. Also borgt er sich eine Muse von dem Älteren. „Wenn aber mir mal eine Muse unterkam“. „War aber mir mal eine Muse, meine, frisch“. Rhythmus ist eine Bewegung, die dem Widerspruch zwischen zugrunde liegendem Schema und Sinn und Fügung der Worte entspringt. Beide Zeilen weisen das gleiche Schema auf, kein Hinkjambus, sondern regelmäßig sechshebiger Jambus. Übereinstimmend und regelmäßig auch in der Abweichung im ersten Takt: Statt „Wenn áber…“, „war áber…“ liest man etwa „Wénn àber…“, „wár aber…“. Diese Abweichung gehört traditionell zum Jambus, wie sie eigentümlich zu diesem Gedicht paßt – denn sie war in den kürzeren trochäischen Zeilen schon vorbereitet.
(Üblicherweise zählt man beim Lesen nicht Hebungen nach; aber der Rhythmus als Widerspruch zwischen Schema und Ausfüllung macht sich beim Lesen dieser Verse geltend; und der Rhythmus einer Zeile beeinflußt wiederum den der Nachfolger; so daß Aufmerksamkeit für den Versbau hier angebracht scheint.)
Aber was war mit der Bedeutung all der metrischen Spitzfindigkeiten? Ja, bitte, gleich.
Ich überlege, warum mir beim Lesen dieser Zeilen Ernst Jandl einfällt, genauer gesagt, warum ich sie mir mit Jandlschem Tonfall gelesen denke. Jandls Gedicht „falamaleikum“:
falamaleikum
falamaleitum
falnamaleutum
fallnamalsooovielleutum
wennabereinmalderkrieglanggenugausist
sindallewiederda.
oderfehlteiner?
Die verschiedenen Verfahren dieses Textes: Einsatz mit einem verzerrt wiedergegebenen, aber erkennbaren Wort; leichte Klang- beziehungsweise Schreibverschiebungen von Zeile zu Zeile, die stufenweise Bedeutung aufbauen; Kleinschreibung; Zusammenschreibung der entstehenden Worte, die sich zwanglos aus dem Variationscharakter ergibt, aber dann auch rhythmische und inhaltliche Funktion erhält; alles das erzeugt einen Sog, der auf rhythmischer Ebene im längsten Vers kulminiert, inhaltlich zu schneidender Attacke gegen Gleichgültigkeit und Biertischgerede wird. Klangkaskaden, die Beklemmung erzeugen.
Ich habe den Text in Jandls Vortrag gehört. Vielleicht deshalb lese ich die beiden Zellen von Bartsch im Tonfall von Jandls fünftem Vers. „Wennabereinmalderkrieglanggenugausist“. „Wenn aber mir mal eine Muse unterkam“. „War aber mir mal ein Muse, meine, frisch“. Beide lassen sich so lesen, als wären sie zusammengeschrieben. Mein Eindruck mag persönlich-zufällig sein, aber vielleicht nicht ganz; denn der auf Spannungen, auf ein Wechselspiel von Stauung und Beschleunigung angelegte Rhythmus schon der ersten Strophe wirkt hier offensichtlich auf den Beginn der zweiten ein. Der Sog wird noch verstärkt durch den Übergang von den Kurzzeilen der ersten zu den längeren der zweiten Strophe. Also: schwungvolles, beschleunigtes Lesen, befördert von vorhergehenden Stauungen, von gezielten Verletzungen des Schemas, zusätzlich, besonders in der vierten Strophe, durch klangliche Effekte, den Wechsel von ein- und zweisilbigen Worten, die Häufung bestimmter Konsonanten und Vokale – insbesondere der viermalige m-Anlaut: „mir mal eine Muse, meine“, kombiniert mit dem Binnenreim eine/meine; auch die Isolierung des letzten Wortes durch das nachgestellte „meine“ wirkt in diese Richtung. Was für aufregende Klangerlebnisse in einer Zeile, rhythmisch und lautlich. Ja, da von Stauung/Beschleunigung die Rede ist: Rhythmus ist hier mehr als Verteilung von Hebung und Senkung; ist auch Länge/Kürze. Ich lese die Zeile etwa so:
´´-´-´-´-´-
Dazu die Klänge: die drei „a“-Laute des Anfangs, mit eingeschobenem betontem/gelängtem „i“, das am Schluß wiederkehrt und so gewissermaßen die Klangkomposition „m“ – „ei“ – „m“ – „u“ – „m“ – „ei“ rahmt. Ein kompliziertes Gefüge von Spannungen also auch im Klang, das man vereinfacht so darstellen könnte:
Ein witziges Spiel mit Anspielungen und Klängen? Das auch; um so mehr, wenn man den gesamten Text in Betracht zieht, hier eine Auswahl: „kitzeln“ – „-bitzeln“ – „-ritzeln“ – „Witzeln“; die „ä“-, „au“-, „ö“- und „eu“-Laute der dritten Strophe, das „ampf“, – „ampf“, „ampf“, „nack“ – „knack“, –„pax“ – „pack’s“ – „nax“, die sechs „a“ der vorletzten, die acht „h“-Anlaute der beiden letzten Zeilen und so weiter. Dazu die Hinkjamben, die in den zweiten Zeilen der zweiten und vierten Strophe einsetzen – wohlvorbereitet – wie wir sahen.
Aufregend, übermütig, witzig. Das wäre schon viel. Aber da ist mehr. „Ohne Witzeln“, so schloß die erste Strophe. Das mag, zunächst, Reimnot sein oder positiv: Spaß am Reim auf „kitzeln“ – „Kottabitzeln“ – „Sybaritzeln“. Aber es ist ernst. (Wie es einem Gedicht ansteht, dessen fünftes Wort „Weltfrieden“ lautet). Unser Übersetzungsversuch wies auf ein leicht frivoles Spiel um den Zusammenhang von „bauschen“ – „Ärmel“ – „Weltfrieden“. Nehmen wir an – es gibt dafür gute Gründe, wie das Spiel mit dem anderen Namen der Musen –, daß solches Spiel am Anfang des Gedichts stand. Dem Dichter freilich, der mit Klängen und Bedeutungen spielt, um die Welt zu treffen, kann das nicht genügen. Wie weiter? Hipponax hilf!
Die zweite Strophe antwortet dem „unbemust“ der ersten. „Wenn aber mir mal eine Muse unterkam“ – wie wurd ich da aktiv: sie küssen, drauf! („unterkam“!), Papierkram knülln, fliegen, zugleich hinken, mit fremden Federn oder lieber auf eignem Fuß, trotz Paßproblemen. Ist die Aktivität des „mal“ von einer Muse Geküßten mehr als frivoles Spiel? Es bleibt noch offen; allein die ernsthaft-fieberhafte Aktivität des mit diversen Problemen ringenden Dichters führt, vielleicht, weiter. Das Spiel des Dichters schafft Räume für Assoziationen: „Anstinkend“ – „unteilbar“ – „mein Bier“. Der Klangteppich erweckt den Anschein von Bedeutungsschwere. Trägt er?
In der dritten Strophe spitzt sich das Wechselspiel von Bedeutungsschwere und Frivolität noch zu. Der herrliche Spaß mit den Worten und Namen der Vorgänger. Die größten sind gerade recht. Feierlichkeit wird beschworen und spielend abgeschmettert. Der Rhythmus ist hier bis auf die letzte Zeile reiner, schwungvoller Trochäus. Den ernsten Hintergrund des Spiels stiftet das Wort „Hier“, das an die vorige Strophe/Zeile anknüpft. Nicht zum Helikon, da paßlos; also „hier“; und was finden wir da? Götter-, nein Goethedämmerung. Das kann man als Spott auf feierliche Formen von Erbepflege lesen. Der Klassiker folgt dem Klassiker auf dem Versfuß, dem Reimweg. Klopstocks „Frühlingsfeier“ (feierlich!) wird erinnert in der „Eimerdrämmerung“.
Nur um den Tropfen am Eimer
Um die Erde nur, will ich schweben und anbeten.
Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer
Rann aus der Hand des Allmächtigen auch.
Schweben und anbeten sind die Sache des Neueren nicht. Reiner Spott und Spaß freilich auch nicht. Wer ist hier Tropfen, wer Eimer?
Noch ein Tropfen und wir laufen
Über in die Feuertraufen.
Die kosmologische Metapher des Vorgängers ist von der Wirklichkeit eingeholt. Klopstock, um den Platz der Erde und des einzelnen Menschen in einem hierarchisch geordneten Kosmos greifbar zu machen, verwandelt die Erde in den Tropfen am Eimerrand. Nur um diesen, um die Erde nur, will er schweben. Heute hängen wir nicht mehr nur metaphorisch am Rand des Abgrunds, und kein Allmächtiger hält seine Hand auf. „Noch vor relativ kurzer Zeit“, sagte Michail Gorbatschow auf dem Internationalen Friedensforum in Moskau, hätten Überlegungen zum Schicksal der Welt und zur Zukunft der Menschheit „als Gedankenspiele, als von den Alltagssorgen der Menschen weit entfernte Beschäftigung für Philosophen, Wissenschaftler und Theologen“ gegolten. Thema unseres Gedichts, so zeigt sich nun, fast genau in seiner Mitte, ist tatsächlich der Weltfrieden in allem gebotenen Ernst und auf der Höhe der aktuellen Problemsicht. Der Weltfrieden – und das Tun der „Musensöhne“, zu denen man sich wohl zählen darf:
Noch ein Tropfen und wir laufen
Über in die Feuertraufen.
Doch noch hör ich Musensöhne
(Mich?) die alten Flötentöne
Flau an Euterpens Eutern schnaufen.
Die beunruhigende Einsicht des Gedichts: Die „Musensöhne“ – und vielleicht auch ich – sind nicht unbedingt auf der Höhe der Zeit. In dem Moment, da der nächste Tropfen zum Überlaufen in die „Feuertraufen“ führen wird, immer noch beschäftigt, „ärmelweit Weltfrieden“ zu bauschen und „Flau an Euterpens“ (Muse des Flötenspiels, die Freudenspendende) „Eutern“ die „alten Flötentöne“ zu „schnaufen“.
Dies ist das Faktum. Aber es bleibt nicht beim Konstatieren. Die Hinkjamben der vierten Strophe richten ihr „aber“ auf. Der fast gleichlautende Anlauf führt nun weiter. Wenn das „aber“ der zweiten Strophe energisch, aber diffus zu eigener ästhetischer Aktivität spornte: hier, nach den Feuertraufen, ist spezifische Arbeit gefordert. Dies ist nicht Euterpe und auch nicht Kalliope (Muse der Geschichtsschreibung) noch Ohrenpax, sondern „eine Muse, meine“. Und die stampft, dampft, stachelt, was das Zeug hält (der Schreibtisch: Knackwurstkessell), und hier ist die Rose, hier springe: „und ich pack’s!“, nämlich dein (?) Weib:
He Hades, hier die Halbwelt, Halle, am Apparat!
Hör: Hendrix harft! Wir wehrn uns noch, Freund Hipponax!
Der Ort der Attacke ist Halle, Halbwelt, ihr Ziel der Hades, die Feuertraufen; aufgeboten sind alle Mittel der Kunst von der hinkenden Muse des Hipponax bis zu Hendrix, und keine flauen Flötentöne, und wir wehrn uns noch!
Bliebe das Fragezeichen: dein (?) Weib. Wir blättern zurück und finden, daß unsere Lesart des Anfangs bereits ein Fragezeichen an nämlicher Stelle hatte: unbemust = unbeweibt? – Tatsächlich geht nicht alles auf. Die Musen, die unter zwei verschiedenen Namen sowie mit zwei namentlich Benannten aus der Schar insgesamt achtmal in diesem Gedicht vorkommen, dienen keineswegs bloß der Distanzierung des um sein Profil ringenden Dichters. Schon die Überschrift sagt’s ja: „Mit der Muse…“ Da zwei von den neun namentlich genannt und verabschiedet werden: Euterpe und Kalliope (die für „lyrische Flötentöne“ und für Geschichtschreibung zuständigen, Zufall?), läuft es also auf Kritik an den traditionellen, klassischen Musen hinaus, auf den – durch die hinkende Muse des Hipponax bestärkten – Ruf nach neuartigen, schlagkräftigen Musen, angesichts neuartiger Herausforderung.
Das Gedicht ein Beitrag zur Debatte über die Rolle des Dichters in bedrohter Welt. Es konstatiert, was jeder wissen kann und leicht vergißt, es stellt ein paar Fragen (stellt das Tun der Musensöhne, auch das eigene, in Frage), und es gibt seine Antwort. Oder genauer: ist eine Antwort. Denn seine Botschaft läßt sich nicht herausziehen. Es ist keine präexistent fixe Aussage, nur in mehr oder weniger gefällige Form gekleidet. Diese Botschaft kann ich nicht getrost nach Hause tragen („wir wehrn uns noch“): wiewohl diese Art der Verwertung im Schwange ist. Die guten ins Töpfchen: die in der letzten Zeile die Fahne hochhalten.
Wenn man das Gedicht aber nicht läse, um auf Scheinfragen feile Scheinantworten zu häufen? Nicht, um zu erfahren, wie oder was, und ob sich der und jener bekennt? Sondern höchstselber wirkliche Fragen, Skrupel, Probleme hätte: und also läse, um Antworten zu suchen für sich selbst, ungewiß, wie es ausgeht – nicht für den („ertappten“) Dichter, sondern für mich?
Die Fragen und Antworten dieses Gedichts gehen mich an. Aber sie lassen sich nicht abheben von der Form des Gedichts; sie reichen allemal nur für die Dauer der ästhetischen Aktivität, die es mir abnötigt. Indem ich es interpretiere, verlängere ich diese Dauer. Nicht mehr und nicht weniger.
„Lustgewinn“ ist ein Hauptnenner dieser Aktivität. Seit dem Wortspiel der ersten Zeile bin ich darauf eingestellt, in Spaß und Ernst Lust zu erfahren. Lust am Wortspiel, am Spiel mit Namen, Anspielungen, Zitaten. Lust an Rhythmen und Klängen. Lust am Enträtseln und Entziffern. Viele einzelne Lüste, bis die Frage aufkommt, ob das Gedicht – in dem immerhin einige wichtige „Fahnenwörter“ vorkommen – mehr ist als die Summe so und so vieler einzelner Lüste? Ob es neben der faszinierend vielfältigen „Binnenstruktur“ noch eine „Großstruktur“ gibt?
Unsere Interpretation ist, untergründig solchen Fragen folgend, zu Antworten gekommen. Nach der groben Lust am herrlichen Wortspiel. („Pimpleiden“, „Goethedämmerung“ pp.) die verfeinerte Lust: Strukturen zu lesen. Wir haben gesehen, daß die Strophen des Gedichts nicht nur je für sich einen Mikrokosmos darstellen, sondern daß sie zugleich Stufen eines größeren Gebäudes sind. Klopstocks Stufenleiter: Ozean – Eimer – Tropfen gibt dem Neueren kein Weltbild mehr her; vielleicht aber ein Bild des Gedichts als Hierarchie. Jede Strophe ist eine Stufe in einem Argumentationszusammenhang, wie sie für sich genommen einen darstellt. Während aber die Mikrostruktur nur mehr oder weniger deutliche und geistreiche Anspielungen auf die wirkliche Welt bietet, geht die Makrostruktur aufs Ganze. Höchste Lust.
Es ist aber keine begriffliche Argumentation. Eine erkannte, aber nicht gebannte Welt. Die Struktur eines Vorgangs, eben: ästhetische Tätigkeit. Während ich das Geflecht von Rhythmen und Klängen, An- und Bedeutungen aufdrösele, halte ich die Struktur für einen Moment in der Hand. Was bleibt, sind nur die Fäden (die fadenscheinige „Fahne“).
Die Makrostruktur des Gedichts ist nicht die Struktur der in ihm enthaltenen begrifflichen Elemente. Um sie zu finden, muß ich den dynamischen Rhythmen- und Klangstrukturen ebensoviel Aufmerksamkeit schenken wie den Zitaten, Assoziationen, vorausgesetzten Kenntnissen der antiken Mythologie, der Literaturgeschichte und so weiter. Muß also wenigstens ungefähr über Hinkjamben, Musen, Jimi Hendrix, Wurstzubereitung und manches andere Bescheid wissen. Ist es also „Bildungsdichtung“?
Dieser „Vorwurf“ geht uns leicht von der Hand. In Bartschs Buch findet man ausgiebige Bezüge auf Petrarca und Dante, Basho und die Bibel, Goethe und Schiller, Klopstock, Kant, Giordano Bruno, Ezra Pound, James Joyce und etliche andere. Man findet – neben freien Rhythmen – Jamben und, Trochäen, Daktylen, tonische Verse, Hexameter, Distichen und Epoden, Haikus und Tankas. Welcher Leser, etwa welcher Lehrerstudent, soll das ausforschen?
Anhäufung von „Bildungsgut“ ist gewiß kein Ausweis für literarische Qualität; und wer behauptete das auch im Ernst? Aber umgekehrt? Beweist Bildungs-„Ballast“ in Form von Namen, Zitaten, Anspielungen etwas gegen den Kunstwert eines Gedichts? Die Meinung scheint verbreiteter. Immerhin, Goethe fügte in seinem West-östlichen Divan von 1819 den Gedichten einen etwa gleichlangen Prosakommentar unter dem ursprünglichen Titel „Besserem Verständnis“ bei, der bezweckte, „zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen, und zwar bloß in der Absicht, daß ein unmittelbares Verständnis Lesern daraus erwachse, die mit dem Osten wenig oder nicht bekannt sind“. Aber wer mochte ein so wunderliches (so ein zeitgenössischer Rezensent) Buch lesen? Gedichte mit Kommentar? Denn „da wir Leser sind, welche bequem unterrichtet und vergnügt sein wollen, so geht unser Geschmacksurteil dahin, daß der West-östliche Divan nicht nach unserem Geschmack ist.“ (Hervorhebung vom Urheber, A. Müllner, 12.8.1820 – Zitat statt Parodie!) So weit zurück also reicht die Meinung, Poesie sei mehr fürs Gefühl und zur Bequemlichkeit des Lesers. In Klammern: Welcher heutige Verlag hätte den Mut, oder die Weitsicht, sagen wir: Gedichte von Rainer Kirsch mit ebenso langem historischem und verskundlichem Kommentar zu bringen? Falls der sich überhaupt der Mühe unterzöge, wie er’s für sein Gedicht „Im Maß Petrarcas“ immerhin tat. Klammer zu.
Aber wir wollen das Problem nicht verkleinern. Daß „in den Anforderungen, die die Kunst stellt, etwas Tragisches“ liege, meinte Stephan Hermlin einmal im Gespräch:
Jedes große Kunstwerk wendet sich an alle, ob das sein Hervorbringer nun ausdrücklich sagt oder verschweigt; die Sensibilisierung, die die Aufnahme dieser Kunst erfordert, wird aber in vielen Fällen von den realen Lebensumständen selbst verhindert.
Überlassen wir die Entscheidung, ob Bartschs Gedicht ein „großes Kunstwerk“ ist, der Geschichte. Was vorliegt, mag als Talentprobe gelten. Ich denke, daß wir von Bartsch noch Gewichtiges hören werden. Und ganz sicher wird er, wenn er so weitermacht, auch noch öfter herbe Kritik erfahren, wie jüngst von der Jungen Welt. Sei’s drum. Die Geschmäcker sind verschieden wie die Wertkriterien. Wichtig ist nicht, daß jeder dieses Gedicht gleich hoch einschätzt. Problematisch scheint es mir erst, wenn gerade die Anwesenheit von „Bildungsgut“ zum (negativen) Maßstab gemacht wird. Zu oft spricht da ein Lyrikbegriff, für den der Dichter halt singt, „wie der Vogel singt“, um den Dichter zu zitieren. Daß ein solcher Lyrikbegriff verbreitet ist, ist nicht schlimm, sondern real. Bedenklich wird es, wenn ausgerechnet diejenigen, die zur Vermittlung bestellt sind, Kritiker, Lehrer – also die Träger und Über-Träger von Wissen und Bildung – meinen, in diesem speziellen Fall verzichten zu dürfen. Volksbildung, hilf,
aaaaaaaaaaaaasonst geht’s hinab in Nacht und Schilf. *
* Den letzten Vers habe ich frivolerweise von Uwe Berger ausgeliehen; wofür ich ihn – ebenso wie alle anderen genannt und ungenannt von mir Zitierten – um Verzeihung bitte!
neue deutsche literatur, Heft 424, April 1988
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