Michael Hamburger: Baumgedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Michael Hamburger: Baumgedichte

Hamburger/Bonell-Baumgedichte

EIBE

Zu langsam für uns ersteht
Ihr dicht dunkler Leib.
Auch ohne unser Blut
Als Nahrung, wo eine sich ausgeprägt hat,
Ist sie uns fern, wie sie bis zum Jahrtausend
Zentimeter hinzutut,
Die tiefer hinabreicht
Als unser Erinnern, unsre Geräte.
Ihre fruchtbaren Beeren sind lebensgefährlich.
Das tote Holz selbst, noch grob,
Überdauert als Torphahl
Oder Bettstatt viele Besitzer
Von Toren und Betten.
Holzwurm, Wanze meiden es,
Sagten, die es verwendeten.

Steht ein Baum, schwarz,
Wo viele Bäume waren
Und jene, deren Gegen-Natur
Gebrauch hatte für alles
Bis unbegraben ihr Fleisch entstellte
Die gebrauchte, geschundene Erde,
Wird es sein eine Eibe, gespalten,
Die langsame Wurzeln hinabsenkt,
Tausendjährig, wo noch immer
Erde ganz ist

 

 

 

Michael Hamburger liest Eigenschaften,

Eigenheiten der Bäume, begreift sie als belebte Wesen.
Baumgedichte besteht aus 13 Gedichten über die Lebendigkeit, Zähigkeit, Überlebenskraft verschiedener Baumarten. Die Bäume stehen vereinzelt in der Wahrnehmung. Während er über die Pappel, die Weide, die Buche, die Birke, die Eibe, die Ulme, den Feigenbaum, die Eiche schreibt, spürt der Lyriker stets dem Wesen, dem Belebten nach und begreift die Bäume als Symbole lebendiger Anwesenheit – weit über ihr zeitliches Ausmaß hinaus. Der Band schließt mit dem Gedicht über den Sturm in England von 1987, den Hamburger als Massaker an mehreren hunderttausend Bäumen empfand. „Es kam wie ein Gericht“ – der Sturm als Strafe für das Überschreiten des menschlichen Maßes.

Folio Verlag, Ankündigung, 2009

 

Papierene Schale ohne Makel Jahresringe

Vielleicht muss das poetische Denken immer in Bewegung sein, damit es überhaupt Verfestigungen bilden kann, Kristalle in Form von Gedichten. Für den englischen Lyriker Michael Hamburger war das Gedicht jene künstlerische Möglichkeit, die es erlaubt, den Dingen nachzuspüren, ohne sie einfach nur zu benennen. Seine Gedichte widmen sich den Erscheinungen der Welt und setzen sie in eine fast meditative Schwebe. Aus den Blicken und Lauten filtern sie Ruhe und halten so den Atemstrom für einen Moment an, verwandeln das Flüchtige in frei schwingende Verse:

in eine Bewegung wie Musik,
Die ihren ganzen Raum nur ausmisst,
Um dort, wo sie herkam, zu ruhn

Bis zu seinem Tod im Jahr 2007 arbeitete Michael Hamburger fast täglich im Garten seines Hauses in Suffolk, behandelte hier einen Ast, pferchte dort eine Wurzel. Bäume, wie er sie sah, kommen seiner Vorstellung vom Gedicht sehr nahe: Inbegriff des Bleibens, verändern sie sich doch ständig, wachsen, bilden Ringe aus. So fein scheint ihre Kraft zu sein, dass sie die menschliche Wahrnehmung, übersteigt:

Zu langsam für uns ersteht
Ihr dicht dunkler Leib

Überhaupt reichen Bäume tiefer als die menschliche Erinnerung, sie überdauern den Menschen, erst recht seine Bauten und Zeugnisse – es kommt ihnen sogar die gleichsam göttliche Gabe zu, „Verstümmelung in Auferstehung“ zu verwandeln. Mit Francis Ponge könnte man Hamburgers Texte Dinggedichte nennen. Der französische Dichter hatte einst unter dem Titel „Le parti pris des choses“ eine Sammlung von Prosagedichten angefertigt, die alltägliche Gegenständen wie den Kieselstein oder die Kartoffel kreisend, beschreibend in eine sinnliche, von Kommentaren flankierte Sprache fassen. Tatsächlich – und das ist die Pointe dieser Stücke – lassen sich die Dinge nie von demjenigen lösen, der sie wahrnimmt, durchdenkt und beschreibt.

Unberührbar für Tinte
Auch Michael Hamburger umspielt das brüchige Verhältnis von Subjekt und Objekt ein ums andere Mal. Dabei versucht er gleichsam die Essenz eines jeden Baumes, ja vielleicht sogar der ihm innewohnenden Natur herauszuschälen, indem er ihn in ein Gefüge aus Klang, Rhythmus und Gedanken umformt. Die Ulme wird ihm zum „Bewohner der Eiszeit, erst jüngst / Konnten Schaft und Höhe sich messen / Mit Linde und Buche, und war er vor Fülle / Plissierter zierlicher Blätter machtvoll“. Die Birke indes scheint bei all ihrer Spröde für die Leichtigkeit zu stehen:

Wie eine Vestalin, Tänzerin
Wildester, wüster Gegend,
Sie trachtet nach Weiße
Die sich erfüllt in Amerikas Norden,
Die papierene Schale so ohne Makel,
Unberührbar für Tinte.

So groß ist die Empathie mit der Natur für Hamburger bisweilen, dass ihm die Entwurzelung einiger Bäume während eines Orkans zum „Massaker“ wird:

Es war wie Bestrafung, Explodieren
Der Macht die, gegen sich gerichtet, einbläut
Auch den Arglosen Arges,
Denen die Macht erlitten und denen ungeboren.

Bei aller Einfühlung gelingt es Hamburger gleichwohl, Beobachtung und Reflexion in ein fragiles Gleichgewicht zu bringen. So verzweigt wie die Verästelungen der Bäume, von denen sie sprechen, sind die Sätze zumeist, halten hier inne, stauen sich in einem Einschub, um weiter zu wachsen, aus „Gesträuch“ und „Gestrüpp“ hin in eine Welt aus Klang. Vielleicht muss man sich die Gedichte laut vorlesen, um sie in all ihren Feinheiten würdigen zu können. Wie Hamburger etwa über dunkle O-Laute die massige Eiche tatsächlich auf dem Blatt verwurzelt, ist eine Kunst für sich:

On wide floorboards four centuries old,
Sloping, yet scarcely worn, I can walk.

Peter Waterhouse hat in seiner Übersetzung immer wieder erstaunliche Lösungen gefunden. Manchmal mag eine Formulierung etwas zu antiquiert klingen, etwa wenn er „Fearful because she loved it best“ in „Furchtsam weil ihr Teuerstes“ verwandelt. Doch kleine Umstellungen im Satzbau oder Wechsel auf andere Lautfelder erlauben es ihm andernorts, nicht nur die rhythmischen Variationen der Verse im Deutschen nachzubilden, sondern auch ihre atmosphärische Kraft. Am Ende erscheinen die Bäume als Sinnbilder erfüllten Seins. Stoisch in ihrer Ruhe, beschränkt und doch wachsend, erlauben sie dem Dichter zu erkennen, was bleibt:

Weniger der einstige Baum und mehr als ein Baum
So verkleinert und so hingelegt
Ins Bett aus Gras, von Mohn und Balsam schön
Wo sein größeres Bild im Schatten gedieh.

Nico Bleutge, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.5.2010

Der leuchtende Garten

− Ein englischer Dichter aus Deutschland, einer der großen Lyriker Europas: Am 22. März feiert Michael Hamburger seinen 80. Geburtstag. −

Zwei junge Engländer, Michael Hamburger und sein Freund John Pettavel, auf Bildungsreise durch Italien, kurz nach dem Krieg. Aus dem Kunstführer haben sie erfahren, dass sich im alten Spital von Castiglione eine Kostbarkeit befindet, ein gewiss farbenrauschendes Werk des Renaissance-Meisters Pietro Vannucci, genannt „il Perugino“. Doch als sie an der Pforte fragen, ist die Verblüffung groß: Die beiden Engländer wollen den Perugino sehen? Das sei nicht so einfach. Sie müssen die Pässe abgeben, müssen ihren Wunsch den Aufsichtsbeamten erklären. Schließlich werden sie durch endlose alte Korridore geführt, durch alte Türen. Eine Nonne nimmt sie in Empfang, auch sie erstaunt darüber, dass die beiden Fremden in ihr Spital gekommen sind, um den Perugino zu sehen. Die Schwester „führte uns durch weitere Gänge hindurch in einen weißgekalkten Raum. ,Ecco il Perugino!‘ rief sie. Wir starrten auf die Wände, die nackt waren bis auf ein kleines Kruzifix über dem Bett, welches das einzige Möbelstück im Raum war. In diesem Bett lag ein alter Mann, offensichtlich im Sterben. Seine weit aufgerissenen Augen waren unfähig zu irgendeiner Reaktion auf unser Eindringen. Er war ,der Perugino‘ – der Mann aus Perugia.“

Nachhall eines Schreckens
Es ist eine kleine beiläufige Geschichte aus Michael Hamburgers Biografie Verlorener Einsatz, eine der vielen kleinen beiläufigen Geschichten, aus denen dieses Buch besteht. Sie ist unvergesslich, und immer wieder auch taucht sie auf bei der Lektüre der Gedichte. Denn in ihr sammeln sich, wie in einem Handspiegel, Grundmotive seines ganzen Werkes. Zwei junge Bildungsbürger, in gieriger Vorfreude auf ein erschütterndes Kunsterlebnis, stehen plötzlich vor kahlen Wänden und einem Sterbenden. Ein jäher Bruch, ein verwirrender Schock. Und im Anfang war nichts als ein harmloses Wort, der richtige, aber falsche Name.
Seit seinen ersten Gedichten, die er in Jugendjahren schrieb, konfrontiert der englische Autor aus Deutschland Kunst mit Sterben, riskiert er eine Sprache der Brüche und Risse. Hoher Ton trifft auf Alltagsgemurmel, Goldgrund mischt sich mit rostigem Dunst, grauer Hitze, durch schwingenden Redebogen lässt er ein störrisches Schweigen wuchern. Fast alle Gedichte Hamburgers sind Verlauf- und Verlern-Gedichte. Verlust-Gedichte. Die Balance der Sätze, oft über viele Zeilen schwebend, bricht, Kunst löst sich kunstvoll auf in Natur; denn Sterben ist ja nur ein anderes Wort für Natur. Ach, Wörter, Wörter. „Lebt wohl, Wörter“, heißt es 1968 in Envoi, einem seiner berühmtesten Gedichte, das er selber ins Deutsche übersetzt hat.

Lebt wohl, Wörter.
Ich mochte euch nie,
der ich Dinge und Orte mag und
Leute am liebsten mit geschlossenem Mund.

Das mag ich an euch, Wörter.
Selbstzerstört, selbstaufgelöst
werdet ihr getreu.

Lauft, dann folge ich euch,
um euch nie einzuholen.
Kehrt um, dann laufe ich.
Also lebt wohl.

Der Hamburger-Ton, spröde und seltsam unnahbar, verschwiegen. Aber lockend doch, hinüberziehend in seine Assoziationsgeflechte oder Träume. So lockt er selber die Wörter, so weist er sie ab. So ziehen sie ihn an, verlassen sie ihn. So macht er sie gefügig, so belügen sie ihn. Und immer sind da diese Lücken, weißen Flecke. Nachhall eines Schreckens, bleibt da eine Leere oder Stille, die zu überbrücken ist, to bridge a lull. Wer sich auf die Suche macht, der findet in Hamburgers Werk die Spuren eines ganzen Jahrhunderts der Sprachkritik, des Sprachmisstrauens, von Hofmannsthal und Wittgenstein bis Jandl und Pastior, um nur bei den Autoren der deutschsprachigen Literatur zu bleiben, die für ihn ein Leben lang genauso wichtig geblieben ist, wie es die Meister der englischsprachigen Moderne sind. Yeats, Eliot, Auden, Dylan Thomas: Den meisten von ihnen begegnete er persönlich; in seinen Erinnerungen gedenkt er dieser Helden eines inzwischen klassischen Zeitalters mit manchmal leicht ironisch verkratzter Wehmut. Denn ihr heiligmäßiges Kunstvertrauen, das am Ende alle Krisen und Anfechtungen bezwang, will ihm nicht mehr gelingen.
„Schriftsteller nennst du dich? Und sitzt da und stotterst, / Wenn die andern von Büchern reden?“ So fragt er sich selber in einem seiner frühen Texte. Dabei spricht er, als Leser und Lehrer, gern von Büchern. In seinem literaturhistorischen und -theoretischen Hauptwerk Wahrheit und Poesie von 1969 (in vielem ein Pendant zu Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik), hat er, von Baudelaire bis zum Existenzialismus, den Prozess der großen Desillusionierung oder Sprachentzauberung nachgezeichnet. An dessen Ende, in immer neuen Anfängen und Aufbrüchen, das eigene Werk steht: „String of beginnings, a lifetime long“ – „Faden der Anfänge, lang wie ein Leben…“
Doch da sind, in den zwei Dutzend Gedichtbänden, die Michael Hamburger veröffentlicht hat, überall auch die Spuren der Biografie. Geboren wird er in Berlin am 22. März 1924; der Vater ist Kinderarzt an der Charité. 1933 muss die Familie erleben, wie die Nazis sie zu „Juden“ machen. Sie flieht nach England, wo der Vater, nachdem er sich in Edinburgh durch die britischen Examina gequält hat, in London eine Praxis eröffnet. Sohn Michael wird Engländer, besucht Westminster School, Oxford, wird Soldat. Ein paar freie Jahre freier Autor in London, dann kehrt er, 1952, als Lehrer zurück an die Universität. Während sein jüngerer Bruder Paul – unter dem abgewandelten Nachnamen Hamlyn – das Kaufmannsleben vorzieht und später einer der größten Großverleger Englands wird, bleibt er an der Universität: in London, in Reading und viele Jahre lang an Hochschulen in den USA, von San Diego bis Boston und New York.

Shakespeares Äpfel
Mit Hölderlins Gedichten begann es, mitten im Krieg, und erst einmal musste der junge Mann seinen Landsleuten erklären, dass Hölderlin kein Zeitgenosse Rilkes ist. Seither hat Hamburger in vielen Übersetzungen der englischsprachigen Welt deutsche Literatur zu lesen gegeben, Trakl, Celan und Johannes Bobrowski (dessen Gedichte ein toller Erfolg wurden!), Huchel, Enzensberger, Grass. Keine einfache Aufgabe, da der common reader mit dem Begriff „deutsche Literatur“ traditionell nicht allzu viele Namen verbindet. Auch hier also, in diesem ganz handfesten Sinn, gab es Brücken zu bauen, und da ist ja kein Zweiter, der so in beiden Literaturen lebt wie er. Der uns hier von Dylan Thomas erzählen kann, von Theodore Roethke, John Riley oder dem wunderbaren New Yorker Charles Reznikoff – wie jenen dort von Ingeborg Bachmann, von Huchel und Günter Eich.
Auch Nelly Sachs’ Gedichte hat Hamburger übersetzt und sich selber dem tiefsten aller Brüche genähert, dem „Zivilisationsbruch“ Auschwitz. In einer kalten Jahreszeit heißt der Zyklus, in dem er die Erinnerung an die eigene Großmutter beschwört, die nicht fortwollte aus Berlin, verschleppt wurde und ermordet. Gegen die falschen Namen und Wörter des bürokratischen Terrors ruft er das Bild auf, das ihm, dem Kind, das er war, geblieben ist, bevor das Schweigen wieder alles zudeckt:

Wie sie konspirierte mit uns Kindern,
Mit Bonbons uns bestach falls wir versprachen
Vater nichts zu verraten, daß sie – Diabetikerin –
Eine Kapsel Bonbons in der Handtasche hatte
Und wie ein Kind heimlich naschte –
Als keiner es ahnte,
daß nicht Bonbons ihren Tod verursachen würden.
Ein Radiogerät samt Kopfhörer gehörte zum Zauber
Über den sie gebot und reichlich gewährte,
Ihrerseits kindlich und liebend und wissend…

Früh schon nach dem Krieg hat Michael Hamburger Berlin besucht und ist seitdem immer wieder zurückgekommen. Wie zum höhnischen Spuk sind viele der Orte, die ihm hier zerstört wurden, erhalten geblieben. Auch stehen da noch, in seinem Haus in England, einige Möbel aus der Berliner Wohnung (soweit sie den deutschen Bombenangriffen auf London entgangen sind). Sie bilden einen seltsamen Kontrast zu der idyllischen Wildnis, die alles hier umgibt, in diesem uralten Gewinkel, in dem er seit über zwanzig Jahren lebt: im Haus Marsh Acres bei Saxmundham in der Grafschaft Suffolk, nordöstlich von London. Zusammen mit der Schauspielerin und Dichterin Anne Beresford, seiner Frau seit 1951 und Mutter der gemeinsamen drei Kinder.
Dieser endlose Garten, mehr ein großer grüner Raum, sumpfig und durchwuchert, ist zu seinem Meditationslabor geworden. Zeigt Hamburger in dem Zyklus Travelling sich selbst in Bewegung, in der Veränderung durch die Reisen, wechselnden Orte seines Lebens, verschwindet er in den Versen des Gegenstücks, In Suffolk, gleichsam im Bleiben:

Launen des Lichts, Himmels,
Solcher Fluß der Wolken,
Die Farben schwimmend, schimmernd,
Und wie der Wind vertraut wird:
So viel Bewegung im Namen des Bleibens.

Der akademische Tramp als Gärtner, der Fahrende, heimgekommen aus der Stadt. Der Stadtdichter Hamburger und der Landdichter, der beides sich grausam verschlingen sieht: Stadt und Industrie fressen das altenglische Idyll – nicht weit von Marsh Acres an der Nordseeküste liegt das Atomkraftwerk Sizewell –, dem Gesetz der Natur selbst aber, also dem Sterben, der Selbstzerstörung, entkommen auch die Städte nicht. Oft streift er die Ränder entlang. In der tristen Londoner Shakespeare Road zitiert er wie Zauberworte die alten Apfelsorten aus Shakespeares Stücken: pomewater, costard, codling, apple john. Im Ruhrgebiet (Ruhrland Szene, 1993) beobachtet er das Nebeneinander von ländlicher Restkultur und sterbender Schwerindustrie. Überrascht von Bussarden und Haubentauchern in Bochum-Langendreer, fragt er sich:

Wird der verbliebene Wald sich ausbreiten wieder, herrschen?
Heute ist alles Funktion, doch größere Stille dämpft
Zuggemurmel, Motorenzischen, ferne Sonntagsglocken.

Der Wald stirbt – und herrscht weiter. Hamburger, der Gärtner, der Apfelzüchter (jenen alten Sorten gilt seine Lust), kann sich mit kräftigen Expektorationen in rabiatökologische Rage steigern, ein Schwärmer ist er nicht. Man muss nur seine Baumgedichte aufschlagen. Eichen, Buchen, Ulmen, Birken hat er darin porträtiert. Ohne sie zu bedichten. Ohne sie sprechen zu lassen. Konzentriert schneidet er stattdessen Scherenschnitte ihres botanischen Charakters, zeigt, wie die Eiche sonderbar „zur Erde hin“ wächst, wie die Weide überlebt:

Nimm irgendeinen Zweig, ruhend
Oder vom Sturm abgerissen,
Steck ihn in die feuchte Erde,
Und er wird ein Baum.
Laß einen Stamm, gefallen
Oder gefällt, über
Dem Bach liegen,
Und er lebt weiter

Hau die trocknen Reste klein,
Verbrenn sie; sie werden spucken.

Vollendet lakonisch sind diese Baumgedichte von 1995, die zu seinen schönsten Texten zählen, und emphatisch zugleich. Es ist dieser immer ein bisschen libellisch schwebende Hamburger-Ton. Eine spröde Melodie, in der sich plötzlich ein Wort quer stellt, seltsam beharrt im Fluss, im Vergehen der Zeilen, Stille um sich verbreitet oder ein rauschhaftes Leuchten. Sanft gehandhabt in dem Langgedicht Late (1997), das, in Peter Waterhouse’ Übersetzung, leider unter dem etwas verquollenen Titel Das Überleben der Erde erschienen ist: „Ehe die Farben sich trüben, / Verschwimmen Baumform und Blattbild. / Die bunten Grüne der Farne / Verschmelzen als erste im Halblicht, / Scharlach, Malve, Blau harren aus. / Die Nachtkerze / Den ganzen Tag schlaff / Öffnet vierblättrige Blüten / Eines so reinen Gelb, / Sie erstrahlen, sie scheinen / Als hätte die Erde ein Licht / Das sie nicht Sonne, Mond, Sternen verdankt.“
In die stille Apokalyptik mischt sich ein feiner Restjubel, mit dem Garten scheint die Dämmerung selbst zu leuchten. Schon in den früheren Gedichten gibt es dieses euphorische Glühen. Oft ist es nur ein kurzes Aufleuchten, wie in den Peter Huchel gewidmeten Versen In Staufen :

Von Hochoben, einem Baumwipfel
Gleitet ein Pirol
Durch seine enge Tonskala,
Und plötzlich, einmal nur,
Leuchtet er auf in raschem Flug,
Läßt Eichen, Eschen, Fichten
Schwärzer erscheinen.

Am Ende dann, der Vogel ist lange schon verschwunden, bleibt in Hamburgers Hand ein totes Insekt zurück. Das letzte Aufleuchten ist jetzt nur noch ein Nachglühen:

Ich schloß das Buch
Und behielt den toten Körper
Wegen des Grüns und Golds seiner Flügel.

In einem Satz vereint Hamburger das Buch (in dem er gerade gelesen hatte) und den Nachglanz der Natur. Aus dem Naturbild wird ein Sprachbild. Das Ende der Lektüre und das winzige Todesstillleben in seiner Hand.
Von Anfang an ist Michael Hamburgers Literatur Abschied von der Literatur gewesen. Nicht nur Abschied von Dichtung, nicht nur Abschied von einem Stil, den er einst in jungen Jahren als bildungsbeflissen und papieren, als bookish, empfand. Sondern Abschied von den Wörtern selbst. Lebt wohl, Wörter!, ruft er ihnen zu, inmitten von Huchels Garten in Staufen. Oder seines eigenen Gartens in Suffolk, inmitten der Natur, also des Sterbens. Und schreibt weiter, immer wieder beginnend, glücklich von ihnen, seinen Wörtern, verfolgt.

Benedikt Erenz, Die Zeit, 2004

Bäume und andere Gefährten

In der Sprache von Gedichten Michael Hamburgers wie „In a Cold Season“ (1961) oder „Treblinka“ (1967) besitzt Erinnerung eine Gestalt. Laut und Rhythmus errichten eine Welt aus Farben, Gerüchen und Gefühlen, damit das Unerträgliche lebendig wird. Mit Nachdruck richtet sich Hamburgers Aufmerksamkeit auf Nebensächliches. So bringt er das Unerhörte zu Bewußtsein. Ausweichend und einsilbig, doch in traditionellen lyrischen Formen, spricht Hamburger zum Beispiel von Gras, Dung und Spucke: Zeichen am Rande einer Vorstellung vom täglichen ,Leben‘ in Treblinka.
In der Malerei ist eine Entwicklung, wie sie die Lektüre der Gedicht-Auswahl Michael Hamburgers aus den Jahren 1941 bis 1997 sichtbar werden läßt, kaum vorstellbar. Für die bildnerische Kunst des gleichen Zeitraums ist Gegenständlichkeit eine unter vielen Möglichkeiten. In der Lyrik Michael Hamburgers verlief dieser Weg anders. Hamburger hat mehrfach geäußert, daß er erst dann zu einer eigenen dichterischen Sprache gelangt sei, als er sich nicht länger auf andere Texte, auf Vorläufer verlassen hat, sondern auf die eigene Wahrnehmung, auf die sinnlichen Qualitäten der unmittelbaren Umgebung. So eine Heilsgeschichte in eigener Sache scheint auszublenden, wie sehr diese Dichtung auch dann noch ins Netz der Literaturen verflochten ist, wenn sich lyrische Sprache „nur“ an Tier- und Pflanzenwelt, Wind und Wetter, die Physiognomie von Zeitgenossen beharrlich herantastet.
Den Gläubigen kümmert diese Verdrängung nicht. Und kraftlos wirken Hamburgers Gedichte immer dann, wenn sie einer Unmittelbarkeit huldigen, die als Reservoir moralischer Maßstäbe dient, wenn Wahrheit sich allein aus der Reinheit und Einfachheit der beschriebenen Gegenstände speisen soll.
Evidenz, Gewißheit also aus dem bloßen Augenschein steuert das lyrische Werk Michael Hamburgers immer wieder an. Diese Gewißheit erreichen die Gedichte jedoch nicht dadurch, daß sie den Alltagslärm wie eine Wand durchstoßen und dahinter den Sinn des Wahren, Guten, Schönen finden. In ihren besten Momenten stellen sie Gewißheit erst her – und zwar immer wieder neu. Dort, wo die Stimme des Dichters – wie in den Tree Poems aus den achtziger Jahren – vor dem Gegenstand, den sie berührt, zu verschwinden scheint, möchte man an Makellosigkeit glauben, an das, was George Steiner „reale Gegenwart“ nannte, die durch dichterische Sprache erzeugt werden kann.
Doch Hamburger wäre nicht einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart; würden diese Gedichte nicht  den minutiös beschriebenen Baumgesellen, ihren Formen, Farben und Oberflächen, geeignete Wörter zuordnen. In ihre rauhe und sparsame Struktur; schreibt er hinein, was über photographische Möglichkeiten hinausgeht.
Nun sind diese Baumgedichte auf deutsch gleich in zwei Versionen zu lesen. Die von Peter Waterhouse übertragene Fassung tritt in der Ausgabe des Folio Verlags jeweils dem Original, gegenüber, der einsprachige Sammelband bei Hanser hat Übersetzungen von Richard Anders, Hans Raimund und Richard Exner. Sie verhalten sich zuverlässig eher wortgetreu, während Waterhouse entschieden seine Lektüre Hamburgers kenntlich macht. In seiner Übersetzung wird unterschichtig auch die Verwandtschaft zu Gerard Manley Hopkins deutlich. Was wir in dessen um 1870 entstandenem Journal unter anderem über Ulmen lernen können, überführt Michael Hamburger in ein Denkmal ihres Verschwindens heute:

Entblößt, wohl langsam,
Baumriese um Baumriese
Weißes Gestänge, löst sich
Die geknopft-gefurchte Rinde,
Bis der letzte Zweig stirbt.
Leichnam um Leichnam
Wird, gefällt und verbrannt
Von uns, ihren Bestattern.

Was verschwindet, ist nicht „die“ Natur, sondern Gesichter, Gefährten, ·Leben, Gedächtnisspuren, die zu diesen Bäumen führte, von ihnen fort. Hamburgers Gedichte buchstabieren vor, wie wir unser Wissen auslöschen.

Guido Graf, Süddeutsche Zeitung, 26.1.1998

Wirkliche Bäume

Hart- oder Weichholz?
Es ist leicht, irritierend,
Nicht kleinzellig, langlebig
Wie Eiche; gleicht das aus
Durch trotzige drahtige Zähheit
Sämtlicher Fasern.
Vom glatten Geäst
Prallt mein Beil ab;
[…]
Lasse den Stamm,

den gefallenen
Oder gefällten, liegen
Über den Bach hin,
Und er wird leben,
Sprießen aus hohlem
Verfaulendem Stumpf oder
Verwurzeln den verlorenen Arm.

Man hacke das trockene Kleinholz,
Zünde es an: es spuckt.

Als in England eine Gedichtsammlung von Michael Hamburger mit seinen Baumgedichten erschien, folgte darauf eine Besprechung mit der Überschrift: ‚Real Trees‘ – ‚Wirkliche Bäume‘. Auch wenn Bäume in Gedichten keine ‚wirklichen Bäume‘ sein können, ist es bezeichnend für die Kraft der poetischen Sprache Michael Hamburgers, daß der Kritiker meinte, wirklichen Bäumen begegnet zu sein.
Wenn Michael Hamburger aus seinen Gedichten liest, steht die Zeit still. Aus ihnen sprechen die Tiefen und die Höhen, die den Dingen innewohnende Kraft, die innewohnende Gestalt (‚inscape‘ bei Hopkins). Die sich in Worten befreien kann, weil der Autor auf sich selbst verzichtet, hinter seinem Gegenstand zurücktritt. Ob es die Balsampappel ist, der Gartentisch oder das Wetter; Zugvögel, Träume oder eine Landschaft, eine Gegend.
Die jüdische Herkunft entwurzelte 1933 den neunjährigen Jungen, als die Familie sich aus Berlin nach England rettete: in ein anderes Land, in eine andere Sprache. Er schlug neue Wurzeln und verlor nahezu die alten. Noch als halbes Kind begann er damit, Hölderlin zu übersetzen, und tut es noch heute. – Aber mit der Zeit gewann er eine in Berlin begonnene, überall gegenwärtige Sprache: die der Bäume, der Vögel, der Orte, des Wetters, des Wassers, die Sprache der Wirklichkeit, seine eigene Sprache. Deshalb mögen die Bäume, deren Wirklichkeit vor dem Leser entsteht, wie wirkliche Bäume erscheinen.
In seinem Essay „Aus der Werkstatt eines gegenstandsbezogenen Lyrikers“ erläutert Michael Hamburger Prozesse, die zu einem Gedicht führen können. So bemerkte er erst beim Vorlesen seines Gedichtes von der Schmerle, „daß der englische Name des kleinen Fisches“ seine Wortwahl bedingt hatte. „Dabei ist ‚Loach‘ eines der nüchternsten und faktischsten meiner Dinggedichte, aus langer Beobachtung dieses unauffälligen Tiers entstanden, mit keiner anderen Absicht, als dessen Wesenheit in Worte zu fassen.“ … „Im Kies, im Schlamm lauert sie, / kiesfarben zur Sicherheit, / stromlinienförmig nur um zurück / in den Schlamm zu schießen oder im Kies / zu verschmelzen, bewegungslos, lauernd.“
Auch die Baumgedichte entstanden aus der – jahrzehntelangen – Beschäftigung mit Bäumen. Sei es, daß er sie aus Samen aufzog und sorgsam ihr Wachsen überwachte, sei es, daß er aus abgestorbenen, entwurzelten oder vom Sturm gefällten Bäumen Brennholz gewinnen mußte. Und er züchtete alte Apfelsorten. Seit mehr als zwanzig Jahren wohnt Michael Hamburger nun in Suffolk, an der rauhen englischen Ostküste, wenige Meilen von der Nordsee entfernt. Auf dem einen Hektar großen Landstück gedeihen die Bäume, deren Samen er mitbrachte von seinen Reisen als Gastprofessor in den USA. Der Feigenbaum stammt noch von einem Komposthaufen in London: „Irgendein Feigenrest, als Abfall weggeschmissen.“ Eines der letzten Gedichte, das titelgebende „Unteilbar“, spricht voller Trauer vom Garten, „der mir entwächst“, und von den Toten, deren Blick mit dem seinen verschmilzt:

Wissen sie nichts, die Toten, erinnern sie nichts?
Die Augen meiner Toten treffen die meinen oder
blicken, mit meinen verschmolzen, zur Eiche, die ich gepflanzt
und die jetzt größer steht als ich, und schaun
in die lebenden Augen, die
meiner Kinder Augen waren und jetzt
in ihrer Kinder Augen schaun, sich selber
sehend oder, über sich hinaus
Züge, Zeichen, die kein Horizont umrahmt.

In dem Gedichtband „Unteilbar“ sind Gedichte aus sechs Jahrzehnten gesammelt und nach ihrem Entstehungsdatum chronologisch geordnet. Man kann sich freuen, die Gedichte in eine Band vorliegen zu haben, aber Zusammengehöriges erscheint zerstückelt, wie die „Traumgedichte“, oder getrennt, wie „Unterwegs“ und „In Suffolk“. Der wunderbaren Dichtung Michael Hamburgers tut es natürlich keinen Abbruch wenn sie in einem liebenswerten Rohling erscheint, dem der letzte herausgeberische Schliff fehlt.

Seine Lyrik durch den hohen Ton und dessen Brechung charakterisiert, das Hölderlin Studium blieb nicht ohne Einfluß: große Formen, weitschwingende Verse, ein elegischer Duktus. […] Bilder und Verse auch „jenseits menschlichen Sinns menschlicher Sinne“ (Alexander von Bormann).

Brigitte Espenlaub, Das Goetheanum, 28.3.1999

Verletzte Bäume

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt,

fragt Brecht. In Michael Hamburgers „Baumgedichten“ schwingt das Unheil jederzeit mit. Silberweide, Pyramidenpappel und Maulbeerbaum sind gezeichnet von Stürmen, die der Mensch mitverursacht hat. Aber die verwundeten Baumriesen sind zählebig. Aus gefällten Stämmen und verfaulenden Stümpfen wachsen neue Triebe. Memento mori und zugleich Hoffnungszeichen für den Dichter, der als Kind jüdischer Eltern aus Deutschland floh. Die geköpfte Platane kann „in der Beschränkung noch trinken, atmen / Noch auf dem Torso Rindenzeichnung zeigen“. Exakte Beobachtung stiftet eine unsentimentale Nähe zwischen den Pflanzen und dem Dichter, der sie pflegt. „Wir räumen auf für andern Wuchs und warten.“

bie, Stuttgarter Zeitung, 29.8.2005

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Beatrice von Matt: Ruhige Freunde, die Bäume
Neue Zürcher Zeitung, 14.10.1997

 

 

W.G. Sebald besucht Michael Hamburger. Ein Text aus dem W.G. Sebald-Forum für den ausgewanderten Schriftsteller, Wanderer, Germanisten, Autor des Elementargedichts „Nach der Natur“ und  weiterer Werke. Eingerichtet von Christian Wirth.

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Waterhouse“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Waterhouse

 

Peter Waterhouse liest beim Tanz um das goldene Nilpferd am 10.3.2012 im Klagenfurter Ensemble.

 

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Nachrufe auf Michael Hamburger: P.E.N. ✝ Die Zeit ✝ BZSZ

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Hamburger

 

Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland. Ein Film von Frank Wierke (hier in voller Länge).

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