REMYTHOGRAPHIE V
Was ist alt, was neu? Erfindend schreibe ichs nochmal,
Suchend und findend wiederhole ichs.
Wandernd über Reste von Heide an der See,
Die todbringend nennen, die das Wasser verschmähn,
Das durch Vergessen an eine andere Küste reicht,
Könnt ich vergessensvoll eine versteckte Kreuzotter
aaaaaaufscheuchen
Dann, im regulierten Wald, auf ordentlichem Weg
Eine, die sich da stille sonnt, stocksteif
Wie eine Schlange um des Lebens willen
Und, dazu, bedroht zuschnappen muß.
Im selben Dämmer oder zurück im Mittagsglanz
Könnte irgendwo ein verwandeltes mutiertes Monster
Meiner menschlichen Orientierung verlustig
In ein Labyrinth geraten, ohne Pfad und Ausgang,
Im Zickzack, im Kreis und „ohne Heimweg“
Panisch reagieren –
Welch Grozny auch der Geist der Zeit erbricht –
Am schrecklichsten, wenn nur ein bloßer Geist,
Dessen Schlauheit, dessen Unglauben Skepsis plagt.
Und dort, am Rand der See, und unverletzt
Könnt es im Trockenen hilflos ertrinken.
Die Gedichte Michael Hamburgers gehören zur europäischen Weltliteratur. Das „Ungewisse“ ist Hamburgers wahre Stärke; gut wird er dann, wenn er sein Tasten und Suchen in einen „mäandernden Satz“ packt.
Benedikt Erenz
Mit seinem Tod nimmt die englische Sprache Abschied von einem ihrer begabtesten und einflußreichsten Dichter des 20. Jahrhunderts.
Iain Galbraith
Nicht auszudenken, welch ein deutscher Dichter Michael Hamburger geworden wäre… Er schuf einen singulären Ton aus dem Besten zweier Kulturen.
Thomas Poiss
Gegen den abfälligen Begriff des Naturlyrikers hat sich Hamburger schon immer gewehrt. Er schöpft, wenn er seine Gedichte schreibt, nicht aus einer verklärten Weltsicht, sondern aus genauen Beobachtungen und Erfahrungen. Die ausgeprägte Sprachskepsis Hamburgers merkt man seinen Gedichten an. Die Worte werden um die Dinge gelegt, um sie wie eine schützende Hülle zu transportieren.
Cornelia Jentzsch
Hamburger ist der feinsinnige, spürsame Beobachter von Wandel und Veränderungen, die sich mal schleichend, mal mit abrupter Wucht vollziehen. Seine hohe Kunst besteht darin, das Alltägliche und Altbekannte neu und anders zu sehen und den Dingen im unmittelbaren Gesichtskreis abgestuftere Tönungen zu verleihen. Seine Gedichte wirken vor allem durch ihre stille, beharrliche Kraft, sie sind zugleich frisch und altersweise, tiefernst und von heiterer Lust, nachdenklich und alle Abstraktionen meidend.
Jürgen Brôcan
Michael Hamburger, geboren in Spreeathen, mit neun Jahren ins Wasser der Themse geworfen, erlernte schnell die Landessprache und erlangte – eingebunden in Schule, Armee, sowie Universität – eine britische Identität und konnte so zum englischen Dichter werden. Seine deutschen Wurzeln waren noch stark genug, um auch als Übersetzer und Kulturvermittler zu wirken – ein Glücksfall für die beiderseitige Literatur.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2017
Obwohl in Spreeathen geboren, wurde Hamburger kein Berliner. Seine hitlerfliehende Familie rettete mit der Emigration nach England auch sein Kinderleben. Der Oxfordstudent diente in der Britischen Armee und lehrte an englischen und amerikanischen Universitäten. Parallel dazu wurde er ein bedeutender Dichter und Übersetzer deutschsprachiger Dichtung, der seinerseits namhafte Autoren zu Freunden und Dolmetschern seiner naturbehausten Erinnerungsdichtung zählt.
Richard Pietraß, in Eugen Roth: Poesiealbum 328, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2017
Sein Garten, seine Apfelbäume im britischen Suffolk waren Legende. Da lebte ein hochgelehrter Mensch – Berliner, Jude, frühzeitig deutscher Exilant, dann britischer Soldat gegen Hitler – am Schnittpunkt von natürlicher Wildnis und pflegerischem Amt. Da genoss ein Feinsinniger das Unkraut wie die Urbarmachung. Da lobte ein Poet der unmittelbaren und geheiligten Praxis den Wuchs und die Wartung, liebte die Lichtgeilheit sämtlicher Triebe und deren Zähmung durch Pflanzung, Zucht und Ernte. Nichts ist schöner als Natur, nichts ist anstrengender als Natur, nichts ist grausamer als Natur: Das Mickrige wird beseitigt. Und zwar vom Gärtner oder von den üppig sich ausbreitenden Lichträubern aus Laub – die in der Wildnis die Mehrheit bilden. Wer Natur als Gleichnis bemüht, sollte also vorsichtig sein.
Diesem großartigen Dichter Michael Hamburger (1924–2007) ist nun ein Poesiealbum gewidmet. Sein Werk, im Deutschen beheimatet bei Hanser und Folio, ist umkreisend und bedenkend, seine Gedichte erzählen – an der Grenze zur Prosa. Sie verzittern sich leidenschaftlich leise in Wurzelnähe zur Philosophie. Und in Lufthöhe zur Illusion – davon, was möglich wäre:
Dass wir nicht abermals behaupten,
Was zu wissen wir vorgeben
Was zu benötigen wir vorgeben
Was wir vorgeben zu sein,
Die wir die Sprungfedern der Freude
Mit Verschwendung schmieren und Gier
In diesen Versen kommen Taube, Biene, Azurjungfer, Schwalbenschwanz, Nachtfalter, Tagfalter, Grüngestrichelter Brombeerfalter, Wintergeißblatt vor. Das sind nahezu prosaische Namen – und zugleich sind es Schlüsselworte, um zwei Räume, einen bekannten und einen unbekannten, zusammenzuschließen. Hamburger will wissen – und stößt auf die Unergründlichkeit. Er stößt also auf das, was Menschen, die tagtäglich mit Welterklärung beschäftigt sind, sichtlich überfordert. Ja, Erklärung, Aufklärung sind zu einem Reflexverhalten geworden, dem die Glaubwürdigkeit abhanden kam, auch wenn aus den Verlautbarungen von Kommentatoren, Ideologen, Analytikern noch immer, hie und da, Viertelwahrheiten entweichen. Eher: verpuffen. Hamburgers Gedichte – etwa über die Sicherheit, das Sterben, Metropolis, Hölderlin, Treblinka und die S-Bahn – beschwören das Dunkle und das Schwierige. Mit einer inständigen Hoffnung:
dass die Vernunft nicht noch zerstörerischer wird als die losgelassene Unvernunft.
Hamburger erscheint in diesen Versen als Dichter, der sich hoch hinaus sehnt, aber den Himmel würde er sich freilich nie leerträumen – er weiß um dessen nutzbringende Funktion für den Obstbau. Sei es Regen, sei es Sonne, sei es Schatten. Doch kaum ist er ein Bodenständiger, gewieft in Ordnung, Kategorien und Arbeitsteilung, geht ein neuer Traum an den Start:
Mög’ es Beflügelte geben, zu
Verbinden Erde, Wasser und Luft
Wer nach Friedrichshagen fährt, ganz im Osten Berlins, und das Haus in der Ahornallee 26 besucht, in dem das Zimmer von Johannes Bobrowski noch immer seinen einstigen Bewohner zu erwarten scheint und darüber zum Museum geworden ist, braucht zu Fuß kaum zehn Minuten bis zur Spree und zum Müggelsee, an dessen Ufer J. B. mit seinen Gästen spazieren ging. Manchen mag die Weite des Sees überrascht haben, vielleicht auch die bewaldete Erhebung des gegenüberliegenden Ufers – von den Berlinern selbstbewußt Müggelberge genannt –, deren Anblick die Stadt, die sich von rechts bis an den Augenwinkel herandrängt, vergessen macht. „Wenn einer käme, dies zu beschreiben in zwei Sätzen, der wär ein Dichter“, behauptete J. B., als forderte er seine Besucher zu einem Spiel heraus.
Zweimal war Michael Hamburger in Friedrichshagen zu Gast, das erste Mal am 3. November 1963, dann wieder, gemeinsam mit seiner Frau, am 23. Mai 1965, ein Viertel Jahr vor J. B.s Tod.
Am 21. März 64, einen Tag vor seinem 40. Geburtstag, schreibt M. H.:
Die Arbeit musste ich abbrechen – es ging einfach nicht – doch schrieb ich statt dessen mein erstes Gedicht auf Deutsch – wenn es ein Gedicht ist, ich weiss es nicht. Eigentlich gehört es zu diesem Brief. Darum schreibe ich es ab.
BEGEGNUNG
„Hier bin ich geboren –
auf der anderen Seite der Stadt,
in der gemordeten Zeit,
kann hier nicht, dort nicht wohnen,
unterwegs, ich suche den Ort.“
„Hier wohne ich –
am Ufer, schaue nach Osten
in die gemordete Zeit,
wo der weite See sich verliert,
dahinter, komme ich her.“
Und doch, hier stehn wir zusammen,
das Wasser ruht, unsere Blicke
treffen es, ruhen sich aus,
auf keiner Seite der Stadt,
in wieder lebender Zeit.
Vor dem Erstdruck mit der Widmung „für J. B.“ änderte M. H. die letzte Zeile zu: „in einer lebenden Zeit.“ J. B. nennt es „ganz ein Michael-Gedicht“, „wie Sie dastehn, sprechen, wie wir Sie vor Augen haben, wenn wir, oft, von Ihnen reden.“
M. H., 1924 in Berlin, in der Lietzenburger Straße, wenige Schritte vom Kurfürstendamm entfernt, geboren, emigrierte 1933 mit seiner Familie nach Großbritannien. Die Großmutter blieb und wurde ermordet. Der eigentliche Ort seiner Kindheit aber waren Haus und Garten der Großeltern in Kladow, ganz im Westen Berlins, am Ufer der Havel und des Wannsees. In seiner Autobiographie Verlorener Einsatz beschreibt M. H. die Begegnung mit einem gleichaltrigen Mädchen.
Wir haben uns wohl beim Schwimmen im See getroffen. Oberhalb vom Gemüsegarten meines Großvaters bauten wir uns an einer abgelegenen Stelle auf dem waldigen Hügel ein Versteck und verbrachten dort endlose Stunden inniger Zweisamkeit, die wir als Ehe betrachteten. Die gewaltsame Trennung von diesem Mädchen bedeutete mir mehr als alle anderen Verluste. Sie blieb in Deutschland, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.
Die beiden großen Seen Berlins, nahezu gleichweit von Berlin-Mitte entfernt, scheinen sich spiegelbildlich aufeinander zu beziehen, so wie auch die Biographien der beiden Dichter eine gewisse Spiegelverkehrtheit aufweisen. J. B., 1917 in Tilsit (heute Sowjetsk) geboren, verbrachte seine Schulzeit in Königsberg, die Ferien im Memelland, kam nach zwölf Jahren als Soldat – die letzten vier in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – nach Berlin, wohin seine Eltern 1938 gezogen waren. Dorthin, wo er aufgewachsen war, hätte er nicht zurückkehren können. Das Völker-, Kulturen- und Sprachengemisch, dem seine Familie entstammte und das ihn geprägt hatte, war, sofern es überhaupt noch existierte, für ihn verloren.
M. H., der als Schüler erst zu Hause hatte nachfragen müssen, ob er „Jude“ sei oder nicht, kehrte 1945 als britischer Staatsbürger und Offizier nach Berlin zurück. An ein Bleiben war nicht zu denken. Eine Folge der Emigration ist „diese verfluchte Zweisprachigkeit.“
Anfang Dezember 62 lernen sich Johannes Bobrowski und Michael Hamburger auf einer Schriftstellertagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg kennen, der erste Brief datiert vom 1.1.63, der letzte vom 8.5.65; am 2.September 65 stirbt J. B. an den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung.
Das Zwiegespräch ihrer Gedichte jedoch begann früher und wird so bald nicht enden.
Bereits im zweiten Brief bekannte M. H.:
Schon über ein halbes Jahr lang habe ich keine Gedichte geschrieben, fürchte aber diesmal kaum, daß es ganz aufhören wird – zum Teil auch, weil es mir nun weniger wichtig vorkommt, wer die Gedichte schreibt.
J. B. beschloß seine Antwort:
Der Gedanke, es sei weniger wichtig, wer die Gedichte schreibt, berührt mich sehr, ich habe ihn auch. Seit langem denke ich bei jedem Gedicht, es könnte das letzte sein, und ich denke es ohne Schmerz. Vielleicht war dies für mich das Letzte, ich leg es bei.
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie für den Anderen, für andere überhaupt da sind, weil es weniger wichtig sei, wer die Gedichte schreibt, verbindet die beiden Dichter wie ein unterirdischer Strom, weshalb sehr schnell aus Bekanntschaft Freundschaft werden konnte. Diesen Dichtern liegt – und das ist weder tautologisch noch selbstverständlich – an der Dichtung.
Manchmal gehen die Gedichte direkt aus den Briefen hervor, stets sind sie als Dritter im Bunde anwesend.
„Wie Sie es tun, so kann man über Gedichte sprechen, über die eigenen – so ganz frei und so ganz einbezogen zugleich. Es bewegt mich immer sehr wenn Sie es tun“, schreibt J. B.
Mehr als in Briefen haben sie sich mit Gedichten verständigt und verstanden, nicht nur mit den eigenen. Hölderlin ist für beide der große Bezugspunkt, man erkennt einander an der Hochschätzung des damals bereits verstorbenen und kaum bekannten Franz Baermann Steiner. J. B. recherchiert für M. H. über Jesse Thoor, dessen Werke Hamburger herausgibt.
Geradezu eine Lektion in Kollegialität sind jene Passagen, in denen J. B. um Beurteilung der englischen Übersetzungen von Ruth und Matthew Mead bittet. M. H., der selbst, wie der gemeinsame Freund Christopher Middleton, J. B.s Gedichte übersetzt, zollt den Meads nach anfänglicher Skepsis höchstes Lob, das in dem apodiktischen Satz gipfelt.
Mead muss aber ein Dichter sein; und das ist die Hauptsache dabei.
Man erwartet die Gedichte des anderen, erbittet Proben, fragt nach, möchte Rat und berichtet von der Lektüre.
Ich kann schwer ausdrücken, wie mich diese Gedichte ergreifen – fast körperlich, so daß ich immer nur wenige Gedichte ertragen kann. (M. H.)
Man vergißt schnell die Sprachbarriere, die zwischen den beiden Werken liegt. J. B. ist bei der Lektüre von M. H.s Gedichten auf sein Schulenglisch angewiesen, glaubt aber den Ton in den Gedichten herausgefunden zu haben.
Aus Ihren Gedichten… kommt mir als erstes das Landschaftliche entgegen. Das andere kommt noch, ich merks schon, beim weiteren Lesen.
„Übrigens sollte ich wirklich Bauer werden, ursprünglich, in der Gegend, wo ich herstamme“, bekannte J. B. Als Leser glaubt man das geahnt zu haben, ein Städter könnte nicht so von der Landschaft und ihren Bewohnern und deren Vorfahren sprechen. Auf ähnliche Weise lassen M. H.s Gedichte erkennen, wie unmittelbar ihr Autor auch im Alltag Land und Natur braucht und sie kennt.
Wenn Bobrowski der Bauer ist, so ist Hamburger der Gärtner. Diese Affinität und dieser Unterschied verbindet sie und ihr Werk (wie es von Seiten Bobrowskis wohl nur mit Peter Huchel möglich war), und hat wohl viel zur Wahlverwandtschaft der beiden Dichter beigetragen.
Wer zudem von seinem Ort fortgerissen wurde und nicht zurückkehren kann – so denkbar verschieden beide Fälle sind – kämpft fortan immer gegen die Bodenlosigkeit an. Die Gedichte von M. H. und J. B. lassen sich auch als Versuche lesen, dieser Bedrohung zu widerstehen.
So nahe liegend die Idee war, den Briefwechsel vollständig zu veröffentlichen (manche Passagen finden sich bereits in dem Marbacher Katalog zu Bobrowski), so verdankt sich der entscheidende Impuls einem Abend im Oktober 2002, an dem M. H. im Literaturhaus Berlin auf Einladung der Johannes-Bobrowski-Gesellschaft über J. B. sprach. Am Tag zuvor waren M. H., Peter Waterhouse, der mehrere Gedichtbände von Michael Hamburger ins Deutsche übertragen hat, und ich nach Kladow gefahren, auf der Suche nach dem großelterlichen Haus. Ein viele Jahre zurückliegender Versuch war M. H. bereits geglückt, obwohl die Straßennamen sich geändert hatten, aus dem Sandweg eine Asphaltstraße geworden war, aus dem Flachdach ein Spitzdach. Vor allem erschwerten neue Häuser an Stelle von Gemüsegärten und Wiesen die Orientierung.
Vom Parkplatz in der Nähe der Wannseefähren aus liefen wir den Hang hinauf.
Der 78jährige M. H. stürmte voran, wir hatten beinah Mühe zu folgen.
Nach einigem Umherirren fragten wir einen der wenigen Passanten, einen großgewachsenen Mann, nach einem Haus am Hang, dessen frühere Adresse wohl „Am Quastenhorn“ gewesen war.
„Ach!“ rief er, „sie meinen das Haus, in dem Goebbels – oder nein: Göring gewohnt hat?“ „Nein“, erwiderte M. H., „das ist es bestimmt nicht.“ Der Verdacht, wir bewegten uns auf Goebbels oder Görings Spuren, erschien mir in diesem Moment aberwitzig. Was es denn da zu lachen gäbe, fuhr mich der Mann an, dafür gäbe es gar keinen Grund, die (Goebbels und Göring) wären schließlich „Personen der Zeitgeschichte wie viele andere auch.“ Trotz der Beschwichtigungsversuche von M. H. beruhigte sich der Mann nicht mehr, weshalb wir das Weite suchten; allein M. H. bedankte sich freundlich bei dem Kladower.
Eine Viertelstunde später standen wir vor dem Haus, klingelten vergeblich (bei dem ersten Besuch hatten die neuen Besitzer ungefragt versichert, alles rechtmäßig erworben zu haben) und ließen uns von M. H. die frühere, nun verbaute Aussicht auf den See beschreiben, auch die Lage der Gärten und des Hauses seiner Kindheitsfreundin.
Danach kehrten wir in dem kleinen, etwas heruntergekommenen italienischen Restaurant gegenüber der Anlegestelle ein, wo wir uns an den letzten freien Tisch setzten. Am Nebentisch hatte fast gleichzeitig eine ältere Dame Platz genommen. M. H. sprach sie an. Ja, sagte sie schließlich, sie habe hier schon immer gewohnt. Auch er sei früher hier sehr viel gewesen, sagte M. H., er habe aber 1933 mit seinen Eltern Deutschland verlassen müssen, mit neun Jahren. Sie nickte. Der Abschied, sagte M. H., sei ihm sehr schwer gefallen. Eine schwere Zeit damals, sagte er. Die Dame blickte kurz zu ihm auf, um dann wieder aus dem Fenster zu sehen. Ein Kellner glaubte, einschreiten zu müssen, ließ sich aber leicht beruhigen. Nicht einfach sei es damals gewesen, sagte die ältere Dame, besonders nach 45, die britische Besatzung, das sei wirklich eine schwere Zeit gewesen. Noch höflicher als bei unserer ersten Begegnung zog sich M. H. an unseren Tisch zurück.
Er habe die alte Dame angesprochen, schrieb M. H. später, „weil ich das Gefühl hatte, daß sie zum Kladow meiner Kindheit gehört und vielleicht sogar jenes Mädchen war, in das ich verliebt war? Ob sie dieses war, werde ich nie wissen und konnte sie auch nicht fragen, da ich sogar den Namen vergessen hatte! Sie wollte ja nur über das Unheil der britischen Besatzung sprechen – was zu politischen Fragen geführt hätte. […] Nie hätte ich eine fremde Frau angesprochen, wenn mich nicht irgend etwas Unverständliches dazu gedrängt hätte.“
Es fällt auf, daß in den Briefen nicht von der Vergangenheit die Rede ist. Man sollte das nicht als selbstverständlich abtun.
Der Emigrant, dem jene nach dem Leben trachteten, deren Uniform der Stabsgefreite J. B. trug, hat das, was ihm widerfuhr, in vielfacher Hinsicht als Aufgabe verstanden. Bereits 1943 veröffentlichte er seine ersten englischsprachigen Hölderlin-Nachdichtungen (in den Briefen meldet er den Abschluß der Hölderlin Übersetzungen!). Seither hat M. H. als Übersetzer, Vermittler, Kritiker, Lehrer, Herausgeber, Essayist und gastgebender Freund im wahrsten Sinne des Wortes Unschätzbares für die deutsche Literatur, vor allem die Lyrik, geleistet, nicht selten unter Zurücksetzung des eigenen Werkes.
J. B. hat die Wahl seines Themas als „so etwas wie eine Kriegsverletzung“ beschrieben.
Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: Die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des Deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buche steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten.
In seinem großen Buche Wahrheit und Poesie – Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart sieht M. H. die deutschsprachige Nachkriegslyrik in der besonderen Spannung zwischen „Gewissen und Schöpfertum.“ Und schreibt dann über seinen Freund:
Gewissen und Schöpfertum sind in bewundernswerter Weise in Einklang gebracht im Werk des DDR-Lyrikers Johannes Bobrowski.
In dem Gedicht „Freunde“ heißt es in eindeutigem Bezug auf Bobrowski:
Zwischen seinem Fluß, seinem Reiher
Und der nächsten ausgebrannten Hütte
Der Hiatus, die tödliche Distanz,
Die sein Atem überbrückt.
„Rede, daß ich dich sehe, sagen wir. Rede, daß wir dich sehn“, steht in den Litauischen Clavieren. Bobrowski forderte von sich selbst, in seinen Gedichten „uniformiert und durchaus kenntlich“ zu stehen. Hat er es eingelöst? Ja und Nein. Was auch immer unausgesprochen blieb, im Gedicht, in der Prosa war das Unaussprechliche gegenwärtig.
Wo trafen sich Blicke?
Auf dem Wasser. Nur auf dem Wasser.
Und immer wußten wir beide:
unterm Spiegel zerrinnt der See.
So die zweite Strophe von Michael Hamburgers Gedicht „Abschied, in memoriam Johannes Bobrowski“, das diesen Briefwechsel beschließt.
Der letzten Zeile „Weitergehn. Sterbender. Stummer.“ ließe sich antworten, daß nicht nur das Werk der beiden Dichter, sondern auch ihre Freundschaft, die von diesen Briefen skizziert wird, die Welt lebenswerter und stimmenreicher gemacht hat.
Ingo Schulze, in Johannes Bobrowski / Michael Hamburger: „Jedes Gedicht ist das letzte“. Briefwechsel, herausgegeben und kommentiert von Jochen Meyer
– Leseerfahrungen mit Michael Hamburgers Lyrik. –
1
A curious trade, I admit:
Turning a thing into words so that words will render the thing;
Setting a movement to words so that words will render the movement.
But words about words about things? I can do without them.
(Michael Hamburger: „Words“, in: Collected Poems, Manchester 1984, S. 183)
Der 1924 in Berlin geborene, seit 1933 in England lebende Autor Michael Hamburger ist unbestritten einer der Großen der zeitgenössischen Literatur. In den deutschsprachigen Ländern ist er lange Zeit vor allem als Essayist und Übersetzer, weniger als Lyriker, bekannt gewesen. Die Namensliste der Autoren, die Hamburger unter anderen aus dem Deutschen ins Englische übersetzt hat, stimmt einen ehrfürchtig: Hölderlin, Büchner, Rilke, Celan, Eich, Enzensberger, Jandl…
Das erste Buch von Hamburger, das mir in den 60erJahren in die Hände fiel, war die Sammlung von Essays und Gedichten mit dem Titel Zwischen den Sprachen (1966). Weitere frühe Begegnungen mit dem Werk Hamburgers waren die Lektüre seiner Ausgabe der Gedichte und Erzählungen Jesse Thoors (1965), deren informative Einleitung ich mit größerem Gewinn las als Thoors Texte, und schließlich die der Essaysammlung Die Dialektik der modernen Lyrik (1972), neben Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik, d a s Werk, das mir, wie vielen, zu einem besseren Verständnis des modernen Gedichts verhalf.
Im Jahr 1988 brachte mich der Leiter der Alten Schmiede in Wien, Kurt Neumann, anläßlich einer Lesung Hamburgers und seiner Frau Anne Beresford, mit Hamburger in persönlichen Kontakt. Von da an beschäftigte ich mich, unterbrochen durch längere Pausen, ein Jahrzehnt mit der Übersetzung von Gedichten Hamburgers. Die Ergebnisse meiner vom Autor stets kontrollierten übersetzerischen Bemühungen erschienen in österreichischen und deutschen Literaturzeitschriften und schließlich, zusammen mit den Übersetzungen zahlreicher anderer Übersetzer, in dem Sammelband Unteilbar (Gedichte aus sechs Jahrzehnten. München Wien 1997)
Bei meinen ersten Kontakten mit Hamburgers Lyrik wußte ich mit den Texten sehr wenig anzufangen. Sie blieben mir fremd, wirkten auf mich spröde, sperrig, unzugänglich, ärgerlich wortreich, vage und willkürlich im Hinblick auf Syntax und sprachliche Bilder… Auch die damals schon vorhandenen Übersetzungen, ein Bändchen des Literarischen Colloquiums Berlin und der Band Heimgekommen aus dem Hanser Verlag, vermochten es nicht, mir die Texte näherzubringen – und das, obwohl sich namhafte deutschsprachige Autoren der Übersetzungen angenommen hatten, von Andersch und Jeannie Ebner über Enzensberger und Fried bis zu Kunze und Kunert…
Das negative Bild von Hamburgers Lyrik änderte sich – keineswegs mit einem Schlag – aber schließlich von Grund auf, als ich mich planvoll lesend mit dem Band Collected Poems beschäftigte, vor allem aber, als ich, schon einigermaßen ,eingelesen‘, mich mit bestimmten Texten immer wieder übersetzend befaßte.
Man kann 370 Seiten Lyrik nicht auf einen Sitz durchlesen, wie einen Roman. Also ,lebte‘ ich mit den Texten, wochenlang täglich längere oder kürzere Zeit lesend, in der vorgegebenen Reihenfolge oder quer hindurch, mich auf einzelne Gedichte, oft nur auf einzelne Zeilen von Texten konzentrierend, Themen, Motive isolierend, etwa ,Bäume‘, ,Katzen‘, ,Reisen‘, ,Außenseiter‘, deren Konstanz und Entwicklung in Texten aus verschiedenen Zeiten verfolgend, stilistische Unterschiede ausspürend, formulierend…
Das Erstaunliche an dieser Leseerfahrung war, daß die anfangs festgestellten negativen Kriterien, die mir den Zugang erschwert hatten, mit der Zeit keineswegs hinfällig wurden, sondern bei wachsender Vertrautheit mit den Themen und dem Idiom des Autors, zu positiven Kriterien sich wandelten, zu Kriterien, die den Reiz dieser Gedichte ausmachten, die erst den Blick für die bislang unvermuteten Qualitäten dieses Dichters freimachten, wie Humor, Verletzlichkeit, Unaufdringlichkeit, das bewußte Sich-Bescheiden-Wollen mit dem nicht vollkommenen Text, die Fähigkeit, Texte, vor allem die größerer zyklischer Formen, nach musikalischen Gesichtspunkten zu strukturieren…
2
„Travelling“ ist ein zyklisches Gedicht in 9 Teilen, die in den Jahren 1968 bis 1976 entstanden sind. Es bildet, zusammen mit dem Zyklus „In Suffolk“, unter dem Titel „Variations“ die 8. Abteilung der Collected Poems.
Der äußeren und inneren Gestalt nach ist der Text „Travelling“ ein gedankliches und sprachliches Perpetuum Mobile, das, seiner Natur entsprechend, zu keinem Ende kommt, kommen kann. Die Ergebnisse der angesprochenen Lern- und Verlern-Prozesse sind Zwischen-Ergebnisse, Zwischen-Bilanzen, die auf der Stelle durch neue Erfahrungen korrigiert werden. Derart wird der Text die notwendigerweise vorläufige Zwischen-Summe eines Lebens, das Da-Sein als ständiges In-Bewegung-Sein zwischen dem Hier-Sein und dem Dort-Sein erlebt: als Unterwegs-Sein.
Unterwegs-Sein, sowohl wirklich als auch metaphorisch, ist eine wichtige Thematik für das Schreiben Hamburgers, von den frühen Gedichten an, z.B. „From a Train Window“ (1942), „Rimbaud in Africa: A Lost Letter“ (1944), „From the Notebook of a European Tramp“ (1945–1948) über die Gedichte der mittleren Schaffensperiode, z.B. „In Massachusetts I/II“ (1966, 1975) bis zu den späten, z.B. „Travelling“ und manchen der „Dream Poems“ ab 1961.
Hamburgers Unterwegssein ist nicht das für den Massentourismus unserer Tage typische Reisen als Flucht vor sich selber, auch nicht das Reisen um des Reisens willen der Interrail-Generation, sondern ein archetypisches Getriebensein als Folge eines Vertriebenseins. Es ist eine oktroyierte Lebensform, oktroyiert durch die gewaltsame Vertreibung und den zum Scheitern verurteilten Versuch, Heimat zu finden in einem neuen Raum, zum Scheitern verurteilt auch deswegen, weil der Mensch, zumindest psychisch, nur für das Leben in einem Kultur-, Sprach-, Traditionsraum strukturiert zu sein scheint. Trotz der konsequent betriebenen Internationalisierung in Erziehung, Kultur, Verkehr, Handel, Politik etc. ist diese ,Antiquiertheit des Menschen‘ anscheinend unüberwindbar geblieben.
Es liegt nahe, den für den Dichter Hamburger wesentlichen Begriff des Unterwegsseins zur Biografie des Menschen Hamburger in Beziehung zu setzen, erklärend, begründend…, sozusagen ein Psychogramm des Entwurzelten, Vertriebenen, Exilierten als Grundlage der Interpretation der Texte anzubieten.
Aber ein solcher Versuch wäre, so glaube ich, durch nichts in den Texten gerechtfertigt, in denen zwar Vetriebensein, Heimatlosigkeit häufig, direkt oder indirekt, thematisiert werden, aber stets als vollendete Tatsache hingenommen werden, ohne den Versuch der Erklärung konkreter, biografischer Ursachen; vor allem aber auch ohne Beschuldigungen und Anklagen, wie bei anderem zeitgenössischen Autoren, die ein ähnliches Schicksal wie Hamburger hatten.
Hamburgers Gedichte sind, trotz gelegentlicher autobiografischer Reminiszenzen, nie einsinnig vergangenheitsbezogen. Sein Standpunkt ist stets der eines beinah unpersönlichen, für viele relevanten Jetzt. Er bemängelt und beklagt zwar dieses Jetzt, den Ist-Zustand, aber er klagt niemanden an, beschuldigt keinen. Er hebt seine Stimme nicht, um Urteile zu sprechen, sondern verhält im Gegenteil seine Stimme, die, je leiser sie tönt, umso eindringlicher wirkt. Es gibt in dem Band Collected Poems nur ein Gedicht, „Treblinka“, das sich auf distanzierte Weise, aber ausdrücklich mit dem, auch für Hamburger selbst schicksalhaften Los der Juden unter Hitler beschäftigt.
Die Erfahrung von ,Entwurzelung‘ und ,Wieder-Einwurzelung‘, die Hamburger gemacht hat, erklärt vielleicht seine auffallende Vorliebe, das poetische Bildmaterial für seine Gedichte der Pflanzen- und Tierwelt zu entnehmen.
Es hilft dem Leser, bei der Lektüre der Lyrik Hamburgers immer wieder ein botanisches und zoologisches Lexikon zu verwenden. Ich kann mir z.B. unter ,Hartriegel‘, ,Schmerle‘, ,Erdhörnchen‘ nicht viel vorstellen. Zur Not weiß ich noch, wie Ulmen, Hyazinthen, Hausschwalben aussehen.
Bäume, Blumen, Fische, Vögel usw. scheinen für Hamburger Symbole für die verwurzelte, d.h. in Harmonie mit ihrer Umwelt lebende Kreatur zu sein, deren Existenz, wie die des Menschen, an bestimmte, nicht auswechselbare Räume gebunden ist, wie Luft, Erde, Wasser, Wald und Garten, die ein daraus heraus Gerissenwerden in der Regel nicht überleben, während der Mensch eine ,Entwurzelung‘ physisch, wenn auch selten psychisch unbeschadet, zu überstehen und zu bewältigen imstande ist.
Eng verbunden mit der allgemein menschlichen Problematik der ,Entwurzelung‘ ist die des Außenseiters in der Gesellschaft. Von Anfang an ist das Außenseitertum eine zentrale Thematik für Hamburger, in Gestalten wie Hölderlin, Rimbaud, Trakl, Judas, Prospero, anonymen ,outlaws‘ und Vagabunden, Philoktet, Narziß, alten Menschen, immer wieder auch in der Gestalt des ,Ich‘ des Autors, aber distanzierend verfremdet zu einem ,Er‘, ,Man‘ oder ,Wir‘…, bis hin zum diskret bekenntnishaften, endlich unverstellten ,Ich‘ der späten Gedichte.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang z.B. der Text „Conformist“ (1961) (Collected Poems, S. 106), in dem der vielleicht auf der persönlichen Erfahrung des Autors begründete, jedenfalls vergebliche Versuch dargestellt wird, das Außenseitertum zu überwinden.
Branded in childhood, for thirty years he strove
To hide the scar, and truly to believe
In the true fundaments of that commonweal
Which once had outlawed him beyond repeal,
(…)
An dem kafkaesken Türhüter, an uncorruptible guard, der vor dem Tor zum ,Drinnen‘ steht (was immer dieses ,Drinnen‘ auch ist), darf er erst vorbei, als er sich zur Anpassung, zur Konformität entschließt. Er betritt das erstrebte ,Drinnen‘ – und geht sofort wieder nach ,Draußen‘:
(…) … to breathe the ownerless air
Night sky transfigured, lucent, fresh and clear
After the ceilings puffed in emulation.
His own place found at last; his own self found –
Outside, outside – his heritage regained
By grace of exile, of expropriation.
Was hatte er im ,Drinnen‘ gesehen?
The dress and furniture of his own terrors,
A glittering medal pinned on his own wound,
And, at the heart, an empty hall of mirrors.
Es ist im Fall Hamburger nicht so, daß er nicht dazu gehören w i l l, sondern daß er, durch das Schicksal bedingt, nicht dazu gehören k a n n: das Selbst, das seinen Standort einmal im ,Draußen‘ gefunden hat, akzeptiert sein Außenseitertum, bekennt sich eigensinnig dazu.
Sind die meisten frühen Gedichte Hamburgers durch den Verzicht auf den Gebrauch des Wortes ,Ich‘ geprägt – noch 1971 sagt er in dem Gedicht „Vehikel II“:
Immer wenn ich die erste Person Einzahl in einem Gedicht benütze,
erinnert mich das daran, daß mehr als zwei Drittel der Menschheit
sich ein Ich so wenig leisten können wie einen Cadillac,
geschweige denn eine singuläre Person
(Unteilbar, S. 72)
– so findet man in seinen späten Gedichten häufig ein sprechendes ,Ich‘. Es ist aber weniger ein individuell konturiertes, privates ,Ich‘ als vielmehr der Träger, das Sprachrohr bestimmter, für alle repräsentativer Lebensgefühle und -erfahrungen, vor allem auch der Heimatlosigkeit, des Umgetriebenseins, des Unterwegsseins.
3
Mit „Travelling“ ist Hamburger, der keineswegs zu den experimentellen Autoren unserer Zeit zu rechnen ist, ein formal und inhaltlich eigenständiger Gedichttypus gelungen. Der Zyklus besteht aus 9 Teilen, zu jeweils 4 bis 6 Abschnitten, wenn man will: Strophen (deren Numerierung in der deutschen Übersetzung weggelassen wurde). Die Abschnitte bauen sich zumeist aus zwei bis drei syntaktischen Einheiten, Sätzen, auf, die sich auf mehrere Kurzzeilen verteilen. Die Struktur der Sätze ist kurzatmig, gehetzt, oft verschachtelt, den konventionellen Satzbau sprengend. Adjektive, deren Häufigkeit in den früheren Gedichten die Lektüre erschwerte, werden hier sparsam verwendet.
Vorgeprägt, inhaltlich und formal, ist dieser Texttypus schon in früheren und zur gleichen Zeit verfaßten Texten wie etwa „In Massachusetts I/II“, in manchen der Traumgedichte, vor allem was das Gleiten von einer Traumlandschaft in die andere, das Ineinanderfließen der Traumbilder betrifft, weiters, besonders im Hinblick auf die Thematik des Unterwegsseins, in dem Gedicht „Gone“, einem dramatischen, vom Autor kommentierten Monolog des Dichters Thomas Good, dem Archetypus des entwurzelten, heimatlosen Außenseiters, der versucht, mit seinem Versagen zurande zu kommen, indem er verschwindet, aber auch in Gedichten wie „Dust“ oder „Mad Lover, Dead Lady“, in denen zwar verhüllt, aber erkennbar Autobiografisches zur Sprache gebracht wird.
Was den Zyklus „Travelling“ formal auszeichnet, ist die Kunst der musikalischen Strukturierung, die thematische und motivische Arbeit mit einzelnen Wörtern, Begriffen, Sätzen, das Weiterspinnen und Ausspinnen von Motiven, die oft überraschend in neuen Sinnzusammenhängen, gleichsam anders harmonisiert, auftauchen, das kontrapunktische Gegenüberstellen, die Engführung und Vereinigung der Themen – also die kunstreiche Durchgestaltung eines Texts nach musikalischen Prinzipien, die bei Hamburger aber weniger vordergründig plakativ wirkt wie etwa in Celans „Todesfuge“. Ich beschränke mich im Folgenden auf die ersten drei Teile des Gedichts, die, um bei musikalischen Analogien zu bleiben, eine Art Themenexposition bilden, nicht die knappe Exposition der Wiener Klassik, sondern eher die breite, motiv- und materialreiche der späten Romantik.
Das Hauptthema des Zyklus ab der ersten Zeile – Berge, Seen. Hier war ich schon früher, – präsent, ist das Unterwegssein, die ständige Bewegung von Ort zu Ort. Die Landschaft, die mit den ersten beiden Wörtern evoziert wurde, bleibt vage, fast abstrakt, trotz der, innerhalb des ersten Teils bewußt gestuften Spezifizierung:
Berge, Seen.“ (I. Abschnitt), Berge. Ein See.“ (3. Abschnitt), Dieses Bergs, dieses Sees. (4. Abschnitt), auch trotz des sofort im Anschluß gehäuften typischen Anschauungsmaterials: Pflanzen, Tiere, Menschen, das Wetter, Ruinen – Ruinen sind ein für Hamburgers Lyrik charakteristisches poetisches Bild –. Diese Erfahrung der Schemenhaftigkeit der Orte, der Landschaften ist ein wichtiges Motiv des Hauptthemas, das im 2. Abschnitt angestimmt wird. Das Unterwegssein des „Ich“ ist kein Reisen, sondern ein Getriebensein, eine Zwangshandlung, zu deren neurotischer Grundstruktur auch der Wille zum Fassen und Halten des mit den Sinnen vag Erlebten gehört:
Und ich ging weiter, lernte
Eine der vielen Überlieferungen,
ein Wetter, einen Kräuter-
Dialekt, einen Wohngrund
Nach Wanderung und Verschleppung,
Fiel gierig her über
Einen Ort, ihn erobernd
mit Geisteswaffen, Wörtern; (…).
So findet das Syndrom einer Benenn- und Beschreibungswut seine Erklärung, das sich in den frühen Gedichten des Autors als Adjektivhäufung, in den späteren als Katalogisieren von Wirklichkeitselementen manifestiert: mit den Waffen des Geistes, mit Wörtern will ein vertriebenes, enteignetes ,Ich‘ sich Wirklichkeit wieder aneignen, sie fassen, festhalten…
Ein weiteres wichtiges Motiv, das, von Anfang an präsent, im Verlauf des ganzen Gedichts immer wieder aufgegriffen wird, ist das des Überdrusses an diesem zwangshaften Benennen, Namengeben, am Wort als Mittel der Aneignung, der Inbesitznahme, nicht zuletzt aufgrund der wiederholt gewonnenen Einsicht in die Unmöglichkeit, auch in die Unfähigkeit, dieses Wollen zu verwirklichen.
Derart wird der Text von Anfang an von dialektischen Spannungen beherrscht: von der der Bewegung und des Stillstands, von der des Lernens und des Verlernens, von der des Benennens und des unbenannt Lassens, von der des Vergessens und des Erinnerns und schließlich auch von der des ,Ich‘ und des ,Du‘.
Der zweite Teil des zyklischen Gedichts hat die Funktion der Einführung des zweiten Themas: die Beziehung des ,Ich‘ zu einem ,Du‘. Nach einer Vertiefung der Erkenntnis von der Auswechselbarkeit der Orte, Landschaften, der Stationen des Unterwegsseins, ihrer geografischen, zeitlichen, Assoziationen provozierenden Zwiegesichtigkeit und nach einer Reminiszenz an den toten Vater und die quälende Unmöglichkeit eines Gesprächs mit ihm wird schließlich das ,Du‘, als Liebe, als eine Instanz, an die das Wort sich richtet, als Gesprächspartner eingeführt und sofort direkt in Beziehung gesetzt zur Thematik des Unterwegsseins:
Wieder ganz sehen, hören,
Und hier sein, dort sein, ganz.
Nur deshalb geh ich
Auf benannten und namenlosen Straßen,
Durch zahme und wilde Wälder,
So viele Flußufer entlang,
zu sehr einander gleich, bis wir uns treffen.
Der dritte Teil ist die eigentliche Exposition des zweiten Hauptthemas: das ,Du‘, die Geschichte der Beziehung zu diesem ,Du‘, der Verlust des ,Du‘, die Leiden des ,Ich‘ an diesem Verlust, das Bekenntnis der schmerzlichen Notwendigkeit des ,Du‘ für das ,Ich‘:
Doch ohne dich, wo bin ich?
Weder hier, noch dort, und die Namen
Zergehn, aus meiner Reichweite
Entschwimmt Garten wie Wiese,
Verschieden, gleich, beide fern.
(…)
Doch zum Hunger brauchte ich deine Zunge,
Zum Berührenwollen deine Finger,
Zum Wollen, dich zu wollen,
Zum Sehn deine hungrigen Augen,
Zum Ruhen ihre Müdigkeit, ihr Sichschließen,
Zu bloßen Wörtern dein Zuhören
Zum Reiseziel dich,
(…)
Auch das ,Du‘ ist unterwegs, so wie das ,Ich‘ getrieben, schauend, sammelnd, verlierend, wiederfindend, benennend, lernend…
Nach Art einer Schlußgruppe kündigt sich mitten im dritten Teil ein Ergebnis an, als vorläufige Formulierung eines Lernprozesses:
Meine Reisen sind zwar ein Verlernen,
Ein Abwerfen von diesem und jenem,
Abtun von Namen, Bedürfnissen.
Doch die letzten besitzen die Schwerkraft
Der Erde, auf der wir gehn, die uns hält.
Geben wir die auf, fliegen wir oder versinken.
Resignation, Rückzug, Reduktion des Daseins auf das Elementare: Licht, Luft, Feuer, Wasser, Erde – und ein ,Du‘.
Der 3. Teil endet mit der Zeile: Wartend lern ich zu bleiben: ein Beschluß am Ende der Exposition, der ein Trugschluß ist. Denn in den folgenden 5 Teilen des Zyklus werden das gedankliche und sprachliche Material die Themen und Motive der ersten 3 Teile in Form einer Durchführung wiederaufgenommen, variiert, erweitert, angereichert, in Ergebnissen zusammengefaßt, in Frage gestellt… Immer mehr neues Erfahrungsmaterial fließt in den Text ein, Beobachtungen an Tieren und Pflanzen, deren Namen leitmotivisch eingesetzt werden, wie z.B. der Hartriegel oder die Spottdrossel, Zitate, Träume, deren Bildwelt von einer für Hamburger eher ungewohnten Gewaltsamkeit ist, werden im Text verarbeitet, immer wieder Schilderungen neuer Schauplätze, Orte, Landschaften, oft beschädigter, des Wetters…: das beredte Schauspiel einer Beobachtungs-, Benennungs-, Beschreibungswut als Ausdruck des quälenden Wunsches zu vergessen, das eigene Los, das Sosein, die Verzweiflung über den daraus resultierenden Verlust des ,Du‘, die das ,Ich‘ zur Erkenntnis treibt, daß Liebe weiterbesteht, auch wenn die Beziehung zu Ende ist.
Mit dem letzten Teil, einer gleichsam überschauenden Coda, versöhnlich, beinah abgeklärt im Ton – das ,Ich‘ ist zu einem ,Wir‘ mutiert, entweder einem ,Ich/Du‘ oder einem ,Wir alle‘ geworden – kehrt der Autor wieder zum Ausgangspunkt seines Gedichts zurück: Anhalten, weitergehn – Unterwegssein erfahren als Fatalität, aber auch als Möglichkeit zu lernen.
Alle Ergebnisse seines Sprechens, Klärens, Denkens Fühlens, Wollens im Text tragen die Zeichen der Vorläufigkeit, Bedingtheit, Trugschlüssigkeit… Trugschlüssigkeit als Metapher für das immanent Widersprüchliche der Existenz ist eines der integralen Kriterien von Hamburgers Lyrik
„Travelling“ ist nicht nur ein faszinierendes Psychogramm eines Menschen aus dem 20. Jahrhundert der zwischen den Sprachen, zwischen den Ländern, zwischen den Traditionen steht, es ist auch eines der schönsten Liebesgedichte der modernen Lyrik.
Hans Raimund, aus Hans Raimund: Das Raue in mir. Aufsätze zur Literatur und Autobiografisches 1981–2001, Literaturedition Niederösterreich, 2001
W.G. Sebald besucht Michael Hamburger. Ein Text aus dem W.G. Sebald-Forum für den ausgewanderten Schriftsteller, Wanderer, Germanisten, Autor des Elementargedichts „Nach der Natur“ und weiterer Werke. Eingerichtet von Christian Wirth.
Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland. Ein Film von Frank Wierke (hier in voller Länge).
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