LITERARISCH
Ein Kritzelkollege zeigt mir sein jüngstes Gedicht,
Gib mir das Blatt
Und die Lettern, zu klein mit nacktem Auge zu lesen,
Sind tatsächlich bewegend: Milben
Die da und dort kriechen, ruckhaft,
Ein oder zwei bis über den Bogen hinaus.
Macht es was, frag ich, wenn sie verschwinden?
Nein, sagt er, es gibt andere, die sie ersetzen.
Durch starke Linsen folg ich
Ihrem lebhaften, vielsagenden Austausch,
Schrecke zurück nur, wenn ominösere Arten
Die Seite verlassen, meine Haut wollen.
ihr Ton ist Sachlichkeit und Melancholie, ihr Kern ist die Rückwendung und Rückkehr aus dem Vektoriellen der Zeit, die Einkehr in etwas Blasenrundes, Ursprünglich-Sicheres, Träumendes.
Der Dichter, Übersetzer und Essayist Michael Hamburger hat in sein Werk immer wieder, gelegentlich, unvorhersehbar, Gedichte einfließen lassen, die geformt sind aus Material und Feldern des nicht-wachen Lebens. Er hat diese Gedichte stets deutlich getrennt von seinen anderen – als besondere Fälle. In ihnen spricht eine zugleich biografische wie überpersönliche Stimme. In ihrem Austritt aus der Zeit in die Traum-Stille und den Traum-Stillstand schließen sie an das von Peter Waterhouse zuvor übersetzte Gedicht Hamburgers „Die Erde in ihrem langsamen Traum“ an. Dort wird die Natur gefragt, hier das Träumen, doch: Auch die Natur ist ein Träumen.
Folio Verlag, Ankündigung, 1996
Vielleicht sind Träume nichts als eine andere Lesart der Welt, vielleicht müßte man seine Träume bloß aufschreiben und man wäre ein Dichter, doch es bedarf schon großer Kunst, um so zu träumen und zu schreiben wie Michael Hamburger. Aber auch ihm, dem 1924 in Berlin Geborenen und 1933 nach England Emigrierten, werden „Traumgedichte“ selten zuteil. Zwischen 1961 und 1996 entstanden nicht mehr als 34 davon; die vorliegende Ausgabe umfaßt sie komplett und bietet somit drei Gedichte mehr als die entsprechende Abteilung der „Collected Poems“ (London 1995). In deren Vorwort heißt es, die Traumgedichte verlangten nach einer Lektüre anderer Art. Welche Lesart trennt Traum von Poesie im Sinn Hamburgers? Seine eigene Dichtung des Wachzustandes unterscheidet sich vom Großteil europäischer Lyrik ja bereits dadurch, daß sie sich poetischer Sprachfiguren strikt enthält und als Beschreibung allein durch Korrektheit des Ausdrucks paradoxe Wirklichkeit erzeugt.
Vergleicht man die Traumgedichte mit Dinggedichten Hamburgers, der Bäume wie die Eibe und Fischarten wie die Schmerle zum Thema erhoben hat, so zeigt sich, daß auch die Traumgedichte Beschreibungen von dinghaften Vorgängen sind: arm an Vergleichen, Metaphern, Deutungen. Die geforderte andere Weise des Lesens besteht also in der Bereitschaft, die Perspektiven der Dinge ein wenig über das sichtbar Mögliche hinaus zu verlängern, um Erkenntnis aus dem Traum ziehen zu können. Im Gedicht „Hereingeschneit / Dropped in“ kehrt ein Mann heim,
… sah Licht, hörte Stimmen Tiefe, ungewohnt tief,
Falls die eine darunter
Mein Freund Irving war,
Wie ich dachte, die andere
Seine neueste Freundin
So unheimlich leicht wird ein Besuch eingeführt, der eine Frauenleiche mitgebracht hat:
Rasch ruf die Polizei.
Je länger du wartest
desto weniger wird man dir glauben.
Je länger wir stritten
Desto mehr wär sie da,
Desto mehr wär sie mein…
Behüte, sagte er, im Gehen.
Dich selbst – und sie, sagte das Mädchen.
Eines Tages verstehst du.
Ähnlich suggestiv deutungslos verlaufen viele dieser Gedichte: „Traumhäuser“, eine „Straße“, „Mauern“, eine „Zerbrochene Reise“. Es sind kleine Existenzgedichte, die man wie auf einer leicht ansteigenden Rampe über das Wirkliche hinaus durchläuft und an deren Ende einen unversehens die Höhe packt. „Endlos“ lautet der Titel des folgenden Vorgangs:
Es begann als Queckenwurzel
Zäh und weiß,
Die wucherte, ohne Ende, …
zurückverfolgt und gezogen
wurde ein Brombeertrieb daraus
Der sich schob durch Laub von Busch, Baum
Mit einer Wurzel als Spitze…
Ich zog daran, zog
Meilen des Zeugs gaben nach
… Ich zog bis
Ich sah, daß jetzt
Sie senkrecht hinaufstieg
Mit Enden im All
Mit Wurzeln im Himmel.
Ein Unkraut wie von Christine Lavant, nur daß die Träume bei Hamburger nicht im Religiösen, sondern in der Geschichte wurzeln.
Das Gedicht „An meiner Statt / Vicarious“ führt geradewegs aus einem Garten zu Gewehrkolbenhieben. Eingespiegelt wird die Geschichte aber ins Privatissimum des Traumes, der auch zwei wunderbaren Liebesgedichten Raum gibt: „Genesung / Recovery“ möchte man gerne ohne Schatten lesen, und in „Von Wasser heimgesucht / Trial by Water“ übernimmt ein Paar den Kampf gegen ein feuchtes Haus: „Mit den Tau-Lippen Jungverliebter / Proklamierten wir es, ohne Scham“.
Die Übersetzung von Peter Waterhouse ist gut, aber nicht perfekt. Immer wieder stolpert man über Verstöße gegen Hamburgers Poetik des Unverdrehten. Die „Tau-Lippen“ sind ursprünglich bloß „moist lips“, „the weather sickened“ heißt „das Wetter erkrankte“ und nicht „das Wetter gebrach“, „always“ heißt „immer“ und nicht „allewege“, auch wenn es im Gedicht „Die Straße“ steht. Hamburgers Sprache schließt genau solche halben Tricks aus. Auch ein Satz wie „Mir neu, voll Schein, war das Tablett einig“ ist ohne das Original unverständlich, in welchem ein altes Erbstück dadurch den Besitzer wechselt, daß es einem Blick erglänzt und zustimmt: „New to me, shining, the tray consented.“ Syntax klärte manches Rätsel.
Ein echtes Problem bietet hingegen das „Im Nu“, es bedeutet zugleich „zu keiner Zeit“. Harald Hartung hat in einer Einzelübersetzung den Titel mit „Im Nur“ wiedergegeben, arbeitete im Text aber mit Doppelungen („im Nur, in keiner Zeit“) oder entschied sich für den jeweils aktuellen Hauptsinn. Waterhouse versucht mutig, an allen Stellen gleich zu übersetzen, tut aber mit „Aus der Zeit“ keinen guten Griff, denn ein Satz wie „Aus aller Zeit fand das Fest statt“ stimmt nun nie. Der insgesamt gelungene zweisprachige Band ermöglicht aber jedem Leser die Mitarbeit an solchen Stellen und weist den Weg zur Gesamtausgabe der Gedichte. Michael Hamburger, der Übersetzer Hölderlins, Celans und anderer Lyriker ins Englische, der sich scheut, seine eigenen Gedichte rückzuübertragen, ist seiner Heimkunft als Dichter eine wichtige Strecke weit näher gekommen.
Als „zweisprachige Ausgabe“ wird dieser Band von Michael Hamburger verkauft, aber wenn man ihn aufschlägt, muß man das englische Original im Kleinstdruck am Seitenfuß suchen: Im durchlaufenden Text ist der Zeilenbruch nur durch Striche markiert. Weil oft nicht einmal der Seitenumbruch von Übersetzung und Original übereinstimmt, wird die vergleichende Lektüre zum Puzzlespiel.
Der Vergleich ist allerdings angeraten, denn Lyriker sind nicht immer die besten Übersetzer: Peter Waterhouse hat einen fatalen Beweis geliefert – nicht nur mit der absurden Idee, „always“ durchgehend mit „Allewege“ zu übersetzen oder das Wort „fem“ zu erfinden. Ärgerlich sind Wortstellungen und –kreationen wie „Augenblau“ (für „blue eyes“), die diesen Gedichten etwas Artifizielles verleihen, das dem Original fremd ist, dessen betörender Sound aber gerade so auf der Strecke bleibt.
Gedichte aus 35 Jahren versammelt der Band: poetische Träume, die sich an Fragmenten erinnerter Landschaften, Häuser oder Begegnungen festmachen und zu Bruchstücken von Geschichten fügen.
Eine knappe Traurigkeit bar jeder Sentimentalität durchwandert vergangene Heimaten; hinter Kindergelächter ist noch etwas anderes zu hören: „Dieses gedämpfte Hämmern / ist deren gemordete Urgroßmutter, ihr Schritt.“ Und die Rückkehr in das unbesuchte Land wird eine „Zerbrochene Fahrt“. Die Erinnerung findet zurück in Kindheit und erste Liebe, und das Finden wird zur Hochzeit an einem Ort, „wo Schauen genügt“; sie führt durch Traumhäuser und ihre Vorgeschichte, aber: „Die genaue Lage, die Grenzen / Sind fraglich, wie auch meine Rechte / Als Grundbesitzer, Pächter, Bewohner einfach.“ Gerade in den letzten Gedichten ist nicht die abstrakte Erinnerung Garant der Kontinuität – in ihr droht sich das lyrische Ich zu verwirren −, sondern ein Baum, der rituell benannt und dessen Same gehegt wird.
Die vorliegende Auswahl ist ein Querschnitt durch das lyrische Werk von Michael Hamburger, der als deutscher Emigrant in England zum bedeutenden und vielfach ausgezeichneten Dichter, Übersetzer und Kritiker geworden ist. Es wäre ihm eine Edition zu wünschen, die dem Original gerecht wird.
Cornelius Hell, Die Presse, Spectrum, 25.1.1997
Nur sechs- oder siebenmal sei es ihm gelungen, Traumgedichte zu schreiben, Gedichte, die einfach versuchen, die Handlung eines Traumes wiederzugeben. So der englische Lyriker Michael Hamburger in einem Essay aus dem Jahr 1980. Inzwischen liegen zweisprachig, von Peter Waterhouse ins Deutsche übersetzt, vierunddreißig solcher Gedichte aus den Jahren 1961–1996 vor.
Ein real und zugleich irreal erscheinender Kosmos von Landschaften, Menschen, Begegnungen, Tod, Schrecken, Liebe, deutlich-undeutlich, licht- und schattenvoll in einem, zieht sich durch die Gedichte. Traumwelten, unmittelbar, manchmal auch reflektiert, erstehen in präziser, bildstarker Sprache, umspinnen den Leser mit dem Gewebe jener Regionen, in die jeder eintaucht im Schlaf, und in deren poetischen Manifestationen manch einer eigenen Erfahrung mit jenen Tiefenschichten wiedererkennen mag.
„Was also sagt das Gedicht aus? Es stellt überhaupt keine Behauptung auf. Es führt einen Prozeß aus“. Diese von Hamburger einmal geäußerte Charakterisierung seiner Lyrik wird an den Traumgedichten eindrucksvoll evident. Fußnotengleich steht unter den deutschen Übertragungen der englische Text. Die Gegenüberstellung bietet dem Leser Gelegenheit, sich an ihr zu reiben, mit manchem einverstanden zu sein, mit anderem nicht. Sicherlich wurde die Übersetzung vom Verfasser autorisiert.
Doch geben etliche Stellen Anlaß zu Fragen, wo Abweichungen in grammatikalischer wie bedeutungsmäßiger Hinsicht die Übersetzung gekünstelt und von der sprachlichen Komposition des Originals abgewandt erscheinen lassen. Zusammen mit dem englischen Text vermittelt die deutsche Version dennoch die hohe poetische Intensität gerade dieser Gedichte von Michael Hamburger.
Walter Neumann, Südkurier, 1.8.1997
Alexander von Bormann/Michael Braun: Kritikergespräch über neue Gedichtbände aus Großbritannien
DeutschlandRadio, Deutschlandfunk, Köln, Buchredaktion, 7. Oktober 1996
Michael Cehra: Die Poesie als Lohn des inneren Widerstands. Michael Hamburger, in England lebender Kritiker und Übersetzer, im Gespräch
Der Standard, Wien, 1.2.1997
dvt: Das neue Gedicht
Tagesspiegel, Berlin, 2.2.1997
Heinz Janisch: Menschenbilder. Der Lyriker und Übersetzer Michael Hamburger
ORF-Ö1, Sendung Menschenbilder, 9.3.1997
W.G. Sebald besucht Michael Hamburger. Ein Text aus dem W.G. Sebald-Forum für den ausgewanderten Schriftsteller, Wanderer, Germanisten, Autor des Elementargedichts „Nach der Natur“ und weiterer Werke. Eingerichtet von Christian Wirth.
Michael Hamburger und Peter Waterhouse lesen am 1.7.1994 im Deutschen Literaturarchiv Marbach Gedichte von Michael Hamburger im englischen Original und in deutscher Übersetzung.
Peter Waterhouse liest beim Tanz um das goldene Nilpferd am 10.3.2012 im Klagenfurter Ensemble.
Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland. Ein Film von Frank Wierke (hier in voller Länge).
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