Michael Hamburger: Letzte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Michael Hamburger: Letzte Gedichte

Hamburger-Letzte Gedichte

TOD DURCH ELEKTRONIK

Wie es Pascal doch geschaudert hätte
Ob der Unendlichkeit nicht von Lichtern im Raum
Noch des Babel-Turms, der irgendeinen Himmel
aaaaaerstrebte,
Sondern des Pilzwuchses Information, unseres
aaaaaWerks,
Das den Erdball so schnell bewuchert,
Die Wasser der Meere kein Hindernis,
Ein globales Geschäft abzuschließen,
Noch ehe der Verwaltungsrat zusammengetreten ist,
Massenvernichtung hausgeliefert
Vor der Kriegserklärung.
Wahrlich ein Netzwerk, Ersatz für die Erde,
Für die wir geschaffen worden,
Ein prometheisches Geschenk an die Menschheit,
Unbegrenzt brauchbar
Anstelle von Hand, Herz und Haupt, die
Im Wettbewerb zu langsam, daherhinken hintendrein.

Pascal? Gibt’s für den ein Fenster
Unter den potenziellen Billionen?
Da wäre einer, Vorname wie Bläser −
Längst tot, überzählig,
Bemerkenswert einst, weil der denken konnte!
Für uns besorgt das die Elektronik.
Fängt an als Spielzeug, lange bestaunt,
Mit fummelnden Fingern erkundet,
Darauf im Hui von der ersten Kindheit in die zweite
So sanft, mit so wenig Müh’,
Daß dann niemand mehr da sein wird,
Den’s schaudert
Vor dem Bildschirm, der leer ist für immer.

Übersetzt von Franz Wurm

 

 

 

Editorische Notiz

Dieser Band enthält die letzten Gedichte des 1924 in Berlin geborenen und im Juni 2007 im englischen Middleton verstorbenen Schriftstellers Michael Hamburger. Die letzten: Damit gemeint sind die zwischen 2004 und 2006 geschriebenen siebenunddreißig Gedichte des im Januar 2007 erschienenen Bandes Circling the Square (Rundgang des Quadrats) sowie fünf weitere, die nach dem Tod des Dichters in einer auf seinem Schreibtisch liegenden Mappe gefunden wurden. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei vier der fünf Nachlaßtexte um seine einzigen nach November 2006 entstandenen lyrischen Werke, während sich der gallig-illusionslose Achtzeiler „Reading The Anatomy Of Melancholy“ als fünftes Gedicht aus dem Nachlaß einer genaueren Datierung bisher entzieht. Vieles weist jedoch auch hier auf eine Entstehungszeit kurz vor oder um November 2006.
Letzte Gedichte gehört zwar zum Spätwerk des Autors, die Dichtung dieses bis zu seinem Lebensende engagierten und hellwachen englischen Moralisten und „gegenstandsbezogenen“ Lyrikers paßt jedoch nicht ins konventionelle Schema einer durch Frühwerk, Hochblüte und Verfall gekennzeichneten organischen Theorie der künstlerischen Entwicklung. Was ist aber das Späte an Michael Hamburgers letzten Werken? Gewiß haben diese herben, oft stacheligen Verse einiges mit jener conditio gemein, die Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz „Spätstil Beethovens“ (1937) charakterisierte. Adorno betonte die Unversöhnlichkeit, mit der die unbehauste, „sprengende“ Subjektivität des Künstlers auf den nahenden Tod reagiert: Was als „Zeugnis der endlichen Ohnmacht des Ichs vor dem Seienden“ nach dieser „Zündung zwischen den Extremen“ übrigbleibt, sind laut Adorno die „Risse und Sprünge“ des unbarmherzig zertrümmerten Spätwerks. Freilich sind auch Hamburgers Gedichte von Schwierigkeit und Widersprüchlichkeit geprägt: Nicht von ungefähr heißt sein letztes Gedicht „Contradiction, Counterpoint“ („Widerspruch, Kontrapunkt“), begegnet er dem Denken Blaise Pascal – wie es im Gedicht „Ein Scheideweg erneut gesehen“ lautet – weniger in den Aussagen als vielmehr in den „Auslassungen“ des Philosophen: in jenem „Raum, den er geklärt, erleuchtet durch Verneinung“. Stets präsent in Hamburgers später Lyrik werden Tod, Vergessen und altersbedingte Wahrnehmungsveränderungen jedoch keineswegs als Feinde seiner Kunst beklagt. In Gedichten von spitzfindiger Klarheit und großer synthetischer Kraft lässt er – der auch „mit sehenden Augen / Schatten, Leere in Kreaturen, Dingen, / Ihren Namen“ sah und „mit hörenden Ohren (…) Hiatus, Zögern / In jeder Flut und Skala“ („Noch einmal“) hörte – diese alltäglichen Begleiter des Alterns vielmehr als untergründige Parameter einer unvermindert vitalen Ästhetik integrieren und zelebrieren. So wird die allmähliche Erblindung zur Bedingung der poetischen Vision, die Taubheit zum Resonanzboden eines fortschreitenden „Grundbasses“, „Amnesia“ immer wieder als Muse des Alters apostrophiert.
„Was den Spätstil auszeichnet“, schreibt der 2003 verstorbene Schriftsteller Edward W. Said in einem posthum veröffentlichten und stark an das erwähnte Werk Adornos angelehnte Essay, „ist nicht nur die intensive Beschäftigung mit dem Älterwerden, sondern ein wachsendes Gespür für Entrückung, Exil und Anachronismus“. So gesehen wäre tatsächlich seit den 1960er Jahren ein Spätstil Michael Hamburgers zu konstatieren, als Kategorien wie Selbstauflösung, Vergessen, Anachronismus, Schweigen und Exil zu den wichtigsten Eckpunkten seiner Poetik wurden. Auch den in Letzte Gedichte allgegenwärtigen Tod trifft man seit Jahrzehnten in Hamburgers Werk: In einem kurzen Aufsatz, „Über das Altern“ schreibt er sogar von dem „Thema Tod im Leben/Leben im Tod, welches vielleicht alle meine dichterischen Variationen durchzieht“. Den letzten Gedichten des schottischen Dichters Edwin Muir, an den eines der Gedichte des vorliegenden Bandes erinnert, bescheinigt Michael Hamburger einmal „eine unverbrauchte Entwicklungsfähigkeit“: Dieses Urteil trifft nicht minder auf die späten Gedichte Michael Hamburgers zu, die keinen heroischen Kampf gegen die Gebrechlichkeit des Alters führen, kein letztes Aufbäumen gegen die Endlichkeit der menschlichen Physis inszenieren, sondern in der anachronistischen Echolandschaft des Reims und Rhythmus eine einzige, für sich zutreffende Todesart anerkennen:

Eine mit Ach und Krach noch funktionierende menschliche Einheit kann ja nun, wie ein altes Auto, wiederholt repariert, auch mit Ersatzteilen versehen werden. Das aber, was in einem Gedicht schreibt, ist ein Suchen ohne Anfang und Ende. Entweder regt es sich, oder es ist tot.

Iain Galbraith, Aus dem Nachwort, Januar 2009

 

Die letzten Gedichte des „englischen Dichters aus Deutschland“

Im Januar 2007 erschien Michael Hamburgers letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk: Circling the Square. Poems 2004–2006 (Die Rundung des Quadrats). Letzte Gedichte enthält sämtliche Gedichte dieses Bandes sowie alle weiteren, die Hamburger bis zu seinem Tod im Juni 2007 schrieb. Stets präsent in Hamburgers später Lyrik, werden Tod, Vergessen und altersbedingte Wahrnehmungsveränderung keineswegs als Feinde seiner Kunst beklagt; in Gedichten von spitzfindiger Klarheit und großer synthetischer Kraft integriert und zelebriert er diese alltäglichen Begleiter des Alterns vielmehr als untergründige Parameter einer unvermindert vitalen Ästhetik. In präzisen deutschen Übertragungen lassen sich Jan Wagner, Franz Wurm, Uwe Kolbe und Klaus Anders auf das ganze emotionale, existenzielle und bisweilen bitter ironische Spektrum dieser Dichtung ein. Ein kenntnisreiches Nachwort und hilfreiche Anmerkungen des Herausgebers schließen den Band ab.

Folio Verlag, Ankündigung, 2009

 

Hymne auf das Licht

– Singulärer Ton aus dem Besten zweier Kulturen: Die letzten Gedichte des britischen Lyrikers deutscher Herkunft Michael Hamburger, die kurz vor seinem Tod im Jahr 2007 auf englisch erschienen, liegen jetzt in der Übersetzung vor. –

Nicht auszudenken, welch ein deutscher Dichter Michael Hamburger geworden wäre, hätte die Geschichte einen humanen Verlauf genommen. So aber floh der 1924 als Sohn eines Berliner Arztes Geborene mit der Familie schon 1933 vor dem Rassenwahn nach Edinburgh und begann bald auf Englisch zu schreiben. Zunächst übersetzte er Hölderlin, später andere deutsche Dichter von Celan bis Jandl und W. G. Sebald, und schuf einen singulären Ton aus dem Besten zweier Kulturen. Hamburgers letzte Gedichtbände, die kurz vor seinem Tod 2007 erschienen sind, liegen nun zusammen mit einigen Gedichten aus dem Nachlass in einer zweisprachigen Ausgabe vor.
Die drängende Zeit hat so in einem Band Genres zusammengeführt, die Hamburger sonst trennte: Baumgedichte, Traumgedichte, Todesgedichte, Satiren und auch eines seiner Langgedichte, das viele Themen kompositorisch vereint: „Domestic / Häusliches“. Es geht darin um Hamburgers altes Haus in Suffolk, das auch in Sebalds „Ringen des Saturn“ aufscheint, um den Kampf gegen feuchte Wände und die Verwilderung des Gartens, um politische Geschichte und Privates. Ein Wellblechschuppen, der im Krieg als Lazarett diente, erinnert an Hamburgers Militärzeit; eine Wasserpumpe von 1770 reicht in die tiefere Vergangenheit – ein Sturm zerstört den seltenen Maulbeerbaum, der einst Hamburger und seine Frau, die Lyrikerin Anne Beresford, zum Pachten des Anwesens veranlasst hatte.
Der Kampf gegen Verfall und Natur geht allmählich verloren, es bleibt „Das unhörbare Pulsen im Gebäude / Ein Pochen, ungeschützt und unbehaust“. Naturgemäß nehmen viele Gedichte Abschied: „Terminal Turn / Letzte Abfertigung“ etwa gilt einer späten Reise nach Österreich, wo Hamburger nach 1945 stationiert war: Wien und Kärnten sind ihm auch ohne Landkarte vertraut, aber die Beschwerden der Flugreise überdecken diese Erfahrung. Der Dichter schreibt leise Hymnen auf das Licht, Morgenlicht, Winterlicht über der Landschaft, doch wird es entpersönlicht: „Irgendwo scheint ein Licht, nicht für sie, nicht für uns.“ Hamburgers Übersetzer sind oft seinem Ton nahegekommen, doch manches wirkt greller oder unbestimmter, während Hamburger unprätentiös Wort an Wort fügt. Nur eines bringt ihn in Wut: der „Homo Rapiens“ der Thatcher- und Bush-Ära, der „Tod durch Elektronik“: „Zeit? Eine Währung / Von Mikrochips gemünzt.“
Sein Garten ist für Hamburger jedoch nicht die heile Gegenwelt. Er kennt die Härte der Natur und bewundert Mut und Kunst der Schwalben, die ohne Zögern durch den Spalt einer Glasscheibe fliegen, um in einer Scheune zu nisten. Je länger man in diesem Buch liest, um so mehr verschmelzen die Einzelgedichte zum Sprachbild, auch der Traum, in dem nach sechundsechzig Jahren der sterbende Vater dem Sohn „Als Psychopompos, nicht als Kinderarzt“ erscheint und den Weg weist aus dem „Todesland“ in den wirklichen Tod. Der, der diesen Weg nun gelassen geht, sieht freudig „Die geschwungene Unterseite dieser Blaumeise, die kleine Welle gelben Gefieders“ und verschwindet selbst im Bild: „So langsam ist am Ende unser Kreisen – / Man kann das Auf vom Ab nicht unterscheiden, / Das Dauernde nicht von der Veränderung.“ Was bleibt, ist der Puls dieser Gedichte.

Thomas Poiss, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.6.2009

Die Wahrheit der Dichtung

− Über die letzten Gedichte von Michael Hamburger. −

Soll man an erster Stelle den kleinen österreichisch-südtiroler Folio Verlag rühmen für seine Treue gegenüber einem stillen, nur in Kennerkreisen hoch angesehenen Schriftsteller? Oder gilt es, die Übersetzer besonders hervorzuheben, die die gewiss nicht immer leicht eingängigen Gedichte so gut aus dem Englischen in die deutsche Sprache übertragen haben? Oder sollte man zuerst Iain Galbraith nennen, der seit Jahren schon mit großer Sorgfalt das Werk des Dichters pflegt und herausgibt? Nachdem es jahrelang besonders vom Münchner Hanser Verlag (von Michael Krüger persönlich) betreut worden ist, hat das Werk jetzt eine Heimat im Folio Verlag gefunden – und es ist eine gute Heimat. In der Folio-Edition des Werkes von Michael Hamburger stimmt einfach alles und niemanden darf man vergessen, wenn man für die Lektüre der Gedichtbände dieses Dichters werben will, der seine Obstbäume so liebte wie die Gedichte von Hölderlin und mit seinen eigenen Gedichten so sorgsam umging wie mit seinen unendlich vielen Apfelbäumen in Suffolk. Neben Erich Fried war Michael Hamburger der wohl bedeutendste, fleißigste und in seinem Sprachempfinden sensibelste Übersetzer zwischen der deutschsprachigen und der englischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1924 in einem jüdischen Elternhaus in Berlin geboren, flüchtete er bereits 1933 nach London, bekämpfte während des Krieges in den Reihen der British Army den Nationalsozialismus und war anschließend jahrzehntelang ein „Got Between“ zwischen deutscher und englischer Literatur. Dass bedeutende Teile der Lyrik von Hölderlin, Rilke, Celan, Huchel, Enzensberger in guten englischen Übersetzungen vorliegen, ist Hamburger zu verdanken. Ein guter Freund der späten Jahre war ihm der ebenfalls in England lebende W. G. Sebald, der dem bescheidenen, auch kauzigen Hamburger in seinen Ringen des Saturn ein wunderbares kleines literarisches Denkmal erschrieben hat. Umgekehrt wurde Michael Hamburger nicht müde, dem deutschen Publikum T. S. Eliot, Dylan Thomas, Wendell Berry, W.B. Yeats, kurz die modernen englischsprachigen Klassiker, nahezubringen. Und dann verdanken ihm seine englischen wie deutschen Leser auch wichtige theoretische Arbeiten zur Modernen Dichtung, allen voran The Truth of Poetry. Nur wenige gab es zu seinen Lebzeiten, die beides miteinander verbinden konnten: das Nachdenken über die Poesie und das eigene Schreiben von Gedichten. Wer das Glück hatte, ihn einmal persönlich erlebt zu haben, wird dieses Understatement, diese Bescheidenheit bei gleichzeitigem großen Wissen über klassische und moderne Lyrik nie vergessen. Sebald ist ihm in seinem Porträt sehr nahegekommen.

Gärtnern und Schreiben
Bis in seine letzten Lebensjahre hinein schrieb Hamburger Gedichte, wenn er sich gerade einmal nicht in seinem fantastischen großen Obstgarten aufhielt. Und genau zwischen diesen beiden Welten, der aufblühenden und verwelkenden Natur da draußen im Garten und dem genauen Wahrnehmen des eigenen Alterns, ist ein großer Teil der Letzten Gedichte von Michael Hamburger angesiedelt:

Hellster Juli zwischen Dunkelheiten,
doch kalt, als warte alles auf den Herbst,
den Winter oder einen weiteren Frühling
mit durchnäßten Jonquillen, vergehenden Pflaumenblüten,
die kriegerische Winde zerfetzen
(in der Übersetzung von Jan Wagner).

Wer sich auf seine Lyrik einlässt, muss etwas wissen von Obstsorten und Pflanzennamen. Oder seine Gedichte lesend wird man langsam selbst zu einem Kenner der verschiedensten Apfel- und Pflaumensorten.

Seit fast vierzig Jahren ist das Gärtnern neben dem Schreiben meine Hauptbeschäftigung … Darum wurde auch das Gärtnern für mich schon früh zu einer Analogie zum Politischen und Gesellschaftlichen.

Und deshalb folgen einem „Gartengedicht“ oft unmittelbar Gedichte über das eigene Altern oder die Wahrnehmung des Alterns in einer Gesellschaft, die Hamburger zuletzt immer unheimlicher, immer unmenschlicher geworden ist.

Wieder Nirgendwo. Die Leere,
von Werbung erhelltes Zwielicht,
während über der unsichtbaren, erahnten,
der unerreichbaren Stadt dort draußen
die noch nicht gänzlich vereinheitlichte
wirkliche Sonne scheint
(in der Übersetzung von Jan Wagner).

Vielleicht stimmt es ja, was Iain Galbraith in seinem Nachwort zu den Letzten Gedichten schreibt. Viele „dunkle oder schwierige Stellen in diesen Gedichten wollen oder müssen dunkel und schwierig bleiben“. Vielleicht aber müssen wir uns nur immer wieder seinen Gedichten mit der gleichen Sorgfalt nähern, wie sich Michael Hamburger um seine geliebten Obstbäume gekümmert hat. Um so, wie er es einmal in einem seiner theoretischen Texte geschrieben hat, „immer wieder den Zugang von der Vernunft zur Unvernunft, und umgekehrt zu finden, damit die Vernunft nicht noch zerstörerischer wird als die losgelassene Unvernunft“.

Carl Wilhelm Macke, titel-magazin.de, 15.6.2009

Die helle Sicht des Alters

− Letzte Gedichte von Michael Hamburger. −

Es ist sicherlich eine gewagte Entscheidung des Herausgebers, Michael Hamburgers jüngst auf Deutsch erschienenen Band als „Letzte Gedichte“ zu betiteln, denn ins bloss Faktische spielt zwangsläufig auch die Aura des Vermächtnisses hinein, des finalen, noch vorm Tod geäusserten Willens und Wortes. „Letzte Gedichte“ enthält sämtliche Texte aus Hamburgers letzter Publikation, „Circling the Square“ (2007), und darüber hinaus alle bis zu seinem Tod im Juni 2007 geschriebenen Gedichte und ist somit tatsächlich der Abschluss eines der grossen, unabhängigen, aufrichtigen Dichtwerke des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das Alter und die Tücken des Alterns werden von Hamburger immerfort thematisiert, ein Nachlassen der dichterischen Imagination ist indessen an keiner Stelle zu spüren. Mit traumwandlerischer Sicherheit und einer leicht ironisch distanzierten Gelassenheit registriert der Dichter die zunehmenden Gebrechen und die abnehmende Lebenszeit und sieht zugleich darin „Dieses Wunder: Wieder aufzustehen, / Täglich, mit dem ersten Licht, / Um diese Winterluft zu lieben, / Prall vom verringerten Mehr“. Hamburgers Klagen sind Elegien in unmittelbarer Nachbarschaft zum Preislied, jede Weinerlichkeit ist ihnen vollends fremd.
Bis zum Schluss ist Hamburger ein scharfzüngig kritisierender Moralist gegenüber einer sich in Schwund und Borniertheit tummelnden Gesellschaft geblieben. Einmal ruft er laut und deutlich: „draussen / Ist alles Hektik, Manipulation, / Von den Erfindern der Zeit / ‚Nachrichten‘ und ‚Geschichte‘ genannt“, dann wieder bedauert er mit stiller Melancholie den Wandel zum Schlechteren: „Unser Dorfladen und die Post / Genauso Dinge der Vergangenheit, / Der wöchentliche Bus wird eben abgeschafft.“ Gegen die Isolation, welche die fremd gewordene Zeit und die körperliche Gebrechlichkeit dem Dichter auferlegen, bleibt der Trost der Hiesigkeit der Natur, der sichtbaren Dinge, des bewahrenden, liebevollen Gärtnerns im Apfelgarten, das bei aller Gegenständlichkeit zugleich auch immer eine Metapher für die Poesie ist.
Den vier Übersetzern gelingt es auf unterschiedliche Weise, das Sperrige in Hamburgers Sprache und die abrupten Übergänge von gereimten und reimlosen Zeilen ins Deutsche zu transportieren. „Derweil, verwirrte Zeit, berg ich mich in Zeit, / Und reime ziellos wie der Zeiger, der / Zeit misst. Wofür? Zeitlosigkeit, / Was ihr gelingen kann: aus weniger wird mehr“, lauten trefflich beispielsweise einige Zeilen in Klaus Anders’ Version. Im Gegensatz zu manchen bisherigen Übersetzungen bleibt der spezifische Duktus bis in die Feinheiten bewahrt und spürbar.
Ergänzend zu Hamburgers letzten Gedichten erscheint im Vertrieb des Folio-Verlags der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm „Michael Hamburger. Ein englischer Dichter aus Deutschland“ von Frank Wierke, der in wunderbarer poetischer Unaufgeregtheit den alternden Dichter in seinem Leben und seiner Arbeit mit dem Lauf der Jahreszeiten begleitet.

Jürgen Brôcan, Neue Zürcher Zeitung, 8.9.2009

Letzte Gedichte

− Anlässlich der posthumen Veröffentlichung von Gedichten des 2007 verstorbenen Lyrikers Michael Hamburger führte Silvia Sand ein Gespräch mit seinem langjährigen Übersetzer Peter Waterhouse. −

Die Gedichte des englischen Lyrikers Michael Hamburger gelten als schwierig. Dennoch geht der Band Baumgedichte bereits in die vierte Auflage. In einem Interview, das Iain Galbraith – der Herausgeber von Letzte Gedichte – 1993 mit Hamburger führte, meinte dieser:

Die Lyrik, die ich am meisten schätze, ist zugleich schlicht und rätselhaft, also schwierig … Gedichte wollen und sollen in das sonst nicht Sagbare eindringen.

Offenbar erweist sich dies für viele LeserInnen als spannend.
Seit 20 Jahren übersetzt Peter Waterhouse Gedichte von Michael Hamburger. Ausschnitte aus seinen Collected Poems wurden zu Themenbänden zusammengefasst: Baumgedichte, Todesgedichte, Traumgedichte. Die Kongruenz zwischen Waterhouse und Hamburger entspringt Berührungspunkten in der Biografie zwischen Deutsch- und Englischsprachigkeit. Beide widmen sich neben dem eigenen Schreiben dem Übersetzen. 60 Jahre lang hat sich Hamburger neben der Übersetzung von Goethe, Rilke, Celan oder Jandl, mit dem Werk Friedrich Hölderlins beschäftigt und starb im Alter von 84 Jahren am Todestag Hölderlins. Waterhouse:

Er hat die Hölderlinübersetzung immer weiter entwickelt, in die verschiedensten Formen und eine Übersetzung lag auf seinem Schreibtisch, als er gestorben ist… Also da ist ein bisschen Mystik im Spiel, obwohl der Lebensausdruck von Michael Hamburger so nüchtern war.

Als kränkend empfand Hamburger, der 1933 mit seinen Eltern von Berlin nach London emigrierte, dass er mehr als Übersetzer denn als Autor wahrgenommen wurde. Dass er mit jungen 15 Jahren Hölderlin für sich entdeckte, bereits zwei Jahre später seine erste Übersetzung publizierte und danach unablässig weitere Versionen schuf, ist nicht nur als übersetzerische sondern auch als dichterische Leistung hoch zu schätzen.

Es wurde immer wieder diese Formel eingesetzt: „better known as translator“ und manchmal hat er gemeint, das wird absichtlich gesagt, um ihn zu entwerten. Mir persönlich erschiene das nicht als Herabwürdigung, aber ihm ist das so erschienen. Vielleicht hat er empfunden, dass diese Formel ihm den Zutritt ins Englische verwehrt.

Die Identifizierung mit einer Nationalität war für Hamburger ein Thema, dem er sich nicht unterordnen wollte.

Er hatte eine Wut auf Kategorien. Er hat gesagt: Ich bin jemand, der als Kind fliehen musste, aber ich bin kein Flüchtling. Ich bin jemand, der im Garten arbeitet, aber ich bin kein Gärtner. Ich bin jemand, der in England wohnt, aber kein Engländer.

Kategorisierungen verweigerte er ebenso wie Geltungssucht und Machtstreben. Als ihm nach seiner Universitätskarriere in England und den USA die Chefredaktion einer wichtigen Literaturzeitschrift angeboten wurde, lehnte er ab und zog sich im Alter von 50 Jahren mit seiner Familie in ein Landhaus in Suffolk, nördlich von London, zurück.

Er hat die Stadt als Handelsplatz gesehen und den Handelsplatz als Missbrauch der Welt, als Geldwechselstube. Das, was er im Garten und im Wetter erlebt hat, war offensichtlich die Alternative zum Handel und Verkauf und Reichtum. Das wackelige Haus, das sie sich ausgewählt haben, steht da wie die Alternative zur Macht der Großstadt, gegen die er sich aufgelehnt hat. Das war eine Entscheidung für die Armut.

Die politischen Gedichte, deren kritischsarkastischer Ton Waterhouse fremd ist, sind bislang noch unübersetzt. Überhaupt wollte er Freiraum für neue Interpretationen schaffen, weswegen zu dem von Iain Galbraith herausgegebenen Gedichtband verschiedene Übersetzer eingeladen wurden.

Viele der letzten Gedichte sind sehr verschlossene Gebilde, verhärtet, aber nicht in einem negativen Sinn, sondern kernhart und mit schwieriger Grammatik. Die Gedichte sind nicht einfach nur lesbar, sie sperren sich. Sie müssen irgendwie wie eine Nuss geknackt werden.

Das Gedicht „Domestic / Häusliches“ zitiert Waterhouse als Beispiel für die Rätselhaftigkeit, die Hamburger gerne bewahrt.

Diese Lust, den größeren Teil nicht auszusprechen, ist immer schon in seinem Werk, aber hier ist sie viel stärker. Da hatte ich auch das Gefühl, dass dieser größer werdende unausgesprochene Rest damit zusammenhängt, dass er älter wird. Der freie Raum wird nicht enger mit dem Alter, sondern größer.

Nicht nur die eingangs erwähnten Baumgedichte zeigen eine große Nähe des Autors zur Natur. Der Beginn von „Wintersonne, Ost-Suffolk“ – aus dem Nachlassteil in Letzte Gedichte – lässt ahnen, in welchen Freiraum der Dichter seine LeserInnen führen will:

Seltner, kürzer die Strahlen,
Scheinen kostbarer
Und weiter durch das nackte
Gezweig der laubwerfenden Bäume.
Und die Koniferen, schwarz,
Kommen zu sich
Als Gedenken der Nacht,
Überdauern Glanz des Laubes,
Ob sie, Zypresse, gradauf gedrängt
Oder seitwärts, Eibe, sich füllen.

Jedem Gedicht ist das englische Original gegenübergestellt, was für die Vertiefung in Hamburgers Lyrik unentbehrlich ist. „Vielleicht hat er in der Natur sehr viel Unsichtbarkeit erlebt“, meint Waterhouse, „und viel mehr als Fülle und Gegenständlichkeit war sie für ihn eine Lichtung. Mitten in seinem Garten und inmitten der Apfelbäume hatte er diese Erfahrung der Lichtung gemacht und in den Städten, die er als Orte der Überdeterminiertheit empfand, nicht.“
Durch Haus und Garten führt Michael Hamburger in dem gleichzeitig mit dem Buch auf DVD erschienenen Film Ein englischer Dichter aus Deutschland von Frank Wierke. Still folgt die Kamera Hamburger durch den verwilderten Garten, horcht mit ihm den Geräuschen der Natur nach und lässt der Gebrechlichkeit des Alters und der Innerlichkeit der Gedanken Zeit und Raum. Der Gegensatz zwischen einer zur äußersten Verknappung getriebenen, nüchternen Sprache und dem Raum, den Hamburger zur Interpretation lässt, macht den Reiz aus, in eine tiefere Gedankenwelt einzudringen.

Sylvia Sand, Buchkultur, August/September 2009

Wenn ein Dichter stirbt,

geht auch eine Welt unter. Der Umstand ist gleichermaßen tragisch wie banal – dasselbe gilt für jeden Menschen; allerdings – nur die Welt der Dichter wird durch eine Welt von Worten verdoppelt. Den Beweis, dass Literatur die Welt nicht nur verdoppelt, sondern ihr Ende überlisten kann, hat der deutsch-englische Dichter und Übersetzer Michael Hamburger mit seinen LETZTEN GEDICHTEN erbracht. Hamburgers Lyrik schlägt dem Tod ein Schnippchen. Von nicht geringer Bedeutung ist dabei, dass sich Michael Hamburger selbst ein Leben lang als leidenschaftlicher Gärtner (und Züchter neuer alter Apfelsorten) betätigte. Mit Gärtnern als modischem Schnickschnack hat das wenig zu tun, Hamburgers Dichten fällt eher in die Rubrik „Stirb und werde“.

Vom Osten und von Norden her
Noch zögerlich das Licht,
Bis es sich aufschwingt übers Dach,
Den Horizont im Süden erhellt
Und nackte, Ikonen knospende Stämme färbt,
Glorienscheine um die Schwärze legt,
Die Nadelbäume an ihr Kernholz drücken.

„Morgen – Ende Januar“, das erste der drei Dutzend zwischen 2004 und 2007 entstandenen Gedichte hebt mit einer Hymne auf den Garten im englischen Suffolk an: Es geht um jene „rätselhafte Jahreszeit – die wir nicht unser nennen könne“ – es geht um den Tod; am Bild der mit Schnee überdeckten Primeln und Schneeglöckchen ist nichts Kitsch oder Peinlichkeit; der Schluss ist klar und nüchtern: die Zeit steht still, ohne alle Symbolik und metaphysische Hinterwelt wird konstatiert:

Ich schaue; Stück für Stück an diesem Morgen
Wird der mit Reif bedeckte Rasen grün.

Ein Grundmotiv von Michael Hamburgers LETZTEN GEDICHTE ist radikale Selbst-Befragung des lyrischen Ichs; sein Grundton – ein Changieren zwischen Gelassenheit und Sarkasmus. In „Alptraum“ ätzt der Dichter – an seine posthumen Verleger gewandt:

Sie haben meinen Papierkorb veröffentlicht.

Auf pures Understatement folgen abrupte Gedankensprünge in weit zurück liegende Vergangenheiten: da wird ein Gespräch mit dem längst verstorbenen Vater erinnert; es folgt eine Porträt des alten Dichters als junger Besatzungssoldat. Michael Hamburger, der noch vor der sog. Machtergreifung der Nazis Deutschland Richtung England verlassen hatte können, kam kurz nach Kriegsende in britischer Uniform erstmals nach Wien – und besuchte den Prater.

Die Welt nach 1945, die Einsicht in den radikalen Epochenbruch der Totalitarismen, vor allem des Nationalsozialismus – war für Michael Hamburger, der nicht nur Goethe, Hölderlin, Rilke, Brecht, Celan und Enzensberger ins Englische übersetzte – ein fixer Bezugspunkt: Als Verfasser einer großen Studie über die moderne Dichtung – Wahrheit und Poesie – formuliert er jene poetologische Maximalformel, deren Gültigkeit auch heute kaum zu bestreiten ist:

Das moderne Gedicht wird experimentell sein – oder es wird nicht sein.

„Experimentell“ bedeutet dabei mehr als konstruktives Spiel mit sprachlichen Zeichen ohne jeglichen außerliterarischen Bezug. In „DOMESTIC / HÄUSLICHES“, dem zentralen Poem der LETZTEN GEDICHTE bemerkt das lyrische Alter-Ego dazu:

Du bist kein Fantast, beim Träumen höchstens,
Packst alles Mögliche in ein Gedicht;
Die Aura der Dinge, den Wandel, ihr Verschwinden

„Alles Mögliche“ ist in Hamburgers Fall ein stetiges Umkreisen des „exzentrischen“ Hauses mit Worten, das sich längst in „ein Amalgam aus fünf Jahrzehnten“ verwandelt hat. Das Gebäude aus der Zeit von Jakob I. steht unter Denkmalschutz – es gibt da – augenzwinkernd – eine „Tudorgarage“, einen „Tudorbackofen“; irgendwann sind wertvolle Manuskripte einem Wasserrohrbruch zum Opfer gefallen; das Dach ist mit durchsichtigem Wellblech gedeckt. Unvermittelt hält die die Beschreibung des Ganges durch die ländliche, ein wenig herabgekommene Szenerie mit einer rhetorischen Frage inne:

Lass ich dich hinein?
Bis hierher und nicht weiter, Freund,
Verhalten, angehalten vor dem Ende einer Geschichte,
Die weder enden noch beginnen kann …

Elementare Scheu und die Einsicht, dass das „Viel zu Viel“ – nicht nur des eigenen – Lebens gar nicht erzählbar ist, lassen den Erzähler DRAUSSEN, im Garten verharren. Dichterisch wohnet der Mensch, heißt es – aber wie verhält es sich mit einem Garten, diesem Nachspiel zum Paradies, diesem Vorspiel zum Friedhof? Und – Was hält die Welt in ihrem Innersten zusammen? Die Antwort fällt aufzählend aus: Als da sind – „Maulbeerflecken, purpurn auf den Fingern“, das Aufblühen einer Primel; ein Blick in die Luft – Gedanken über die Zeit; an einem Weihnachtsabend tauchen vier rätselhafte Vollmonde auf; eine Katze streift durch den Garten, Rauchschwalben nisten in einem Heizungsraum; und – schließlich die „Toten, die im Traum noch leben“.

Sehen – heißt es einmal – ist im Wesentlichen
Ein Reagieren auf die Sonne

In „Rundung des Quadrats“ entwirft Hamburger eine regelrechte dichterische Anthropologie: der Mensch leitet sich vom Baum ab. Der Garten wird immer mehr zum Schauplatz deutlich kosmischer Vorgänge:

Zwiebel, Apfel, Ei.
Ja, sie kreisen, entstehen
Und vergehen geduldig:
Die geschwungene Unterseite dieser Blaumeise,
die kleine Welle gelben Gefieders,
Die hier in die Stille gefallen ist,
Dieser umgestürzte, verfaulende Stamm,
So langsam ist am Ende unser Kreisen –
Man kann das Auf und Ab nicht unterscheiden
Das Dauernde von der Veränderung.

Immer wieder beschwört Michael Hamburger Gesprächspartner – etwa John Dowland (eigentlich als Dolan auszusprechen – wie er so gerne betonte), oder den Melancholiker Röbert Bums, den Schriftsteller Thomas Hardy; einen Pascal hätte es vor dem „Pilzwuchs unserer heutigen Informationskultur“ geschaudert. Die dichterisch formulierten Gedanken zu weltumspannenden, auf „ungezähmtes Streben nach Profit“ zurückzuführenden „Zerstörungswut“ wären vor einigen Jahrzehnten wohl als „engagierte Poesie“ bezeichnet worden – an der Gültigkeit des Befundes ändert das trotzdem nichts:

verstopft sind die Ohren bei allen
Von zuviel TV-Gebrabbel
Tele- hat verloren die Vision,
Teilt Ruhm zu,
Verblassen schon jenseits von Hohn,
Wird Werbung
für dieses und dieses und das da,
Zur Indifferenz sich entfärbend,
Gepanscht in Vertreter-Gelaber.

Dass Michael Hamburger kein bloß bramabasierender verschrobener alter Mann ist, demonstriert er mit „Air auf einem Schnürsenkel“ – ziemlich selbstironisch verhandelt der Dichter mit seinem Automechaniker den Lauf der Zeiten. Am Schluss steht der Befund, es gebe keinen GM mehr, keinen General-Mechaniker, der ein ganzes Auto zu reparieren verstünde.

Mit „Schöner Garten“ oder „Schöner Wohnen in freier Natur“ haben diese LETZTEN GEDICHTE trotz der vielen Wolkenformationen, Kürbisse, Blumen und Bäume NICHTS zu tun. Mythologie und Alltag, Zeit und Natur sind auf vergessen geglaubte Weise ineinander verwoben: zuletzt werden traditionellen Metaphern wie „Reise“, „Schiff“, oder „Verstummen“ immer häufiger.

Wenn alles je Benannte
In Namenlosigkeit soll vergehen,
Mög’ es Beflügelte geben, zu
Verbinden Erde, Wasser und Luft.

Im seinem vermutlich allerletzten Gedicht entwirft Michael Hamburger eine Vision des Jenseits: genauer gesagt die akkustische Erscheinung eines „anderen Stückes“, das nur noch der Taube zu hören vermag. Das Gedicht folgt dem „nachhinkenden Rhythmus“, um davon zu trotten. Selbst wenn Michael Hamburger Prosa spricht – mittlerweile ist alles nur noch Gesang.

WINTERABEND, EAST SUFFOLK

Wie die der Sonne werden unsere Tage kürzer,
Während vor der Sonnenwende zunimmt der sichtbare Mond.
Was auf diesen Flachland-Horizonten verweilt,
Wie stets zu wiederholen, zu erinnern, ist die Dämmerung:
Auf dem südwestlichen von der Flamme zum Schimmer
Seit sich langsam die Glut
Von Scharlach nach Rosenfarben, Bernstein, schwebt und hebt
sich fort zu einem Streifen Blau,
Tiefer als je ein Sommertag es hielt.
Hängte eine schwarze Wolke da, so leuchtend
Umrandet von scheidendem Licht.

Ö1, 14.6.2009

Der Respekt vor der Natur,

die Liebe zu ihren Erscheinungen, auch zu den kleinsten oder den selbstverständlichsten wie dem Jahreszyklus, drückt sich, neben anderen Themen, in vielen der Gedichte aus, die Michael Hamburger hinterlassen hat. Die Stimmung eines gelassenen, aber auch nachsichtigen Lebensherbstes liegt über dem Band Letzte Gedichte, der dabei entstand.

Lyrik-Liebhaber zählen ihn zu den bedeutendsten europäischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Literarische Übersetzer verehren den Kollegen für seine poetische Übertragungskunst. Bei englischen Bauern indes genoss er einen legendären Ruf als Apfelzüchter, denn im riesigen Obstgarten seines Landhauses bei Suffolk, wo der deutsch-englische Dichter Michael Hamburger bis zu seinem Tod im Jahr 2007 lebte, gediehen über hundert verschiedene Apfelsorten, darunter einige, die als ausgestorben gelten.
Der Respekt vor der Natur, die Liebe zu ihren Erscheinungen, auch zu den kleinsten oder den selbstverständlichsten wie dem Jahreszyklus, drückt sich, neben anderen Themen, in vielen der Gedichte aus, die Michael Hamburger hinterlassen hat und die nun von vier deutschen Lyrikern übersetzt wurden. Die Stimmung eines gelassenen, melancholischen, aber auch nachsichtigen Lebensherbstes liegt über dem Band Letzte Gedichte, der dabei entstand.
Die Auseinandersetzung mit dem „Erinnerungsgerümpel“ ist ein Thema Hamburgers aus seinem letzten Jahrzehnt, ebenso Reflexionen über das Altern. Es sind Gedichte, die oftmals vom Bild eines unscheinbaren Gegenstandes, einer kleinen unscheinbaren Alltagsszenerie ausgehen – ein reparaturbedürftiges Fahrrad beispielsweise, das doch liegen bleibt – andere Bilder und Gedanken konzentrisch an sich heranziehen.
So sind Hamburgers Gedichte oftmals erzählerisch, elliptisch und meditativ in einem, niemals aber pathetisch oder auftrumpfend, so wenig wie der Dichter selbst es war. Dass Michael Hamburgers Ruhm bis heute seinem Rang nicht ganz gerecht wird, hat allerdings nicht nur mit einer gewissen Rampenlichtscheu des Dichters zu tun, sondern auch mit seiner nationalen Zwischenlage.

Hamburger wurde 1924 als Kind einer jüdischen Familie in Berlin geboren, verließ Deutschland aber 1933, ging in England zur Schule, studierte dort und diente von 1943 bis 1947 auch als Infanterist in der britischen Armee. In England war er vor allem als Übersetzer zahlreicher deutscher Schriftsteller bekannt, in Deutschland als englischer Lyriker.

Ursula März, Deutschlandradio, 22.5.2009

In der Stille eines Herbstgarten

− Die Sammlung von Michael Hamburgers letzten Gedichten. −

Vorschlag zur Anmoderation: Der Dichter Michael Hamburger gehört zu den bedeutendsten englischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Gemessen an der Zahl der deutschen Übersetzungen seiner Poesie wäre er sogar der wichtigste. Kein anderes Werk eines britischen Dichters wurde so häufig in das Deutsche übertragen – und das von so vielen renommierten Autoren wie etwa Günter Kunert oder Reiner Kunze. Geboren wurde Michael Hamburger 1924 in Berlin, als Sohn eines Kinderarztes. Nach der Machtergreifung der Nazis verließen er und seine Familie das Land und gingen nach Großbritannien. Dort fand Michael Hamburger eine neue und dauerhafte Heimat und begann in den fünfziger Jahren mit dem Schreiben. Bis zu seinem Tod im September 2007 erschienen zahlreiche Gedichtbände und Essays, zusammen bilden sie ein großes und singuläres dichterisches Werk. Im Wiener Folio-Verlag, in dem die deutschen Übersetzungen der Gedichte von Michael Hamburger veröffentlicht werden, ist nun eine Sammlung von letzten, zum Teil noch unveröffentlichten Texten erschienen. Niels Beintker über ein Buch voller Abschiede.

Autor: Nicht mehr lange wird es dauern. Der Herbst ist mild, die Strahlen der späten Sonne wärmen. Doch bald wird das alles vergangen sein. Die Farben des Gartens, der Duft der Blüten. Aber auch das Leben derer, die unter den Bäumen sitzen und sich an der Stille erfreuen. Zwei alte Menschen, vielleicht ein Paar. Michael Hamburgers Gedicht „Letzte oder Erste“, entstanden im Jahr 2005, gibt der eigenen Vorstellungskraft viel Raum.

Lesung Ian Galbraith:

Mauve-Iucent at midday,
Deepest blue towards night,
Monkshood, a deadly bonus
In its dark corner Jor uso
With those colours marks an end.

Lesung Uwe Kolbe – darüber:

Malven-leuchtend mittags,
Tiefstes Blau auf die Nacht,
Eisenhut, ein Todes-Bonus
Für uns in seiner dunklen Ecke
Markiert mit jenen Farben ein Ende.

Autor: Es sind leise Vorahnungen wie diese. Oft durchziehen sie die späten Gedichte von Michael Hamburger, verleiten zu einem melancholisch gestimmten Blick auf das, was da kommen wird, unweigerlich und unaufhaltsam. Nicht immer fällt der so milde und besonnen aus, wie der Text über die beiden Alten in ihrem verblühenden Gartenreich. Manchmal spricht aus Michael Hamburgers Poesie ein großer kämpferischer Ton, sagt Uwe Kolbe. Der Berliner Lyriker hat viele der Gedichte ins Deutsche übertragen.

Uwe Kolbe: „Was er auch reflektiert, weil er ja gar nichts auslässt, ist die Marginalisierung sowohl des alten Menschen überhaupt – in einer Gesellschaft, wie sie eben ist, in der wir leben wie auch die Vergeblichkeit des Dichtens selbst natürlich. Das kommt alles darin vor. Es knirscht und knackt. Und was mir daran allerdings auch behagt – behagt ist jetzt vielleicht auch ein schräges Wort (lacht): mir behagt seine noch immer weiter vorhandene Aggressivität.“

Autor: Aufzuspüren etwa in einem Gedicht wie „Air on a Shoe-string“, zu deutsch: „Air“ – also ein Musikstück – „auf einem Schnürsenkel“, in dem sich, beim Blick auf die Allgegenwart der flimmernden Mattscheiben, das schöne Wortspiel findet: „Tele- hat verlorenen die Vision“. Der Kreis der Themen, über die Michael Hamburger schrieb, war keineswegs klein.

Uwe Kolbe: „Er holt unerhört viel Landschaft und Welt hinein und gibt dem ganzen großen Raum. Denn das kurze Gedicht ist seine Sache nicht. Es geht immer auf die Länge und lässt aber nichts aus. Ebenso wie ein Ereignis der Natur, die er sehr gut kannte, wie auch ein politisches und weltpolitisches Ereignis findet Platz in diesen Gedichten.“

Autor: Über 30 Texte sind in dieser Sammlung der letzten Gedichte von Michael Hamburger enthalten. Vier von ihnen aus dem Nachlass, der Rest aus dem Band „Circeling the square“, dem letzten der über 20 Bücher des in Deutschland geborenen englischen Dichters. Michael Hamburger kam nach Großbritannien, als er neun Jahre alt war, erzählt Ian Galbraith, Herausgeber der deutschen Übersetzungen. 1933, nachdem die Nazis begonnen hatten, die Juden in Deutschland zu verfolgen. Michael Hamburger kam erst auf eine Schule, ging kurz an die Universität und wurde dann, 1943, zur Armee eingezogen.

Ian Galbraith: „Und er nennt eigentlich die britische Armee seine richtige Universität des Lebens. Denn dort hat er alle Schichten der Bevölkerung kennenlernen können. Und er musste überleben, in einer zweifachen Hinsicht: zum einen natürlich als Soldat, zum anderen aber als Deutscher in der britischen Armee.“

Autor: Im Jahr der Einberufung war sein erstes Buch erschienen, eine Ausgabe mit englischen Übersetzungen von einigen Gedichten Hölderlins. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst kehrte Michael Hamburger zurück zur Poesie, nicht aber nach Deutschland. Er schrieb in seiner neuen Muttersprache, bis zum Ende seines Lebens.

Ian Galbraith: „Als 1984 der erste größere Gedichtband im Deutschen erschien, ,Heimgekommen‘, fand ich das schon sehr zweideutig. Er wird sicherlich zugestimmt haben, dass dieser Titel gewählt wurde. Aber heimgekommen war er nicht. Er blieb bis zum Tod ein Engländer.“

Autor: Dafür fanden Michael Hamburgers Gedichte den Weg in das Land, aus dem er einst kam, Band um Band, zuletzt nun mit dem seiner späten Lyrik, einem Buch über das Abschiednehmen, über die Natur und die moderne Lebenswelt. Dank der zweisprachigen Ausgabe lässt sich beides entdecken: Michael Hamburgers bestechende englische Sprache und ihr Fortklang in den behutsamen deutschen Nachdichtungen.

Niels Beintker, Bayrischer Rundfunk, 18.8.2009

Das Dauernde und die Veränderung

Von Michael Hamburger, dem im Juni 2007 im Alter von 83 Jahren verstorbenen englischen Dichter deutsch-jüdischer Herkunft, sind Letzte Gedichte im Folio Verlag erschienen. Das heißt: 37 zwischen 2004 und 2006 geschriebene Gedichte, die im Januar 2007 unter dem Titel Cirding the Square / Rundung des Quadrats in England veröffentlicht worden sind, sowie fünf weitere, die nach dem Tod des Dichters in einer auf seinem Schreibtisch liegenden Mappe gefunden wurden.
Auch diese letzten Gedichte zeugen von unverminderter poetischer Kraft. Wie z.B. die bissige Satire, angeregt durch die Lektüre von Robert Burtons Die Anatomie der Melancholie (1577–1640), die Hamburger wenige Monate vor seinem Tod wieder las. Die englische Redewendung „to go for a Burton“ heißt soviel wie: „sterben“ oder „kaputtgehen“:
„Für die zu Haus, versorgt mit Krankengeld, / von Fortbestand sich nur die Hülse hält.“ Hamburger verwendet hier, wie in einigen anderen Gedichten, den Endreim, dem der Übersetzer folgt: „die Usurpatoren ohne Not /“ und die so still Gemachten „lebend tot.“
Das Licht Ende November in East Suffolk, Hamburgers Wohnsitz der letzten Jahrzehnte:

Nach langer Zeit im Verborgenen fällt Sonne
Auf Rauhreif, fängt sich in ihm,
Wacht übers tiefere Rot

Der Abendhimmel wartet auf, „Mit Bernstein, Carneol, Zinnober-, Scharlachrot“, wird brennend über dunkelroten Hecken, „Ein Aquamarin, keines Sommers, sein Leuchten.“ Nach dem November folgt ein Dezemberabend. Aus einem der letzten Gedichte Hamburgers: „Wie die der Sonne werden unsere Tage kürzer“. Hier hängt eine schwarze Wolke so leuchtend da, dass sie das scheidende Licht umrandet, tief ist des Ahorns Rot. Nachteinbruch wird aufgehalten.

Strähnen fahlen Gelbs bis Ockers
Auf Kartoffelrosenstielen welkend
Wie auf jenen mit Knospen für ein kommendes Jahr.

Gleichnishaft wird die kommende Nacht beschrieben, die niemals zur Gänze dunkel wird, unsere Sicht mindert und sich der Umrisse, der Schatten und der Farben entledigt. Der Leser findet vertraute Themen Hamburgers wieder: Traumgedichte, das Altern, das Sterben und den Tod, moralische Erkenntnisse und das Erleben von Licht, bis hin zu dem großen Gedicht „Circling the Square / Rundung des Quadrats“.
Rundung des Quadrats
beginnt mit dem Aufbau von Gegenständen, die der organischen runden Welt angehören: Zwiebel, Apfel, Walnuss, in ihrer Veränderung andauernd und wiederkehrend. Doch was ist in diesem rätselhaften, hohen Spiegelbild zu sehen, das so ausführlich beschrieben wird? Ein Zweifüßer, eher Vogel als Affe, ohne Flügel, jedoch mit Armen und Klauen – mit Buddhabauch, als einzig konkavem, der Nabel – Baum, ohne Wurzelgeflecht und Linien, die sich nie berühren werden. Sollte sich darin der Mensch der Gegenwart verbergen? Dessen Entfremdung vom eigentlichen Menschsein Hamburger oft beklagte.
Im Zentrum des Gedichtes steht ein rechteckiger Rahmen (ins Deutsche mit „Gerüst“ übersetzt). Ein Kreuz und ein von geliehenem Licht umkränztes Haupt; von Sonne, Mond, Sternen und den Sphären. Darüber das vorgotische Kuppeldach eines Doms vielleicht, unter ihm die fensterlose Krypta. Draußen entwickelt sich ein anderes Bild:

… Hektik, Manipulation,
Von den Erfindern der Zeit
‚Nachrichten‘ und ‚Geschichte‘ genannt,

Addieren von Nullen-

Rund oder oval! – zur Verkleinerung
Von diesem und jenem, dem Wahren und Besonderen.

Das Kreuz ist hier Additionszeichen, das Oval die Null. Im Gegensatz dazu stehen Zwiebel, Apfel, Ei als Vertreter des Lebendigen, das vergeht und neu entsteht, in der Veränderung andauert.
Hamburger setzt das Bild der geschwungenen Unterseite einer Blaumeise dazu, „die kleine Welle gelben Gefieders, die hier in die Stille gefallen ist“. Ohne es zu benennen, scheint hier doch das Zentrum des Christentums umschrieben zu sein. Hamburger hatte sich zu diesem Thema bisher nur gesprächsweise und zurückhaltend geäußert.

Brigitte Espenlaub, Die Drei, Januar 2010

 

Eine geklonte Maus ist keine Maus

– Michael Hamburger im Gespräch mit Iain Galbraith. –

Ian Galbraith: Herr Hamburger, Alfred Polgar mußte 1933, wie Sie, aus Deutschland auswandern. Er emigrierte über mehrere Stationen in die USA und starb 1955 in einem Züricher Hotel. 1948 schrieb er: „Je länger man in der Fremde lebt, desto fremder wird sie… Je näher man ihr kommt, desto weiter rückt sie weg.“
Nun haben Sie ganz andere Erfahrungen als Alfred Polgar gemacht: Sie leben seit über 60 Jahren in England, leben nicht mehr „in der Fremde“. Oder doch?

Michael Hamburger: Die Befremdung Polgars ist mir erspart geblieben, weil ich im Alter von 9 Jahren, nach dem Trauma der Auswanderung, noch fähig war, mich gesellschaftlich und kulturell einigermaßen anzupassen, und nach einigen Monaten schon relativ gut englisch sprach. Freilich war dies noch nicht das Ende der Anpassung. Sie mußte ständig wiederholt werden, etwa, als wir von Edinburgh nach London übersiedelten, ich dann nach Oxford ging, und später als gemeiner Infantriesoldat in die Armee. Fremd wurde mir Großbritannien erst, als Margaret Thatcher es zu amerikanisieren begann.

Galbraith: Sie haben Generationen von Briten und Amerikanern mit Hölderlin, Goethe, Huchel und Celan vertraut gemacht, haben unzählige Vorträge gehalten und Jahrzehnte lang keine Gelegenheit versäumt, auf neue und interessante Entwicklungen in der deutschsprachigen Literatur hinzuweisen oder weniger bekannte Schriftsteller vorzustellen. Was tun Sie heute?

Hamburger: Ich war früher sehr aktiv als Kritiker und habe viele Essays über Literatur geschrieben – das habe ich inzwischen aber ganz aufgegeben. Meinen letzten Vortrag habe ich über Hofmannsthal gehalten. Dieser Vortrag hat mir unwahrscheinlich viel Kopfzerbrechen bereitet, ein ganzes Jahr lang habe ich an ihm gearbeitet. Das hatte seinen Grund: In den frühen 60er Jahren habe ich viel über Hofmannsthal gearbeitet. Mich interessierte an ihm, daß er enorm viele, sehr verschiedene Dinge zusammengebracht und vereint hat, das hat mir imponiert. Ich habe in seiner Bibliothek geforscht, und ich habe mir angeschaut, was er gelesen und welche Notizen er in seinen Büchern gemacht hat. Manchmal hat er Teile seiner eigenen Werke in die Vorsatzblätter der gelesenen Bücher geschrieben – das hat mich aus psychologischen Gründen fasziniert. Aber diese Arbeit lag weit zurück, und seitdem habe ich mich kaum mehr mit Hofmannsthal beschäftigt. Darum war es so schwer, noch einmal über ihn zu reden: Das war und bleibt mein letzter Vortrag!

Galbraith: Neben Ihrer damaligen germanistischen Tätigkeit haben Sie viele Aufsätze zur Literatur, viele Kritiken und Ähnliches geschrieben.

Hamburger: Für mich gehörte das zu meiner Arbeit als Übersetzer. Über die Schriftsteller, die ich übersetzte, habe ich immer auch Aufsätze geschrieben, da sie ja in England unbekannt waren. Aber mit der Zeit wurde ich dann auch Kritiker und mußte viele Buchbesprechungen schreiben – zu viele: Vielleicht war das der Grund, warum ich irgendwann einen Strich darunter gezogen habe. Ich schreibe mittlerweile überhaupt keine Literaturkritik mehr, und in den letzten Jahren habe ich nur noch ganz kleine Sachen gemacht: Texte, meist als Einleitungen oder Vorworte zu meinen Übersetzungen.

Galbraith: Übersetzen Sie denn noch?

Hamburger: Diese Vermittlertätigkeit habe ich aufgegeben, denn ich hatte das Gefühl: Das habe ich lange genug gemacht, das müßten jetzt jüngere Leute übernehmen. Die Übersetzungen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, sind nicht besonders zahlreich. Es sind hauptsächlich Ergänzungen zu meinen früheren Übersetzungen. So habe ich zum Beispiel einige Gedichte von Hölderlin übersetzt, die ich früher nicht übersetzen konnte oder wollte. Dann habe ich einen Lyriker übersetzt, den ich schon lange liebe und schätze, aber nie kontinuierlich übersetzt hatte: Ernst Jandl. Und dann einen weiteren Dichter, den ich kannte und sehr schätzte und der fast vergessen war: Franz Baermann Steiner. Ich habe viele deutsche Lyriker aus meiner Generation übersetzt, ja, auch ältere: Peter Huchel, Günter Eich, und dann Enzensberger, Grass, Meckel, auch andere, Heißenbüttel, jetzt Jandl.
Aber die erheblich jüngeren kann und will ich nicht mehr übersetzen, ihre Sprache ist oft zu schwierig für mich. Viele beziehen sich auf das, was zur Zeit gängig ist, in der Sprache, in der Terminologie – das ist schon bei Enzensberger manchmal schwierig, weil er ja so viel weiß und alles liest, was neu ist in der Soziologie und in anderen Disziplinen. Gut, es gibt auch ein paar jüngere: Von Uwe Kolbe habe ich einige Gedichte übersetzt, von einigen anderen ebenfalls.
Ich will aber keine Projekte mehr haben, ich möchte mich nicht mehr durch längere Übersetzungsarbeiten binden lassen. Wenn ich plötzlich das Bedürfnis habe, ein bestimmtes Gedicht zu übersetzen, dann tue ich es noch, aber ich will keine Projekte mehr haben. Ich konzentriere mich heute nur noch auf meine eigenen Gedichte.

Galbraith: Darf ich doch noch einen Moment bei Ihren Erfahrungen als Übersetzer bleiben? Sie haben kürzlich bemerkt, daß es Ihnen „inzwischen deutlich geworden ist, daß es für bestimmte Dinge keine Äquivalente in der anderen Sprache gibt und daß die lyrische Dimension eines Gedichts bei mancher wörtlichen Übertragung viel zu kurz kam“. Meinen Sie damit bloß bestimmte Redewendungen, oder meinen Sie ganze Gedichte, oder gar ganze Werke eines bestimmten Autors?

Hamburger: Ja, ich halte viele Gedichte für unübersetzbar: in der deutschen Lyrik zum Beispiel die vielen romantischen Gedichte, die im Volksliedton geschrieben sind, wie bei Eichendorff. Ich habe noch nie eine gute Übersetzung von einem Eichendorffgedicht gelesen. Die Schönheit dieser Gedichte liegt in ihrem Klang, in der Melodie, während der gedankliche Gehalt oft banal ist. Wenn man sie in eine andere Sprache übersetzt, wirken sie nur noch wie völlig banale Gedichte.
Manche der liedhaften Gedichte von Goethe sind ebenfalls furchtbar schwer zu übersetzen. Man könnte sagen: Je schwieriger der Dichter, desto übersetzbarer – so habe ich immer die schwierigsten Dichter bevorzugt! Die Gedichte Hölderlins und Celans übersetzen sich leichter als manches einfache Gedicht. Ich habe mich zum Beispiel wieder gewundert, als ich neulich eine französische Übersetzung von Gerard Manley Hopkins las. Hopkins hatte eine Art zu schreiben, die dem Französischen völlig widerspricht. Die französische Metrik ist ja so regelmäßig und so glatt, und trotzdem ist es diesem Übersetzer gelungen, das Wesentliche zu übertragen.
Doch was metrische Differenziertheit und Verschiedenheit anbelangt, ist Goethes Theaterstück Pandora vielleicht das schwierigste Werk, das ich je übersetzt habe. Goethe war bekanntlich ein Virtuose der Metrik, und in diesem Stück hat fast jede Rede ein anderes Versmaß, und manche Versmaße sind kaum überhaupt von anderen Dichtern je verwendet worden: So erfinderisch ist die Kunst!

Galbraith: Einige der „neueren“ Lyriker, ich denke an Oskar Pastior, sind ebenfalls sehr schwierig zu übersetzen, wenn nicht sogar unübersetzbar.

Hamburger: Ich hätte gerne etwas von Oskar Pastior übersetzt, aber sein einziges übersetzbares Gedicht braucht man nicht zu übersetzen, weil es schon in mehreren Sprachen geschrieben ist.
Doch das, was er sonst mit den deutschen Wörtern tut, das kann man nicht wiedergeben, und so war’s auch bei Jandl. Jandl schreibt ja mindestens drei verschiedene Arten von Gedichten. Die reinen Lautgedichte kann man nicht übersetzen, und das, was er Sprechgedichte nennt, auch nicht. Man kann nur die – ich glaube, er nennt sie „Gedichte in konventioneller Sprache“ – also die kann man übersetzen, die anderen nicht.

Galbraith: Der Kritiker, Verleger und Lyriker Michael Schmidt hat unlängst geschrieben, daß von allen Bereichen Ihrer literarischen Tätigkeit vor allem Ihre eigene Lyrik bestehen bleiben wird. Das muß Sie gefreut haben. Ihre Aktivität als Übersetzer und Kritiker hat Ihren wichtigsten Beitrag zur Literatur immer ein bißchen überschattet.

Hamburger: Die Dichtung war immer meine Hauptbeschäftigung. Für andere ist das nicht so klar, denn ich habe viel mehr Übersetzungen veröffentlicht als eigene Gedichte. Das kommt daher, daß man fast routinehaft übersetzen kann. Man kann sich jeden Tag hinsetzen und kann soundsoviele Zeilen oder Seiten, wenn es Prosa ist, übersetzen, aber man kann so keine eigenen Gedichte schreiben. Die kommen, wenn es ihnen paßt, und oft muß man lange auf sie warten!

Galbraith: Zu Ihren wichtigsten lyrischen Werken gehören die drei langen Gedichte „Travelling“ (1968–76), „In Suffolk“ (1978–80) und „Late“ (1997). Spätestens seit dem Erscheinen von „Travelling“ und „In Suffolk“ in einem Band mit dem Titel Variations (1981) werden diese Gedichte, fast schon im Sinne einer Gattung, als Ihre „Variationen“ bezeichnet. Sind Sie mit diesem Begriff eigentlich zufrieden?

Hamburger: Das ist eine schwierige Frage. Ich hatte immer schon eine besondere Leidenschaft für Musikwerke, die in dieser Variationsform geschrieben wurden: etwa die Goldberg-Variationen und Das musikalische Opfer von Bach, oder Beethovens Diabelli-Variationen. Aber in der Lyrik kann man nichts Verwandtes tun, so wenig wie man eine Fuge als Gedicht erscheinen lassen könnte. Die „Todesfuge“ von Celan, zum Beispiel, ist ja keine Fuge, weil es keine richtige Kontrapunktik mit Worten geben kann. Man kann ja nicht die Wörter in einer Form zusammenbringen, daß sie synchronisiert sind, und Polyphonie gibt es auch nicht im Gedicht.
Den Titel Variations habe ich nur gewählt, weil diese Gedichte sich enorm frei bewegen, aber zusammengehalten werden durch Wiederholung, durch die Entwicklung der wiederholten Wörter oder Phrasen, die „variiert“ werden auf diese Weise, und das ist das eigentliche Einheitsprinzip dieser Gedichte, die sonst enorm weitschweifend sind.
Zum Beispiel, „Travelling“ springt herum in der Zeit und zwischen Orten, es geht von Europa nach Amerika, geht zurück in die Vergangenheit und dann wieder in die Gegenwart, und das Gedicht mußte irgendwie zusammengehalten werden, und das geschah eben durch Wiederholungen, durch Leitmotive. Darum habe ich auch gedacht: „Leitmotiv“ ist vielleicht genauer als Variationsform, weil man eben in der Lyrik nichts tun kann, was sich mit den musikalischen Variationen vergleichen läßt. Auch die gewaltigen Wechsel der Tempi und Rhythmen: die kann man in einem Gedicht kaum durchhalten.

Galbraith: Ihre Arbeit – ob als Lyriker, Übersetzer oder Kritiker – ist von einer enormen Wissensbegierde geprägt. Im Mittelpunkt steht Ihr Respekt vor der „Quiddität“ oder Eigenart der „Gegenstände“ – wie Sie in einem poetologischen Essay nicht nur die Bäume, Pflanzen, Tiere oder „Dinge“ im landläufigen Sinn benennen, sondern auch Träume und Menschen.
Im gleichen Essay beklagen Sie unsere Zeit als eine, „in der das Fortbestehen meiner Gegenstände, der stummen und redenden, immer fraglicher wird“. Tatsächlich leben wir mit diesen Gegenständen im Zeitalter ihrer mechanischen Reproduzierbarkeit: Auch der Mensch ist heute gentechnologisch ein industriell herstellbares Produkt geworden. Robert Burns schrieb 1785 sein Gedicht „An eine Maus, die er mit ihrem Neste aufgepflügt hatte“. Die zweite Strophe, in Freiligraths Übersetzung, lautet:

Der Mensch – betrübt gesteh’ ich’s ein! –
Brach der Natur geselligen Reihn!
Mißtrauisch drum fliehst du feldein:
Voll Furcht, dir schade
Dein armer Mitgeschaffner – dein
Staubkamerade!

Könnten Sie sich vorstellen, ein Gedicht „An eine geklonte Maus“ zu schreiben?

Hamburger: Schon bevor ich – früh im Leben – Bücher verschlang, richtete sich meine Wissensbegierde auf die Dinge der Natur, so daß meine Eltern glaubten, aus mir würde ein Naturforscher. Daß diese Zuneigung zu Tieren und Pflanzen aber keine wissenschaftliche war – was ja eine Spezialisierung erfordert hätte –, war wohl noch nicht zu ersehen, obwohl mein Vater kein Spezialist war, sondern ein Humanist, der es als Kinderarzt für notwendig hielt, sich auch mit Psychologie zu beschäftigen. Er befaßte sich außerdem sein Leben lang mit Musik, bildender Kunst und Literatur, und noch im letzten Lebensjahr las er Kierkegaard. Dieses Familienerbe – der Vater meines Vaters war in seiner Jugend Schriftsteller und Literaturkritiker – mag manches an meiner Einstellung erklären. Auch für meinen Vater wäre eine geklonte Maus keine Maus mehr gewesen, sondern nur ein monströses Produkt menschlicher Arroganz.

Galbraith: Im vergangenen Jahr ist der vierte Band in der von Peter Waterhouse übersetzten Ausgabe Ihrer Gedichte erschienen, mit dem Titel Todesgedichte. Viele Ihrer neueren Gedichte – z.B. „Drei kleine Elegien“, die „Altern“-Gedichte, „Tagen, Nachten“ usw. sprechen gleichsam „mit sterbenden Augen“, wie es in dem Gedicht „Untrennbar“ (oder auch „Unteilbar“) heißt. Sie nennen diese Gedichte ihre „letzten“. Hat die Todeswahrnehmung eine starke Einwirkung auf Ihr Schreiben?

Hamburger: Ich glaube schon. Als ich siebzig wurde, erlitt ich einen Zusammenbruch, und eine Zeit lang hatte ich völlig mein Gedächtnis verloren. Dann kamen andere Krankheiten dazu, zwei Operationen, und ich hatte das Gefühl, es geht zu Ende. Jetzt geht es mir wieder besser, aber das Gefühl des „Endes“ stammt aus dieser Zeit. Das war eine Krise; ich glaubte, daß ich nicht mehr lange leben würde. Jetzt weiß ich nicht: Es kann sein, daß ich doch noch eine Weile am Leben bin. Aber das Gefühl geht nicht mehr weg. Es kommt auch daher, daß ich mich sehr alt fühle im Verhältnis zu den jüngeren Lyrikern und überhaupt zur jüngeren Literatur. Ich habe das Gefühl, daß ich aus einer ganz anderen Welt stamme und auch ganz andere Interessen habe.

Galbraith: Und dennoch, gerade in dieser Phase, die von dem Bewußtsein geprägt ist, daß es zu Ende gehen könnte, schreiben Sie ausgerechnet satirische Gedichte.

Hamburger: Das gehört dazu. Es ist seltsam: Im letzten Jahr habe ich mehr Gedichte geschrieben als je zuvor im Leben, denn ich habe außer meinen ernsten Gedichten auch noch diese unernsten Verse, also zeitkritische Epigramme usw., geschrieben, und das ist eine ganze Sammlung geworden, zwar nicht sehr umfangreich, aber immerhin ca. dreißig Stück. In den meisten Jahren habe ich immer nur ungefähr 10 Gedichte im Jahr geschrieben, aber wenn ich jetzt alles aus dem vorigen Jahr zusammenzähle, dann sind es vielleicht 50 Gedichte. Das ist enorm für mich.

Galbraith: Ich kann verstehen, wenn der Schatten des Todes die Produktion steigert. Aber daß es ausgerechnet satirische Gedichte sind, scheint mir etwas merkwürdig zu sein! Ich hätte gedacht, man beschäftige sich dann vor allem mit den sogenannten „letzten Dingen“.

Hamburger: Deshalb habe ich jetzt meine satirischen – oder was immer sie sind – Gedichte von meinen anderen getrennt, denn sie gehören nicht zusammen. Ich habe sie auch in einer anderen Person geschrieben; ich habe für bestimmte Zwecke diese Persona Mr Littlejoy erfunden! Aber der eigentliche Grund ist der, daß ich sehr an dem leide, was heute in der Welt geschieht, und vor allem in England. England hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert, und ich komme nicht darüber hinweg, und darum mußte ich diese Verse schreiben.

Galbraith: Mit Blick auf die veränderte Landschaft in England – politisch, soziologisch, kulturell – haben Sie darüber gesprochen, daß es weniger Sinn mache, vom „Tod der Literatur“ zu reden, als vielmehr vom Tod einer früher vorhandenen, seriösen Literaturkritik.
Der sekundäre Bereich ist heutzutage stark atrophiert: dieser ganze Bereich der Kritik, der literarischen und kulturverpflichteten Periodika, des kultivierten Geschmacks, des verlegerischen Verantwortungsbewußtseins usw. Macht es keine Freude mehr, in dieser kälteren Atmosphäre Literaturkritik zu schreiben?

Hamburger: Ich könnte es auch gar nicht mehr, weil ich keine Beziehung mehr habe zu den Zeitungen und Zeitschriften, und die würden das, was ich schreibe, nicht mehr bringen. Darum hat es keinen Sinn, daß ich es weiterbetreibe.
Mir war immer wichtig, für Menschen zu schreiben, die interessiert sind an dem, was mich interessierte, und darum habe ich früher viel in Zeitschriften und Zeitungen publiziert. Aber das könnte ich jetzt nicht mehr tun. Ich habe ständig das Gefühl: there’s nobody there, es ist niemand da, zu dem ich reden kann.

Galbraith: Es scheint zur Zeit viele Lyriker zu geben! Zumindest wird – oder besser: wurde – in britischen Zeitschriften von einem „Lyrikboom“ gesprochen. Es gibt den National Poetry Day, Gedichte in der U-Bahn, Gedichte im Bus, die New Gen Poets, Lyrik im „Millenium Dome“.

Hamburger: Ja, aber das hat überhaupt keine Bedeutung. Es gibt unzählige Lyriker, immer mehr, und es erscheinen immer mehr Gedichtbände, weil so viele Leute den Ehrgeiz haben, Lyriker zu sein. Sie erlangen einen gewissen Ruhm, der vielleicht drei Monate lang andauert. Jeder von ihnen wird gepriesen als Genie, und manche bekommen Preise, dann sind sie irgendwie etabliert, aber bald sind sie schon wieder vergessen, denn es stehen bereits so viele andere vor der Tür, die auch schon Preise bekommen haben. Gleichzeitig werden die Dichter, die sich als solche bewiesen haben, indem sie ein Leben lang an Gedichten gearbeitet haben, verdrängt, weil sie zu alt sind.
Ich habe gerade eine Besprechung über das Buch einer Lyrikerin im mittleren Alter gelesen. Da kommt also eine ganz junge Rezensentin und sagt, diese Lyrikerin sollte jetzt aufhören, sie sei schon zu alt. Und die selbe Lyrikerin hat ein Gedicht in der selben Zeitschrift, in der diese Besprechung erscheint, in dem sie schreibt: Die Männer sind abgesägt, jetzt kommen wir Frauen an die Reihe. Das ist… so grob und so dumm, doch daraus wird ein sogenanntes Gedicht! Oh, es sind furchtbare Zustände…

Galbraith: Es ist vor allem paradox, wenn sich einerseits die Lyrik, weit mehr als vor zehn oder fünfzehn Jahren, den öffentlichen Raum erobert hat, andererseits die Dichter, die ihr ganzes Leben lang geschrieben haben, sich wie gestrandet vorkommen.

Hamburger: Es liegt am Personenkult. Man wird ja als Person gefeiert. Jeder wird in der Kritik etikettiert – nach Geschlecht, Rasse, Klasse, und jetzt kommt auch noch das Alter dazu – und so ist political correctness das Gegenteil von dem, was es zu sein vorgibt. Das Werk selbst wird immer unwichtiger.

Galbraith: Trotz des Gefühls, daß es für das, was Sie schreiben, kein Publikum mehr gibt, bleiben Sie hartnäckig.

Hamburger: Schwer zu sagen, warum! Wahrscheinlich zum Teil aus Gewohnheit – daß ich nicht aufgeben will, was ich mein Leben lang getan habe. Und außerdem glaube ich, daß sich alle diese Dinge wieder ändern werden. Man schreibt ja immer in der Hoffnung, daß etwas von dem, was man geschrieben hat, bleiben wird. Das ist zwar eine blasse Hoffnung, aber trotzdem: es gehört irgendwie dazu. Man kann diese Hoffnung nicht ganz aufgeben.

Galbraith: Diese Etikettierung, von der Sie sprachen, hat wohl auch etwas mit der Spezialisierung zu tun, die in allen Bereichen unseres Lebens herrscht.

Hamburger: Das stimmt. Das war sogar damals mein Problem, als ich an der Universität arbeitete. Denn ich interessierte mich immer für andere Literaturen, und dann schrieb ich mein Buch Wahrheit und Poesie, und es wurde sofort angegriffen: In der ersten Besprechung wurde behauptet, daß ich „comparative literature“ betrieben habe. Ich wußte gar nicht, daß es so etwas überhaupt gibt. Ich hatte also keine Ahnung gehabt, daß ich sowas Schlimmes betrieben hatte: Komparatistik! Nur weil ich eben über viele Literaturen zugleich schrieb!
Auch in meinen Aufsätzen über deutsche Autoren kommen immer Vergleiche mit und Anspielungen auf englische Schriftsteller vor. Ich war immer gegen die Spezialisierung. So ist es auch in meinen Gedichten.
In der Lyrik sehe ich sie als Gefahr, denn in der Moderne haben sich auch die Lyriker enorm spezialisiert. Es geht in unserer Zeit immer nur um die „Stimme“ eines Dichters, und diese Stimme spricht oft einen ganz begrenzten Themenkreis an: Bei Trakl zum Beispiel gibt es ein enorm begrenztes Themenspektrum, und das ist irgendwie das moderne an ihm, wenn man es etwa mit Goethe vergleicht. Goethe hat jede Art von Gedicht geschrieben, und es ging dabei mehr um die Gedichtart als um die Individualität des Dichters.
Jetzt geht es nur noch um die Individualität. Auch in der Zeit, in der alle Lyriker engagiert waren, war ich kein engagierter Dichter. Daß jedes Gedicht sich auf die Zeitgeschehnisse beziehen mußte, fand ich nicht richtig: Ich wollte frei sein, ich wollte meine Themen nicht auf diese Weise beschränken, und auch meine Ansichten nicht beschränken auf irgendeine Parteilinie oder Ideologie. Das rührt eben auch von meinem Haß auf die Spezialisierung her.

Galbraith: Sie mußten ja schon von Hause aus versuchen, der Spezialisierung entgegenzuwirken: verschiedene Welten miteinander verknüpfen, Brücken schlagen zwischen auseinanderstrebenden Teilen Ihrer Biographie, Ihrer Person.

Hamburger: Das Brückenschlagen war immer schon wichtig für mich, sonst hätte ich nicht so viel übersetzt. Denn das Übersetzen ist ja ein Brückenschlagen, und es kommt wohl daher, daß ich selbst von einem Land in ein anderes versetzt wurde. Um überhaupt existieren zu können, mußte ich Brücken schlagen zwischen meiner deutschen Vergangenheit und der englischen Gegenwart. Deshalb konnte ich mich unmöglich nur in einer Richtung entwickeln.

Schreibheft, Heft 52, Mai 1999

 

W.G. Sebald besucht Michael Hamburger. Ein Text aus dem W.G. Sebald-Forum für den ausgewanderten Schriftsteller, Wanderer, Germanisten, Autor des Elementargedichts „Nach der Natur“ und  weiterer Werke. Eingerichtet von Christian Wirth.

 

 

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Nachrufe auf Michael Hamburger: P.E.N. ✝ Die Zeit ✝ BZSZ

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Hamburger

 

Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland. Ein Film von Frank Wierke (hier in voller Länge).

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