RHETORIK
Nach Sonnenuntergang, hieß es,
hält Demosthenes einen Vortrag
im Steinbruch vor der Stadt.
Wir waren da, auch die,
die nur Bahnhof verstehen,
wenn es um Wahrheit geht.
Er klaubte Kieselsteine auf,
die er sich in den Mund steckte,
um die Zunge geschmeidig zu machen.
Wenn er Kummer sagte oder Klage,
hüpfte ihm ein Stein
von den Lippen.
Am Ende, mit leerem Mund,
nahm er ein schnell wirkendes Gift.
Die Zuhörer, schläfrig und verdrossen,
machten sich auf den Heimweg.
Ich sammelte, als letzter, die Tränen auf,
bevor sie trockneten.
ohne Rückfahrkarte. Nicht zurück in die neuen Verhältnisse der Entsinnlichung, Speicherung, des Bescheidwissens und der Hetze im Netz. Und wohin geht die Reise? Wieder und noch einmal: in die Natur – als wären ausgerechnet Bäume und Wiesen und weite Himmel das, was man von der Welt im Gedächtnis behalten will.
Ach, wer so reisen könnte, mit offenen Augen: nicht verklärend, nicht mehr naiv und dennoch nicht ohne Rührung. Nicht mit großen Worten, sondern einmal einfach – ohne Ziel.
Michael Krügers neue Gedichte – weit entfernt und ganz nah – sprechen mit vertrauter Stimme. Es sind Wortmeldungen unterwegs, von einer Reise ins Offene.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2018
– Hätte man meinen können, Michael Krüger würde nach dem Ende seiner Tätigkeit als Hanser-Verleger mehr und länger schreiben, so ist das Gegenteil eingetreten. Das zeigt Krügers wunderbarer, neuer Gedichtband Einmal einfach. –
Einmal einfach – das ist einer jener Sätze, die Michael Krüger, ein Stammgast am Fahrkartenschalter, sicher häufiger im Munde führt als andere Menschen, beständig unterwegs zwischen München und Berlin, zwischen Hannover und Wien. Über diese rege Reisetätigkeit ist Krüger zu einem der eminentesten Vertreter jener Gattung der Poesie geworden, die man in aller Wertschätzung Eisenbahnlyrik nennen darf. Ja, mit Krügers Zuggedichten könnte man inzwischen wohl einen ganzen Band füllen.
Einmal einfach, damit ist aber auch die Lebensreise gemeint, jene Einbahnstraße namens Vergänglichkeit. Nicht selten fallen für Krüger diese beiden Reisen freilich in eins: „Der Zug hielt an, wir mußten warten / bis auf dem Gegengleis der Tod vorbeifuhr“ heißt es etwa in seinem neuen Gedichtband. Aber auch in seinem letzten Band, Umstellung der Zeit von 2013, finden sich Zeilen, nach denen man das nächste Mal mit etwas mulmigem Gefühl die Bahn benutzen wird:
Dann fährt der Zug wieder an, die Toten
unter der Trasse beginnen zu kreischen.
Einmal einfach, um einen weiteren Aspekt zu erwähnen, der sich beim Titel des neuen Bandes Michael Krügers aufdrängt, „Einmal einfach“ stellt zugleich auch eine Art poetologischer Aufforderung dar. Einfach zu schreiben, nicht experimentell, konzeptuell, in irgendeiner Form avantgardistisch. Das heißt nicht, das der Dichter Krüger, jahrzehntelang auch ein wichtiger Verleger zeitgenössischer Poesie, die Avantgarden nicht zur Kenntnis genommen hätte, dass er nicht wüsste, was Sprachspiel oder Sprachkritik sind, was es heißt, an der Form zu arbeiten.
Gleichwohl sind für Krügers eigenes Schreiben Peter Huchel oder Günter Eich wichtiger als Welimir Chlebnikow oder Konrad Bayer. Wobei es müßig ist, Krüger überhaupt auf Vorbilder festlegen zu wollen, er selbst nennt in Einmal einfach gar keine Namen und enthält sich aller Zitathuberei. Stattdessen empfiehlt er als Vorbilder die Bienen:
Bitte, nehmt euch ein Beispiel
an den Bienen (…)
Die Bienen
übersetzen, und der Wind, der ums Haus
geht wie ein Dieb, sammelt ein
und macht einen Vers draus,
den wir nur nachsprechen müssen.
Die Natur spielt in Krügers Lyrik mit den Jahren eine immer größere Rolle, der Apfelbaum im Garten, die Vögel, der Schnee und die Wolken. „Sieh, wie der Weißdorn sich aufdrängt!“ heißt es einmal. Dass die Natur bei Krüger eine solche Präsenz entfaltet, mag daran liegen, dass für den Dichter im Alter die Erinnerung an die Kindheit eine immer größere Rolle spielt, die ersten Jahre im sachsen-anhaltinischen Wittgendorf bei den Großeltern, die zwar keine Bücher besaßen, aber jeden Halm zu benennen wussten.
So liest man auch vom Wunsch, „noch einmal den Wiesenkümmel zu riechen“, was ja durchaus möglich wäre, würde sich in diesem doch ganz „einfachen“ Wunsch nicht eben auch eine zweite, unmöglich zu erfüllende Sehnsucht verbergen: Für die einmal gelöste Fahrt nachträglich noch ein Retourbillet zu erhalten, noch einmal in die geborgene Welt der frühen Kindheit zurückzukehren, in die Zeit, bevor man als Sechsjähriger ins zertrümmerte Berlin versetzt wurde. Ein Lebensbruch, der noch siebzig Jahre später ein Fremdheitsgefühl auszulösen vermag: „Ich soll hier aufgewachsen sein“, heißt es skeptisch in „Nikolassee, Februar 2015“.
Einmal einfach: Man könnte meinen, dass Michael Krügers neuer Gedichtband ein Buch der Trauer und der Todesahnung ist. Das ist er auch. Seltsamerweise aber ist er zugleich ein großes Buch des Trostes. Liest man etwa die Gedichte „Rätsel“ oder „Der Nußbaum, die Zeit“, dann bezweifelt man den Satz, dass im Sterben jeder alleine sei. Betrachtet man das Leben als eine langsame, aber stetige Bewegung des Vergehens, so fühlt man sich bei der Lektüre von Einmal einfach deutlich weniger einsam.
Aber zugleich warnt Krüger davor, dem Trost in die Arme zu laufen. Er erinnert an die „Totenlieder der Fliegen“, an die „gefräßige Zeit, die alles an sich reißt“. Und doch findet er bei seinen Fahrten in und durch die Städte so treffende wie komische Bilder, Bilder, die die fürchterliche Zeit nicht so schnell zernagen wird: „Schrebergärten kriechen um die Städte herum wie Schnecken“, heißt es im Titelgedicht. Anderswo ist die Rede von der „geschwätzigen Mafia der Spatzen“, vor der man sich fürderhin ein wenig mehr in Acht nehmen wird.
Einen Hinweis gibt Krüger freilich doch, in welcher Tradition seine Gedichte stehen. Gleich zu Beginn von Einmal einfach steht als Motto der von Eckermann notierte Ausspruch Goethes, alle seine Gedichte seien Gelegenheitsgedichte. Das sind auch die Krügerschen. Aus dem Augenblick geboren, häufig mit Datum versehen, lyrische Fundstücke eines Weltreisenden, der in Skopje die Kohlweißlinge grüßt und in Warschau Zbigniew Herberts Stuhl probesitzt.
Es sind Gelegenheitsgedichte auch in ihrer Kürze. Hätte man meinen können, Krüger würde nach dem Ende seiner Tätigkeit als Verleger mehr und länger schreiben, so ist das Gegenteil eingetreten. Keines seiner neuen Gedichte ist länger als eine Seite, vielen ist gar etwas haikuhaftes eigen, ohne dass Krüger es nötig hätte, eigens ein Haiku zu schreiben. Es steckt eine Souveränität in seinen Versen, die man fraglos dem Alter zuschreiben muss. Und man muss sich schon arg Mühe geben, um eine Spur von Koketterie in all diesen so einfachen wie gewichtigen, so höchst konzentrierten wie extrem entspannten Versen auszumachen: Mein Weg, „wie das schon klingt – / ein paar Kiesel, über die ich nicht gestolpert bin.“
In diesen Gedichten fehlt jede Hoffnung auf Erlösung. Erlösung fehlt, seit wir sie brauchen, also: seit es uns gibt. Jeder Wunsch nach Erlösung antwortet auf deren unabänderliche Abwesenheit. Der Vorgang, dies Unumstößliche abzumildern, heißt Gott. Es ist ein „müder Gott“, der „zu lange in der Hoffnung lebte, / nicht durchschaut zu werden“. Aber manchmal hört der Dichter diesen Gott auch lachen, „da halten selbst die Vögel den Schnabel“.
Michael Krüger erlebt seine Liebe zum Leben so, wie man eine Liebe am innigsten, am sinnigsten erlebt. Man erlebt eine Liebe am sinnigsten und innigsten, wenn ihr alles entgegensteht. Dieser Poet, der in Schnellzügen reist, Bienen und Fliegen beobachtet, in Gewittern steht – er hat einen Nerv für das Wesen jeder Liebe: das Wunderbare. Das freilich etwas ist, das wir ewig versäumen; etwas, das wir fortwährend verletzten.
Einmal einfach heißt der neue Band Krügers. Mit diesen Worten bittet man an den Schaltern des Lebens um ein Ticket ohne Rückfahrkarte, ohne Komfort, ohne Reservierung, ohne Vergünstigung, ohne sonstige Zuschläge. Umwege aber und Umstiege sind gestattet. „Du hast es nicht eilig.“ Der Dichter gestattet der laut tickenden Leistungszeit nicht, der reizend uhrenfreien Schwellen-, Übergangs- und Bedenkzeit den Etat zu kürzen. Die Gedichte feiern, dass unsere angemaßte und eingebildete Unaufhaltsamkeit meist nur beim Zaudern und Zögern Charme und Charakter hat.
So folgt das Vers-Werk einem doppelten Auftrag: Es will dem Leben eine Helligkeit so zusprechen, dass wir meinen könnten, es gebe diese wirklich, und es will eine Verfinsterung so aussprechen, dass wir meinen könnten, es gäbe die nicht wirklich. Die Gedichte besitzen eine leidenschaftliche Entzündbarkeit für jeden Widerspruch, der die Welt verbraucht – und erhält. Es geht um die alte Kunst, „Widersprüche auszuhalten, / um das Unverständliche der Schönheit / zu erfahren“.
Was bei Krüger durch die Zeiten schimmert, ist ein Existenzrätsel, das inzwischen nur eines fürchtet: vom Menschen gelöst zu werden. Auch wir selber sollten uns öfter daran freuen, Verrätselte zu bleiben.
Die Lippen aufeinanderpressen,
damit die Wahrheit sich schwertut
Der Dichter hält inne, nichts fest. Durchblick und Wissen sind ihm nicht Protz, sondern ein Problem – sie machen ihn vorsichtig, nicht vorschnell. Menschwerdung ist hier eine große, schwierige Idee: so bleiben zu dürfen, wie man ganz von selbst wäre – ohne jenes Drängen also, dem man ständig ausgesetzt ist. Vergeblicher Traum.
Aber wenigstens Zuspruch ist möglich: sich zu mäßigen – im Überschusswillen nach noch mehr Besitz. Sei es Besitz an Illusion, die Welt sei beherrschbar; sei es Besitz an Bitterkeit, die Welt zu missachten. Die Welt vor allem des Westens:
Das Leid wohnt gut in festen Häusern.
Krüger ist Mitte. Nicht als Punkt, wo sich alles aufhebt, sondern als Punkt, wo du von jeder Seite etwas anrücken siehst, das recht hat. Und Trost nur bedingt mit sich führt.
Bedichtet werden das Notizbuch und Glühwürmchen, das Böse und der Süden. Nach einem Wahlsonntag werden Plakate weggeräumt, „um Platz zu machen für den freien Blick / ins dunkle Land“. Wir erleben den Dichter als Philosophen, der das Berlin seiner Kindheit durchstreift, immer wieder Schnee besingt, sich unter einen Apfelbaum setzt, Hotelzimmern Poesie abgewinnt und am Tag der Deutschen Einheit in Córdoba in einem Café sitzt – wo sich das Leben verlor, „doch so langsam, / daß Hoffnung aufkam, es könnte sich / eine Zukunft vorstellen vor dem Tod“. Krügers Ton ist der des umsichtigen Skeptikers, der weiß: In jeder Erklärung der Welt, in jeder!, bereitet sich eine Predigerschaft vor – die aber umso enttäuschender ist, je wahrer sie sein will.
Halte dich an die Steine,
wenn dir nach Reden zumute ist
Der Autor weiß doch, dass von den Wörtern, die aufgerufen sind, die Welt zu verdeutlichen, immer das schwächere Wort sich hervortut und loslegt. Wir sind befestigt rundum von eifrigen falschen Begriffen. Also wählt Krüger andere Worte. Und bei allem, was sein Bleistift auf Papier bringt, bleibt ein sehr großer Rest, der „macht sich auf / ins Einfache, das unabhängig / sein will von aller Beschreibung“.
Gedichtbände sind seltsame Wesen, sind Überlebenskünstler einer Bücherindustrie, die uns fortlaufend Menge lehrt. In jeder Buchhandlung erzählen die Regale für Lyrik eine Geschichte von Einsamkeit. Neigt unsere Zeit insgesamt zu Verknappung, zu Verkürzung, zu raschem Atem, so tendiert sie doch keineswegs zu Verdichtung, und der König des zeitgemäß Fragmentarischen, das Gedicht, ist ein Verstoßener geworden. Es gibt einen Gedanken des Hanser-Autors Botho Strauß, der auch die Gedichte des einstigen Hanser-Verlegers Krüger trifft: Sprache sei gleichsam nur das Kontrastmittel, das durch das Unaussprechliche fließe, „um die Geäder der Stummheit darzustellen“.
Einmal einfach, ja – aber es gibt in diesen Versen nicht den landläufigen Überschwang, der die Welt einfach macht – indem er sie in jene Ordnung presst, die nur der Größe des eigenen Denkvermögens entspricht. Diesem Dichter öffnen sich zu jeder Gelegenheit flimmernde Schattenreiche des Ungefähren, einer heilsamen wie zugleich aufstörenden Ernüchterung.
Dazwischen hockt das Unglück mit den tausend Augen,
die alles sehn, auch das, was es nicht gibt
und niemals geben wird.
Alles Erfahrene wird mit diesen betörenden Gedichten wieder einschmelzbar – zu Sehnsucht. Alles Ausgesprochene wird wieder einschweigbar – zu zweifelfrohem Denken. Das Elektrisierende: Unsicherheit und Gewissheit berühren sich mit ihren offenen Enden.
– Schlicht und raffiniert: Michael Krügers Gedichtband Einmal einfach sucht nach einer nichtmenschlichen Ordnung . –
Gelegenheitsgedichte gelten in der Regel als zweite Wahl. Sie folgen der Willkür äußerer Anlässe statt einem künstlerischen Plan, und im schlimmsten Fall machen sie sich sogar dienstbar – vom Geburtstagsgruß bis zum Epitaph. Bei Michael Krüger kommt hinzu, dass er die längste Zeit seines nunmehr 74jährigen Lebens buchstäblich um jede Gelegenheit kämpfen musste, Gedichte zu schreiben: Sie waren für ihn das Schlupfloch, das ihm sein Alltag als Verleger gewährte. Doch wie kaum ein anderer Nebenerwerbslyriker hat er jede dieser Gelegenheiten beim Schopf ergriffen und seit seinem Debüt mit dem Band Reginapoly im Jahre 1976 eine unverwechselbare Welt begründet. Gerade weil sein poetisches Werk nicht mehr sein will, als es ist, hat es Gewicht. Das einzelne Gedicht ist mal Spur einer Augenblickserfahrung, die darauf dringt, in ein paar Zeilen skizziert zu werden, mal Abbreviatur eines Gedankens, der ausformuliert und auf seine logische Stimmigkeit hin abgeklopft schon wieder seinen Reiz verlieren würde, mal Ausdeutung einer dinghaften Konstellation, die er sowohl dokumentiert wie herstellt. Was immer aber vorherrscht der Text geht auf Konkretes zurück, auch da, wo er sich poetologisch gibt. Krüger bezieht sich im Motto seines jüngsten Bandes Einmal einfach nicht zufällig auf ein von Eckermann überliefertes Goethe-Wort:
Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.
Das trifft auf ihn womöglich genauer zu als auf den Olympier.
Manche Gedichte sind doppelt entrückt durch die Verspätung, mit der sie wie alle Literatur einer Gegenwart innewerden, die einen Abdruck hinterlassen hat, der irgendwann ausgegossen werden will. „Gestern dachte ich wieder an die Schafherde in Mézin“, beginnt etwa „Schaf“. Da meldet sich die unwillkürliche Erinnerung an eine Anwandlung von Angst, erdrückt zu werden, die sich unversehens in ein Gefühl von Geborgenheit verwandelt. Erst auf dem Papier nimmt sie greifbare Gestalt an.
Michael Krüger bezieht seine Anregungen aus wenig ereignishaften Situationen. Zwischen Reisen und Innehalten staunt er über den Neuschnee, ein Feuer im Garten, das Aufatmen nach einem Gewitter, den Blick aus dem Zugfenster auf Schrebergärten oder einen Kohlweißling vor dem Hotelfenster im mazedonischen Skopje. Wind, Sonne und Schatten treiben ihr unaufhörliches Spiel, doch von Idylle kann nur um den Preis des Selbstbetrugs die Rede sein. Eine andere, beständigere Ordnung rüttelt am menschlichen Maß der Dinge:
Zu viele sind bei sich, also nicht
bei der Sache.
Insbesondere die Lebensspanne der Bäume hat es Krüger angetan, die Begegnung mit Ahorn, Kiefer, Nussbaum und – mehr als alles andere – dem Apfelbaum in seinem Garten. „März 2014, unterm Apfelbaum“ heißt eines dieser Gedichte, das in den Zerstörungskräften der Zeit eine Schönheit entdeckt, die nur ein menschliches Bewusstsein empfinden kann, diese gleichzeitig aber ohne die eigene Anwesenheit denken muss. Von ebendieser Paradoxie ist die Rede, wenn es im „Nachtrag zur Poetik“ über Gedichte heißt:
Jeder weiß, dass sie uns wegschreiben
mit wenigen vergesslichen Zeilen.
Es geht, mit einem weiteren Titel, um „Eine andere Geschichtsschreibung“, eine Wahrheit der Steine oder des Grases, etwas, „das sich nicht sagen lässt / in meiner Sprache. / Die Toten wissen es, / die Nacht für Nacht in meinem Kopf sich streiten, / bis ihnen der Morgen die Stimme abdreht.“
Michael Krüger schreibt zweifellos späte Gedichte. Gedichte, die der Endlichkeit und dem Abschiednehmen mehr Platz einräumen als dem Werden. Die traute Perspektive der mittleren Jahre zwischen solider Erinnerung und dunkler Zukunftsahnung ist ihnen entglitten. Dichterfreunde wie Czesław Miłosz oder Zbigniew Herbert, denen er Tribut zollt, sind nicht mehr am Leben, und die Kindheitserinnerungen, die ihn beim Spaziergang durch Nikolassee überfallen, sind im Begriff, für immer durchgestrichen zu werden:
Das Grab meiner Eltern ist schon im Angebot,
so schnell hat sich das Rad gedreht.
Einmal einfach bedeutet von daher vor allem: Retourbillets werden nicht verkauft. Es bedeutet aber auch, dass sich die daraus entstehende Melancholie mit Schlichtheit und Raffinesse in Schach halten lässt:
Das innere Rätsel braucht wenige Worte,
man kann es noch kürzer sagen.
Im Januar 2018 ist im Suhrkamp Verlag dieser schmale Gedichtband des ehemaligen Verlagsdirektors des Hanser Verlags erschienen. Michael Krüger ist ein kluger und belesener Schriftsteller, dessen kurze Gelegenheitsgedichte von einer letzten Dichtungsgeneration ein zentrales Thema verkörpern. Es sind Gedichte, die die Einfachheit feiern und die souverän und treffend, in einer überzeugenden Ethik, Vergangenheitsmomente und Zukunftsvisionen präsent werden lassen. Es ist in gewisser Weise ein lyrisches Tagebuch, in dem man sehr stringent jeweils das Event erfährt, welches zu dem Gedicht geführt hat. Angereichert sind die Betrachtungen mit ironischen Einschüben und einer großen Portion Melancholie, fern von jeglicher Avantgarde. Rührende „Wortmeldungen“ über alltägliche Dinge die man im Fokus behalten sollte.
– Die NDR Kultur Literaturredaktion richtet in dieser Woche ein besonderes Augenmerk auf die Lyrik, und auch wir beim Journal widmen uns dieser schon manches Mal totgesagten, aber doch sehr lebendigen Gattung. Ein Gespräch mit dem ehemaligen Verlagsleiter Michael Krüger, der spätestens seit seinem ersten Gedichtband, der 1976 erschien, auch Dichter und Romancier ist. –
Natascha Freundel: Herr Krüger, im Januar erscheint bei Suhrkamp Ihr neuer Gedichtband mit dem schlichten Titel Einmal einfach. Das Motto ist den Gesprächen Goethes mit Eckermann entnommen:
Alle meine Gedichte
sind Gelegenheitsgedichte,
sie sind durch die Wirklichkeit
angeregt und haben darin
Grund und Boden.
Das klingt, als seien Ihre Gedichte beinah Zufallsprodukte – ist das so?
Michael Krüger: „Zufall“ ist ja ein großer, schöner Begriff, der unter anderem meint, dass man darauf wartet, dass einen ein Gedicht trifft, packt, und fordert, dass man es aufschreibt.
Freundel: Ihr Buch heißt Einmal einfach – das klingt wie ein Versprechen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das ist schon eine gewisse Arbeitsaufgabe, ein Ziel.
Krüger: Es sind zwei Bedeutungen. Zum einen geht man zum Fahrkartenschalter und sagt „Bitte einmal einfach“, das heißt keine Rückfahrkarte. Ich bin schon alt und deshalb kann ich mir das leisten. Erst mal abwarten, ob ich überhaupt dort ankomme, wo ich hin will, und dann kann man immer noch sehen, ob man eine Rückfahrkarte braucht. „Einmal einfach“ heißt aber auch, dass ich gelegentlich in den früheren Gedichtbänden etwas komplizierte Sachverhalte verhandelt habe, die mir durch den Kopf gingen und die ich auch in einem Gedicht unterbringen wollte. Manchmal wurde gesagt: Der macht sich immer so viele Gedanken. Und dem wollte ich entgegentreten mit der schönen Wendung „Einmal einfach“.
Es sieht immer einfach aus, aber der Prozess selber hat sich ja nicht geändert. Es gibt keine Gattung, die mit so vielen Regeln belastet ist wie das Gedicht. Aber wenn ich einen Text schreiben würde, der nur den Regeln folgt, dann kommt am Ende etwas Totes heraus, etwas Uninteressantes. Während gerade die Texte mit den Regelverstößen die sind, die einem im Kopf bleiben. Ich zitiere immer das berühmte Beispiel von Rilke, dem monatelang nichts eingefallen ist. Und plötzlich schreibt er wie in einem Rausch Die Sonette an Orpheus. Nicht weil er irgendwelche Regeln einhalten wollte – bekanntlich sind sie ja geprägt von Regelverstößen –, sondern weil ihn in einem bestimmten Moment ein Text, eine Zuspitzung, eine Vision, eine Idee und eine Sprache ergreift. Das sind die Gedichte, von denen wir sagen, sie haben das 20. Jahrhundert geprägt.
Freundel: In Ihren Gedichten ist viel von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit die Rede, Wolken sind ein immer wiederkehrendes Motiv. Ist das die Melancholie eines alternden Mannes oder ist das der Abschied von einer bestimmten Lebenszeit, von einer Generation?
Krüger: Ich glaube, eher. Man fühlt sich ja nie so alt, wie man wirklich ist. Wahr ist, dass ich schon sehe, dass meine Generation, eine Generation, die ein bestimmtes Denken hervorgebracht hat, dabei ist zu verschwinden. Das hat mit vielem zu tun, mit der politischen Entwicklung, aber auch mit den literarischen und philosophischen Vorlieben, die ja auch plötzlich verschwunden sind. Vor 40 Jahren gab es keine Philosophie des Internets, des Flüchtigen, die Welt hat sich geändert. Und ich hänge doch ziemlich an dieser Generation fest, die 1968 miterlebt hat, die – oder jedenfalls ich – der Meinung war, dass jeden Tag ein Fenster aufgeht: in die Psychoanalyse – wer liest heute noch Freud? In die Ethnologie – wer liest heute noch Lévi-Strauss, Traurigen Tropen? In die Philosophie – der Name Marcuse ist kaum noch bekannt heute. Ob das jetzt eine Welt ist, die vergehen musste – das ist eine ganz andere Frage. Es ist nur meine Welt gewesen. Und da man leider nur einmal im Leben auf der Welt ist, wird man, je älter man wird, geiziger mit den Erfahrungen und hält die eigenen Erfahrungen vielleicht für etwas zu übertrieben. Aber sie sind nun mal die einzigen, die ich habe.
Freundel: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass jetzt wieder jüngere Lyriker relativ erfolgreich sind? Leute wie Jan Wagner oder Nico Bleutge, die ja auch aus dem Alltag, aus Naturbeobachtungen, aus treibenden Schiffen heraus ganz zauberhafte Gedichte schaffen. Vielleicht ist das Gedicht die passende Form für unsere komplexe Welt.
Krüger: Auf jeden Fall, da bin ich hundertprozentig sicher. Sie müssen sich mal vorstellen, was das für eine Lebensvernichtung ist, diese scheußlichen, dicken, langweiligen Romane zu lesen. Es ist skandalös, wie schlecht geschrieben die sind, wie stinklangweilig Erfahrungen wiederholt werden, die man schon hundertmal gemacht hat. Ich verstehe jeden Schriftsteller, der sagt: Ich möchte eigentlich nicht mehr Teil dieses Betriebs sein. Das ist ja grauenhaft. Und ein Gedicht ist doch immerhin eine komprimierte Erfahrung, die man in einer Minute oder sein ganzes Leben lang lesen kann.
Timo Brandt: Zeitenende mit Ausblick und feinen Widersprüchen
signaturen-magazin.de
Jürgen Brôcan: Tägliche Übung für Träumerei und offene Fenster
fixpoetry.com, 15.2.2018
Mario Keipert: Einmal einfach
textwärts., 6.8.2018
Erna R. Fanger: „Gedichte sind mißtrauisch“
schreibfertig.com, März 2018
Wörter auf Reisen
zeitzeichen.net, April 2018
Gallus Frei-Tomic: Michael Krüger „Einmal einfach“, Suhrkamp
literaturblatt.ch, 7.4.2018
Literaturclub
22.5.2018
Der Literaturkritiker Michael Opitz spricht mit Michael Krüger über das Schreiben von und Leben mit Gedichten am 13.2.2018 bei der Buchpremiere von Einmal einfach im Haus für Poesie.
Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.
Das Werk: Michael Krüger am 14.6.2004 im Literarischen Colloquium Berlin
Frank Wierke: Verabredungen mit einem Dichter – Michael Krüger
Gregor Dotzauer: Das unbändige Leben der Agaven
Der Tagesspiegel, 9.12.2013
Volker Isfort: Er wird noch gebraucht
Abendzeitung München, 8.12.2013
Thomas Steinfeld: Herr K. tritt ab
Süddeutsche Zeitung, 9.12.2013
Charles Simic: Der Regenmantelmann
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013
Norbert Gstrein: Der leere Raum
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013
Cees Nooteboom: Der andere Atem
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013
Peter von Matt: Der Freund auf der Kommandobrücke
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013
Hans-Dieter Schütt: Warum fallen Sterne nicht herab
neues deutschland, 9.12.2013
Mara Delius: Nach draußen, hinein ins Buch
Die Welt, 9.12.2013
Britta Schultejans: Michael Krüger wird 75
Abendzeitung, 7.12.2018
Georg Reuchlein: Michael Krüger (75)
BuchMarkt, 9.12.2018
Gerrit Bartels Interview mit Michael Krüger: „Gott ist ein Melancholiker“
Der Tagesspiegel, 7.12.2023
Willi Winkler Interview mit Michael Krüger: „Ich habe mich der Literatur höflich genähert“
Süddeutsche Zeitung, 7.12.2023
Arno Widmann: Der virtuose Gesang und der Schrei
Frankfurter Rundschau, 9.12.2023
Andrea Köhler: Kaum einer hat so viele Literaturnobelpreisträger in seinem Verlag versammelt wie Michael Krüger
Neue Zürcher Zeitung, 8.12.2023
Hannes Hintermeier: Schwimmer im Meer der Gedichte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2023
Hans-Dieter Schütt: Wie kommen Sterne an den Himmel?
nd, 8.12.2023
Leander Berger: Lesen als Lebensmittel
Badische Zeitung, 9.12.2023
Quh: Freund der Ziegen
quh-berg.de, 9.12.2023
Martin Schult: „Danke“
Börsenblatt, 8.12.2023
Volker Weidermann: Küsse, Nasenküsse, Ringkämpfe. Abschiedsfest für Michael Krüger.
Ein Abend für Michael Krüger. Michael Krüger ist eine Legende des Literaturbetriebs. Am 16.1.2014 sprach er in der Literaturwerkstatt Berlin mit Harald Hartung über seine Arbeit als Verleger, Herausgeber, Autor und Übersetzer.
Michael Krüger – Lebenselixier Literatur im Gespräch mit Norbert Bischofberger, SRF 22.9.2013.
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