– Zu Georg Trakls Gedicht „Ballade“. –
GEORG TRAKL
Ballade
Ein Narre schrieb drei Zeichen in Sand,
Eine bleiche Magd da vor ihm stand.
Laut sang, o sang das Meer.
Sie hielt einen Becher in der Hand,
Der schimmerte bis auf zum Rand,
Wie Blut so rot und schwer.
Kein Wort ward gesprochen – die Sonne schwand,
Da nahm der Narre aus ihrer Hand
Den Becher und trank ihn leer.
Da löschte sein Licht in ihrer Hand,
Der Wind verwehte drei Zeichen im Sand –
Laut sang, o sang das Meer.
– vom Sonett zum Limerick. –
Beredt wird in dieser Ballade kein Wort gesprochen, vielmehr sprechen Gebärdenspiel und Schweigen. Zu diesen gehört auch die Performanz des Schreibens dreier Zeichen. Ist das nicht Kitsch? Trakl bietet dem Leser ein semiotisches Possenspiel geheimnisvoller Zeichengenerierung und Zeichenlöschung. Dieses Spiel vollzieht sich in der imaginierten Welt der „Ballade“ auf dem instabilen Trägermedium Sand. Stabilität erlangt dieser Prozess des Ephemeren durch das Kolportagemedium Papier bzw. Buch, das ihn in der Lektüre des Gedichts beliebig wiederholbar macht. Und die drei Zeichen? Schrift von keinerlei Sprache? Astrologische Symbole? Zauberformeln? „Ich liebe dich?“ „Ich fresse dich?“
Das laut singende Meer ist ein entdifferenzierendes Amalgam vieler Stimmen und Frequenzen. Als Basso continuo der Brandung gibt es den so invarianten wie dem Geschehen gegenüber indifferenten Kontrapunkt zur Absenz der menschlichen Stimme. Was aber geht hier vor? Das Finale einer morbid-bacchantischen Feier der Vergänglichkeit mit sadomasochistischer Zuspitzung? Ein Tod und Naturzyklus ins Verhältnis setzendes Ritual der Vergänglichkeit? Ein vampiristischer Mord, der dem Mägdelein die Farbe aus dem Gesicht zieht?
Ist alles ein Spiel der Einbildungskraft? Oder doch nur eine palimpsesthafte Fingerübung, eine kunstfertige Überschreibung? Trakls „Ballade“ ist Ende 1908 oder Anfang 1909 entstanden, Hugo von Hofmannsthal schrieb sein Sonett „Die Beiden“, das Trakl als Quelltext diente, 1895. Das Reimpaar „Hand“ und „stand“ von Hofmannsthal erweiterte Trakl zu „Sand“, „stand“, „Hand“, „Rand“ und „schwand“, den Reim „schwer“ und „sehr“ variierte er zu „schwer“, „leer“ und „Meer“, womit er überhaupt nur zwei Reime seine Ballade bespielen ließ.
Auch Hofmannsthals figürliche Konstellation hat Trakl variierend übernommen, aus „er“ und „sie“ wurden bei ihm der „Narre“ und die „bleiche Magd“.
Die Nennung „Gebärde“ („Und mit nachlässiger Gebärde“) in Hofmannsthals Sonett hat ihn möglicherweise dazu veranlasst, es dem Älteren im Gebärdenspiel gleichzutun. Hier zeigt sich allerdings ein fundamentaler Unterschied: Zunächst tritt das letztlich durch eine Gebärde (Beben/Zittern) verhinderte Liebespaar bei Hofmannsthal selbstbewusst und sicher auf. „Sie“ nähert sich ihm im Fortbewegungsmodus des Gehens und „er“ sich ihr in erhöhter Position zu Pferde:
Sie trug den Becher in der Hand –
Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand –,
So leicht und sicher war ihr Gang,
Kein Tropfen aus dem Becher sprang.
So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde,
Und mit nachlässiger Gebärde
Erzwang er, daß es zitternd stand.
Im Scheitern wird dieses hierarchische Gefälle schließlich nivelliert, beide scheitern gleichberechtigt: Nervosität – „Denn beide bebten sie so sehr“ – lässt „Die Beiden“ nicht zueinander finden, der „rote Wein“, anstatt getrunken zu werden, geht verschütt („Und dunkler Wein am Boden rollte.“).
Bei Trakl signalisieren Gebärde und Gestik ein konstantes hierarchisches Gefälle, wobei nicht ausgemacht ist, wer nun wen unter Kontrolle hat. Trinkt der „Narre“ das Blut der „bleichen Magd“, die ihm zu Diensten ist, oder ist sie die böse Verführerin? Das eine muss das andere ja nicht ausschließen. Hätte der Narr das die blutrot untergehende Sonne spiegelnde Wasser bzw. den Wein/das Blut vielleicht nicht trinken sollen, und ist er deshalb erst ein Narr zu nennen, da die Geste des Trinkens das äußere (als inneres) Licht löscht? Ist das Trinken des Weines/Blutes ein symbolischer Akt des Selbstmords? Das verlöschende Licht (der untergehenden Sonne), die Weisheit des Narren. Erst wenn die Sonne untergegangen ist, kann der Narr den Becher austrinken und mit ihm die Sonne in sich aufnehmen, ist sie doch im Becher versunken. Welches Licht aber soll das sein, das da in der Hand der Magd erst „löscht“, nachdem er aus ihr den schimmernden Becher genommen und ausgetrunken hat? Eine Ungereimtheit.
Gehören bei Hofmannsthal Gehen und Reiten zum autonomen Spiel der Gebärden, so bei Trakl selbstbezeichnenderweise das Schreiben. Narr ist, wer schreibt. Soll einer sagen, Schreiben habe keine Folgen, wenn auch vielleicht nur in und für die Literatur. Peter Rühmkorfs Frankfurter Poetikvorlesungen agar-agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven machen den Impetus, aus dem Imaginären Welt zu erzeugen, die wirkt und nachwirkt, als diachrone und ästhetische Gräben überwindende Konstante der Poesiegeschichte aus:
Mit den Worten Wirkung tun, (…) mit der Sprache Welt heraufbeschwören, das ist es, was nun aber der Dichtkunst aller Richtungen und Zeiten als ein schönstes Traumziel vorgeschwebt hat.
Kaum hat Trakls Balladen-„Narre“ – das „e“ tut’s um des Metrums willen – die drei ominösen Zeichen geschrieben, steht mit und in der nächsten Zeile eine „bleiche Magd da vor ihm“. Haben die „drei Zeichen“ im Sand die „bleiche Magd“ allererst erscheinen lassen? Das kleinste Wort der im Zeilenstil operierenden „Ballade“ – ein Vorgang, eine Handlung, eine Geste pro Zeile – ist zugleich das interessanteste: Das Adverb „da“ ist so schillernd wie manche Metapher. Es zeigt den Ort an (an dieser Stelle, dort, hier), signalisiert Simultaneität (in diesem Augenblick, währenddessen), verweist auf die Umstände (unter dieser Bedingung), markiert die zeitliche Nachgeordnetheit (dann, danach) oder stellt einen Begründungszusammenhang her (weil). In der „Ballade“ ist die Bedeutung von „da“ nicht trennscharf auf eine dieser Bedeutungen festzulegen.
Der Reim auf „Sand“ war also schnell (vor)gefunden: „stand“. Wenig originell, dafür ein Paradebeispiel einer Creatio ex nihilo. Zwar ist er ein Narre, sein Traumziel jedoch ist erreicht. Der „Rand“ ist da schnell zur „Hand“. Fehlt nur noch „schwand“ als Löschungsreim und schon stellt sich die Wirkung ein: Die Sonne sinkt. Es fragt sich nur, ob sie aufgrund der Reime sinkt oder, ganz im Gegenteil, weil kein Wort gesprochen „ward“.
Auch wenn der „Narre“ mit seinen drei Zeichen bloß das Imaginäre entfacht hat, das sich vielleicht bloß in seiner Vorstellung als Magd, Becher und Blut materialisiert, so ist das Imaginäre in der Poesie doch Realität. Die Poesie gibt Sinn und nimmt Sinn, und das lässt sie sich von keiner vermeintlich übergeordneten Realität, die auf die Kampfvokabel Wirklichkeit hört, nehmen – früher nicht und heute nicht. Wer aber ist der Narr? Ist es der Tod, der stumme Stummmacher? Und so schweigt der „wolberedte mund“ (Andreas Gryphius) von Anfang an.
Hofmannsthals impressionistische Pantomime wird in Trakls „Ballade“ zum symbolistisch-mechanischen Stillleben. Beide Gedichte haben theatrale bis filmische Qualitäten, Hofmannsthal inszeniert prozessual-kontinuierlich, Trakls Bänkelballade eignet sich als Stummfilm mit wechselnden Standbildern.
Ein Gedankenspiel stellt sich ein: Hat Hugo von Hofmannsthal seinem jüngeren Kollegen eine „bouts-rimés“-Aufgabe gestellt? Und dieser hat sich stegreifend nur zwei Reime merken können. Und was machte er aus dem Sonett? Vier Terzinen, eine von Hofmannsthal in den Terzinen über Vergänglichkeit: wohlerprobte Form. Machte Trakl also aus den vierzehn Sonett-Zeilen Hofmannsthals mit dem eigenwilligen Reimschema aabb acca ade ead eine Ballade aus vier mal drei Terzinen-Zeilen, in denen er sich mit der Repetition der Reimstruktur der ersten drei Zeilen des Sonetts (aab) begnügte, so wäre es nun vielleicht angebracht, aus den zwölf Terzinen-Zeilen Trakls einen fünfzeiligen Limerick zu destillieren, dessen Reimschema, aab aufgreifend, ein unvollendetes Palindrom darstellt:
Da Sand da da stand da da Hand.
Da Rand da da schwand da da Hand.
Da Meer da da schwer
Da leer da da Meer.
Da Hand da da Sand da da Land.
Michael Lentz, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014
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