– Zu Stefan Georges Gedicht „Die Blume die ich mir am Fenster hege“ aus Stefan George: Die Gedichte / Tage und Taten. –
STEFAN GEORGE
Die blume die ich mir am fenster hege
Die blume die ich mir am fenster hege
Verwahrt vorm froste in der grauen scherbe
Betrübt mich nur trotz meiner guten pflege
Und hängt das haupt als ob sie langsam sterbe.
Um ihrer frühem blühenden geschicke
Erinnerung aus meinem sinn zu merzen
Erwähl ich scharfe waffen und ich knicke
Die blasse blume mit dem kranken herzen.
Was soll sie nur zur bitternis mir taugen?
Ich wünschte dass vom fenster sie verschwände. .
Nun heb ich wieder meine leeren augen
Und in die leere nacht die leeren hände.
In einem Antiquariat fällt mir ein Buch mit goldgeprägtem Rücken auf. Mehr noch als die Goldprägung weckt die Typographie mein Interesse. Stefan Georges Gedichtband Das Jahr der Seele in der zweiten Auflage von 1929, gedruckt in der von George zusammen mit Melchior Lechter entwickelten sogenannten Seilschrift. Bleisatz, die Seiten wie handgerissenes Bütten an den Rändern ausgefranst. Ein Buch von strahlender Schönheit. Beim Durchblättern fällt sofort eine kleine getrocknete Blume ins Auge, die der Vorbesitzer ins Buch eingelegt hat. „Die blume die ich mir am fenster hege“ geht das dazugehörige Gedicht auf Seite 31 an. Das Gedicht leuchtet mir sofort ein, augenblicklich wird es mein Lieblingsgedicht. Es beschreibt einen Vorgang, der nur allzu verständlich ist. Ein Stilleben, das keine weitere Übersetzungsleistung nötig zu haben scheint. Recht so, denkt man, und hat mit der Blume gar kein Mitleid.
Dann lese ich das Gedicht ein zweites Mal – und verstehe es nicht mehr. Zumindest verstehe ich es jetzt anders. Ist das nun ein Zeichen für ein außergewöhnliches Gedicht oder das Gegenteil? Das Gedicht fordert mich heraus, es Zeile für Zeile, Wort für Wort zu lesen. Was ist es, das mich herausfordert? Es muß etwas mit der „grauen scherbe“ und der Handlung des willentlichen Zerstörens zu tun haben, die doch zunächst so begreiflich zu sein schien.
Liest man „Scherbe“ als ältere Bezeichnung für (irdener) Blumentopf, so markiert die eingefriedete Blume als Topos der Gefangenschaft die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, ist ihr Absterben als Signal für die Unvereinbarkeit des Naturschönen und des Kunstschönen zu deuten: Natur kann kein Teil der Kunst sein, höchstens ein Sinnbild. Als solches dient die „Scherbe“, die George allein schon um des (auch thematischen) Reimes auf „sterbe“ willen anstelle von „Topf“ verwendet. Daß sie zudem noch grau ist, widerspricht trotz der lautlichen Entsprechungen der Behauptung von der „guten pflege“.
Glück oder Reichtum bringt die Scherbe in der gebräuchlichen Lesart des Wortes als Teil eines ehemals Ganzen hier jedenfalls nicht, sondern den Tod, dessen Zeitpunkt das sprechende ,Ich‘ dann beschließt, selber zu bestimmen. Dieser Tod, das suggeriert das Gedicht, ist von der Blume selbst gewählt. Er ist eine Trotzhandlung – ist die Blume, herausgenommen aus dem Naturzyklus („verwahrt vorm froste“) und ihrer natürlichen Umgebung, doch selber Scherbe. Überlagert wird das Todesbild von einem religiösen Kontext, der als Selbststilisierung des Dichters verstanden werden kann: Die Blume „hängt das haupt als ob sie langsam sterbe“ – wie Jesus sein Haupt am Kreuz.
Das Gedicht manifestiert somit eine narzißtische Kränkung, die selber wieder aus einer narzißtischen Kränkung resultiert, jedenfalls dann, wenn das den Prozeß des Blumentodes rapportierende ,Ich‘ als Alter ego ebendieser „blassen blume mit dem kranken herzen“ gelesen wird. Die Blume als Echo, die kein Echo mehr geben will: „Die kannst du knicken“, wie es im Jugendslang heißt im Sinne von „das kannst du vergessen“, „das wird nichts mehr“. Gibt es Schönheit und Erfüllung nur noch in der Erinnerung, so gilt es, diese aus dem Sinn „zu merzen“. Will das Schöne nicht bleiben, soll es häßlich werden. Das Häßliche als ein letztes Standfoto soll die Erinnerung an die Schönheit überlagern. Damit denkt der Blumenliebhaber, der Liebhaber der Liebe, wieder die Oberhand über das Objekt der Begierde zu erlangen. Diese Verzweiflungstat ist eine subtile Art von Selbstmord des Betrachters beziehungsweise Dichters, steht doch die Blume auch für die Poesie.
Allerdings ist der Blick auf die Dinge immer zugleich schon ein Blick auf Vergehendes. Ein Blick, der die Dinge fixieren will auf ihre momentane Erscheinung. Und genau das bewirkt das Gedicht von George: Es hält die Erinnerung fest und gleichzeitig den Willkürakt, indem es sie als schriftliches Zeugnis nacherfahrbar werden läßt. Schrift meißelt die Erinnerung ein, anstatt sie auszumerzen.
Kann demzufolge „Die blume die ich mir am fenster hege“ als Sinnbild der Melancholie gelesen werden, der Fensterblick der Poesie als ihr (beziehungsweise Georges) unveränderlicher Standpunkt, so sind diese Poesie und ihr Dichter augenscheinlich in eine tiefe Krise geraten. Dieser Krise macht der Dichter den Prozeß – als gleichmäßig gebautes Gedicht aus drei kreuzweise gereimten Quartetten (dem zum Shakespeare-Sonett nur das Couplet als abschließendes Reimpaar fehlt) mit dem fünfhebigen Jambus des Endecasillabo (Elfsilber) als Versmaß. Das Gedicht ist Bekenntnis und Rechtfertigung gleichermaßen. Hat der Dichter nun nichts mehr als „leere augen“, so kann er doch ein Seher sein, auch wenn der Verlust der Blume den Verlust der Gestirne bedeutet („leere nacht“). Kommt jemand mit „leeren Händen“, kommt er ohne Geschenk. Die „leeren hände“ hebt man als Geste des Flehens und Bereuens. Der Dichter hat nun zumindest dieses Gedicht als Geschenk, der Verlust ist in ihm aufgehoben.
Michael Lentz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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