Michael von Hintzenstern: Zu Johann Matthäus Bechsteins Gedicht „Das Lied der Nachtigall“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johann Matthäus Bechsteins Gedicht „Das Lied der Nachtigall“. –

 

 

 

 

JOHANN MATTHÄUS BECHSTEIN

Das Lied der Nachtigall

Tiuu, tiuu, tiuu, tiuu,
Spe tui squa
Tio, tio, tio, tio, tio, tix
Qutio, qutio, qutio, qutio,
Zquo, zquo, zquo, zquo
Tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzü, tzi,
Quorror tiu squa pipiquisi
Zozozozozozozozozozozozozozozo, zirhading,
Tsisisi tsisisisisisi
Zorre zorre zorre zorre hi
Zatn, zatn, zatn, zatn, zatn, zatn, zatn zi
Dlo, dlo, dlo, dlo, dlo, dlo, dlo
Quiro tr rrrrrrr itz
Lü lü lü lü lü ly ly ly li li li li
Quio didl li lulily
Ha gurr gürr quipio
Qui qui qui qui gi gi gi gi gi gi gi
Goll goll goll goll gia hadadoi
Quigi horr ha diadiadillsi
Hezezezezezezezezezezezezezeze quarhozehoi
Quia quia quia quia quia ti
Qi pipi jo jo jo jojojo pi
Lü ly li le la lo didl io quia
Higai gai gai gai gai gaigaigaigai
Quior ziozio pi!

(vor 1822)

 

Pränataler Dadaismus in Thüringen

– Bechsteins Gedicht „Das Lied der Nachtigall“. –

Beim Lesen dieses Gedichts stellt sich mir die Frage, ob der Dadaismus wirklich vor über hundert Jahren im Cabaret Voltaire in Zürich seine Geburtsstunde erlebte.
Was der 1757 in Waltershausen geborene Ornithologe und Adoptivvater des Schriftstellers Ludwig Bechstein hier zu Papier gebracht hat, ähnelt in frappierender Weise den Wortlautschöpfungen eines Hugo Ball oder Kurt Schwitters! Dennoch dürften die Autoren unterschiedliche Intentionen gehabt haben! Handelt es sich doch beim „Lied der Nachtigall“ um ein besonders schönes Beispiel der Onomatopoesie – der sprachlichen Nachahmung außersprachlicher Schallereignisse. Der „Vater der Vogelkunde“ versuchte hierbei in minutiöser Weise, den „Gesang“ einer Nachtigall verbal aufzuzeichnen: das Wiederholen und Fortspinnen einzelner Motive, deren Vielfalt verzaubert. Pränataler Dadaismus? Auf jeden Fall ein Vorbote der Laut-Poesie.
Schwitters indessen ist es mit seinem „Obervogelgesang“ (1946) gelungen, Lyrik und die Kreationen der gefiederten Sänger miteinander zu verbinden. Das gilt auch für sein berühmtestes Werk: die „Sonate in Urlauten“ (1922–1932). Interessant ist in diesem Zusammenhang, was sein DADA-Weggefährte Hans Arp berichtete:

In der Krone einer alten Kiefer am Strande von Wyck auf Föhr hörte ich Schwitters jeden Morgen seine Lautsonate üben. Er zischte, sauste, zirpte, flötete, gurrte, buchstabierte.

Die Wahl des Probenortes lässt vermuten, dass der Rezitator eine ähnliche Position wie die Vögel einnehmen wollte. Hatte er ihnen vielleicht doch diesen oder jenen Laut abgelauscht?
Der Berliner Künstler Wolfgang Müller behauptet sogar, dass er auf der norwegischen Insel Hjertoya, auf der Schwitters 1932 lebte, gehört habe, wie die Stare dort seine Ursonate „rezitierten“…
In ihrer Diplomarbeit Urvögel singen die Sonate (Universität für angewandte Kunst Wien) unternahm Astrid Sema 2010 den Versuch, die verschiedenen Laute der Dichtung einzelnen Vogelarten zuzuordnen und das Werk mit deren Gesängen zu „rekonstruieren“. Allen damit verbundenen Spekulationen zum Trotz kann eine Beziehung zwischen Lyrik und Ornithologie nicht geleugnet werden. Bechsteins Gedichte nach Vogelstimmen nehmen dabei eine nicht zu unterschätzende Vorreiterrolle ein!

Michael von Hintzenstern, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 75, 2022
(Der Texte entstand für die Thüringer Anthologie: Gedicht-Interpretationen, die 2014 bis 2017 in den Wochenendausgaben der Thüringer Allgemeinen gedruckt wurden. Als Buchausgabe erschienen sie 2018: Thüringer Anthologie. Eine poetische Reise. Hrsg. v. Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann, Weimarer Verlagsgesellschaft.)

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