NEHMEN WIR ZUM BEISPIEL DIE SONNE
die jeden Tag geht
Keine Behörde der Welt
verstellt ihr den Weg
mit ko(s)mischen Formalitäten
Wer schon versteht sie
als Auflehnung gegen Gesetze
Jeder von uns hat einmal gewartet
auf den Schein ihres Aufstiegs
Alle haben wir schon gehofft
im Licht ihres Untergangs
Sie ist eine die wiederkommt
auch wenn sie gegangen ist
und wir haben uns daran gewöhnt
daß es uns nicht mehr verwundert
wenn wir anders sind als sie
daß es uns vielleicht noch verwundet
wenn wir unsre Flügel nicht gebrauchen können
Nehmen wir der Sonne Beispiel
Kommen und Gehen
von keinem gehalten
mit TreueSchwüren sonstwelcher Art
Nichts zwingt sie zu bleiben
kein Manifest kein FrageBogen
Rot kommt sie
Rot geht sie
Sie wärmt den Osten
Sie erheitert den Westen
Schatten die sie baut
sind hier wie dort
von gleichem Wert
Nehmen wir das Beispiel der Sonne
Angaben, die jeder abfordern kann: Alter, Wohnort, Beruf. Stichworte für Leben, eine reduzierte Biographie. Bei Michael Wüstefeld diese: Jahrgang 1951, Dresden, Ingenieur. Das sind Daten, die kaum Konturen verraten von dem, der sie verursacht, dennoch bestimmte Lebensumstände vermuten lassen, andere ausschließen: Für einen in der Nachkriegszeit Geborenen beginnt die Gegenwart mit den Folgen jüngster Vergangenheit, und seine berühmte Heimatstadt lernt er mit Ruinen kennen und mit Häuserlücken. Später in der Schule hört er von Verbrechen und Widerstand, von neuem Leben, von Helden der Arbeit. Er trägt das blaue und das rote Halstuch, das Hemd dann mit der aufgehenden Sonne. Anstelle abenteuerlicher Berufswünsche entscheiden Einsicht und Möglichkeiten: Studium an der Technischen Universität. Da aber lebt einer vom Jahrgang 51 längst schon mit jener Musik, über die sich seine Generation verständigt, und die Länge der Haare ist gegen Autoritäten verteidigt. Reisen im zugängigen Teil der Welt, in Jeans und Parka. Arbeit am Schreibtisch dann nach dem Studium, achtdreiviertel Stunden am Tag. Familie, zwei Kinder. – Das grobe Raster der Biographie eines Sechsunddreißigjährigen, Wohnort: Dresden, Beruf: Ingenieur.
Was sich zwischen jenen Daten bewegt und was hinter ihnen steht an persönlicher Erfahrung und Befindlichkeit, ist Gegenstand der Gedichte. Doch die Normalität, das Alltägliche dieses Lebens, wird dabei nicht an den Rand gedrängt, im Gegenteil. Michael Wüstefeld spricht aus dem Alltag heraus. Er ist kein Beobachter, sondern Beteiligter, und nicht über die anderen spricht er, die neben ihm sind im überfüllten Bus, in der Bahn, auf der Straße morgens auf dem Weg zur Arbeit, er spricht sie an. Er sagt nicht: sie, sondern: ihr. Hey ihr MitMenschen. Er sagt es werbend und beschwörend, mit dem Mut zu jener Mischung aus Naivität und Größenwahn, die einer mitbringen muß, wenn er vorhat, sich einzumischen, Tabus zu ignorieren, die Distanz fordern. Heimsuchen möchte er die, in deren Gesichter er blickt und Spuren von Erstarrung wahrnimmt, eindringen in ihr Leben und angenommen werden. Die Phantasie macht es möglich, und es steht der Dichter mit dem FahrRad in guter Stube. Oder er fliegt: mit dem Schreibtisch aus dem Ingenieurbüro, mit der Telefonzelle, mit den Fallschirmen des Löwenzahn oder als Erzengel Michael. Er sieht in die Fenster, flüstert in die Telefone, läßt Glocken läuten, holt Zeit ein und Welt, ehe er wieder landet in der geometrischen Ordnung. Was er mitbringt, ist Erkundung von Leben, die die Grenzen eigener Erfahrung hinausschiebt, das Beispiel, sich gegen Verhärtung zu wehren, Selbstbeschneidung nicht zuzulassen und nicht die Lebenslüge, wenn das Glasauge über Blindheit hinwegtäuscht. Und so ist er unterwegs, Ingenieur oder Dichter, im Alltag seiner Stadt auf der Suche nach Begegnungen, mit dem wachen Blick für Menschen und Dinge und mit einem Lächeln im dünnen Bart.
Almut Giesecke, Nachwort
Von diesem Buch nahm ich zuerst das Geburtsdatum des Autors wahr, 1951. Ich las es schnell und aufmerksam, schöne Gedichte über Dresden, die mich bald einnahmen, womit?
Wohl beim fünften, „so ein überfüllter Bus“, fand ich den ersten Behelfsnamen dafür. Alltägliches mit Ironie und Selbstironie, mit sprachlichen Verfremdungen („Verstohlen werfe ich mir eine HustenPerle in den weit hoffenen Mund“) auf den Punkt gebracht, wo es zu reden zu tanzen zu schreien beginnt. Zitat (man beachte, Fahrt zur Arbeit im überfüllten Bus mit dem Kater vom Vorabend im Kopf):
Menschen neben über unter zwischen mir
mit kleinen Gittern vor den Augen
Gefangene dieses Morgens des nächsten und ihrer selbst
denken sich in der engen Begrenztheit allein
denken sie wären allein dabei haben sie mich
mit einem Lächeln im dünnen Bart.
Folgt eine Gruppe von Gedichten, die mit rhetorischem Schwung und sympathischer Frische nicht über, sondern zu uns sprechen, den „MitMenschen“, denen sie mitteilen möchten, daß da einer „ne Schwäche“ für sie hat – um sie, nun er sie eingelullt, mit seiner Attacke gegen ihre „Erstarrung“, ihre „zeitweilige Vereisung“, ihre „örtlichen Beraubungen“ zu überrumpeln. Folgen erste Definitionen dieses, in unserer Lyrik so seltenen, offen rhetorischen Sprechens aus der Mitte unseres Alltags heraus („Einige Fragen“). Folgen nicht wenige Fluggedichte, darunter vier mit den Titeln. „Flug III, IV, V, VIII“. Folgen Anrufungen von Kultfiguren meiner (kein Schreibfehler!) Generation: Dylan, die Beatles, die Rolling Stones, Simon & Garfunkel…, Ginsberg, Ferlinghetti, O’Hara, Kerouac; von mir (kein Schreibfehler!) wichtigen Dichtern wie Greßmann, Ungaretti, Hernández, Arendt; folgen Erinnerungen an meine (kein Schreibfehler!) Kindheit: Milch holen mit der Alublechkanne mit dem Holzgriff die Klemme im seitengescheitelten Haar, welche die Haare dichthält, daß sie nicht stören; Knaben mit Leibchen und gestopften langen Strümpfen, die Partisan spielen und Indianer; folgt noch manches, was dem Dichter und Ingenieur Michael W die Aufmerksamkeit der Leser sichern wird (sollte), mit und ohne Skepsis. Wenn er Ihr sage in seinen Texten, sagt der Autor, meine er die, „die mich nicht hören / oder hören mit Ärger / die allein sind allein / oder allein in Familie / die das WIR im Mund haben / und das SELBST im Kopf / die von mir reden / und sich verschweigen“.
Daß ich mir letzteres nicht gelingen lassen kann, machten mir die Texte bald klar; daß ich kein objektiver Begutachter sein kann, weil hier einer von den Erfahrungen und Widerfahrungen meiner Biographie, meiner Generation spricht. Noch einer, dachte ich bald, von den Spätentwicklern meines Alters, ein Unfertiger mehr in der Hälfte des Lebens… Wer schreibt wie das aus uns geworden ist, – schreibt der, und seine „Versuche über das Milchholen“ sind „Versuche über das Zeitholen“ zugleich, Versuche, sich zu erinnern, wozu? Nicht zu ersticken, sich nicht abrufen, nicht kaufen zu lassen; zu fliegen zu hoffen zu bleiben. Nicht mehr und nicht weniger. Diese Texte über den täglichen Aufstand gegen das unheimliche Einverständnis. Die Heiterkeit, mit der sich viele Gedichte mit der „Hallo ihr da“-Geste an uns wenden, täuscht, und die Botschaft ist nicht von der harmlos-fröhlichen Art. Die Besessenheit, mit der dieser Ingenieur und Dichter die tägliche Straßenbahnfahrt, die vertraute Stadt mit Fluß, Elbhang, der berühmten Brücke, der Seilbahn, der Fähre, die täglichen achtdreiviertel Bürostunden wieder und wieder in Worte faßt, macht die Kosten ahnbar.
Ob dieser Dichter seine Sprache gefunden hat? Die Gedichte entstanden zwischen dem sechsundzwanzigsten und dem vierunddreißigsten Lebensjahr; das heißt, es dürften etliche Jahre mit zahlreichen Versuchen vorausgegangen sein. Die strenge Auswahl kommt dem Band zustatten; für Debüts sonst charakteristische Schwächen fehlen weitgehend. Gewiß sind nicht alle Texte gleichwertig. Ich beobachte bei einigen „früheren“ Gedichten (als ihr Autor, ich vermute, nicht darauf rechnen konnte, sich bald gedruckt zu sehen) eine gewisse abstrakte Vorstellung von der Wirkung seines „Lieds“ („Mein Lied erwartet dich“). Die ausbleibende Öffentlichkeit mußte Reifeprozesse bremsen. Erstaunlich aber ist der zwiefache Eindruck von Vielgestaltigkeit und zugleich großer Einheitlichkeit. Der probiert noch dies und das aus, aber er weiß, was er will. Er benutzt kurze und lange Zeilen, kurze und lange Gedichte, er findet wunderbar einfache und nicht simple Strukturen („Ich flüstre euch vom Fahrrad herunter“), experimentiert mit Schreibweisen, mit Vertikal- und Horizontalachsen, mit Zeilenbrüchen und Doppelzuweisungen. mit Zitaten und Permutationen – wohin mag er gehn? Daß sein Band trotz der Vielfalt den Eindruck geschlossenen Kunstwollens hinterläßt, ist weniger einigen „Manierismen“ (wie der Trennung von Worten in ihre Bestandteile durch Großbuchstaben) geschuldet als dem bemerkenswert geschlossenen Arsenal seiner Bausteine: die Topographie von Dresden-Loschwitz, Dresdens Nahverkehrsmittel, die Schreibtische des Ingenieurbüros, sodann Requisiten wie die Beatkultur, die hervorgeholten Erinnerungen, Motive wie Grenzüberschreitungen, das Fliegen, der Aufwind (er schreibt AufWind und meint den Aufwind am Elbhang in Loschwitz und noch einiges mehr), die Geste der Heimsuchung, der (mitunter fast erzwungenen) Ansprache an seine MitMenschen, erotische Motive nicht zu vergessen, und all das kommt in vielen Gedichten in mannigfachen Kombinationen wieder und wieder vor: Erotik geht da mit Nahverkehr, mit Schreibtisch und Fähre, Fliegen mit Fahrrad, Telefonzelle, Schreibtisch, die berühmte Brücke, das „Blaue Wunder“, mit der gleichfalls berühmten „Bridge over troubled water“ usw., alles mit allem. Alles in allem ein begrenztes Reservoir, das macht den Band überschaubar und ermöglicht dem Leser Entdeckungen. Ergibt das einen engen Horizont? Dieser Autor weiß, daß seine Elbe bis Altona fließt, und was seine Stadt Dresden mit dem Krieg der Vergangenheit wie einer möglichen Zukunft zu tun hat, und er möchte sich und denen neben ihm Mut machen zu bleiben, am Leben zu bleiben, und die sechs Übungen über seinen Schreibtisch in seinem kleinen Büro, wo ihm doppelte Fenster die Welt vom Leib halten, „dort wo ich manchmal zu ersticken drohe / in den längst bekannten Verrichtungen“, enden bei den „gekreuzigt Unterdrückten / die alles auf sich nehmen müssen / kurz vorm Ende des zweiten Jahrtausends / frage ich die noch lange nicht blinden Fenster in meinem Kopf / was uns festhält am Schreibtisch / was die Ellipse zum teuflischen Kreis macht“. „Die sich mitunter ausgeschlossen fühlen (schrieb Volker Braun vor langer Zeit) reden (lächelnd, füge ich nun hinzu) gegen die Wand, und die Wände haben Ohren.“ Oder nicht?
Michael Gratz, neue deutsche literatur, Heft 433, Januar 1989
Mit diesem Band gibt ein inzwischen Sechsunddreißigjähriger sein Debüt. Stoffe und Themen, Beschaffenheit des lyrischen Subjekts, Eigenart seines Zugriffs zur Wirklichkeit, poetische Verfahren und Traditionen treten markant hervor; die Sprache tastet nicht unbeholfen nach eigenem Profil, sondern hat eines. Zu uns redet einer aus nichtliterarischer Lebens- und Berufssituation heraus. Vielleicht kommen gerade daher Prägnanz, Frische und Eigenständigkeit des Tons und der Haltung. Sein in den Texten formulierter Anspruch: Nichts soll ihm den Atem verschlagen, niemand ihm den Mund zuhalten.
Obwohl die Gedichte keineswegs den tradierten Duktus von Erlebnislyrik haben, konstituieren sie sich in der Mehrzahl sinnlich und materiell konkret – mittels Vorstellungskraft und Erfindungsgabe – aus dem alltäglich Erlebbaren. Als Ausgangspunkt für viele Texte, vielleicht als ihr wichtigster Lebensnerv, erweist sich das Grunderlebnis der Großstadt Dresden: als moderne Stadtlandschaft und als persönlicher Lebensraum, als Schnittpunkt von Geschichte und Gegenwart, Zeuge von Krieg und Frieden, von Sinnlichkeit der Existenz und Gesellschaftlichkeit des Individuums, als Aktionsradius und als Punkt, von dem aus Flug und Traum möglich ist. Doch dieses Stadterlebnis wird nicht in die lyrische Sprache des Gedichts gepackt wie eine Neuerwerbung in die Tüte; der Autor wartet mit genügend Kunstverstand auf, um aus dem bloß Anlaßhaften, dem originellen Blickwinkel auf lokale Realitätspartikel wirkliche poetische Bilder erwachsen zu lassen. Wenn immer wieder als Sujet, als Motiv oder Metapher die Loschwitzer Elbhänge, das Blaue Wunder, die Schwebebahn und die Fähre auftauchen, dann wird mit ihnen nicht nur lokale Besonderheit beschrieben oder gepriesen, sondern sie gewinnen aus ihrer sinnlich erlebten Gegenständlichkeit und Plastizität heraus stets auf eine ganz charakteristische Weise weitergreifende Bedeutung; Räumliches erhält seine vierte Dimension. Im poetisch heraufbeschworenen Detail wird zugleich Bewegung, Bewegtheit und Beweglichkeit des lyrischen Subjekts in Zeit und Geschichtlichkeit mitgegeben. So verbinden sich mit dem Festhalten des lokalen Punkts zugleich Bewegungsvorgänge: Die Brücke, als Scheitelpunkt zwischen dem unten Fließenden und dem oben Stehenden oder Gehenden wie als zerstörbarer Weg zwischen getrennten Ufern, weitet sich zur Metapher für individuelles spannungsvolles Unterwegssein wie auch für die Anstrengung des Erinnerns von Geschichte, für das „Wunder“, wie aus Trauer und Untergang Hoffnung wird. Von den zahlreichen Gedichten mit dem Brückenmotiv sieht ein Titel typographisch so aus:
WUNDER WUNDER
LICHE BEGEGNUNG AUF DER
BRÜCKE BRÜCKE
Ein anderer lautet – zugleich erste Verszeile – „Im Nebel rückwärtigen Lebens“, und dies ist nicht nur wörtlich, sondern buchstäblich gemeint: „Leben“ rückwärts lautet „Nebel“ und deutet mehr als eine zweidimensionale Bewegungsrichtung des lyrischen Ichs an. Die Schwebebahn verbindet Realität und Traum, Gebundensein und freien Flug der Phantasie, Vers und Wirklichkeit, den lebenden Dichter Wüstefeld und den gelesenen Dichter Erich Arendt („Ich lese“). Beim Gang auf die Elbhänge erscheinen imaginiert die Mühen der vormaligen Weinbauern („Zwischen den Häusern“) wie auch das Memento des Kriegsbrandes oder das Fragen nach der Bedeutsamkeit des Lebensganges von Vater und Großvater in dieser Stadt („An den Ufern beginnt der Tag eher“). Vom lokalen gegenwärtigen Stand-Punkt aus wird Weltgeschehen einbezogen. Dies alles geschieht nun gar nicht als Abheben oder gar Verdünnen des kräftig Wirklichen ins Ästhetische und Philosophische, sondern bei Bewahrung naiv verspielten Erlebens und frischen Staunenkönnens. Poetizität stellt sich originär her; tradierte Bilder lagern sich nicht den eigenen Eindrücken und Sehweisen auf, sondern werden, wenn nötig, zwanglos amalgamiert. Man muß einräumen daß dies bei einem von mehreren Künsten bereits seit langem und bis heute, auch in der Lyrik unseres Landes (Mickel, Kirsten, Braun, Czechowski), immer wieder durchgearbeiteten Landschaftsraum erhebliches Stehvermögen erfordert, um nicht dem Déjà-vu des Vorgeprägten zu verfallen.
Zur kräftigen sinnlichen Stofflichkeit der Gedichte gehört die ganz eigenständige Sicht des Großstadtverkehrs von „innen“: Das lyrische Subjekt, selbst Arbeitender, ist mitten unter den Passanten – zu Fuß, per Bus, Bahn, Fahrrad. So mancher dieser Texte lebt aus der poetisch genauen Darstellung der – gelegentlich auch erotischen – Augenblicksspannung zwischen erzwungener Nähe und Beziehungslosigkeit („Gegenüber einer fremden Frau im Schienenersatzverkehr“), zwischen der flüchtigen Begegnung von Gesichtern und Körpern und der unerfüllbaren Sehnsucht nach Dauer und Ganzheit menschlicher Beziehung („Früh in der Schwebe“). Die Gedichte begnügen sich aber nicht mit Impressionen, sondern aus der lebendigen Situation heraus, die als Vorgang, als Unterwegssein im mehrfachen Sinn gegeben wird, erwächst zwanglos assoziativ weitere Sinnauffächerung, Lebens- und Welterkundung. Wirklichkeit und Möglichkeit, Gelebtes und Gedachtes werden im wahrsten Sinne er-fahren. Daraus gewinnen die Bilder und Metaphern Frische, sinnlichen Reiz, poetische Unabgegriffenheit, und die zum Teil sehr weit gespannte Assoziation und Reflexion gerät nicht zum bloßen willkürlich-intellektualistischen Meinen, das sich vom konkreten Ausgangspunkt weghebt. Vielmehr wird das als absichtslos erscheinende Assoziieren von Wirklichkeitseindrücken und dadurch veranlaßten Werturteilen strukturell und bedeutungshaft sehr bewußt zusammengehalten, dialektisch hin- und hergewendet, auf mehreren Ebenen künstlerisch oft sehr konzis, zugleich spielerisch komponiert.
Erstaunlich ist, wenn auch nicht in jedem Fall auf gleicher Höhe gelungen, was der assoziative Ausgang, Aufflug, Absprung vom eng begrenzten Punkt des eigenen Arbeitsplatzes (des Schreibtischs in einem Ingenieurbüro) alles an Welt- und Sinnbezug, an Selbst- und Fremderkundung, an konflikthafter Spannung und vielschichtiger Hoffnung ins Gedicht zu holen vermag. Manche der zum Teil groß ausholenden, diskursiven Texte dieser Art leben zwar ganz aus der Dissonanz und Diskrepanz zwischen der äußerlich als eintönig und unanschaulich, als eingegrenzt gekennzeichneten Arbeitstätigkeit und dem farbig-sinnlichen Reichtum der auffliegenden Phantasie; dennoch brechen beide Seiten nicht heillos auseinander, sondern bleiben gerade in und mit der Gedichtstrukturierung als notwendig aufeinander verwiesen. Selbst bittere Verse über monotone Vorgänge dieses Arbeitsalltags geraten auf diese Weise nicht zum bloßen klagenden Reflex von Tristesse; eher sind sie Herausforderung an das lyrische Ich zum zähen Aushalten und Widerstehen einerseits wie auch Stachel produktiver Imagination andererseits. Solcherart ist möglicherweise in der Lyrik unseres Landes noch nicht über Arbeit – das heißt aus der Situation einer nichtkünstlerischen Berufsarbeit heraus – gesprochen worden.
Das erwähnte Flugmotiv konstituiert sich in mehreren Gedichten auch zum selbständigen Sujet, wie man es auf andere Weise schon bei mehreren Lyrikern und Erzählern in unserer Literatur kennt. Der Titel „Flug“ taucht viermal auf und bietet Auszüge aus einem über mehrere Jahre entstandenen thematischen Zyklus, vielleicht mit angeregt von Arendts „Flugoden“. Darüber hinaus begegnet Flug als Metapher in verschiedensten Einbindungen. Für Wüstefeld ist charakteristisch, daß in diesem Sujet durch Verflechtung mit anderen Motiven eine Mehrschichtigkeit erreicht wird, die nicht den Eindruck des intellektuell Konstruierten erzeugt: Flug des lyrischen Ichs als Aufflug von historisch und existentiell konkreter „Startbahn“, aber auch als Auf- und Ausbruch aus abstumpfender Gewohnheit und Gewöhnung, als unstillbares und nicht zu beschwichtigendes Bedürfnis nach Welterfahrung und nach Kommunikation mit anderen (Einzelnen, Kontinenten, Völkern), mithin auch als Aufbrechen von zwischenmenschlichen Barrieren verschiedenster Art und als Durchbrechen eigener Schranken für schöpferische Ganzheit. Selbst in solchen Gedichten gewinnt nicht philosophisch-weltanschauliche Abstraktion die Oberhand, sondern sinnenhaft-sinnliches Arbeiten mit konkreten Realien beherrscht die Bildwelt und den lyrischen Vorgang.
Aus der phantastischen Beschreibung, dem spielerisch-dialektischen Hantieren mit erlebten und erlebbaren alltäglichen, ja banalen Gegenständen, Vorgängen, Impressionen erwächst so auch ausgreifende poetologische Reflexion über Aufgaben, Möglichkeiten, Sinn und Anspruch des Dichtens, über den eigenen beruflichen Dualismus als schmerzhafte Spannung wie auch als einander Verhaftetsein zweier Existenzweisen, die produktiv gelebt werden wollen.
Die enge Bindung an die Dresdner Landschaft, die frei von Provinzialismus ist, bringt auch Naturgedichte von malerisch-plastischer Originalität und ungewöhnlicher, überraschender Struktur hervor. Naturgegenständen (ob als Detail oder als gedichttragend), die bis zur Trivialität herabgesunken sind, gewinnt der Autor gelegentlich völlig neue, frische Bedeutung ab; er vermag sie mit neuer Metaphorik aufzuladen. So zeigt sich auch im Umgang mit traditionellen Gegenständen ein neuer Zugriff.
Signifikant für Qualität von Dichtung ist stets die Beschaffenheit des lyrischen Subjekts. Man spürt ein lyrisches Ich am Werk, das weder der Scheu vor unmittelbarer Selbstaussage und Erlebnisbestimmtheit noch der Penetranz eines antiquierten naiven Vorsichhinsprechens erliegt. Vielmehr tritt uns ein lyrisches Subjekt entgegen, das sowohl selbstbewußt als auch suchend-fragend, sensitiv wie erotisch spielendes Wesen als auch philosophisch denkender Kopf ist, seiner sozialen, historischen, gesellschaftlichen Geprägtheit ebenso selbstverständlich eingedenk wie seiner Einmaligkeit, ohne beides andauernd demonstrativ auszustellen; ein Ich, dessen Empfindungs-, Assoziations-, Denkfähigkeit für jedermann zugänglich bleibt und sich dafür offenhält, ohne in die Geste des Einer-für-alle-Sprechers zu fallen. Bei aller Bewußtheit seiner Ge- und Unterschiedenheit von anderen hält das lyrische Subjekt an der Sehnsucht und Möglichkeit, ja Notwendigkeit fest, mit anderen ein kommunikatives Wir zu bilden, eine für alle wichtige Botschaft bringen zu können. Weder in Diktion noch Gestik zieht es sich als Instanz des Gedichts in Zweifel oder überhebt es sich. Es verfügt über Ironie wie über gelöste Heiterkeit, analytische Schärfe wie träumerische Weichheit. Es weiß sich in der jetzigen Welt verletzlich wie jede Kreatur und erscheint dennoch nicht kraftlos. Sein Lebensgefühl wirkt ganz zeitgenössisch, nachvollziehbar, ohne sich bequemen Erwartungsmustern zu unterwerfen, seine Intellektualität ist unelitär, ohne Koketterie und Kopflastigkeit.
In Verfahren, Strukturen, Komposition fällt eine starke Tendenz zum fast poemhaften Großgedicht auf, das einerseits einem relativ begrenzten Wirklichkeitsausschnitt möglichst viele Facetten abzugewinnen trachtet, andererseits größere räumliche und zeitliche Dimensionen auszuschreiten sucht. Ein solcher Mut zum großen Wurf verdient das Wirken in die Öffentlichkeit. Dieser Tendenz entspricht auch der oft stark diskursive Vers- und Gedankenbau, die Schaffung größerer zusammenhängender Textblöcke statt strophischer Gliederung, Polyphonie der stofflichen und formalen Elemente, mehrschichtige Metaphorik, die sich im Gedichtverlauf selbst produziert, Freude an der manchmal barocken Sprachwucherung, das Verlassen syntaktischer Regelhaftigkeit zugunsten mehrgleisiger Sinnbildung und übergreifender Bezüge. Es gibt gescheite, poetisch einleuchtende und gelungene Arbeit mit Wort- und Sinnspielen, mit der typographischen Textanordnung bis hin zum Figurengedicht. Obwohl es dafür viele und gewichtige Vorläufer gibt, stellt sich nirgends der Eindruck des Epigonalen ein, da dieser Umgang mit Sprache immer funktionell, sinnstiftend in Dienst genommen ist.
Das Ineinsziehen von Traum und Wirklichkeit, Alltagsimpression und Vision, die Simultaneität des Augenblicks erscheint fast nie als angestrengt oder als bloß quantitative Häufung, sondern unterliegt einem ausgeprägten Kompositionswillen, der auf bedeutsame Mitteilung aus ist. Wenn auch tradierte Formen (kreuzreimender Vierzeiler, Liedhaftes und Epigrammatisches, der Majakowskische Treppenvers u.a.) vorkommen, so dominiert doch die freirhythmische diskursive lyrische Sprechweise, die den Aufbau großer sinnlicher und gedanklicher Bögen erlaubt. Hier ist deutlich die fruchtbare Aufnahme amerikanischer Lyrik von Whitman bis Ginsberg spürbar, die wohl auch für die häufige Synthese von understatement und Pathos Vorbildwirkung hat. Auch hier entsteht nicht der Eindruck von Nachtreterei, sondern bemerkt man, daß der Autor weitere Möglichkeiten für sich finden kann.
Der Band ist in Gruppen untergliedert. Sie tragen die Überschriften „Hoffnung“, „NachRuf“, „AufWind“, „Rundfahrt“. Solche zusammengesetzten Wörter – oder, mit Fühmann zu sprechen: Worte – verweisen durch ihre Schreibung auf den ursprünglichen Sinn ihrer Bestandteile und erneuern damit ihre in Gewöhnung abgegriffene Ein-Deutigkeit. Daß das gerade auch für das Titelwort „Heimsuchung“ gilt, macht mindestens einer der Texte explizit bewußt: „MeinEid“ nach einem Gedicht von Ginsberg. Das lyrische Ich erscheint hier nicht als (s)ein Heim Suchender, auch nicht als Heimgesuchter, sondern als einer, der „dieses Land“ heimsuchen will und wird, „euch […] zwischen euren Wänden“.
Und ihr werdet nichts machen können
gegen diese Heimsuchung ist nichts gewachsen
wenn ich in eurer Straße bin
komme ich auch an euer Fenster
[…]
so sehe ich euer Heim wo ich euch suche
mit falschem Bart und aufgezogener Glatze (S. 26).
Der Ingenieur Wüstefeld spricht hier als Michael im erzenglischen Ton, und das Wort Heimsuchung erhält seine biblische Wucht gleichsam säkularisiert zurück.
Daß dieses lyrische Angebot Öffentlichkeit nicht nur anstrebt, sondern braucht, liegt auf der Hand: Es ist imstande, Öffentlichkeit zu stiften, da es sich selbst im Gespräch befindet, jetzt und mit allen, die Auge und Ohr haben und wissen wollen, was vor sich geht; denn sie müssen „die Rechnung bezahlen“ (Brecht). Der Ingenieur Wüstefeld fragt als Dichter nach den Kosten von Leben heute, weil er gern spielt.
Dorothea Gelbrich, aus Siegfried Rönisch (Hrsg.): DDR-Literatur ’87 im Gespräch, Aufbau Verlag, 1988
Dieter Kerschek: Wer schreibt wie das aus uns geworden ist
Temperamente, Heft 2, 1988
Michael Wüstefeld, 1951 in Dresden geboren, hat dort Landmaschinentechnik studiert und lebt noch heute als freiberuflicher Dichter und Kritiker in seiner Geburtsstadt. In den Texten wohl keines Dichter seiner Generation wurde die verbotene Sehnsucht nach Überwindung der Enge des Landes so manifest wie in den seinen:
Wie wir Grenzen in uns hinaus
schieben zu mehrsichtiger Ferne
werden Grenzen um uns heran
gerückt zu beklemmender Enge.1
Ausbruchswünsche aus der Hoffnungslosigkeit des Mauerstaates („Hineingeboren wie hineingeborgt / […] / Geborensein wie totleben“2) wurden oft unverhüllt formuliert, als Verlangen nach Erfahrungen außerhalb des abgesperrten Lebensraumes, als Öffnung zu körperlichen, intellektuellen und poetischen Abenteuern:
Ich wünsche mir
Flügel
für meine Hoffnung keine Zügel3
Manche seiner Gedichte, als „Flug III“, „Flug IV“ usw. numeriert, heben ab zu oft langen formensprengenden, entgrenzenden Phantasien.
Wüstefelds Gedichte vagabundieren weltweit, bis in kosmische Bereiche, streifen, mit märchenhaften und Traumkräften versehen, im Unbegrenzten. Poetische Vorbilder für seine Negationsweise von DDR-Staats- und DDR-Literatursinn findet er – anhaltender als andere jüngere Autoren seiner Generation – in der Lyrik der Beat Generation. Frank O’Hara z.B. liefert ihm den Stoff für seine Hoffnung auf ein „NEUES DEUTSCHLAND“.4 Auch in seinem ersten Band Heimsuchung finden sich Verweise auf amerikanische Lyrik. Zu der Ausbruchssehnsucht, die den Grundton des Buches bildet, scheint der Titel zunächst im Widerspruch zu stehen. Heimsuchen meint ja etwas Feindliches, eine Plage, die das eigene Heim befällt, darüber herfällt, meint in älterer Bedeutung aber auch besuchen und läßt sich zudem als ,Heim suchen‘ lesen. Heimisch ist Wüstefeld in der Dresdner Elblandschaft, die als konkreter Lebensraum Thema vieler seiner Gedichte ist. Dresden ist für Wüstefeld zwar sein biographischer Ort, aber zugleich der Ausgangspunkt, von dem aus Worte und Bilder ins Weite und Imaginäre schweifen. Das Schlüsselgedicht „MeinEid“5, das „Heimsuchung“ thematisiert, bezieht sich auf Allen Ginsberg, „Immer wieder gehe ich durch/ Ginsbergs Gärten der Erinnerung / und finde mich wieder in diesen Staaten / von denen er schreibt“. Die Eröffnungszeilen des Gedichts lauten:
Ich werde dieses Land heimsuchen
mit Wörtern und beginnenden Liedern
werde anrennen gegen Steine in der Luft
Sprüche auf Bändern aus Tuch
nichtssagende wissende Köpfe
Mit großer Geste kündet sich hier ein Ich in der Sprechhaltung Walt Whitmans an6, das Wörter gegen das unlebbare, erstarrende, versteinte Land setzen will, gegen die in und mit Losungen herrschende Sprache, gegen die plakatierten Zeichen der Macht.7 Aber Dichten und Pathos Ginsbergs sind der Situation DDR nicht angemessen, „N.Y.C. unwirklicher Traum von Freiheit“ ist nur angelesene, nachgeträumte Erfahrung, die im krassen Gegensatz zur eigenen steht:
und weiß doch nichts von alledem
nur angelesener Mist meine geistige Selbstbefriedigung
spritzt Wörter vom Kopf zum Schwanz meine Erfahrung
reicht nur von Potschappel bis Kötzschenbroda
wohin der SonderZug auf schmaler Spur fährt
Wenn das Ich in seiner sozialen Umwelt – poetisch – rebellieren will, muß es für Ginsbergs Bildsprache eigene Entsprechungen finden, was das Ich des Gedichts dann versucht:
wieder tausche ich Bilder
verschiebe Zeilen ändere Begriffe
Das Ich ist von der Kraft dieser poetischen Möglichkeiten überzeugt, „Und ihr werdet nichts machen können / gegen diese Heimsuchung ist nichts gewachsen“, erkennt aber: die gewählten Wörter dieser „Heimsuchung“ sind nicht die seinen, sie bedienen sich einer fremden, geborgten Diktion, der Maske Ginsbergs „mit falschem Bart und aufgezogener Glatze“. Mit dieser Zeile geht das Ich des Gedichts zu Ginsberg auf Distanz, besinnt sich eigener Mittel, formuliert ein eigenes Programm:
Ich will dieses Land heimsuchen
mit meinem Wort und beginnenden Büchern
mit meinem Hut über dünnen Haaren
über all diesen Gedanken
Statt Ginsbergs Wendungen und fremder Lieder (vgl. die häufigen Rockmusikbezüge bei Wüstefeld) will sich das Ich seiner Möglichkeiten, einer eigenen literarischen Sprache bedienen. Jetzt läßt sich auch der doppelsinnige Titel des Gedichts, „MeinEid“, deuten. Der Eid der ersten Zeilen („Ich werde dieses Land heimsuchen / mit Wörtern und beginnenden Liedern“) war noch Meineid, denn er benutzte fremde Erfahrungen. Dem wird im letzten Zeilenblock als Willenserklärung ,Mein Eid‘ entgegensetzt („Ich will dieses Land heimsuchen / mit meinem Wort und beginnenden Büchern“ [Hervorh. E. M.]). Der Anspruch und das Pathos des Anfangs jedoch, das Pathos Ginsbergs, bleibt ernst gemeint und wird nicht zurückgenommen oder verworfen, was die zum Schluß wiederholte Anfangszeile betont: „Ich werde dieses Land heimsuchen“.8
Mit auf solchem Wege erarbeitetem Selbstbewußtsein kann das lyrische Ich dann auch Lawrence Ferlinghetti souverän gegenübertreten:
Ich grüße dich L. F.
[…] nicht meineidig […]
Ich grüße zurück mit ganzer Hand9.
Beide Gedichte des Jahres 1985 zeigen das (vorläufige) Ende eines poetischen Selbstfindungsprozesses an, zu dessen Verlauf andere Gedichte Hinweise geben. Zum Beispiel wird im Zyklus „Dorf Warnow 1980“ gefragt, „Warum schreibe ich nicht // über den sanften Schwung / des Weges hinunter zum See„ usw. und geantwortet, „weil ich es sah // wie den Schlag des Bauern / gegen den Hund […]10. Gleich anschließend an diese Absage an harmonisierende Naturlyrik und Tradition angesichts des schlimmen Zustands der Welt, probiert Wüstefeld Sprachspiele:
Mit dem Wassertreter
Wasser getreten
im Ploggensee
Seeploggen
[…] Mit der Körperkultur
Kultur verkörpert
Im Backhaus
hausbacken
usw. Der Schluß des Zyklus formuliert dagegen romantisch-expressionistische Sehnsucht „Einmal / allein beschreiben / wie der Schnee / hoffnungsvoll blau wird“. Auch ein Gedicht von 1983 belegt, diesmal volksliedhaft, Wüstefelds sprachbewußte, reflektierende Suche nach der angemessenen Form:
Such die Sprache meines Landes
finde keinen Mund
[…]
Komm ich aus dem einen Traum
nehm den andren mir
Wechsle Kleider und den Raum
Wörter bleiben hier
[…] Such die Sprache meines Landes
finde meinen Mund
Strick am Muster eines Bandes
Dreh ein Viereck rund11
Dieses Forschen nach einer der Befindlichkeit im Lande DDR entsprechenden Sprache ist nicht resignativ, sondern konstruktiv. Wüstefeld entdeckte in der Rezeption von Popkultur und Beat Generation und deren Protesthaltungen poetische und poetisch-formale Gegenentwürfe zur Realität, die dies auch für seine Situation leisten, die aber auch mit der unbestimmten Sehnsucht der Romantik und deren Metapher von der Blauen Blume kongruieren. Die romantische Komponente seines Werks kommt u.a. explizit in dem „Hoffnung“ überschriebenen Gedicht zum Ausdruck: „Solange die Glockenblumen / blau sind / hören wir uns gehen durch Stille“12, sie äußert sich auch im Lokalbezug auf Dresdner Landschaft, wo ja die frühromantische Bewegung eines ihrer Zentren hatte, und namentlich im häufigen Bezug auf die „Blaues Wunder“ genannte Dresdner Elbbrücke. Für Sehnsucht und Blaue Blume findet Wüstefeld Äquivalente im ,feeling‘ von Blues und Rockkultur, in Bluejeans13 usw., die aus der Hoffnungsarmut seines Landes herausführen. Aus vorwiegend amerikanischer Quelle und der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns bezieht er Anregungen, avantgardistische und experimentelle Komponenten zu verwenden. In einer Reihe langer Gedichte und Gedichtzyklen setzt er dialogisch unterschiedliche Textformen und Sprechhaltungen gegeneinander, konfrontiert und verschränkt sie miteinander. Unterschiedliche poetische Redeweisen beobachten sich so gewissermaßen, dissonieren und kommunizieren. Wahrnehmungs- und Erinnerungsebenen vermischen, Impressionen, Zitate, Reflexionen und Assoziationen durchdringen sich, werden polyphon. So enthält der komplexe Zyklus „(DIE WELT UM UNS – UMWELT)“14 bereits im Titel ein Bündel von Interpretationsofferten.
Während in den früheren Gedichten, wie „Dorf Warnow 1980“, noch unterschiedliche formale Lösungen der Reihe nach vorgeführt wurden, versucht Wüstefeld später, mit schriftgraphischen Mitteln eine größere Dichte, ja Synchronizität der Mittel und Bedeutungen zu verwirklichen. In dem Zyklus „An den Ufern beginnt der Tag eher“ stehen autobiographische, Kindheit erinnernde und reflektierende Zeilen Passagen gegenüber, die Vergangenheit und Zeit (unter dem Titel „Metamorphose“) auch visualisieren:
Kind Erde
aaaaaaaaE
Mann Kind
aaaaaaaaL
Greis Mann
aaaaaaaaB
Erde Greis
aaaaaaaaE
Der hier mit vier Substantiven symbolisierte Zyklus des Lebens wird mit dem vertikal eingefügten Wort „ELBE“, das zugleich Zeitfluß und Heimat veranschaulicht, temporalisiert und zusammengeschlossen. Ähnlich verfährt Wüstefeld in dem folgenden, dem Maler Peter Herrmann gewidmeten Text „Keine Hoffnung“15:
Keine Hoffnung
Eine Hoffnung
ne Hoffnung
e Hoffnung
Malerfreunds
Kater Richard ist
nicht tot in der Elbe
schwimmt er mit steifem Schwanz
zur Nordsee in Westen
Will Salzwasser saufen der Dumme
Will Welt sehen wo nur
npaar Meter von zu Hause
in Loschwitz hängt das Blaue
Wunder fangen mit dem Ende an
über dem Fluß der Katersong
blue way blue letter
blue bridge blue knife
blue wonder blue pencil
blue day blue sky
aaaaaaaaaaagreen man
aaaaaaaaaaagreen wife
aaaaaaaaaaagreen apple
aaaaaaaaaaagreen child
Die Vertreibung aus dem Paradies
Wenn das Wasser endlich aufwärts
fließt es dann überhaupt
kommen mit dem Kater
andere zurück
An der konkreten Dichtung geschult ist hier die phonetische Demontage des Titels „keine Hoffnung“, womit „Hoffnung“, ebenso wie der gesamte Text, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit changiert. Die DDR-typische Sehnsuchtsproblematik wird auch in den nächsten beiden Zeilengruppen in sich naiv gebender Kinder- und Alltagssprache abgehandelt. Die Kunstgriffe konkreter Poesie wiederholt der Mittelteil, der mit dem englischen Vokabular zugleich Welt ins heimatliche Dresden holt. Die zwei Wortreihen mit „blue“ lassen sich als Verweis auf zwei Wege der Sehnsucht lesen: Flucht und Kunst, denen eine (grüne) private Hoffnungsreihe opponiert. Die letzte Zeilengruppe träumt von Veränderungen, spielt mit den Valenzen der Wörter in der Syntax, wodurch mehrdeutige Lese- und Lösungsmöglichkeiten angeboten sind.
Wie aus den aufgeführten Beispielen deutlich geworden sein dürfte, prüft Wüstefeld verschiedene stilistische Möglichkeiten, um seine Poetik, seine Sprache zu entwickeln. Neben der lockeren Formlosigkeit bei der Thematisierung von Alltäglichkeit, verbunden mit einmontierten Sprachzitaten, verwendet er sowohl experimentelle Techniken als auch eine Art lyrischen Bewußtseinsstroms, z.B. in den „Flug“-Texten, wobei er sich manchmal, wie in „Phantasie in Volt beim Hören der Beatles“16, durch Musik anregen läßt. Im Gegensatz dazu stehen metaphorisch-bildhafte Gedichte einerseits und materialbewußte und formstrenge Texte andererseits, in denen Wüstefeld seriell syntaktische Schematismen auf etymologisch oder klanglich verwandte Begriffe anwendet und damit die Bedeutungen von Wörtern auf Tauglichkeit testet. Diese Technik, die mit Anaphern und Parallelismen arbeitet, vermag sprachliche Konventionen und das Funktionieren von Herrschaftssprache aufzudecken, was sich gelegentlich zur sprachspielerischen Politsatire auswächst, wie im Text mit dem gewaltigen Titel „ABWANDLUNG des DEUTSCHEN / oder HERLEITUNG eines DEUTSCHEN“17 von 1980:
deutsch der Positiv deutsch
deutscher der Komparativ deutscher
deutscherst der Superlativ DDR
deutscherisch DDRisch
deutschERICH DeDeErich
Wenn man bei Wüstefeld eine poetologische Aussage findet wie: „Die innere Bedeutung der / Wörter zeigt ihre Wahrheit / im AbBild des Selbst“18, beschreibt sie auch diese Verfahrensweise, denn anhand solcher scheinbar systematisch generierter Sprachkonstrukte enthüllt Wüstefeld in Wörter eingegangene Denk- und Bedeutungsbeziehungen. Das Verfahren praktiziert er besonders in seinem Prosaband Nackt hinter der Schutzmaske, in dem er seinen Reservistenwehrdienst aufarbeitet.
Es ist Arbeit, unter den Erinnerungen Wirklichkeit wiederzufinden.19
Um jene erinnerte Wirklichkeit nicht vorschnell verstehbar und somit sozial wirklich werden zu lassen, unterbricht Wüstefeld seine episodenhaften Skizzen durch Einschübe, in denen er Sprachfelder zusammenstellt, um diese militanten Vergangenheit auch sprachlich reflektieren zu können. Zu Phonemen und Wortstämmen assoziierte Wortreihen unterbrechen den Erzähltext. Zum Beispiel gelangt er ausgehend von „Geräusche, Gerüche, Gespräche“ über „Gehorsam, Gelände, Gemecke, Generale, Genehmigungen, Genitalien, Gemetzel“ usw. zu „Gewissen“.20 Ein Wort wie „FeldPost“ führt über „FeldLager. FeldBäckerei. Feldmäßige Bedingungen“ zu „Feldseher. SchußFeld. BlutFeld. Feld- Wald- und WiesenMucker“.21 Solches Wörtlichnehmen der Sprache ist bei Wüstefeld selten Spiel, meist Ernst. Das zeigt programmatisch eine Reihung, die sich an dem Wortpaar „FeldBauBrigade. FeldBlume“ entzündet:
Eine Blume im Knopfloch der Felddienstuniform ist Wehrkraftzersetzung.
Eine Blume im Lauf der Maschinenpistole ist Landesverrat.
[…]
Eine Blume ist ein Symbol.
Eine Blume ist ein Signal.
Eine Blume ist eine Blume.22
Das Wort „Blume“ ist eben nicht nur (gegen Gertrude Stein gewendet) ein Signifikant, es stellt sozial auch ein Bedeutungs- und sogar Gewaltpotential dar, von dem sich die sprachliche Materialität nicht separieren läßt. In der Kommunikation erhält Sprache Macht. Desweiteren arbeitet Wüstefelds Erinnerungsband mit Einschüben, die er „Wortversuche“ nennt, Versuche, angesichts persönlicher Ohnmacht dennoch an poetischem Sprechen festzuhalten:
Wer fragt wo unsre Stimmen sind
Wer fragt wo unsre Blicke sind
Wer hört wo andre Verse sind
WechselRede WechselBild WechselBalg
blind gebunden unterm Tuch
Stumm gerufen unterm Buch
Dreimal taub unterm Hurra.23
Wüstefeld treibt seine Poetik nicht an die Grenzen des Kommunizierbaren vor, wo sich die Bedeutungen auf sprachliches Material reduzieren. Hierin steht er der Kulturszene am Prenzlauer Berg eher fern. Mit seinem starken Bezug auf Dresdner Landschaft ist er in vielen Gedichten den Lyrikern der „Sächsischen Dichterschule“ wie Mickel, Czechowski und Kirsten nahe, aber auch dem etwa gleichaltrigen Thomas Rosenlöcher. Wüstefelds Dichtung will einem Ich, das durch sprachliche Erfahrung sich seiner selbst bewußt wird, eine neue Identität in gleichgestimmter kommunikativer Gemeinschaft anbieten. Klarheit über die Adressaten seiner Gedichte verschafft der Text:
Einige fragen
wer ist IHR
wenn ich IHR sage
in meinen Texten24.
Das Gedicht bricht mit der in DDR-Literatur implizierten sozialistischen Weltsicht und polemisiert gegen Volker Brauns Wir und nicht sie. Im Gegensatz zu Braun nimmt Wüstefeld eine Dreiteilung vor, ICH/DU/WIR versus IHR und SIE. „ICH ist das / was nicht IHR seid / und auch nicht SIE“. Wer mit „IHR“ gemeint ist und wogegen sich der Text dezidiert absetzt, wird klar gesagt: „IHR seid die […] die das Sagen haben“ in diesem Lande, nicht „SIE“, die „Klassenfeinde“ Brauns. Diesem „IHR“ gegenüber rühmt Wüstefeld die Individualität seines „WIR“, „ICH ist das / was keine Masse ist / aber sich in Massen findet / was ohne Macht ist / aber ohnmächtig nicht“. Wüstefeld wünscht, fordert, fordert auf, die Vereinzelung in moderner Gesellschaft zu kommunikativer Nähe hin aufzubrechen. Ein solcher kommunikativer Anspruch wird von ihm manchmal sehr pathetisch ausgetragen:
ICH FLÜSTERE EUCH VOM FAHRRAD HERUNTER
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaameine Gedichte zu
Der Fahrtwind trägt euch
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaameine Gedichte zu
Ich geb euch aller Herzen Sprache und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaameine Gedichte dazu
[…]
Wenn ihr wollt klapp ich jetzt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaameine Gedichte zu25
In diesem Gedicht werden nicht dem Publikum Gedichte aufgezwungen26, sondern es will (ebenso wie das eingangs analysierte „MeinEid“) Mitmenschen zum Dialog anregen, ermuntern, als Partner „heimsuchen“. Wüstefelds ,andere‘ Sprache ist keine ,klandestine‘ Sprache, die nur in Hermetik Selbstbestimmung verwirklichen kann, sondern eine „neue, offene Sprache“ 27, „Nichts da von neuer Innerlichkeit“, denn es sei „Zeit jetzt die Köpfe umzugestalten“:
Artikuliert jetzt eure Gefühle
Artikuliert den Willen eurer Gefühle
[…]
Artisten seid wieder der Sprache
[…]
Zeit jetzt den Sternen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Wörter große Zahl
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFrieden zu geben
Verdammt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaihr alle
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawacht auf
Das Gedicht bezeugt die Hoffnung auf eine Unmittelbarkeit des persönlichen Ausdrucks, die unter der Herrschaftssprache verschüttet lag und die wiederzuerwecken sich der Dichter verpflichtet sieht („verlaßt die örtlichen Betäubungen / und hört ihm dieses eine Mal zu28). Solchem Pathos könnte man angesichts der sozialen Evolution, der Differenzierung von Gesellschaft, Naivität vorwerfen, denn die Literatur der Moderne funktioniert gerade, weil sie irreparable Partikularität, Fremdbestimmtheit, aber auch Besonderheit des Individuums problematisiert. Wüstefeld weiß um den „LügenMantel“ der Diskurse, auch um die untrennbare Mischung von „Dichtung und Wahrheit“ seiner eigenen Sprache29. Er steht aber in der Reihe derjenigen modernen Dichtung, die dem erkenntnistheoretischen und poetischen Dilemma, in Selbstreferentialität sich begründen zu müssen, mit einem Insistieren auf Verständigung, Direktheit, Spontanität, auf die „Hemisphäre“ Gefühl, entkommen zu können wünscht, „zu überbrücken unübersehbare Sprünge / […] treffen sich in meinem Herzen/ alle Meridiane meines geteilten Gehirns“.30 Weder rationale Erkenntnis noch Kunst allein könne das Ziel sein:
Wann komme ich an
Kann das
überhaupt
ein Ziel sein
Eine „neue Art / Frieden zu finden / in dem was ist“31 vermöge aber Literatur zu leisten, indem sie auf die Möglichkeit und Notwendigkeit persönlicher Identität nicht rational in Wörtern, sondern im Erfahren von unverstellter Körperlichkeit und persönlicher Andersheit hinweist, als Gefühl „im kleinen Teil einer Sekunde“, wenn „alle Wörter in meinem Kopf ein Nichts sind“.32 Dann ist „Grund“ gefunden für „der Wörter Tanz über der Steigung / der Wörter Halt über der Tiefe“33, dann darf Sprache schweigen:
Unleserlich erblühen die Zeichen
[…] Wirbellos steht auf der Schriftgrat
[…] Schriftwort Stummwort34.
Ekkehard Mann, in Ekkehard Mann: Untergrund, autonome Literatur und das Ende der DDR. Eine systemtheoretische Analyse, Peter Lang Verlag, 1996
TALDICHTER
Für Wüstefeld
Es wächst ein Korn im wüsten Feld.
Du zählst ihm seine dürren Halme
Wünschtest ihm den Wuchs der Palme
Zahltest ihm gern Fersengeld.
Richard Pietraß
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