– Zu Erich Frieds Gedicht „Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan“ aus Erich Fried: Die Freiheit den Mund aufzumachen. –
ERICH FRIED
Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan
es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen
Lesend
von deinem Tod her
die trächtigen Zeilen
wieder verknüpft
in deine deutlichen Knoten
trinkend die bitteren Bilder
anstoßend
schmerzhaft wie damals
an den furchtbaren Irrtum
in deinem Gedicht das sie lobten
den weithin ausladenden
einladenden
ins Nichts
Lieder
gewiß
auch jenseits
unseres Sterbens
Lieder der Zukunft
jenseits der Unzeit in die wir
alle verstrickt sind
Ein Singen jenseits
des für uns Denkbaren
Weit
Doch nicht ein einziges Lied
jenseits der Menschen
I
Paul Celan und Erich Fried – der Gegensatz im poetischen Programm und im Werk dieser beiden deutschsprachigen Lyriker kann tiefgreifender kaum gedacht werden. Das „und“ zwischen ihren Namen scheint einem von ihnen Unrecht tun zu wollen oder beiden. Bestürzend beinahe zu sehen, wie dieser Kontrast aus einer biographischen Nähe herausgewachsen ist, die brüderlich genannt werden darf. Gerade aus der intimsten Kenntnis des Widerparts ziehen Rivalitäten ihre Sprengkraft.
Celan und Fried sind beide jüdischer Herkunft. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg geboren (Celan 1920, Fried 1921), wachsen sie in den Trümmern Habsburgs auf: Celan an der Peripherie, in der rumänisch gewordenen Bukowina, Fried im alten verblaßten Zentrum Wien. Beide besuchen die Höhere Schule; beide verlassen 1938 ihre Heimat: Fried auf der Flucht vor Hitler in Richtung England, Celan zum Studium der Medizin nach Frankreich. Für beide wird es – von kurzen Phasen abgesehen – kein Zurück mehr in den deutschen Sprachraum geben. Denn beide sind Opfer des faschistischen Rassenwahns: von Celan kommen die Eltern von Fried der Vater und die nächsten Verwandten in Lagern um. Damit ist die traumatische Erfahrung ihrer beider Leben genannt, damit ist auch ihr Weg zur Literatur, die Entscheidung zum Schreiben ursächlich vorgezeichnet. Beide bleiben dabei auch im Ausland der deutschen Sprache treu, und beide finden im Gedicht die alleinige Form für ihre Inhalte.
Auch in diesen Inhalten sind Celan und Fried aufs engste verwandt, denn sie haben sich ihr Thema nicht in freier Wahl angeeignet, sondern sie sind von ihm – mit dem Pathos der Bibel gesprochen – auserwählt worden: Beide Lyriker stehen im Bann und in der Haftung des Ewigen Juden. Das Erlebnis ihrer Jugend, die Grunderfahrung, daß Menschen mit organisatorischer Perfektion und technischer Raffinesse umgebracht werden, weil sie Juden sind, wirft beide Schriftsteller, obwohl sie Agnostiker sind, auf ihre Abstammung zurück, auch wenn sie diese zum Teil erst neu konstruieren müssen: „Zionist war ich nie, religiös nur kurze Zeit als Kind, mein Wirkungsbereich ist durch meine deutsche Muttersprache bestimmt“, erklärt Erich Fried 1974. Auf der anderen Seite:
„Juden, Personen, die im Sinne des Reichsbürgergesetzes zum Schutze des deutschen Blutes als Juden gelten“, sind fixiert und bestimmt durch den Blick der anderen, auch dort, wo es sich nicht um deutsches Blut handelt, unlösbar in ihren Geschicken aneinander gekettet.
So urteilte 1977 Jean Améry, der österreichische Jude aus Brüssel, bevor er – wie Celan – Hand an sich legte.
Nichts vielleicht hat vom Nationalsozialismus so zäh überlebt wie die Zwangs-Internierung der Juden, auch wenn die Lagergrenzen nach innen verlegt wurden. Von diesem gemeinsamen Trauma aus, das in höchstem Maße individuell ist und überpersönlich zugleich, werden die schroffen Gegensätze zwischen Erich Fried und Paul Celan erst wahr. Die radikale, innig brüderliche Unversöhnbarkeit hat sich nach außen in zwei oppositionellen Literaturprogrammen versachlicht.
II
Die literarischen Karrieren von Celan und Fried verlaufen in zwei Kurven, die sich um die Mitte der sechziger Jahre kreuzen. Obwohl Fried seit 1944 sechs Gedichtbände veröffentlicht hat ist sein Name bis 1966 nur einem kleinen Kreis von Lyrik-Lesern ein Begriff. In diesem Jahr erscheint – zum ersten Mal bei Klaus Wagenbach, dem Fried bis heute treu geblieben ist – die Sammlung und Vietnam und, die Erich Fried mit einem Schlag in das helle Licht öffentlicher Auseinandersetzung stellt. Von den einen als „platte Agitproplyrik“ heftig abgelehnt, werden diese Gedichte von einer politisch sensibilisierten Jugend leidenschaftlich begrüßt und gefeiert: so als habe es zuvor in Deutschland keine Gedichte gegeben. Frieds neuartige Verse lassen alle Wort-Erlesenheit hinter sich. Die Sorge um Reim, Rhythmus und Wohlklang wird von der Sorge um das vietnamesische Volk abgelöst, das Fried unter den amerikanischen Bomberflotten von seiner „Endlösung“ bedroht sieht. Die Identifizierung mit den Opfern durchbricht die Indirektheit der metaphorischen Rede, sie spricht im Klartext:
In Vietnam schlägt das Herz von Deutschland.
Es ist, als habe Fried mit diesen Versen das Zauberwort des neuen Gedichts getroffen. In dieser Lyrik, urteilte Harald Weinrich 1977 aus dem Abstand eines Jahrzehnts, „entstand das politische Gedicht wieder und zugleich mit ihm der Widerstand der Schreibenden gegen die Staatsgewalt jenseits der Ozeane und im eigenen Land“.
Das unverdeckte Aussprechen zeitgeschichtlicher Ereignisse, das sich in der deutschen Lyrik-Tradition beinahe nur auf Bertolt Brecht berufen kann, zerstört das Tabu der Anspielung, der Verschlüsselung, der hermetischen Verdunkelung, die zur Doktrin des westdeutschen Nachkriegs-Gedichts geworden war (unter verhängnisvoll einseitiger Auslegung von Gottfried Benns Transzendental-Poesie). Unter diesem Einbruch der Direktheit in den Vers geriet die westdeutsche Lyrik in ihre bis dahin tiefste Krise.
Über den formalen Experimenten der konkreten Poesie schlossen sich die Akten. Eugen Gomringer, ihr produktivster Vertreter, bekannte mit polemischen Rückzugs-Gestus, er könne kein Gedicht über Vietnam schreiben, da ihn das t in diesem Wort störe. Hans Magnus Enzensberger, der zusammen mit Günter Grass und Peter Rühmkorf am entschiedensten gegen die „saccharine Feierlichkeit“ (Rühmkorf) und die „erzwungene Preziosität“ (Höllerer) des Nachkriegs-Gedichts in Westdeutschland angeschrieben hatte, hielt es an der Zeit, nun mit dem Schreiben von Gedichten erst einmal Schluß zu machen. Was er und viele seiner Kollegen auch beherzigten. Und Paul Celan?
Paul Celan, dem Sänger des Nichts, Büchner-Preis-geehrt, dem Hohenpriester des ,absoluten Gedichts‘, dicht am Rande des Verstummens angesiedelt – und wie die weihevollen Umschreibungen seiner gelehrten Exegeten auch immer hießen –, ihm blies mit einemmal hart der Wind ins Gesicht. Diesen Umbruch nahm Celan im Titel seines Gedichtbandes von 1967, Atemwende, metaphorisch andeutungsweise auf, auch wenn die Interpreten darin immer noch nichts anderes erkennen wollten als die „paradoxe Zone des Medusenblicks und des Absurden“ (so Beda Allemann).
In diesem Band Atemwende findet sich auch das Gedicht „Fadensonnen“, dem Erich Fried 1972 sein paraphrasierendes Gegen-Gedicht widmete. Die letzten Verse dieses Gedichts, „es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen“, wendete der streitbare Kritiker Helmut Mader zu der heftigsten Attacke, die bis dahin auf Paul Celan in der literarischen Öffentlichkeit geritten worden war. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überschrieb Mader seine Besprechung mit der polemischen Frage „Lieder zu singen jenseits der Menschen?“ und klassifizierte dann Celans artistischen Nihilismus als hohle, privatmythologische Unerheblichkeit.
Ist Celans Poesie am Ende? […] Bleibt Celan nur noch die kommunikationslose Isolierung, die seine Verse andeuten „… es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen“?
Auf Maders Forderung: „Einmal muß die dauernde Infragestellung des Gedichts an der Grenze zur Sprachlosigkeit zu Konsequenzen führen“, gab Celan mit seinem Freitod 1970 in Paris seine letzte Antwort. Mit dieser Entscheidung hat Celan die Haftung für sein lyrisches Werk übernommen, so radikal und ehrlich wie einst Arthur Rimbaud. Deshalb gehört Celans Tod in der Seine ebenso untrennbar zu der Geschichte seiner Wirkung wie der tödliche Verkehrsunfall von Rolf Dieter Brinkmann 1975 in London. In der hektischen Konjunktur der Literatur-Moden gerät es manchmal aus dem Blick, daß Schreiben etwas mehr bedeutet als der virtuose Umgang mit schönen Worten.
III
Vor der Erfahrung dieses Todes schreibt Erich Fried das Gegen-Gedicht zu Celans „Fadensonnen“: als ehrenden Nachruf auf den feindlichen Bruder ebenso wie als Bekräftigung der Gegnerschaft auch über den Tod hinaus. (Ein vergleichbar radikaler Versuch, „Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback“, wird Frieds anti-hermetischen Lyrik-Begriff 1977 in die Randzone der Kriminalität manövrieren. Fried wird damit – sicher ungewollt – den Beweis erbringen, daß nicht nur die extreme Verschlüsselung der Rede, sondern auch ihre schrankenlose tabu-verletzende Offenheit gleichermaßen aus der Gesellschaft herausführen kann. Die Radikalität beider Positionen illustriert noch einmal jene Getto-Situation, in die die beiden jüdischen Autoren mit dem Auschwitz-Trauma immer wieder zwanghaft hineingeraten.)
Die Methode des „Gegen-Gedichts“ hat Fried zuerst auf seine eigenen lyrischen Arbeiten angewendet. 1968 bereitet er die Herausgabe der vergriffenen Sammlung seiner Gedichte von 1958 vor. Diese alten Arbeiten, die ihm selbst fremd und fragwürdig geworden waren, mochte der Autor jedoch nicht ohne weiteres aus der Hand geben. „Beim Wiederlesen wurde mir klar, wie sehr ich mich seither geändert habe, aber auch, daß ich nicht nur deshalb und nicht nur aus ästhetischen Gründen anders schreibe, sondern mehr noch weil die Zeit, die sich auch in Gedichten spiegelt, nicht mehr dieselbe ist.“ (Mit einer entsprechenden Begründung hatte Fried im Februar des gleichen Jahres 1968 seine Mitarbeit bei der BBC als Kommentator des „German Soviet Zone Program“ – seit 1952 – aufgegeben.)
Die Zeit seither zwang zu neuen Gedanken, zu neuem Formulieren.
Gleichwohl wollte Fried sich nicht aus der Verantwortung für seine frühen „versponnenen“ Gedichte entlassen, sondern er fiel ihnen mit neuverfaßten Gegen-Gedichten ins Wort. In ihnen schlug sich für den Lyriker das „Zeichen einer Befreiung von jener Flucht und Hoffnungslosigkeit“ nieder, „die in vielen der alten Verse den Ton angab, so daß sogar Auflehnung und Protest oft bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt waren“. Befreiung von der Flucht heißt dann programmatisch auch der Titel der Sammlung von 1968, die die alten Gedichte mit ihren neuen Entgegnungen an den Tag brachte.
Schon der Begriff des „Gegen-Gedichts“ macht deutlich, daß Fried Gedichte nicht mehr als überzeitliche Fixierungen verstanden wissen will, sondern sie in einem historischen Argumentationszusammenhang begreift und damit als überholbar, ja als „falsch“. Die Illusion einer end-gültigen Aussage von Lyrik wird damit von Fried willentlich aufgekündigt; Dichtung bekennt sich offen als Zeitdokument politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, dem Irrtum unterworfen bis zur Ungültigkeit, im genauen Widerspruch zu Gottfried Benns statischer Auffassung von Lyrik, wie er sie 1951 in der Marburger Rede „Probleme der Lyrik“ formuliert hatte:
Das absolute Gedicht braucht keine Zeitwende, es ist in der Lage, ohne Zeit zu operieren, wie es die Formeln der modernen Physik seit langem tun.
Sichtbar wird an dem Begriff „Gegen-Gedicht“ ein zweites Moment anti-hermetischer Poesie. Im Gegensatz zu Paul Celan und den meisten Lyrikern seiner Zeit ist Erich Fried kein Poeta doctus. Seit er als siebzehnjähriger Gymnasiast den deutschen Sprachraum verlassen mußte, hat er sich in London als Arbeiter, Chemiker, als Bibliothekar und – die längste Zeit – als Journalist durchgeschlagen. Auch heute, da Fried sich als ein auflagenstarker Lyriker mit einer eigenen Sprache längst durchgesetzt hat – bis 1981 sind beinahe zwanzig Gedichtbände von ihm erschienen –, fehlt von ihm immer noch eine theoretische Grundlegung seines Schreibens. Wenn man daher versuchen will, Frieds Selbstverständnis als Lyriker zu rekonstruieren, ist man allein auf seine Gedichte angewiesen. Hier gibt es nicht nur Verse, die sich mit der Tradition auseinandersetzen (zustimmend zu Brecht, absprechend gegen Benn), hier finden sich auch Bezugnahmen auf zeitgenössische Kollegen und Richtungen (neben Celan Enzensberger, Grass, Heißenbüttel, Karsunke; Naturlyrik, konkrete Poesie) in anerkennendem oder polemisch abweisendem Ton, wie auch Gedichte, in denen Fried diese Kollegen in parodierender Absicht imitiert oder Collagen mit Zitaten aus ihren Arbeiten herstellt. Als 1973 in Graz über Literatur theoretisiert wurde, zog sich Fried wiederum auf das Gedicht als sein ureigenes Medium zurück:
Jeder sollte einen 20 Minuten langen Diskussionsbeitrag bringen. Ich schrieb stattdessen einen Gedichtzyklus, als solidarische Kritik und Erörterung größerer Möglichkeiten.
Dieser Zyklus „Zweifel an der Sprache“, 1974 in dem Band Gegengift abgedruckt, ist bis heute als Frieds eigentliche ,Ars poetica‘ anzusehen.
„Zweifel an der Sprache“ denkt das Lord-Chandos-Syndrom, das zum Kennzeichen jeden modernen Dichtens geworden ist, in politischen Begriffen weiter. Fried charakterisiert Sprache darin als fragwürdigen „Doppelagenten“, und das ist Grund genug für ihn, an Sprache als an ein unersetzbares Verständigungsmittel zu glauben und damit den Zweifel an ihn ruhn zu lassen. Der „Zweifel an der Sprache“ wird von Fried nicht an den Punkt theoretischer Folgerichtigkeit vorangetrieben, wo nur noch die Alternative des Geschwätzes oder des Schweigens harrt – möglicherweise jene „Lieder jenseits der Menschen“ im Sinne Celans –, sondern er wird unter Berufung auf das Allereinfachste, den Common sense der Vernunft, den Fried sicher dem pragmatischen Genius der Angelsachsen entlehnt hat, zum Stillstand gebracht, im Sinn des Hegel-Satzes:
Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an; beides ist in Wechselbestimmung:
Aber wer zweifelt
an dem Hilferuf
an einem Schrei
an Worten wie „DU“ und „DU FEHLST MIR“?
Wer zweifelt an einer Sprache
die sagen kann
„Ich habe Hunger“
oder „Ich habe Angst
vor dem Altwerden“
oder „Ich will noch nicht sterben“?
Oder wer zweifelt an den Worten
„Militärputsch in Chile“
und an den Worten „Verhaftete werden gefoltert“
und an den Worten „Erschossene werden verladen
auf Hubschrauber und in den Stillen Ozean geworfen“?
Deutlich wird hier, wie Frieds Berufung auf das unbestreitbare Allereinfachste – einen Hilferuf, das Wort „Du“ – nahtlos übergeht auf gar nicht allereinfachste, höchst komplexe politische Tatbestände (wie den Sturz der Regierung Allende in Chile). Deutlich wird, daß für Fried die Situation des politischen Opfers zu seinen menschlichen Grunderfahrungen gehört, die er nicht bereit ist an intellektuelle Zweifelsucht zu veräußern. Hier schneidet die Authentizität selbsterlebten Leids dem „Zweifel an der Sprache“ barsch das Wort ab. Hier ist für Fried der Grenzpunkt erreicht, an dem er sich und seinem Leser den Zweifel verbietet, weil er hinter der sprachlichen Skepsis politisches Obskurantentum am Werk wittert. Hier ist für ihn der Ort, wo das einfache Wort sich aufklärend zu behaupten hat. In ebendieser „Zweifelsfreiheit“ sieht Peter Rühmkorf die aufklärende Wirkung gesichert, die Frieds Gedichte beim Leser auslösen:
Die Reaktionen des Lesers sind dabei vergleichsweise einfach. Die schritt- und zeilenweise vorangetriebene Aufklärung bis hin zum erlösenden Aha-Erlebnis ist von jedem halbwegs funktionierenden Verstand leicht nachzuvollziehen. […] Die im Gedicht beschlossene Zweifelsfreiheit läßt sich jederzeit weitervermitteln, die Erleuchtung sich in Zeitkritik umsetzen, die Betroffenheit objektivieren und auf Distanz bringen. Kurz, der vom Gedicht beabsichtigte Aufklärungsvorgang läßt wohltuend entqualmte Köpfe zurück, beinah schon abgeklärte, die einen schwelenden Konflikt für ,ausdiskutiert‘ erachten. (Die Zeit, 10. März 1978.)
Energisch weist Fried deshalb auch das Sokratische Pathos des Nichts-Wissen-Könnens als intellektuellen Eigendünkel zurück – in dem Gedicht „Beschwerde des Meletos und Lykon“ (Unter Nebenfeinden, 1970). Denn wer behaupte, nichts wissen zu können, müsse immerhin einen Begriff von „Nichts“ und von „Wissen“ haben. Fried sieht darin entweder Blindheit oder ein freiwilliges Kapitulieren vor der politischen Mißbrauchbarkeit intellektueller Skrupel durch die „Großen Vereinfacher“ der Tat. Ein Mann wie Sokrates „vergiftet die Jugend / Der Schierling heilt sie von ihm“.
IV
Mit diesem unerbittlichen und kampfbereiten Votum Frieds gegen das poetische Schweigen als politisches Ver-Schweigen endet der notwendige Umweg der Interpretation, der uns jetzt vor den einfachen Zeilen von Erich Frieds lyrischer Celan-Paraphrase entläßt.
Die schwere Bezichtigung eines „furchtbaren Irrtums“ setzt ein mit dem lockeren Spiel von Metaphern, die aus Celan in leicht parodierender Absicht herausgelesen sind, gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt („trinkend“ aus der berühmten „Todesfuge“, „bitter“ aus „Zähle die Mandeln“, beide von 1952). Angesichts dieses noch in seinen Andeutungen sperrigen „Sprachgitters“ aus Celanschen Dunkelheiten entfaltet Fried jetzt seine Gegenposition. Vor der Klarheit dieser Rede kommt die Arbeit des Interpreten zur Ruhe, und so fordert es auch das anti-hermetische Programm Erich Frieds. Das Gedicht „Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan“ versteht sich von selbst. Es braucht seinerseits keine Paraphrase, die die pointierten, aber von jedem „halbwegs funktionierenden Verstand leicht“ nachzuvollziehenden Formulierungen im Erklären nur abflachen und breittreten könnte.
Michael Zeller, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982
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