– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Einen jener klassischen“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Le Chant du Monde. –
ROLF DIETER BRINKMANN
Einen jener klassischen
schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon
ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer
dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe
ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment
Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,
die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.
In drei lockeren Schritten kreist das Gedicht ein alltägliches Wunder ein. Der Anlaß: unvermutet regt sich an einem von der Natur und der Zivilisation doppelt benachteiligten Ort ein Leben. Im August, jener Jahreszeit, die schon bei Gottfried Benn als Zeit größter Einsamkeit erscheint, beim staubigen Ausverkauf des Sommers, am schäbigen Rand der Großstadt, dem Gastarbeiter-Asyl, einem technokratischen Zeitmaß unterworfen („kurz nach Laden / Schluß“), drängt Musik heran, die ziehenden Sehnsuchtsrhythmen des Südens, einer „jener klassischen schwarzen Tangos“, „klassisch“ in der Bändigung „schwarzer“ Trauer auf dem Grund einer dunklen, nicht zu bändigenden Lebensfreude, wie sie anscheinend nur der mediterrane Raum kennt. Das Blau des Mittelmeers ist in der deutschen Vorstadt schwarz geworden. Das ideale Hellenentum Hölderlins vertreibt in Köln und anderswo Souflaki, Schafskäse und Retsina und borgt sich von dem Lande Lorcas den Tango, um seinen deutschen Gästen auch akustisch die Fremdheit um die nächste Straßenecke zu garantieren.
Und dennoch: Selbst in dieser Ersatzwelt des Sentimentalen strahlt ein wahreres Leben augenblickshaft auf. Denn hier, am Rand einer denaturierten Natur und einer entfunktionalisierten Zivilisation, „hier, beim Hindurchgehen durch die stillen, liegengelassenen momentanen Wildnisse, ist jedes wieder zufällig geworden und zeigt auch, im Negativ, das Zufällige dessen, was, etwas weiter entfernt, im Supermarkt eines der neuen Hochhäuser sinnnvoll dekoriert ist“ (so Brinkmann an anderer Stelle): hier, im Staub der Vorstädte, treibt der Zufall dem modernen Lyriker seine poetischen Bilder zu.
In einem zweiten Schritt der Versuch, den Augenblick des „Wunders“ zu fassen, die Unterbrechung der geregelten Trostlosigkeit: ein Stillstehen, Atemholen, ein Moment der Besinnung in dem von Ladenschlüssen und Jahreszeiten bestimmten Lebenslauf des einzelnen. Diese Zeit wird gestaut durch den Verzicht auf Verben; nur Substantive werden aufgewendet, um sich gegen die „Normalzeit“ zu stemmen, um dem Moment jenseits des objektiven Zeitmaßes die Illusion von Dauer zu verleihen.
Der letzte und entscheidende Schritt: schnell muß der Chronist zu Werk gehen – und damit ist er wieder dem Diktat der Zeit unterworfen –, um das Glückserlebnis des Zufalls schriftlich zu beglaubigen. Das Geschehen wird in Sprache eingesargt, mit einer auf Klarheit und Kürze dressierten Wort-Kunst mumifiziert und ins Museum eines Buches gestellt, zur doppelten Erinnerung: an den Augenblick „in der dunstigen Abgestorbenheit Kölns“ in den frühen siebziger Jahren und – säkularisierte Vorstellung vom Leben nach dem Tode – als Epitaph mit dem Namen des Autors, der vor diesem Augenblick schreibend verstummte. Mehr kann die Literatur nicht, und es ist selten, daß sie dies wenige erreicht. Kurz nach der Veröffentlichung dieses Gedichts verunglückte Rolf Dieter Brinkmann tödlich.
Michael Zeller, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979
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