HOFBENÜTZUNG (MÄRZ)
Unter dem Marshof öffnet nachtwandlerisch der
aaaaaPrunus
Zu Saint–Germain die Wegaknospen
Und schmeichelt deiner Lyra bis zum Blütenschein
Der Wunsch des Gedichts ist die Architektur
aus dem dichterischen Werk Michel Deguys ist in enger Zusammenarbeit mit dem Autor entstanden. In den roten Plüschsesseln des Hotels Lutetia, in einem Hinterzimmer des Café de Flore oder in seiner büchergesäumten Wohnung in Saint–Germain–des–Prés hat mir Deguy stundenlang den Doppelsinn bestimmter Ausdrücke in seinen Texten erläutert, dabei immer wieder auf Fragen der Auswahl zurückkommend, auch wenn er grundsätzlich meine Entscheidungen respektierte. Ich bewunderte die Gelassenheit, mit der er manche seiner Texte für nichtig erklärte und bei anderen ganze Strophen strich, um – zwanzig, dreißig Jahre nach der Erstpublikation des Gedichts – den Leser und zuerst mich, den Übersetzer, auf das Wesentliche zu lenken, und ich bewunderte die Liebe, mit der er an anderen Strophen festhielt. Erleichtert war ich, als er auf meine Frage nach der heute von fast allen, meist ohne weiteres Nachdenken, geforderten Zweisprachigkeit von Gedichtbänden abwinkte. Der Möglichkeit, eine größere Zahl von Texten in das Buch aufzunehmen, gab er spontan den Vorzug vor dem Angebot an den Leser, Original und Übersetzung miteinander zu vergleichen. Außerdem spürte ich, daß Deguy von der Notwendigkeit eines kreativen Vorgehens des Übersetzers überzeugt ist; anders lassen sich nämlich seine komplexen Schöpfungen überhaupt nicht bewältigen. Und die Einsprachigkeit hält die Aufmerksamkeit des Lesers ganz bei der Schöpfung des Übersetzers, der zwar dem Original „gerecht” werden, aber auch seine literarische Leistung gewürdigt sehen will.
In einem Essay über „Dichtung heute“ nennt Deguy Gründe, die gegen Anthologien sprechen: die Reduktion oft sehr komplexer Gedichtzyklen auf einige wenige Texte wirke notwendigerweise vereinfachend und sei daher eine Bedrohung für die Dichtung. Es gebe aber auch, so Deguy, Argumente zu Gunsten von Anthologien. In gelungenen Gedichten sei das Ganze in den Teilen enthalten; das Fragment öffne sich wie ein Fenster auf das Ganze. Außerdem sei die kurze Form, die Beschränkung und Konzentration auf eine einzelne Seite, dem Wesen des Gedichts angemessen. Dieses Argument erinnert an eine Passage aus dem Zyklus An das nicht Endende, dessen Seiten im Original nicht nummeriert sind:
Es gibt keine ordnende Reihe. Alles beginnt auf jeder Seite neu; alles endet auf jeder Seite.
Dieselbe Feststellung kann für die vorliegende Auswahl gelten, die darüber hinaus jedoch die Absicht verfolgt, dem deutschsprachigen Leser wenigstens eine Ahnung von Deguys Arbeit in Zyklen und von den Reflexen zu vermitteln, die zwischen den einzelnen Texten aufblitzen. In den meisten Fällen – nicht im Fall von An das nicht Endende − stützt sich die Auswahl dabei auf eine vorhergehende Auswahl, die Michel Deguy selbst für die dreibändige Ausgabe seiner Gedichte in der Reihe Poésie/Gallimard vorgenommen hat.
So verspielt und humorvoll Deguy als Dichter erscheint, ist er doch auch ein poeta doctus, dessen Werken man nicht auf naive Weise begegnen kann, indem man sie einfach nur „auf sich Wirken“ läßt. Sie fordern dem Leser eine kontinuierliche Denkanstrengung ab und legen ihm mitunter auch nahe, bestimmten Namen und Termini nachzugehen, die in den Originalen und folglich auch in der Übersetzung nicht weiter erklärt werden. An dieser Stelle möchte ich lediglich zwei Informationen geben, Anspielungen betreffend, die außerhalb des französischen Sprachraums nicht ohne weiteres verständlich sind. Das Wort gisants, das Deguy als Titel für mehrere Gedichte und auch für ein Buch verwendet hat, verweist einerseits auf steinerne Liegefiguren, die auf älteren Grabmalen anzutreffen sind und den Verstorbenen darstellen, kann aber auch in einem allgemeineren Sinn – als „Liegende, Ruhende“ – verstanden werden. Im Gebrauch Deguys changieren die Bedeutungsnuancen. Und, dies die zweite Information, notwendig gemacht durch die Grenzen des Übersetzens (denen immer Chancen korrespondieren), die zweite Strophe des Gedichts Alarm in den Liegenden enthält eine im Original unüberhörbarer Anspielung auf Mallarmés berühmten Coup de dés: „il dé / Nomme il dé / Çoit dé / Vie“, schreibt Deguy, und man hört förmlich die Würfel fallen.
Michel Deguy unterscheidet in seinem Schaffen drei verschiedene Genres: das Versgedicht, das Prosagedicht (auch „Prosem“ genannt, in Abgrenzung zu Francis Ponges „Proem“) und die Gedankenprosa. Daß in einer Lyrikreihe wie den Silben das erstgenannte Genre privilegiert wird, bedarf keiner weiteren Erklärung. Tatsächlich ist die Abgrenzung zwischen den drei Genres aber schwierig; Deguy praktiziert auch in dieser Beziehung ganz bewußt eine Ethik des Zögerns. Das gedankliche Forschen und Experimentieren am Leitfaden der Sprache, die Auslotung der Grenzbereiche zwischen Sinn und Unsinn, die Zuspitzung von Gegensätzen und die daraus resultierende Verfeinerung der Wahrnehmung zeichnet aber nicht nur Deguys Gedankenprosa aus, auf diese poetischen Verfahren stoßen wir in allen drei genannten Genres. „Die Paradoxa oxymoronisieren“, lautet eine der Maximen, deren sich Deguys gern befleißigt. Er führt das (oft genug festgefahrene) Denken in die Krise, sucht die Nähe des Paradoxen, wagt sich in die scheinbaren Sackgassen der Aporie, die sich dann in überraschenden Labyrinthen fortsetzen. Das Paradoxe beginnt zu schillern, die Gegensatzpaare lösen sich aus ihrer Erstarrung, die abgestandenen Wendungen gewinnen neues Leben. Eine solche Entgrenzung der Bedeutungsfelder stellt besondere Ansprüche an den Übersetzer, der das Feuerwerk nicht immer sofort zünden kann. Er wird insgeheim nach anderen textuellen Gelegenheiten suchen.
Bei seiner Arbeit an der Sprache greift Deguy häufig auf die Techniken und das Vokabular der antiken Rhetorik zurück, die nie ganz obsolet geworden ist, weil sich die fundamentalen Möglichkeiten der Sprache über die Jahrtausende hinweg nicht geändert haben. Ein zentraler Begriff ist dabei die „Periphrase“, also die Umschreibung, denn Deguy geht davon aus, daß die Dinge der Vorstellung und Wahrnehmung mit Wörtern niemals direkt benannt, sondern nur umgangen werden können. Seine zugleich wortaufwendigen und knappen Texte stellen ein prekäres Gleichgewicht her zwischen zögerndem Ausdruck und entschiedener Definition. Manchmal realisieren sie auf diese Weise eine Unmöglichkeit: das Ende des Gedichts tritt vor seinem Anfang ein. Das alte Ideal der poetischen Verdichtung ist erreicht, wenn das Gedicht dem Paradoxon, also der De-finition des Infiniten, in seinem Sprachinnenraum eine Heimstatt schafft.
Aus alldem folgt, daß für Deguy die Beschäftigung mit dem Satzbau, den er nicht selten einer Zerreißprobe aussetzt, daß weiters die Untersuchung von Denkfiguren und die Verfolgung von im Text entfesselten, oft überraschenden Logiken sowie die sehr bewußte Gestaltung poetischer Rhythmen – auch wenn Andrea Zanzotto, einer der Bewunderer Deguys, meint, Deguys Prosagedichte würden den Rhythmus „fliehen“ – im Vordergrund steht, während er Bilder, Impressionen und Metaphern nur sparsam einsetzt. Nicht die Metapher, sondern der Vergleich ist für ihn von zentraler Bedeutung, daß jeu du comme-un, das Spiel des Wie in der differenzierenden Auseinandersetzung des Allgemeinen. Der Vergleich rückt bei ihm in die Nachbarschaft der Metonymie, er betreibt nicht Annäherung des Unterschiedlichen, macht das Fremde nicht vertraut, ist also keine Methode der Identifizierung, sondern dient der Entgrenzung, dem Umweg und Ausweg, der poetischen Flucht. Das Wort „Spiel“ ist dabei in seiner vielfachen Bedeutung zu verstehen, als Experiment und Methodologie, aber auch als absichtsloses lustvolles Ausprobieren des Möglichen. Daß Deguy Gedichte in ihrer Komplexität nicht weltlos sind, zeigten am deutlichsten der Zyklus An das nicht Endende, der nach dem Tod seiner Frau entstanden und unter anderem eine Dekonstruktionen von „Trauerarbeit“ ist, sowie Du sollst nicht töten, der letzte Text dieser Auswahl, der die Tragweite eines allzu bekannten, daher oft vergessenen ethischen Allgemeinplatzes ausmißt.
Leopold Federmair, Vorwort, 2008
des wichtigsten französischen Lyrikers der Gegenwart.
Michel Deguy gehört zu den herausragenden Vertretern einer Wortkunst, die traditionelle Gattungsbezeichnungen sprengt, freie Verse stehen neben Reflexionen in Prosaform. Deguy ist ein Spieler: die Auslotung des Grenzbereichs zwischen Sinn, nicht-Sinn und Unsinn, die Zuspitzung von Gegensätzen, die Suche nach dem Paradoxen bestimmen sein Werk ebenso wie philosophische Fragestellungen und Grundfragen über das Sein und den Tod. Der vom Schriftsteller Leopold Federmair übersetzte Gedichtband „Gegebend“ versammelt zum ersten Mal auf Deutsch Gedichte Deguys aus vier Jahrzehnten: aus den Zyklen „Oui dire“, „Donnant Donnant“, „Gisants“, „A ce qui n’en finit pas“ und verstreute Gedichte.
Folio Verlag, Ankündigung, 2008
zeichnet sich bereits in seinen ersten Gedichtbänden – Fragments du cadastre (Katasterfragmente, 1960) und Poèmes de la presqu’île (Gedichte von der Halbinsel, 1962) – durch eine große reflexive Unruhe aus, die jenen Aspekt des Daseins und der Welt an der Wurzel zu fassen versucht, der durch den Akt des Schreibens, verstanden als Akt der Schöpfung und der Erkenntnis, in die Welt und zur Existenz gebracht wird. Deguy hat in seinem Schaffen stets eine Vielzahl intellektueller, kritischer und philosophischer Interessen miteinander zu verbinden gewusst, außerdem spielte und spielt er im kulturellen Leben Frankreichs eine wichtige Rolle, jahrelang auch als Berater im Verlag Gallimard, wie sein Buch Le comité (1988) bezeugt.
Im Verlauf seines Schaffens trat die Neigung Deguys immer deutlicher hervor, jene Wege zu beschreiten, die im schöpferischen Prozess eine Verknüpfung der koexistierenden Momente von Reflexion, Erfindung und Wahrnehmung bedingen, soweit, bis in den Reifenwerke in ihren reifen Werken wie Gegebend (1981) und Liegende (1985) eine schwindelerregende Verdichtung von Tönen und Tonlagen erreicht ist, worin sich begriffliche Überlegung und Gefühlsausdruck, Einbildungskraft und Selbstanalyse des gleichsam verdoppelten Erzählsubjekts, das ja immer auch Agent all dieser Verfahren ist, überlagern und miteinander verschränkten…
Ich bin kein Kritiker, nicht einmal ein guter Leser, mein Gedächtnis bewahrt nur wenig von einem langen Satz; deshalb lassen sich meine eigenen Dichtungen auch nicht im Gedächtnis behalten, sie vergehen im Augenblick, in dem sie entstehen. Das war gestern wie auch heute, im Alter, so. Von einem Dichter wie Deguy zu sprechen, fällt mir schwer, weil die Spannweite seiner Neugier so groß ist, daß er ständig unterwegs sein muß, wie ein von der Tarantel Gestochener, aber dies mit Freude, ein Verfolger, der es ablehnt, etwas zu verfolgen: ich glaube, es fiele mir schwer, in seinem Windschatten zu bleiben…
Andrea Zanzotto, Zu Michel Deguys „Liegende“.
– Michel Deguy, der gelehrte Pariser Dichter, stellt sich mit einer Werkauswahl erstmals dem deutschen Publikum vor. –
Gegebend lautet der Titel des ersten Gedichtbands des französischen Lyrikers Michel Deguy in deutscher Sprache. „Gegebend“ als verdoppeltes Partizip, dem der Gegenwart und Vergangenheit – ein Geben und Nehmen: schöpferische Nachdichtung des Originaltitels Donnant donnant. Bezeichnet ist damit die grundsätzliche Haltung Deguys in Hinblick auf französische und internationale Schreibtraditionen, aber auch auf Begegnungen mit Menschen, Dichtern und Orten – wobei die Weltläufigkeit des heute fast Achtzigjährigen in Frankreich allbekannt ist.
Der Auswahlband, in enger Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer zustande gekommen, versammelt Gedichte und lyrische Prosa aus gut vierzig Jahren. Er spiegelt fast die gesamte, ein halbes Jahrhundert währende Laufbahn des auch im Alter nicht minder produktiven und innovativen Dichters wider. Zusammengestellt und übersetzt wurden diese Texte von Leopold Federmair, der sich zuvor durch eine andere Tour de force hervorgetan hatte, nämlich die Übersetzung des umfangreichsten Buchs von Francis Ponge, Malherbarium. Dieser 2003 erschienene Band enthält nicht nur Fragmente von Ponge, sondern zahlreiche Gedichte des französischen Klassikers François Malherbe, der bis dahin nicht ins Deutsche übersetzt war.
Unternehmungen dieser Art, freizügige, ja ausgelassene Beerbungen klassischer Dichter findet man auch bei Deguy, der gern zwischen dem essayistischen, philosophischen und lyrischen Fach changiert und dabei Mischformen zwischen Poesie und Prosa entwickelt. Zu nennen wäre etwa der große Essay La machine matrimoniale (1981) über Marivaux, einen der wichtigsten Dramatiker der französischen Aufklärung, oder Tombeau de Du Bellay (1973), ein Buch, das gleichsam eine Art Poetik darstellt. Umgekehrt erwachsen viele Poeme Deguys aus der Lektüre so unterschiedlicher Autoren wie Du Bellay und Rimbaud, Baudelaire und Bonnefoy.
Für andere seiner Gedichte waren die Begegnungen mit Lyrikern verschiedenster Länder entscheidend; ein schönes Beispiel hierfür ist das dem Serben Vasko Popa gewidmete, seinem spielerischen Charakter entsprechend schöpferisch übersetzte Gedicht „Pannonie“. Lyrik dieser Art ist eine hervorragende Stätte der Begegnung, des vielschichtigen Aufeinandertreffens von Redeweisen, ein stetes Unterwegssein zu Orten, Menschen und Sprachgebilden.
Zahlreiche Deguy-Texte sind mit Ortsangaben versehen: Annapolis, Western Australia, 45° West 60° Nord, oder das 6. Arrondissement in Paris, also die Gegend, in der Deguy geboren ist und heute noch lebt. Deguy ist ein typischer homme de lettres, ein gelehrter Dichter, dessen Texte eine eigene, gegenwartsverankerte Sinnlichkeit entfalten; ein Akteur und zugleich Kritiker der Pariser Literaturszene, in der er als Verlagsberater, Universitätslehrer und Herausgeber der Zeitschrift „Po&sie“ seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielt. Seinen Bruch mit dem Verlagshaus Gallimard besiegelte der Roman Le comité (1988), der mit dem Lektürekomitee dieses Hauses, eigentlich das geheime Machtzentrum des französischen Literaturbetriebs, abrechnet.
Vor kurzem erschien in Paris das große Cahier Michel Deguy, in dem auch sein erster Gedichtband, Les meurtrières, wieder abgedruckt ist. Dieses Buch war 1959 auf dem Literaturmarkt nur flüchtig präsent, weil dessen Verleger, Jean Oswald, aus der damals in Algerien aktiven französischen Armee desertiert war, was zur Folge hatte, dass alle Bücher des Verlags beschlagnahmt wurden. Von Les meurtrières bis zu den zuletzt erschienenen Werken Spleen de Paris und Desolatio hat Deguy ein vielfältiges, reiches Werk geschaffen, das sowohl im Biographischen wurzelt wie gleichzeitig die geistige Auseinandersetzung sucht.
Dem engagierten Übersetzer ist es zu danken, dass einer der wichtigsten Vertreter der französischen Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nun auch auf Deutsch zugänglich ist. Nicht zweisprachig, wie es ein stereotyper Grundsatz der Literaturkritik verlangt, dafür aber in großer poetischer Dichte, die den Originalen genauso eignet wie den Übersetzungen. Vielschichtige Werke wie jene Deguys verlangen nach schöpferischer Spracharbeit des Übersetzers, und beide, Original wie Übersetzung, wollen in ihrer jeweiligen Poetizität gewürdigt werden.
Wer des Französischen mächtig ist, kann sich immer noch die Originalgedichte besorgen, von denen viele im französischen Auswahlband bei Gallimard (Folio-Poésie) verfügbar sind.
sind wie Kompositionen Neuer Musik, atonale Kleinodien, in denen Melodien, Rhythmen und Montagetechniken einander ablösen, überlagern und in denen sich stets beides findet: Formbewußtsein und große klangliche Schönheit. Seine Gedichte sind wie in milchiges Licht getauchte Traumlandschaften, in denen der Halbschlaf hinter den geschlossenen Lidern schwebende Bilder gießt von „blauen Moränen im Abendgletscher“ oder von der Seine im Oktober, „eingelegt in elliptische Scherben, schmelzende Kiesel, zerriebenen Efeu, rosa umstrahlte Kakipflaumen“ – ein „Aufguß des Herbstes“. Und nicht zuletzt sind Michel Deguys Gedichte Sprachgärten, in denen so betörende Wörterblumen wachsen wie „langstielige Tränen“, „Vogel Blauzähler“, „Ährenangel“, „Kragenschlucht“ oder „Apfelbaumkastagnetten“. Anders als der zur selben Generation gehörende Philippe Jaccottet, der ein Sprachskeptiker ist, glaubt der 1930 in Paris geborene Michel Deguy an die Schöpfungskraft der Sprache: Seine Gedichte sind „Mysterienspiele des Wie“, wie er es einmal selbst bezeichnet hat. Was er darunter versteht, hat Michel Deguy folgendermaßen präzisiert:
Dichtung kann nur im Vergleich mit dem ausgesprochen (gedacht) werden, was sie benennt; sie ist wie; sie ist wie die Dinge, über die sie unversehens spricht, denn sie sucht in ihnen Gestalt.
Dichtung ist für Michel Deguy der ständige Versuch, sprachliche Analogien zu schaffen von dem, was ist, was der Dichter sieht, fühlt, denkt, wahrnimmt. Oder wie die Romanistin Sarah Bösch Michel Deguys poetischen Kernbegriff des „Sein wie“ einmal beschrieben hat:
Dichtung ermöglicht zwar keinen direkten Zugang zu den Dingen an sich, kann sich ihnen aber durch ihr rhetorisches und metaphorisches Potential vergleichend nähern.
Und weil die Dinge, die Sprache und das Denken in ständiger Bewegung sind, ganz wie die klackernden Anzeigetafeln an den Flughäfen der Welt, ist Michel Deguy es auch: Ein Wanderer, der in seinen Gedichten „den gefalteten Raum entfaltet wie ein auseinandergenommenes Kinderbuch“, immer der Wirklichkeit auf der Spur, auf der Suche nach sprachlichen Analogien.
Michel Deguy ist ein Lyriker, bei dem poetologische Reflexion und poetische Praxis eins sind – was nicht weiter wundert, wenn man weiß, daß er Philosophie studiert und sich eingehend mit Heidegger beschäftigt hat, bis 1999 als Universitätsprofessor für französische Literatur in Paris und darüber hinaus von 1989 bis 1992 Präsident des Collège International de Philosophie war, das sein Freund und früherer Klassenkamerad Jacques Derrida und er mitbegründet hatten, er Chefredakteur von Po&sie ist, der maßgeblichen französischen Zeitschrift für Lyrik, als Lektor bei Gallimard gearbeitet hat und unter anderem Heidegger und Paul Celan übersetzt hat. Daß seine Lyrik trotzdem nie verkopft ist, sondern funkelnd, voller Leben, Sinnlichkeit und Spaß am Experiment, davon kann man sich in dem von Leopold Federmair herausgegebenen und sehr schön übersetzten Band Gegebend überzeugen, dem ersten Buch überhaupt, das die Gedichte dieses neben Yves Bonnefoy wichtigsten französischen Lyrikers der Gegenwart auf deutsch vorstellt. Gegebend versammelt einen Querschnitt aus vierzig Schaffensjahren Michel Deguys, darunter drei zentrale Gedichtzyklen, die auch in der prestigereichen Poesie-Reihe bei Gallimard erschienen sind.
Michel Deguys lyrischer Kosmos war von Anfang an da, er findet sich schon in seinem ersten großen Zyklus „Hörensagen“ aus dem Jahr 1966: Die Beschreibung von Landschaften, Naturstimmungen, Farbtönen, von Liebe, sinnlichem Begehren und dem Tod, von Paris, der Seine und quirligem Großstadtgetümmel, von Gedankenbildern, Träumen und philosophischen Überlegungen. Ebenso die Arbeit mit den Genres des Versgedichts, des Prosagedichts und der Gedankenprosa, die bei ihm gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Genauso wie das Interesse an der Form und der Versuch, durch das Aufbrechen von Satz- und Wortgrenzen, die Erfindung von neuen Wörtern, die Integration fremdsprachlicher Begriffe, die Zuspitzung von Gegensätzen, die Arbeit mit Oxymora und Paradoxa die Welt auszudehnen, die Wahrnehmung zu verfeinern und der Sprache neues Leben einzuhauchen. Oder wie Michel Deguy es in einem Gedicht über einen Maler beschreibt: „Er beschwört die Form, um durch den Limbus des rohen Stoffs zu taumeln.“ Genau dies ist Gegenstand von Michel Deguys zweitem großen Zyklus „Gegebend“ aus dem Jahr 1981, in dem er sich voller Lust in den Stromkreis der Sprache wirft, sich ihrem Geist überantwortet und bis an ihre Ränder treiben läßt – ein Unterfangen, das der Arbeit des slowenischen Lyrikers Tomaž Šalamun sehr verwandt ist und mit dem Michel Deguy zu einer umgekehrten Vertreibung aus dem Paradies ohne jeglichen vorhergehenden Sündenfall gelangt: In dem Prosagedicht „Outis“ dehnt „das Bewußtsein sein Licht im Vakuum bis zu den ,realen‘ Grenzen des Sichtbaren“ aus und „vertreibt Gott aus seinem Eden“, „aus der grenzenlosen Sphäre des Denkens“, weil es das Sein mit Ihm nicht teilen kann.
Nach dem Bad im Whirlpool der Sprache wendet sich Michel Deguy in seinen nächsten Zyklen wieder eingängigeren Themen zu: In „Liegende“, Gedichten aus den Jahren 1980–1995, umkreist er elementare Erfahrungen des Lebens wie Liebe, Eros und Tod, Sehnsucht, Begehren und Schmerz in all ihren Schattierungen, wobei Liebe und Tod immer wieder eine Einheit bilden – und nicht nur, weil der französische Titel dieses Zyklus, „Gisants“, sowohl liegende, hingebettete Menschen bezeichnet als auch die liegenden Figuren auf Grabdenkmälern. Die Verschmelzung von Liebe und Tod wirkt auch fast so, als habe Michel Deguy den Tod seiner Frau vorausgeahnt, mit dem er sich in dem Zyklus „An das nicht Endende“ aus dem Jahr 1995 auseinandersetzt. Es sind Liebesgedichte voller Trauer und Schmerz, die vom Liebeskummer nach der unwiderruflichen Trennung sprechen, von den letzten zwei Nächten am Krankenhausbett, dem Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit und der Auflehnung dagegen: Denn „wir sind nicht gemacht, um zu sterben“. Das tief berührende Klagelied eines Mannes um seine Frau.
Michel Deguys Gedichte sind wie fremd klingende Musik. Sie sind von einem Zauber erfüllt, der von der klanglichen Schönheit seiner Sprache herrührt, von den „Mysterienspielen des Wie“, die die gewohnten Sehweisen durchbrechen und die Welt in ein ganz neues Licht tauchen, und vor allem auch von dem lustvollen Elan, mit dem Michel Deguy sich in den Fluß der Sprache wirft. Eine Vitalität, die viele jüngere Lyriker dagegen alt aussehen läßt.
Katharina Narbutovic, Westdeutscher Rundfunk, 3.8.2008
– Gedichte und Essays – hat der 1930 in Paris geborene französische Lyriker und Schriftsteller Michel Deguy seit 1959 veröffentlicht. Leopold Federmair hat mit Gegebend nunmehr eine erste Auswahl auf Deutsch vorgelegt. –
Als Gedichte wird man diese Texte nicht einfach bezeichnen könne, geht doch auch Michel Deguy von der Überzeugung der – mittlerweile an die hundert Jahre alten – Moderne aus, dass Gattungsunterschiede zwischen Prosa und Gedicht kaum mehr existieren. Wer wüsste noch, wo surrealistisch oder dadaistische Prosa aufhört und Lyrik beginnt, oder um ein zeitlich näheres Beispiel zu geben: Was schreibt Fridericke Mayröcker, wenn sie Prosa dichtet?
Erschaffung eines eigenen Kosmos’
Der 160-Seiten-Band hebt fast konventionell an.
Der Dichter im Profil
Der Dichter mit dem Winkelmaß von Körper Schatten auf den Schwellen
Der Dichter Gulliver der einen Winterbrombeerstrauch mit Hopkins’ Nadel nachzeichnet
In der die Satz-Form sprengende Eloge kommt dem Leser sogleich alle Vertrautheit an Weltbezug und Alltagssprache abhanden. Deguy geht es – un-metaphorisch gesprochen – um die Erschaffung eines eigenen, neuen Kosmos’, um eine poetische Kosmologie – wer diesen Raum betritt, dem ist die Rückkehr in den Alltag verwehrt. Das gilt auch für den Dichter selbst, der das Element wechselt und abtaucht: „Stell dir vor, ein Fisch sucht nach einem Fisch im Meeresdunkel“ heißt es da über seine eigene Arbeit anhand von Paradoxen, Anspielungen, und Vergleichen, alles zum sprechen zu bringen. „Die Fabeln sprechen Tieren gleich.“ Die demiurgische, weltschöpferische Tätigkeit mag dabei von durchaus Vertrautem, etwa einer Landschaft, ausgehen.
Der Weinberg kehrt unterm Grün zurück, das Blau gewinnt den
Himmel wieder, die Sonne erlischt in der Erde, das Rot wird höher
noch und verleibt sich die Felder von Crau ein. Die Farben befreien
sich von den Dingen und finden ihr Reich dicht und frei vor den
Dingen wieder, ähnlichem dem Lehm, der Adam vorherging.
Anleihen aus allem Möglichen
Deguy geht es wohlgemerkt nicht um Symbolismus, vielmehr entstehen mittels surrealer Bilder, Anleihen aus allem Möglichen, vor allem antiker Mythologie, von Fremdwörtern, Theoriepartikeln hermetischer Text-Körper, deren seitenlanger Zyklen-Charakter manchmal von romantischen Zeilen unterbrochen werden: Der Leser befindet sich dann gleichsam in vertrautem Gelände.
Diese Dame und ihr schönes Fenster
Ein asymmetrischer Engel mit Windrohrflügeln
sagt Gegrüßt seist du.
Mitunter wird man dabei aber auch gehörig in die Irre geführt.
Die Liebe ist stärker als der Tod sagtet Ihr
Aber das Leben ist stärker als die Liebe und
Die Gleichgültigkeit ist stärker als das Leben.
Kaum hat man sich im Mittelteil des Gedichts auf die sarkastische Beschreibung der Wandlungen einer Liebe im Lauf eines langen Ehelebens eingestellt – „Und Duschbad monatlich im Lethe-Fluß / Lackierter Trauer“ – da bewegt sich der Text in eine ganz andere Richtung.
Und ein stummer Greis in uns seit langem
Überlebt schmerzlos am Massengrab der Kinder.
Erst anhand der Unterschrift „Warschau” im nächsten Text-Teil glaubt man wieder zu wissen, worum es da geht: Massenmord.
Die Welt in Gedankenprosa
Deguy entfaltet in seinen lyrischen Gebilden Überlegungen zu Politik und Zeitgeschichte, er setzt sich mit Dichtung und Dichtern aller Generationen auseinander, gesteht humorvoll „weise“ Versäumnisse ein: Was er nicht gelesen hat, was er nicht gesehen hat, was er nicht gesagt hat; vor allem denkt er aber dichtend. Zugänglicher wird diese Welt in der sogenannten Gedankenprosa, meist halbseitigen Miniaturen. „Ende eines Nachmittags bei Annapolis“ beginnt vordergründig als kluge, ein wenig poetisch verbrämte Betrachtung zum Reisen:
Reise ist Erinnerung, aber woran, an das Sanfte der Sackgasse oder noch vieldeutiger an die wechselseitige Hingabe von Sanftmut und Sackgasse, von Rand und Umkehr.
In zügigen Schritten wird aus der Reiseerfahrung eine ekstatische Beschreibung absoluter dichterischer Gegenwärtigkeit – mehr noch, das Ganze wendet sich ins Theologisch-Religiöse.
Eine lichte Wolke überschattet sie. Rabbi, hier ist für uns gut sein. Sollen wir drei Hütten bauen? (…) Steht auf und fürchtet euch nicht.
Treffende Metaphorik
Michel Deguy, der sich ausführlich (auch übersetzend) mit Paul Celan und Martin Heidegger, einer Dichtung, die als ihr Programm das „Sich-aussetzen“ definiert hat, und einem Denken, das das „Wohnen des Menschen“ als „dichterisch“ verstanden wissen wollte, Deguy findet für jedes seiner Stücke an Denk-Prosa eine andere und neue stilistische Lösung. Da geht es – sozusagen thematisch – um eine von Technik beherrschte Welt, um weltumspannende Verhältnisse, um „Evolution“, um „Devisen“ oder um Flugzeuge. Allerdings kommt man dabei ins Staunen, mit welch konventioneller, geradezu altertümlicher, deshalb aber um nichts weniger treffender Metaphorik das ästhetisch vermutlich wichtigste Objekt des 20. Jahrhunderts in seiner Flugbahn beschrieben wird.
Die Flugzeuge kreuzen sich wie kriegerische Säbel.
(…) Toast auf Kassiope selbst und Deneb, zu Ehren unsere letzten Feuer! Ins Spitzentuch aus Telstar-Satelliten gehüllt so spielt die Erde russisches Roulette, eine Callgirl-Cassandra in Concorida Richtung Caracas oder Qatar.
Den mittlerweile – leichtfertig – vergessenen Kalten Krieg verkettet er zu einem „Judaskuss den Friedenskuss den Kuss“ oder er wagt sich an eine – wie es neudeutsch so schön heißt – „geopolitische“ Fragestellung.
Wird Amerika die Erde in seinen Traum ziehen, in seine Besatzungsschutz?
Beschwörung des Dichtens selbst
Natürlich fehlt in diesen Texten auch nicht die von allen Modernen ausführlich betriebene Beschwörung des Dichtens und des Gedichtes selbst. „Der Wunsch des Gedichts ist die Architektur“, heißt es einmal traditionalistisch, seine – des Gedichtes – aktuelle „Wahrheit“ wird anhand des Vergleichs mit dem Verfassen eines Briefes erklärt.
Wir nehmen von ihm (Anm.: dem Gedicht) eine wenig sichere Wahrheit an, die wir interpretieren müssen, während es die Wahrheit schont.
Wenn – dieser Maxime entsprechend – auch verborgen bleibt, worauf der Dichter hier wartet, das Geheimnis ist raumfüllend und die Gegenstände sind durchdringend erfasst.
Dieses Zimmer gleicht einem 100-Meter-Lauf vor dem Start; die ganze Luft ist angespannt; die Sehnen der Stühle, die Unterarme der Sessel, die Tischfersen, die Luftvorhänge, alles ist gespannt, alles ist gespannt in der Erwartung, dass die Klingel ertönt, deine Schwingung, ich spränge auf, wenn ich dich hörte; ich erwarte dich.
Liebe und Tod
Michel Deguys Texte verlangen ziemlich viel Aufmerksamkeit, ihre klare Dunkelheit gerät dennoch nie zu manierierter Überspanntheit oder Verschmocktheit, auch wenn sie sich allen pseudokritischen ästhetischen Klugredner, die das Lustvolle und Lustige sprachexperimenteller Texte so sehr hervorheben, radikal entgegensetzt. Man mag dieses Buch irritiert zur Seite legen, sogleich bemerkt man aber, dass man längst in seinen Bann geraten ist. Allein wegen der 28 Seiten des „An das nicht Endende“ überschriebe Kapitels lohnt sich die Lektüre von „Gegebend“. Der Text über den Tod seiner Frau, wurde, weil dem Autor zu privat und zu intim, nicht in die dreibändige französischen Werkausgabe seiner Dichtungen aufgenommen. Es ist eine düstere, schrittweise immer klarer werdende Abrechnung eines alten Mannes, die anders als der bekannte Todes-Gegner Elias Canetti zu einer klassischen Position gelangt: Die Liebe ist stärker als der Tod.
Verlust und Trauer
Auf einen philosophierenden Auftakt – „Was einen Seinsgrund hat / Muss man erst begründen / Wovon man nicht sprechen kann / Darüber muss man schreiben“ – folgt die Apologie in Sachen dichtendem Weltverständnis.
Dichtung beraubt sich um zu sein
Wie ein Liebender verschlingt ohne zu verschlingen
Um den Buchstaben der Liebe zu bezeichnen. (…)
Es gibt also zwei Arten von Liebeskummer. Der zweite
ist der der unwiderruflichen Trennung, nach dem Leben.
Was Michel Deguy hier über Verlust, Trauer, Ehe, Zeit, Erinnerung, Trost und Verzweiflung schreibt, ersetzt nicht nur Bibliotheken an pseudoreligiöser Sinn- und Erbauungsliteratur, es ist auch eine schonungslose Abrechnung mit sich selbst, in der alle Illusionen des Überlebenden – auch jene, Sterben und Tod zu beschreiben oder dichtend zu „bewältigen“ – beseitigt werden.
Es gibt keine Pornographie des Todeskampfes. Das Grauen ist auch nicht erhaben, denn das Erhaben bleibt an das Schöne gebunden. (…) Was hab ich Lieberes in mir als den Tod M.s im Herzen – Quelle? Ich beuge mich darüber, Narziss; die riesige Träne gibt mir mein Spiegelbild nicht zurück.
In jedem Gedicht ein Gebet
Eines der neueren Gedichte beginnt schließlich so:
Aus dem Petersdom zu Rom kommend schreibe ich:
In einer Pieta steckt auch eine Lumpensammlerin
Des Morgengrauens die anderen den Schatz ihren Abschaum reicht.
Da bekanntlich in jedem Bettler jederzeit auch ein Gott stecken kann, warum nicht in jedem Gedicht auch ein Gebet? Dafür ist Michel Deguy gewiss ein zu „säkularer“ Dichter; trotzdem verwundert es nicht, dass er in einem seiner jüngsten, den Band beschließenden balladenartigen Text folgende altbekannte Maxime nachdichtet: „Du sollst nicht töten“. Solche „Gedankenlyrik“ ist in der zeitgenössischen Dichtung, die meist „formale“ Gründe dafür angibt, warum „etwas nicht mehr geht“, kaum anzutreffen. Michel Deguy beweist kurz gesagt, dass das Gegenteil wahr ist.
Österreichischer Rundfunk, 22.5.2008
– Michel Deguy zum achtzigsten Geburtstag. –
Immer, wenn ich nach Wien fliege, mache ich ein paar Tage Zwischenhalt in Paris. Immer, wenn ich in Paris bin, treffe ich Michel Deguy. Einmal habe ich ihn nicht angerufen. Als er es später erfuhr, war er ein wenig böse. Ich glaube, es geschieht jeden Tag, dass Michel Deguy ein wenig böse wird, zum Beispiel, weil ihn der Kellner im Café darauf hinweist, dass Rauchen in diesem Teil des Raums verboten ist. „Wie wollen Sie dem Rauch eine Grenze ziehen?“ schimpfte Deguy und lächelte gleich darauf. Manchmal lächelt er über sich selbst, über die kleinen Wutausbrüche. Deguy ist wie der Rauch, er lässt sich keine Grenzen ziehen. Er narrt die Grenzen.
In Saint-Germain, im sechsten oder fünften Bezirk, anderswo habe ich ihn in Paris nicht gesehen. So dass ich ihn einmal fragte, ob er den Rest der Stadt verweigere: „Lehnen Sie die rive droite ab?“ „Ach was, rive gauche, rive droite“, antwortete er. Künstliche Grenzen, es gibt viele Brücken über die Seine. Ja, einmal sind wir zusammen mit der RER zum Flughafen gefahren. Wenn wir uns nicht in Paris sehen, sehen wir uns in Wien oder Bozen. Oder in Miyajima. Aber in Paris immer nur in Saint-Germain, so dass ich anfangs dachte, Deguy sei einer dieser zeitlich versprengten Existenzialisten wie Albert Cossery, dem man bis zu seinem Tod vor zwei Jahren sein Plätzchen im ansonsten längst vom internationalen Tourismus eroberten Café Flore freihielt. Im Flore habe ich Deguy auch einmal getroffen, stimmt. Im ersten Stock, wo man noch das Gefühl haben kann, die fünfziger Jahre zu betreten. Aber wozu? Viel aufregender fand ich den roten Salon des Hotels Lutetia mit der himmelhohen Decke, den Plüschsesseln und roten Vorhängen, wohin sich die Intelligentsia zurückgezogen hat. Und schöner das Café Rostand gegenüber den schmiedeeisernen Lanzen des Jardin du Luxembourg, das sich eine innere Eleganz bewahrt hat. Dort habe ich einmal, auf Deguy wartend, einen beleibten und behelmten Fahrradfahrer bestaunt und meine kleine Kamera gezückt, um den Fokus auf seinen sich unter dem knallgelben Rennanzug biegenden Penis zu richten. Wenige Minuten später kam Deguy mit seinem Fahrrad an und kettete es an die Gehsteigbarriere.
Hartnäckig hält er an diesem Fortbewegungsmittel fest. In Miyajima, unweit von Hiroshima, während wir gegrillte Austern essen, philosophiert er über die Diebstahlsgefahr:
Wenn ich es den ganzen Tag nicht benütze, lasse ich es nicht draußen. Wenn ich in fünf Minuten zurück bin, mache ich mir keine Sorgen. Was bringt mich zu der Annahme, dass es im langen Zeitraum gestohlen werden kann, im kurzen nicht?
Tatsächlich hat man es ihm einmal während einer Minutenabwesenheit geklaut. Demnächst wird Deguy achtzig Jahre alt. Seine spontanen Denkspiele sind so sicher wie sein Manövrieren im Pariser Fahrzeugmeer. „Ah non! Pas de vélo à Paris, c’est trop dangereux! C’est trop suffocant“, lese ich in Spleen de Paris: zu gefährlich, und die Abgase… Alles nur Ausreden, meint Deguy im Buch. Im Vergleich zu Mexiko oder Athen ist die Luftverschmutzung nichts. Spleen de Paris, eine Hommage an Baudelaire (wie so vieles, was Deguy geschrieben hat), versammelt städtische Stimmen, verschiedene Plaudertonlagen, die aufeinandertreffen, sich überlagern, abschwirren. Ein leichtes Buch neben den vielen, die man als „schwer“ einstufen muss. Und die schwer sein wollen, im Sinne des Diktums von Lezama Lima: Nur was Mühe bereitet, schafft auch Genuss. Das Gedicht, der poetische Text, ist für Deguy oft (nicht immer) das Ergebnis von vorangetriebenen, zugespitzten, enggeführten Denkströmen, die nur in hochkomplexen Gebilden sprachliche Realität werden können. Das ist für ihn selbstverständlich. Autoren jüngerer Generationen glauben sich rechtfertigen zu müssen, wenn etwas „schwierig“ ist. In der Tat, an einem Deguy-Gedicht muss man zuerst arbeiten. Man muss es mehrmals lesen, auf den Rhythmus hören, den Satzbau, den Klang, den Sinn, die verschiedenen Sinnschichten, die Gedanken – und dann auf alles zusammen. Und so muss man auch übersetzen, denn übersetzen ist nichts als die letzte Konsequenz einer intensiven Lektüre. Vielfacher Schriftsinn, vielfache Entschlüsselung: gilt das nicht für jedes Gedicht, das diesen Namen verdient?
Zweimal war ich in seiner Wohnung: Bücherwände, Halbdunkel, vom Wind bewegte Gardinen. Ich habe das Gefühl, dass es dieselbe Wohnung ist wie in dem Buch An das nicht Endende (1995), wo Deguy nach dem Tod seiner Frau schrieb:
Und oft, wenn ich aus dem ,Hintergrund‘ der Wohnung (aus meinem Büro) komme, die Längsseite eines leeren Zimmers auf dem Gang entlanggehend, dessen Tür ich in Hinblick auf das offenlasse, was ich jetzt erzähle, geh ich hinein, vom Fenster angezogen, nur um an den Rand des Fensters zu gelangen, nur um zu schauen, auf den Hof, die Straße, einen Augenblick lang, die Zeit eines Blicks, wie man auf der Straße die geschäftigen Leute einen Seitenblick auf das werfen sieht, was sich durch ein offenes Einfahrttor darbietet, einfach weil das Tor offensteht, denn wäre der Verlauf der Wand nicht unterbrochen worden, wären ,die Leute‘ ohne einen Blick weitergegangen – aus reiner Neugier also: das ist eine ,Erklärung‘; das ist – Neugier ist’s, also Tautologie: ein und dasselbe auf beiden Seiten von ,ist‘.
Einmal habe ich, ein wenig beschämt, gesehen, wie er dort, vor der Küchentür, seine Freundin auf die Stirn küsste. Kein Konflikt mit dem „nicht Endenden“, nein. In Desolatio (2007) führt Deguy das Totengedenken weiter, um die Verlorene – all das Verlorene – in der Gegenwart zu halten. Aus einem Stück mit dem schlichten Titel New York:
Du hast mir gefehlt in diesen Tagen (April 2005), wie noch nie; wie immer; für immer; immerzu.
Und dann:
Die Stadt war zauberhaft, unsinnig, unwahrscheinlich wie jedes Mal.
Wenn ich mit Deguy zusammen bin, wie letzte Woche in Miyajima, spüre ich die ungebrochene Lebens- und Denkfreude eines Mannes, der so viele Jahre aufrecht durchschritten hat (dabei habe ich auch schon einige Jahre durchschritten). Wie ein Vaterloser, der spät, aber doch, zu einem Vater kommt. Ich spüre die Neugier abwechselnd mit einer redlichen Müdigkeit.
Deguy arbeitet. Ich glaube, das verschafft ihm am meisten Befriedigung. Er unterbricht seine Rede, lacht:
Aber was heißt arbeiten? Man bringt den ganzen Tag zu, nur für die zwanzig Minuten, in denen man eine Idee hat, die man nachher womöglich verwirft.
Er sitzt und bewegt sich in seiner Wohnung, sechzehn Stunden am Tag, und macht unverdrossen weiter. Seine Bücher werden nicht mehr von Gallimard veröffentlicht, wo er jahrelang Mitglied des berühmten „Lektürekomitees“ war, sondern von Galilée (immerhin der Verlag, der die meisten Bücher von Derrida veröffentlicht hat). Er sucht weiter nach einer Sprache, nach dem Ausdruck dessen, was zu denken ist. „De ce qui est imminent“: dessen, was bevorsteht. Zum Beispiel der Tod. Zum Beispiel der veränderte Tod. Oder die Unsterblichkeit. Lang kann er nicht schlafen, um vier oder fünf Uhr früh steht er auf. Macht sich ein Sandwich. Gegen Abend geht er ins Bistrot gegenüber, nimmt die eine tägliche Mahlzeit zu sich. Dabei weiß er die Genüsse zu schätzen. Als der Auswahlband seiner Gedichte in meiner Übersetzung erschien, haben wir in Bozen in einer Gärtnerei inmitten von Planzen und Bäumchen gelesen. Daran erinnert er sich jedes Mal, wenn wir uns treffen. Als hätten wir das Buch den Pflanzen und Bäumen vorgestellt.
Heute habe ich eine E-Mail von ihm bekommen. Nicht aus Paris, sondern aus Neapel, wo seine Freundin das Französische Kulturinstitut leitet. Als ich ihn in Miyajima fragte, welchen Ort er, der Weitgereiste, am besten findet, sagte er zuerst, er kenne nicht viel, er sei nie gern gereist, als Tourist lerne man nichts kennen. Allenfalls durch Leute, die dort wohnen, Übersetzer zum Beispiel, Seiji Marukawa oder mich. Er reise nur auf Einladung, sagte er, um dann von Neapel zu schwärmen; aber Rom sei angenehmer zum Leben. Und natürlich New York, außer Paris kenne er nur Neapel und New York. Dabei hat er Ende der sechziger Jahre eine denkwürdige Reise mit elf Dichtern durch den Süden von Chile und Argentinien unternommen. Deguy gehört zu den Leuten fortgeschrittenen Alters, die nicht in fernen Erinnerungen leben, sondern immer an das zuvor Erlebte und Gemachte anschließen. Seine letzten Bücher sind Wiederaufnahmen und Transformationen. Desolatio schreibt An das nicht Endende weiter, aber auch den „Konvoi“ aus dem Band Liegende (1985) – der Titel bezieht sich auf gemeißelte Grabfiguren. Dabei pflegt Deguy keinen Totenkult, wie es Paul Celan tat.
Ich habe keine Empfindungen am Ort, wo der Sarg liegt. Auf dem Friedhof, beim Grab, beim Wissen, daß hier die Überreste, die Gebeine ,ruhen‘. Da ist nichts.
Das Gedenken ist kein Friedhofsgang, sondern eine Form des Weiterlebens.
In Miyajima haben wir über den Tod und über das Einfache gesprochen. Deguy zufolge gibt es nichts Einfaches. Er hat mir das Wort – nicht abgeschnitten, nein, er hat es auslaufen lassen. Nachdem er mir neugierig, um nicht zusagen: begeistert zugehört hat. Wir sind durch eines der bedeutendsten Heiligtümer Japans spaziert, eine weitläufige, ganz aus Holz erbaute, rot gestrichene Stätte shintoistischer Naturverehrung, an einer der kleinen Buchten der Insel gelegen (dahinter ragt der dicht bewaldete Berg Misen), und ich habe gleich darauf hingewiesen, dass solche Stätten mehr oder weniger leer sind. Es gibt darin nichts zu sehen, der Blick wird auf die Umgebung und den Besucher selbst gelenkt. Das Innerste des Heiligtums, der Tabernakel, wird von einem kleinen Spiegel besetzt. Für mich bedeutet Shintoismus Überleben des Einfachen und der Natur inmitten hoher Komplexität, häufig gegen eine entfesselte Urbanisierung. Auch Überleben der einfachen Natur des Menschen. Deguy wollte mir glauben und glaubte mir nicht. „Es gibt keine Einfachheit“, sagte er, „alles ist längst transformiert, das Transformierte ist in Transformation begriffen. Es hat keinen Sinn, nach irgendwelchen Ursprüngen zu suchen.“ Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen. Wollte nichts entgegensetzen, hatte nur das Gefühl, dass Ursprüngliches und Transformiertes koexistieren können. Ich weiß nicht, warum Deguy, schon beim Verlassen des Heiligtums, als wir die von den Touristen nicht mehr beachtete Gasse hinauf zum buddhistischen Daishoin-Tempel nahmen, auf den Tod zu sprechen kam. Vielleicht als Kronbeispiel der Veränderung, allerletzte Transformation. Unser Verhältnis zum Tod wandle sich radikal, sagte Deguy, es sei notwendig, es neu zu denken. Und damit in Zusammenhang den Status der Unsterblichkeit, ehemals nur eine religiöse Phantasie, heute ein wissenschaftliches Projekt, betrieben von Genetikern und Technikern des Virtuellen. Sagte Deguy, der bald Achtzigjährige. Und ich dachte, angesichts der beiden riesenhaften, grimassierenden, aber auch komischen, aus Holz geschnitzten Tempelwärterfiguren: Vielleicht ist der Tod das unzerstörbar Einfache… Wenn er verschwindet, ist es dann nicht um alles Einfache geschehen?
Wie ist eigentlich Deguys Verhältnis zu Japan? Das erste Mal war er „ungefähr 1975“ hier, in der Folge noch öfters; die Reisen verschmelzen in der Erinnerung zu einer einzigen. Ich habe nicht den Eindruck, dass er besonders tief in die japanische Kultur oder Literatur eingedrungen ist: Ding der Unmöglichkeit, wenn man nicht Jahre seines Lebens dafür aufwendet. Allerdings gibt es familiengeschichtliche Bande, eine kleine kollektive Erinnerung. Sein Großvater, aus der Unternehmerdynastie Schneider in Le Creusot stammend, war 1895 das erste Mal hierher gekommen, „um den Japanern Kanonen zu verkaufen“, wie Deguy sagt. Sein Vater, in Frankreich aufgewachsen, war 1904 in Yokohama geboren. Michels Großvater hatte eine Australierin geheiratet, und zwar in Colombo, Hauptstadt des ehemaligen Ceylon. Von Frankreich aus fuhr die Familie damals entweder mit dem Schiff über Sidney oder mit der transsibirischen Eisenbahn über Wladiwostock nach Japan. Deguy erzählt das mit einer Mischung aus Stolz und Belustigung, mit engagement und détachement – eine Spannung, die auch für sein Werk charakteristisch ist.
Begeisterung und Loslösung, Wutausbruch und Selbstironie: das Oszillieren einer zwiefachen Haltung, deren Einheit vielleicht im poetisch-philosophischen Begriff des Zögerns gefasst ist. Wenn im Zentrum seiner Poetik das Bild (image) steht, dann ist einer ihrer Planeten neben dem Möglichen, dem Gegensatz, dem Vergleich und dem Verlust das Zögern. Genauer:
Das Zögern zwischen Hesitare ist im Lateinischen das Frequentativ von haerere (stecken- oder hängenbleiben). Zögern ist Anhänglichkeit. In der Praxis des Zögerns frequentiert ein Subjekt die gegensätzlichen Pole, denen es anhängt: in diesem Zwischen ist seine Bleibe, sein ,dichterisches Wohnen‘.
Das Zitat im Zitat stammt von Hölderlin – das Deutsche und besonders die deutsche Lyrik ist Deguy vertraut, auch wenn er die Sprache nur bruchstückhaft spricht. Zögern als Aufenthalt im Zwischenraum, als Umgang mit Gegensätzlichem, das nicht, wie bei Hegel, dialektisch zu überwinden, sondern in der Verfeinerung der Beziehungen, der Differenzierungen aufrechtzuhalten ist. In diesem Punkt, im Zentrum der Poetik, sind Dichten und Denken nach Deguy engstens miteinander verwandt. Hölderlin, Trakl gehören zu den von Deguy „frequentierten“ Dichtern. Ausdrücklich danach gefragt, kommt er aber doch immer wieder auf das französische Dreigestirn Baudelaire – Rimbaud – Mallarmé zurück, von dem sich, wenn es ums Wesentliche gehe, Rimbaud noch abziehen ließe. Baudelaire und Mallarmé, das sind die beiden Quellen, aus denen sich nach Julia Kristeva die „Revolution der dichterischen Sprache“ speist. Noch im 21. Jahrhundert findet dichterisches Schreiben vor diesem Horizont statt. Deguys Werk führt vor, wie man die Umwälzung immer weiter treiben, wie man sie permanent machen kann. Solches geschieht nicht zuletzt durch die Entgrenzung, Vermischung und Neudefinition der Genres, die bei Baudelaire ihren Ausgang hat. Durch eingehende Arbeit an der phrase, also am Satz, wie an der Phrasierung, anstelle der alten poetischen Regeln, die von der Revolution außer Kraft gesetzt worden sind.
Vielleicht liegt der ethische Sinn dieses Tuns, dieser „Energie der Verzweiflung“, im Kampf gegen und Einverständis mit einem Tod, der noch warten kann. Eines der Gedichte aus Desolatio lautet:
Die Liebe ist ohne Warum
Auch du du fragst
du fragst warum
ist die Liebe ohne Warum
Seine Atelie gefällt ihm nicht
Warum eher ich als du
kann man auch den Tod fragen
Und wenn ich mit Prädikaten antworte
ergibt das ein Porträt von dir, wo
du sagst, du erkennst dich nicht
Liebt man ein Porträt?
Sind Prädikate liebenswert?
Ansprechen wollte ich die Sirene in dir
die zu mir kurvt und ins Gegenteil wendet
von deinem Aufbrausen, deinem Desperato
deiner Neigung zur Gewalt, zum Alles-Gleich
Im Grunde deines wie meines Herzens
staunt man geliebt zu werden, du
Warum du ich ich du warum
– dieser Geschmack
Leopold Federmair, Volltext, Heft 2, 2010
Michel Deguy liest 3 Texte aus seiner Gedichtsammlung A rosa das línguas in der Mediathek des Maison de France in Rio de Janeiro im September 2007.
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