D
Dämon ≜ Monde; mondän. – Mohn mähen im Dom.
Dasein = das nie! (Neid sah’s ein: inside!)
Denker – Rede kehren – kentern: dreh den Kern!
Dialog – ja, die log! da lag das Gold! – Goal: deal zwischen god und dog!
Dilettanten – die Letten litten alte Tanten; nette Titel standen über ihren Taten.
Diskurs – Diskus surrt in Dur; Urs riskiert Durstkur.
Dogge ≜ (ego: God?). – Geht joggen mit Degen.
Dromedar – (Drama:) droht Mord? kommt der rohe Marder? was modert im Darm? Dora dreht Rad. Draht nach Rom mehrt Demo.
setzt sich zusammen aus einer Vielzahl von Kürzesttexten, welche – in der Art von Definitionen, Kommentaren, Paraphrasen, Parodien, Kalauern – aus einem vorgegebenen Begriffs- und Namensregister abgeleitet worden sind. Bei diesen Ableitungen handelt es sich im wesentlichen um anagrammatische Variationen, teilweise auch um andersartige Wort- und Satzgebilde, wie sie etwa durch die lautliche beziehungsweise skripturale Inszenierung von homophonen, assonantischen, kombinatorischen, permutativen oder rekursiven Fügungen entstehen können. Die verrückenden Eingriffe in den Klangleib, in das Schriftbild von kontextfrei vorgeführten Einzelwörtern haben zum Ziel, diese Wörter – statt sie zur Besprechung außersprachlicher Realien einzusetzen – gleichsam sich selbst aussprechen zu lassen, wobei lediglich deren ästhetische, also sinnlich erfahrbare Qualität (das, was akustisch und optisch wahrzunehmen ist) aktiviert wird, nicht aber ihr semantisches Potential; erreicht wird dadurch eine Intensivierung strukturaler Eigendynamik, mithin die weitgehende Autonomisierung des Sprachlichen an der Sprache – des Poetische.
„Die Sprache dazu zu bringen, daß sie wie von selber redet und daß sie, nach Art des Orakels, mit allem, was sie in abgehackter Rede von sich gibt, den Sprechenden und zugleich sich selbst ausspricht“ – dies ist auf eine knappe poetologische Formel gebracht, das Anliegen, dem Michel Leiris seit seinen literarischen Anfängen in den zwanziger Jahren mit beispielhafter Radikalität und Konsequenz nachgelebt, nachgeschrieben hat; seine diesbezügliche Wortarbeit hat er zweimal – zuerst 1925, dann wieder 1985 – zu großangelegten Glossaren kompiliert, die seine lebenslängliche „Liebe zu den Wörtern“ belegen sollten. Das letzte dieser Glossare ist, als Ouvertüre zu dem Buch Langage Tangage, unter dem Titel „Souple mantique et simples tics de glotte“ erschienen; dieser Titel wurde, im Sinn einer diskreten Hommage an Leiris, in homophoner deutscher Nachschrift für das vorliegende Heft übernommen. Übernommen wurde ferner, da die von Leiris praktizierten innersprachlichen Versetzungen sich jeglicher zwischensprachlichen Übertragung entziehen, das für die französische Fassung verwendete lexikalische Basismaterial, dessen deutsche Entsprechungen wiederum völlig autonom, ausgehend von der phonetischen Struktur und der buchstäblichen Zusammensetzung des jeweiligen Wortkörpers, zu neuen Texten entfaltet wurden.
Felix Philipp Ingold, Nachwort
I
«Wörter, Wörter, nichts als Wörter …» – das halb verächtliche, halb verwunderte Diktum, das einst Shakespeare seinem Hamlet auf die Bühne mitgegeben hat, ist für Michel Leiris schon früh zur schriftstellerischen Devise geworden und hat als solche Geltung behalten bis zuletzt. Zeitlebens war Leiris, nach eignem Bekunden, in einen «feuilletonesken Liebesroman» involviert, der ihn «mit den Wörtern» verband, mit der Sprache nicht als Medium alltäglicher Kommunikation oder literarischer Rhetorik, vielmehr mit der Sprache pur, wie er sie im Wörterbuch, als eine alphabetisch gefügte Ordnung kontextfreier Wortdinge, vorfand: «– sie alle taten mir seltsame Fenster auf, ohne dass ich sie unwillkürlich hätte verformen oder missverstehen müssen, rätselhaft wie sie waren, sei’s durch ihre semantische Unbestimmtheit, sei’s allein durch ihre Klanglichkeit.»
Leiris war, ungeachtet seines ebenso umfangreichen wie autoritativen Werks, kein wortgewaltiger Schriftsteller. Als solcher musste, wollte er nichts zu sagen haben; der konventionell mitteilenden Aussage zog er stets das schlichte Sagen der Wörter vor – er hörte auf sie hin, horchte sie ab, befragte sie nach dem, was sie aus und über sich selbst, über Gott und die Welt zu sagen hatten. Immer wieder, über manche Jahrzehnte hinweg, hat Leiris – bescheidener Skribent! – das Belauschen der Sprache und die Verschriftlichung ihrer Klangwelt im Rahmen eigens erstellter poetologischer Versuchsanordnungen zum Programm gemacht. Aus diesen systematisch durchgeführten, gleichwohl locker gehandhabten Wortarbeiten gingen mehrere Werke hervor, darunter eine alphabetisch angelegte, mit ingeniösen Kurzkommentaren versehene Begriffs- und Namenliste, deren Erstfassung er 1925 in die Zeitschrift La Révolution Surréaliste einrückte und die in der Folge – stets unter demselben unübersetzbaren Titel Glossaire j’y serre mes gloses – verschiedentlich nachgedruckt, teilweise auch ergänzt wurde.
Die Technik des permutativen «Glossierens» hat Leiris 1956 in seinen Bagatelles végétales erneut aufgenommen, weiter ausgearbeitet und verfeinert, bevor er sie 1985 in Langage Tangage als «Souple mantique et simples tics de glotte» noch einmal in einem grossen sprachspielerischen Finale zur Geltung brachte. Die Überschriften all dieser Werke haben Modellcharakter für deren Entstehung und Machart. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um mehr oder minder konsequent praktizierte anagrammatische Entfaltungen eines jeweils vorgegebnen Themaworts, das zumeist explizit genannt wird, bisweilen aber auch aus seinen lautlichen Ausarbeitungen und Weiterungen erschlossen werden muss.
So verweist «souple mantique» (schmiegsame Mantik) auf den klangähnlichen Subtext supplément (Zusatz, Ergänzung) und damit indirekt darauf, dass die vorliegende Arbeit als Fortschrift zu den früheren Glossaren zu gelten hat; «et simples tics» (und einfache Ticks) wiederum spielt lautlich – ausser auf simplicité (Einfachheit) – auf synthétique (synthetisch, künstlich) an, wodurch die einfache Künstlichkeit des assonantischen Wortbildungsverfahrens benannt und überdies zur Stimmritze («glotte») in Beziehung gebracht wird. Souple mantique et simples tics de glotte schliesst mithin auf subtile Weise an Glossaire j’y serre mes gloses an, jenes erste Glossar, dessen sprachspielerischer Titel die Gattungsbezeichnung «glossaire» auf der Lautebene zu «j’y serre mes gloses» (ich füge meine Anmerkungen ein) entfaltet und ausserdem den Namen «Leiris» als geheime, anagrammatisch verfremdete Signatur mit sich führt.
II
Als Leiris sein erstes Glossar vorlegte, wurde es von Antonin Artaud sogleich als Ouvertüre zu einem völlig neuen poetischen Sprechen begrüsst, das die «kanalisierenden», mithin einengenden Ordnungsprinzipien diskursiver Rede definitiv überwinden sollten: «Ja, das ist nun die einzige Verwendungsart, der die Sprache künftighin dienlich sein kann, ein Wahnsinnsmedium, ein Mittel zur Gedankentilgung und -brechung, ein Wirrwarr der Irrwitzigkeiten …» – Michel Leiris selbst hat das surrealistisch anmutende, in Wirklichkeit keineswegs phantasie- oder traumgesteuerte, vielmehr aus der Sprache selbst mit handwerklicher Genauigkeit entwickelte Wortwerk verstanden wissen wollen als einen dezidierten Gegenzug zu jedem auf Mitteilung oder Verständigung angelegten Sprachgebrauch, dem es nicht um den «wahrhaften Sinn eines Worts» gehe, sondern bloss um den Transport vorgegebner Bedeutungen. Die üblichen, durch die Etymologie gestützten Wortbedeutungen seien zwar «für alle, nicht aber für jeden von uns gemacht», vermöchten uns folglich bestenfalls über die Welt, nicht jedoch «über uns selbst» zu belehren.
Allein durch Brechung – Bruch der Wortbedeutung wie der Wortform auch – kann dem Wort, nach Leiris, eine «besondere, persönliche» Qualität verliehen werden: «Indem wir die Wörter, die wir lieben, zerlegen, ohne der Etymologie oder der akzeptierten Bedeutung folgen zu wollen, entdecken wir ihre verborgensten Vorzüge und auch die geheimen Verästelungen, welche die ganze Sprache durchwirken, geleitet durch lautliche, formale und gedankliche Assoziationen. So verwandelt sich die Sprache in ein Orakel, und wir erhalten einen Faden (wie fein er auch sei), der uns ins Babel unseres Geistes führt.»
Die dominante Geste solchen Glossierens ist also das Zerlegen (disséquer) der jeweils vorliegenden Wörter in ihre phonetischen oder morphologischen Bestandteile, das Offenlegen vergessner Bedeutungskerne, die neu herausgestellt und sprachlich fixiert werden sollen durch die nachfolgende Rekombination der «gleichsam chirurgisch» gewonnenen Versatzstücke. Es handelt sich dabei um ein konsequent dekonstruktives Vorgehen, bei dem Destruktion und Konstruktion tatsächlich wechselseitig sich bedingen. Durch Zerlegung, permutative Neugestaltung, allfällige lautliche Anpassungen oder Erweiterungen erfährt der Wortkörper einen zumeist radikalen Wandel. Diesen verfremdenden, bisweilen befremdlichen Wandel führt Leiris herbei, um «den Sprengwert (la valeur détonante) der Wörter nutzen» und deren vielgestaltige «Seele» freilegen zu können.
In einer späten Tagebuchnotiz bringt Leiris dieses Vorhaben, diesen Vorgang noch einmal auf den Punkt und verweist gleichzeitig darauf, dass es ihm dabei nicht nur um die produktive Verwendung des Wortmaterials, sondern stets auch um dessen «Verunklärung» (brouillage) gegangen sei, darum nämlich, gängigen Begriffen und Namen erneut die hermetische Aura von Urworten zu verleihen. Derart «verunklärte» Wörter stehen denn auch nicht mehr für vorgefasste Bedeutungen, wie das Wörterbuch oder die Alltagssprache sie bereithält, ihr Sinn soll, völlig neu, «abgeleitet werden von ihrer phonetischen Struktur»: «Ein ambivalentes Verhältnis also zu den Wörtern, die gleichzeitig kaputt geschlagen und – bestenfalls – in den Rang von Orakeln erhoben werden. Sprache, behandelt als eine heilige Sache, die man verehrt (wie in gewissen Messen) und die man ins Lächerliche zieht (wie auf einem Narrenfest).»
III
Ein paar wenige Beispiele aus Souple mantique sollen verdeutlichen, wie Leiris, Autor und Übersetzer zugleich, die Wörter dazu bringt, ihre verfestigte Bedeutung abzulegen, einen neuen Sinn anzunehmen und auch noch – zumindest der Spur nach – sich selbst zu glossieren. Die Selbstglossierung tritt an die Stelle des Fremdkommentars, die Wörter werden nicht von einer externen auktorialen Instanz definiert und erklärt, sie tun kraft ihrer neu gewonnenen Klanggestalt dar, welches Sinnpotential in ihnen liegt und wie kontrovers dessen Ausschöpfung sein kann.
Leiris zerlegt seine Grundbegriffe – man könnte sie als Leit- oder Themawörter bezeichnen – zunächst in klangähnliche Fragmente, die er sodann Stück für Stück nach unterschiedlichen Kriterien (Assonanz, Alliteration, Homophonie, Stab-, Binnenreim o.ä.) neu ordnet, wobei er sie wiederum in unterschiedlicher Weise (durch Verdrehung, Verkürzung, Ergänzung o.ä.) modifiziert. Die definitive Ausarbeitung erfolgt nicht auf der Laut-, sondern auf der Schriftebene, wo sich nebst Sonderformen wie dem Palindrom oder dem Lipogramm vor allem das Anagramm in seinen diversen Spielarten anbietet (Buchstaben-, Silbenanagramm u.ä.).
Da im Französischen – anders als im Deutschen – die Lautgestalt vieler Wörter stark von deren Schriftgestalt abweicht, lassen sich anagrammatische Manipulationen kaum je konzessionslos durchführen. Man denke nur an die zahlreichen Nasalphoneme (on, in …), die bei einfachem Letterntausch (no, ni …) ihre Nasalität verlieren, oder an den Buchstaben g, der in bestimmten Stellungen wie ein j (sch) zu sprechen ist. Leiris kann deshalb kein exakter Tüftler wie Oskar Pastior und dessen Adepten sein, er ist aber – und das macht seine Arbeit eher noch interessanter – ein strenger Improvisator, der die Sprache zugleich zügelt und sich ausleben lässt. Somit gehört er zu jenen «Sprachverrückten» (fous du langage), die sich, während sie die Sprache verrücken, von ihr berücken lassen.
Mehr als um buchstabengetreue Anagramm- oder Palindrombildungen geht es Leiris beim Glossieren um die Entfaltung klangähnlicher Wortfolgen oder Satzgebilde. Das Themawort vocabulaire – hier als Beispiel – zerlegt er zunächst in lautliche Versatzstücke wie «veau» (homophon zu vo-), «buccal» (anagrammatisch zu –abul-), «bulles» (homophon zu –bul-), «bulaire» (assonantisch zu lunaire), um daraus eine Sequenz von lautlich korrespondierenden Wörtern zu bilden, die sich ihrerseits zu einer Art von Kommentar (zu vocabulaire) fügen: «– au caveau buccal (bocal lunaire) les bulles du verbe rêvent.»
In manchen andern Fällen bieten sich weit schlichtere, durch blosse Versetzung, Hinzufügung, Auslassung, Vertauschung eines Buchstabens oder Phonems zu bewerkstelligende Lösungen an, wie man sie auch, als Kalauer, aus der Alltagssprache kennt: vallée – lavée; Dieu – hideux (Lautanagramm); valve – vulve; œuvre – verrou; itinéraire – y traîner, l’étirer; u.ä.m. Mehrheitlich zieht Leiris jedoch weiter ausholende klangassoziative Fortschreibungen des Themaworts vor, wobei er, soweit möglich, darauf achtet, dass die sich entwickelnden Wortfolgen tatsächlich so etwas wie einen Kommentar dazu ergeben. Das Wort «Reise» beispielsweise entfaltet er auf der Bedeutungsebene zur «Freude, mit eigenen Augen zu sehen, da ist – anderswo – der Einsatz»: Voyage – la joie de voir de ses yeux, voilà – ailleurs – l’enjeu!
IV
Das letztgenannte Textbeispiel macht einerseits deutlich, dass es sich bei diesem Wortentfaltungsverfahren um eine spezifische Technik innersprachlicher Übersetzung handelt; anderseits wird klar, dass Texte dieser Art zwischensprachlich nicht adäquat übertragbar sind, weil ihre Aussage gegenüber ihrer Klanggestalt durchweg sekundär bleibt. Zu Leiris’ Glossaren kann es nur dann eine fremdsprachige Entsprechung geben, wenn sie nicht, wie üblich, nach dem Wörterbuch und also nach ihrer Bedeutung übersetzt, sondern in der Zielsprache neu angelegt, mit den gleichen Mitteln und Verfahren nachgebildet werden. Lediglich für die Themawörter ist der Übersetzer in der gewohnten Weise gefordert, während er deren klangliche Entfaltung selbständig – gleichsam als sein eigener Meister – im Medium der Zielsprache durchzuführen hat.
Der Vorgang sei am bereits erwähnten Themawort voyage kurz exemplifiziert. Dieses ist als einziges Element wörtlich zu übersetzen und in den deutschen Text zu übernehmen. Dort erscheint es unter dem Buchstaben R als «Reise», und sämtliche Ableitungen und Ausarbeitungen müssen nun auf seine völlig anders geartete Lautgestalt bezogen werden. Die philologisch korrekte Übersetzung der französischen Vorlage wäre – siehe oben – insofern «falsch», als sie weder Leiris’ Intention noch seinem Verfahren des poetischen Glossierens gerecht werden könnte.
Im Deutschen bietet sich zu «Reise» ein lückenloses und überschussfreies Anagramm an: Durch blosse Buchstabenversetzung sind aus «R-e-i-s-e» die beiden Personalpronomen sie und er, aber auch das Substantiv Riese zu gewinnen. Weitere Permutationen, Extraktionen und Reduplikationen sowie die Hinzufügung des einen Konsonanten n ermöglichen die nahezu lautidentischen Wortbildungen «Riesenreh» und «Eissirene»; der Buchstabe h ist hier, da er keine eigene lautliche Entsprechung hat, zu vernachlässigen.
Der zwischensprachliche Vermittler übernimmt hier die Funktion eines Übersetzer-Autors, ist also – ebenso wie Leiris im innersprachlichen Bereich – Übersetzer und Autor in einem, wobei der von ihm verantwortete Text weit weniger als «Übersetzung» denn als Original zu gelten hat und deshalb unter seinem Namen, mit seiner Signatur erscheinen sollte. Dieses Übersetzungs-Original wiederum hat – im Unterschied zu sonstigen Originaltexten wie auch zu gewöhnlichen Übersetzungen – die spezifische Eigenart, unabschliessbar und beliebig variierbar zu sein. Nachübersetzungen derartiger Texte können sich, müssen sich auch jedesmal als Neuübersetzungen behaupten, die ihrerseits den Status von Originalen haben.
Als «Übersetzung» gewinnt das Glossar in der jeweiligen Zielsprache seine Richtigkeit allein aus der konsequenten und innovativen Anwendung der von Leiris vorgeführten Wortbildungsverfahren. Voraussetzung für solche Richtigkeit ist, dass die gängigen, primär an der Textsemantik orientierten Übersetzungskriterien ausser Acht gelassen werden; richtig kann in diesem Fall – seltene Glücksfälle ausgenommen! – nur das sein, was in semantischer Hinsicht falsch ist.
Davon ausgenommen sind, wie schon erwähnt, die Themawörter, die Leiris für seine Glossare zusammengestellt hat und deren Auswahl, im Übrigen, keineswegs zufällig ist. Als Autor nimmt sich Leiris die Freiheit, auf solche Wörter zurückzugreifen, die für Lautentfaltungen, für Lettern- und Silbentausch besonders geeignet sind – eine Freiheit, die der Übersetzer-Autor nicht beanspruchen kann, da er die Themawörter in die Zielsprache übernehmen und sich auch dann daran abarbeiten muss, wenn sie kein entsprechendes Entfaltungspotential bergen. Eine Ausweichsmöglichkeit hat er nur dort, wo ihm im Deutschen für ein unergiebiges oder schwer zu bearbeitendes Grundwort ein besser geeignetes Synonym zur Verfügung steht. Solches Gleiten auf der Bedeutungsebene bietet sich an, weil die Grundwörter kontextfrei vorgegeben und deshalb semantisch ohnehin ambivalent sind.
Für das französische Wort abandon stehen im Deutschen Äquivalente wie «Vernachlässigung», «Aufgabe», «Verzicht», «Abtretung», auch «Resignation» zur Verfügung, und innerhalb dieses relativ weiten Bedeutungsfelds kann denn auch der zum Glossieren am besten geeignete Begriff gewählt werden. – Neben durchaus alltäglichem Wortmaterial (wie aveu, cil, joie, naissance, salon, week-end) gibt es bei Leiris – in Souple mantique – auffallend viele Begriffe und Namen aus den Bereichen Erotik, Oper, Linguistik, Mythologie; eine Sondergruppe bilden die Sachwörter aus der Stierkampfszene (Corrida, Matador, Toro), sie belegen das besondere Interesse des Autors an der Tauromachie. Generell ergibt sich beim Glossieren die durch Erfahrung beglaubigte Einsicht, dass Namen aller Art für sinnreiche Zerlegung, Neuordnung und Entfaltung weit besser geeignet sind als einfache Sachbegriffe.
V
Ich habe mich an Leiris’ Glossaren mehrfach als zwischensprachlicher Vermittler versucht. Die Vermittlung ins Deutsche bringt diverse Schwierigkeiten mit sich und zwingt zu manchen Verzichtleistungen, weil gewisse phonetische Qualitäten des Französischen – so etwa die zahlreichen Nasal- und Schwa-Laute – hier fehlen oder jedenfalls eine weit geringere Rolle spielen. Nicht oder nur schwerlich sind solche Wörter umzusetzen, die spezifisch französische Realien benennen und im Deutschen, falls überhaupt, lediglich als Fremdwörter bekannt sind (boulevard, salon, vaudeville, aber auch: Fontainebleau). Von den zahlreichen französischen oder französisierten Orts- und Eigennamen können einige unverändert übernommen werden (Oradour, Pamina, Picasso, Roméo, Salomé u.a.m.), andere sind in angepasster deutscher Lautung («Olymp» für Olympe, «Pluto» für Pluton, «Saturn» für Saturne) oder als eigenständige deutsche Bezeichnungen vorhanden (z.B. «Isolde» für Yseut, «Schottland» für Ecosse).
Gewisse unverwertbare Begriffe und Namen musste ich wohl oder übel beiseite lassen (establishment, Mélisande, Troilus, vi[tu] pérer, watercloset u.a.m.), andre wiederum konnte ich mehrfach verwenden – entweder als Synonyme (z.B. «Gewissensbisse» und «Reue» zu remords), als Doppelbedeutungen (wie «Aufgabe» und «Verzicht» zu abandon), als unterschiedliche Differenzierung einer Gattungsbezeichnung (z.B. «Hengst» und «Stute» zu cheval) oder in unterschiedlicher Lautgestalt («Jupiter» und «Zeus» zu Jupiter).
Im Interesse möglichst produktiver Ausarbeitung habe ich gewisse Themawörter durch minimale morphologische oder lexikalische Verschiebungen abgewandelt, indem ich beispielsweise für ein Abstraktum wie «Vormundschaft» (tutelle) die Personenbezeichnung «Vormund», für ein Substantiv wie «Solidarität» (solidarité) das Adjektiv «solidarisch» oder für das Einzelwort «Ritus» (rite) die Mehrzahlform «Riten» einsetzte. Insgesamt bleiben aber Leiris’ «Lieblingswörter» auch in der deutschen Wortfassung erhalten, und sie bekommen hier wie im Original reichlich Gelegenheit, dem Leser durch ihre Verrenkungen und Verschränkungen darzutun, was sie zu sagen haben. – Einen kleinen Auszug aus Michel Leiris’ letztem Glossar, Langage Tangage von 1985, lasse ich an dieser Stelle beispielshalber folgen; die Anordnung der Themawörter entspricht der alphabetischen Reihung in der französischen Textvorlage. Mit dem Gleichheitszeichen [ = ] sind jene Wörter verbunden, die sich lautlich oder buchstäblich ohne Rest ineinander haben übersetzen lassen.
VI
Scharlatan – Satan als Star; Narr mit Charme; rasch mal ran!
Charme – am Arsch!
Schuhwerk – husch, weg! kusch, reck!
Hemd = hemmt.
Stute = tut es!
Hengst – hängt Ängste.
Geiss = Sieg; sei heiss! (hiess es).
Hund – (und Huhn?).
Chirurgie – urchige Kur.
Chor – horch!
Wahl = love.
Sachen = naschen! rasch nach Sachsen!
Zigarette – arg: die letzte zieht der Zar (zarte Gier).
Schierling – gering die Gier zu schlingen …
Wimper – immer wieder per Reim!
Klarinette – Tier klirrt an Kette; klar – Ratte leert Rinne; Karl, der Retter, killt die Narren; kneten bis die Latte knickt; netter Rat: nie kritteln!
Herz = zehr!
Kohärenz – hockt Nerz im Herzen?
Menschenmasse = Maschenmesse (Samen naschen, Schemen messen).
Zorn – rot! rotzen …
Koliseum – Muse solo im Silo; lose Kehle: selig summen!
Komisch – komm ich, schock mich!
Kommunismus – komm und miss uns!
Konzept – petzt: Kotzone!
Konzert – Ton, der gärt; zehrt verkehrt: ohne Not.
Bewusstsein – stur der Stein, bester Wein; tust Busse? nein!
Mitlaute – miau! mault mild die militante Angetraute.
Hahn – nah am Huhn.
Cordelia – Lied der Jodel: Rock à la Dalila; Lady lehrt Adel.
Coriolan – Aale irren in Korallen.
Leib = Beil? lieb!
Corrida – irr die Coda!
Kosmopolit – Osmose lockt ins Klo: Ostpol!
Kleid – gleit! eilt! geil! (Glied oder Keil?)
Paar – parat!
Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Gegengabe, Urs Engeler Editor, 2009
Leiris: „Breitgefächerte Tapferkeit.“ Ja, solche Dinger dreh ich auch oft – und hat auch Heine schon getan.
Adolf Endler
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
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