DIE NACHTNELKE ERBLÜHET
Die Nachtnelke erblühet,
es fleht die Sonnenblume
zum träg blinzelnden Himmel,
schon wiegen sich die Grillen,
im Erdloch brummt die Hummel,
und in den samtnen Abend
schrieb steigend eine Lerche
ein ihre Schlafenssehnsucht;
weiter weg, auf der Wiese,
wo sanft das Dunkel rieselt
erschauern in den Spuren
der Hasen die Grashalme,
Birken in Silberhemden
schweifen durchs Blätterfallen,
und morgen läuft der gelbe
Herbst wieder durch die Lande.
26. August 1943
Übertragung Franz Fühmann
Der erste jüdische Märtyrer der ungarischen Literatur war der Publizist György Bálint, der im Jahre 1943 in einer Strafkompanie an der russischen Front starb. Ein Jahr später folgten ihm der hervorragende Essayist Gabor Halász, der Romancier und Kulturhistoriker Antal Szerb (Autor der Standardwerke Geschichte der ungarischen Literatur und Geschichte der Weltliteratur) und György Sárközi, Begründer der literarischen Bewegung der ungarischen Populisten. Im November 1944 wurde der fünfunddreißigjährige Lyriker Miklós Radnóti in Abda bei Györ erschossen. Gemeinsam war diesen Autoren, daß sie sich als Ungarn verstanden und ihr gesamtes literarisches Wirken in die Waagschale ihrer Assimilierung warfen.
Als Miklós Radnóti gebeten wurde, sich an einer jüdischen Anthologie zu beteiligen, gab er eine recht niederschmetternde Antwort:
Ich fühle mich nicht als Jude… Wenn ich mit einer Religion überhaupt etwas im Sinn habe, dann mit dem Katholizismus. … Ich glaube nicht an den jüdischen Schriftsteller, aber auch nicht an die jüdische Literatur. Halbtalente und schwache Talente flüchten sich in eine anheimelnde kleine Gesellschaft, weil sie den freien schriftstellerischen Wettbewerb auch ohne Judengesetze… nicht durchgestanden hätten, dazu eine Handvoll brillanter Dichter und Schriftsteller, wegen des Brotes, des trockenen Brotes, und eines Krümelchens Anerkennung. … Deshalb habe ich für konfessionelle Publikationen nichts herzugeben.
Gleichzeitig verzichtete Radnóti selbst nach dem dritten Judengesetz (1941) auf die Konversion zum Katholizismus, gerade weil sie, für ihn „Vorteile gebracht hätte“. So erfüllte sich sein Schicksal wie das des mehrheitlich assimilationsfreudigen ungarischen Judentums, dem der Holocaust 560.000 Opfer abforderte.
Die Loyalität – eigentlich Liebe – zur Stiefmutter Ungarn grenzte bei diesen Autoren an Selbstzerstörung. Bálint hätte als Budapester Korrespondent großer britischer Zeitungen jede Möglichkeit gehabt, sich in London niederzulassen, kehrte jedoch kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Ungarn zurück. Szerb wollten seine Freunde mit einem gefälschten „Offenen Befehl“ vor dem sicheren Tod in dem ungarischen Sammellager Balf retten, was an seiner Weigerung „zu flüchten“ scheiterte. Und Radnóti? In seinem Gedicht „Ich kann nicht wissen“ appellierte er an die Piloten der Alliierten, sein Land vor der Bombardierung zu verschonen.
Alles war umsonst: Wer ein „echter“ Ungar sei und wer nicht, wollten und wollen die ungarischen Antisemiten immer selbst entscheiden. Dabei scheinen sie ein gutes Gedächtnis zu haben. So wurde im vorigen Jahr ein Denkmal des orthodox-marxistischen Juden György Lukács ebenso beschädigt wie die Gedenktafel des Dichters jüdischer Sentimentalität, Ernő Szép, und zuletzt eine von György Bálint.
Bálint war es, der den zentralen Begriff für Radnótis Poesie geprägt hat. Als der Gedichtband Lauf nur, zum Tod Verurteilter! 1936 erschien, beschrieb er in der renommierten Zeitschrift Nyugat das „Todesbewußtsein“ des Dichters, das nichts mit Todesangst zu tun hatte: Bei Radnótis Geburt sind seine Mutter und sein Zwillingsbruder gestorben. Sein Vater starb, als er neun Jahre alt war.
Diese, von Radnóti in mehreren Gedichten besungene Katastrophe ging fast nahtlos in die Erkenntnis über, daß das Leben in Mitteleuropa nach 1933 im Zeichen kaum abwendbarer Bedrohungen stand und daß Dichter in dieser historischen Situation „Tote auf Urlaub“ seien. Das erste Beispiel hierfür sah Radnóti in dem Schicksal des spanischen Dichters Federico García Lorca, den Francos Söldner 1936 in Granada töteten und dem er in seiner „Ersten Ekloge“ gedachte:
Tot. Nicht geflohn. Freilich, wohin könnte der Dichter auch flüchten?
Der zweite für Radnóti schicksalhafte Weggefährte hieß Attila Jószef, der Dichter, der sich 1937 unter den Zug warf:
Auch der teure Attila floh nicht, kopfschüttelnd nur sprach er ständig Nein zu der Welt.
Später ergänzte Radnóti diese Liste mit den Namen des Deutschen Ernst Toller, des Franzosen Pierre Robin und des Tschechen Jiři Mähen – allesamt Opfer des unaufhaltbaren Nazispukes. Alles, was danach kam, war für ihn nur die logische Folge seines Selbstverständnisses als Dichter.
Ein Dichter bin ich, nütz’ nur zum Verbrennen,
da er der Wahrheit Zeuge ist… Einer, der nie getötet hat, und den man darum umbringen wird. Denn dies wird nie verziehn.
Das Todesbewußtsein war somit ein fester Bestandteil der Weltanschauung von Radnóti. In der letzten, klassischen Phase seiner Dichtung nahm die Außenwelt für ihn apokalyptische Züge an, worauf er mit geradezu prophetischem Pathos reagierte. So im „Torso“, den er am Vorabend seine Einlieferung in das Lager Bor schrieb.
Zu einer Zeit lebt ich auf Erden,
da auch der Dichter schwieg und warte
dereinst, vielleicht den gült’gen Fluch zu finden,
den heute ohnehin nur einer schleudern könnt:
Jesaias, dessen Brust von Höllenworten brennt.
Dieser biblische Klang erreicht seinen Höhepunkt in der „Achten Ekloge“ – sie gehört bereits zu dem Teil des Œuvres, das erst postum an die Öffentlichkeit gelangte. In diesem Gedicht ermuntert der Prophet Nahum den Poeten.
… verwandt ist die Wut der Propheten und Dichter:
Speise und Trank für das Volk! Wer nur will, der kann davon leben
bis einst das Land kommt, was jener junge Jünger versprochen
jener, der das Gesetz erfüllt hat und unsere Worte.
In der ungarischen Originalfassung steht nach dem von Franz Fühmann wörtlich wiedergegebenen Ausdruck „jener junge Jünger“ noch ein Wort für Jesus: „Rabbiner“. Für den sich „nicht als Jude fühlenden“ Radnóti ist dieses Signal ebenso symbolträchtig wie der in sein letztes, Gedicht eingebaute berühmte deutsche Satz – ein Hinweis darauf, daß er von der SS erschossen wird.
Er stürzte neben mich. Sein Leib, gekrümmt, ward straff
wie eine Saite straff wird vorm Zerspringen.
Genickschuß. Bleib nur ruhig liegen, dacht ich,
die Kugel wird ein gleiches Los dir bringen.
Geduld bringt Rosen – ja, des Tods, du Tor!
DER SPRINGT NOCH AUF! schrie gellend eine Stimme.
Schlamm, blutvermischt, trocknet an meinem Ohr.
Für meine Generation war Miklós Radnóti eine Legende. Viele von uns meinten, das Land, das er mit den Augen des Propheten Nahum kommen sah, im Sozialismus wiederzuerkennen. Wir fühlten uns als Adressaten seiner Zeilen, als „die mündig gewordnen Söhne“ („Söhne und Töchter“, lesen wir übrigens in dem ungarischen Originaltext), die seine Gedichte „verstehen werden“. Für uns war er nicht nur Quelle des ästhetischen Genusses, sondern wie auch Attila József eine moralische Instanz. Am meisten faszinierte an ihm die Sanftheit, wie sie sich etwa in dem „Brief an die Gattin“ äußert.
… die Landschaft birgt dich, doch von innen schwebst du
mir vor das Aug’ und unzerstörbar lebst du:
Wirklichkeit warst, Traum wirst du Wunderbare
erneut im Brunnen meiner Kinderjahre.
Dieselbe Zärtlichkeit durchdringt das Gedicht „Gewaltmarsch“, eine Gegenüberstellung von Hölle und Idyll, für die Radnóti die Versform des von ihm bewunderten Walther von der Vogelweide wählte.
Könnt ich doch glauben: Nicht nur im Herz blieb unversehrt
das Heim, die Heimat, alles was uns im Leben wert,
und man zurückkehrn könnte und sitzen hinterm Haus,
friedlich die Bienen summen das Pflaumenmus kühlt aus,
Altweibersommer sonnt sich ein Ast im Garten knackt,
in den Laubkronen wiegen sich Früchte prall und nackt,
und Fanni steht und wartet blond vor Rotdornenhag,
und langsam Schatten schreibt der langsame Vormittag –
Vielleicht kann’s doch so werden der Mond strahlt brüderlich.
Freund, bleib doch stehen, ruf mich an: ich erhebe mich!
Es ist fünfzig Jahre her, daß diese Gedichte geschrieben wurden. Nicht nur Radnótis Welt gehört dem Gestern an, sondern mittlerweile auch die Generation, auf die er hoffte. „Offiziell“ wird Radnóti nach wie vor in Ehren gehalten. Unverändert trägt eine Straße im 13. Bezirk in Budapest seinen Namen, einige Minuten von dem Haus entfernt, wo die zweiundachtzigjährige Gattin Fanni die ehemals gemeinsame Wohnung bewohnt.
Die postkommunistisch-postmoderne Ära ist für das antifaschistische Pathos der Vorkriegszeit und für Radnótis lateinischklare und strenge Poetik nicht gerade günstig. Um so erstaunlicher ist es, daß seine Gedichte vergriffen sind. Der aus seinen Trümmern auferstandene, ehemals staatliche und nun privatisierte Szépirodalmi Könyvkiadö (Verlag für Schöne Literatur) in Budapest will sein neues Programm mit einer Neuauflage von Radnótis Gesamtwerk starten. Und schließlich bezeugt seine Lebensfähigkeit auch die zweibändige deutsche Ausgabe seiner Werke.
Dennoch möchte ich meine Kritik an diesem deutschen rühmenswerten literarischen Unternehmen nicht verschweigen. Vor allem möchte ich erwähnen, daß uns die zweibändige Ausgabe ganz wichtige Gedichte schuldig bleibt. In erster Linie geht es um die sogenannten „Ansichtskarten“. Diese Gedichte sind die letzten vor der Erschießung des Dichters, sie gehören einem Verszyklus an, der bei der Exhumierung nach dem Krieg in seiner Manteltasche gefunden wurde. Eines von ihnen zitierte ich oben in Franz Fühmanns Übersetzung; „Ansichtskarten“ – so hieß übrigens der Titel der DDR-Ausgabe von Radnótis Gedichten. Diese Texte fehlen in keiner Anthologie der modernen ungarischen Dichtung. Warum wurden sie bei der Auswahl weggelassen? Dasselbe gilt für den „Gewaltmarsch“, der wiederum den Titel für die schweizerische Radnóti-Ausgabe lieferte. Es gibt sogar zwei deutsche Übersetzungen davon – keine wurde aufgenommen. Könnte sich jemand eine Celan-Auswahl ohne die „Todesfuge“ vorstellen?
Dem Herausgeber Siegfried Heinrichs und dem Oberbaum Verlag fehlte offensichtlich ein klares Konzept. Sowohl Prosa als auch Dichtung von Radnóti werden in den beiden Bänden in einer völlig beliebigen, weder chronologisch noch thematisch geordneten Reihenfolge dargeboten. Angesichts der Tatsache, daß Radnóti im deutschen Sprachraum fast unbekannt ist, wäre es sinnvoll gewesen, den Zeitpunkt der Entstehung der einzelnen Werke zur Orientierung der Leser zu nennen.
Stattdessen wird der eine Band mit der „Achten Ekloge“ abgeschlossen, der zweite endet mit den Hexametern „A la recherche“ – die beiden Gedichte wurden in derselben Augustwoche des Jahres 1944 geschrieben, ihr Entstehungsort ist gleichermaßen „Lager Heidenau, oberhalb Zagubica in den Bergen“ – sie sind also weder inhaltlich noch stilistisch voneinander zu trennen. Ganz verwirrend erscheint mir die Lösung, daß das Gedicht „Offenen Haars fliegt der Frühling“, das den Titel für einen der beiden Bände hergibt, nicht in diesem, sondern in dem anderen Band (Monat der Zwillinge) aufzufinden ist.
Die Tagebücher, die in Ungarn erst 1989 veröffentlicht wurden, werden in der deutschen Ausgabe nur fragmentarisch vorgestellt. Der Übersetzer Hans Skirecki will seine Anmerkungen zu ihnen „auf notwendigste Erläuterungen“ beschränken. Das Ergebnis: Der Text ist für deutsche Leser in vielen Passagen höchst unverständlich.
Einige Beispiele: Radnóti schreibt (7. Februar 1943), daß József Erdélyi in der Zeitung Morgenlicht (dem ungarischen Naziblatt Virradat) Attila József schwer angegriffen hat. Als Minimum wäre die Information erforderlich gewesen, daß Erdélyi der führende Lyriker der ungarischen Populisten und bereits 1938 zu den wildesten Antisemiten übergewechselt war. Wenn Radnóti erwähnt, daß Gizi Bajor seine Übersetzung eines Märchens von Lafontaine im Rundfunk sprechen würde (26. Januar 1942), dann ist es vielleicht von Belang, daß es sich dabei um die größte damals lebende Schauspielerin des Landes handelte, die also bereit war, den Text eines diskriminierten jüdischen Dichters in der breiten Öffentlichkeit vorzutragen. Eintrag vom 7. Dezember 1942: „In der neuen Nummer von M. Cs. französische Übersetzungen von Illyés.“ (Die fehlende) Erläuterung: „M. Cs.“ ist die Zeitschrift Magyar Csillag, die Nachfolgerin der legendären Nyugat, deren Chefredakteur Gyula Illyés (1902–1983) war und in der Radnóti selbst unter den Judengesetzen Gedichte veröffentlichen konnte. Zweimal erwähnt Radnóti, daß sein Gedicht „In deinen beiden Armen“ in der „Zeitung“ (es handelt sich um die jüdische Tageszeitung Az Újság) erschien. Meiner Meinung nach wäre dies ein Grund, ein solches Gedicht in die Auswahl aufzunehmen.
Besonders inkonsequent, manchmal sinnlos ist die ergänzende Photodokumentation. Sie ist auf der Grundlage eines Albums des Budapester Literarischen Museums zusammengestellt. Mehr als die Hälfte der Photos und Photokopien besagen für Deutsche so gut wie nichts. „Brief an Ortutay“, lesen wir beispielsweise unter einem ungarischen Text. Wer war, bitte, (Gyula) Ortutay (übrigens ein bekannter ungarischer Ethnologe) und warum schrieb ihm Radnóti diesen Brief?
An einer anderen Stelle wird ein Photo wie folgt betitelt: „Demonstration am Petőfi-Denkmal am 15. März 1942.“ Es fragt sich: Wer demonstrierte gegen wen? (Es handelte sich um die größte Antikriegskundgebung der ungarischen Linken zum Anlaß des Jahrestages der Revolution 1848 in Budapest.) Zweimal wird der Baumgartenpreis erwähnt, den der Dichter 1936 bekommen hat. Es wird kein Wort darüber gesagt, daß der aus einer Privatstiftung finanzierte Preis die einzige wirklich angesehene ungarische literarische Auszeichnung war. Und so weiter und so weiter.
Kurz: die Ausgabe ist eine Katastrophe. Dem deutschsprachigen Publikum fehlt es in elementarer Weise an Zusammenhängen, Hinweisen und Einschätzungen. Die wenigen direkten biographischen Daten sind ungenau. So im Klappentext: „Ab 1940 Arbeitsdienst, Sklavenarbeit in serbischen Kupferminen; 1944 von den Faschisten verschleppt.“ Präziser gesagt: Bis Mai 1944 gab es für den Dichter keine Sklavenarbeit, sondern nur den demütigenden, unmenschlichen, jedoch nicht tödlichen „Arbeitsdienst“ in Ungarn mit gelegentlichen Besuchs- und Urlaubsmöglichkeiten (so steht es auch in den Tagebüchern). Das wirklich schlimme und fatale Schicksal begann erst mit seiner Einlieferung in das Lager Heidenau.
Noch ein paar Bemerkungen zur Qualität der Übersetzungen. Der „Monat der Zwillinge“ ist Hans Skirecki gut gelungen, die deutsche Version gibt die innere Erregtheit, ja Exaltiertheit dieses lyrischen Geständnisses originalgetreu wieder. Bei den Tagebüchern – die vor allem einen dokumentarischen Wert haben – stört die wörtliche Übersetzung von Straßennamen oder Zeitungstiteln. („Preßburger“ statt „Pozsonyi“-Straße, oder Ungarische Nation statt Magyar Nemzet!).
Was die Gedichte betrifft, gelang es zweifellos Franz Fühmann am besten, Radnótis Welt zugänglich zu machen, obwohl ich in einer größeren Auswahl einige Varianten des Schweizer Dichters Markus Bieler übernehmen würde. Mit Uwe Kolbes Übersetzungen bin ich nicht ganz zufrieden. Vielleicht steht diesem sehr guten und technisch einwandfreien Dichter eher der junge avantgardistische Radnóti näher. Gedichte wie „Wie unmerklich“ können nicht mit lockeren Klangassoziationen (sinken-sitzen, Zeit-heilt, Leierklang-hingelangt) gelöst werden. Die Reimdisziplin des späten Radnóti war nicht weniger streng als diejenige Schillers. Die Reaktion des Dichters auf den Wahn von außen bestand nicht zuletzt in einer ziemlich folgerichtigen Hinwendung zu den geschlossenen klassischen Formen.
Schade um diese Fehler, denn die meisten von ihnen wären durch ein gründlicheres Lektorat vermeidbar gewesen. Es bleibt zu hoffen, daß sie bei einer eventuellen zweiten Auflage mit liebevoller Sorgfalt korrigiert werden.
– Dringlicher Hinweis auf einen der größten modernen Lyriker Europas: Miklós Radnóti, Ungar und Jude, der 1944 von den Faschisten durch Genickschuß ermordet wurde. –
Ein Jahr nach Kriegsende, im Juni 1946, wurde unweit von Györ, einer ungarischen Provinzstadt auf halbem Wege zwischen Wien und Budapest, abseits der Landstraße ein Grab freigelegt, in dem sich die Leichen von 22 Menschen befanden – durch Genickschuß getötet. Einer der Ermordeten war Miklós Radnóti, Lyriker von europäischer Bedeutung und unermüdlicher Übersetzer als unübersetzbar geltender europäischer Dichtung ins Ungarische, zum Zeitpunkt seiner Erschießung durch einen Angehörigen der SS eben 35 Jahre alt.
Er und hunderte Leidensgefährten – zumeist ungarische Juden wie er – waren im Herbst 1944 in einem zweimonatigen Hungermarsch aus dem aufgelösten Lager Heidenau bei Bor, einem serbischen KZ der Organisation Todt, über Belgrad und Novi Sad quer durch Ungarn bis herauf nach Györ getrieben worden; dort wurden die nicht mehr marschfähigen der ausgehungerten Häftlinge von der Begleitmannschaft aus dem Elendszug gegriffen und am 9. November 1944 in das selbstgeschaufelte Massengrab geschossen, indes sich ihre Lagergefährten weiter nach Deutschland, neuer Internierung und naher Vernichtung entgegenschleppten.
Das lyrische Lebenswerk des Miklós Radnóti füllt nicht mehr als einen Band von mittlerem Umfang. Und der schönste und ergreifendste Teil davon hatte Platz in der Brusttasche einer Windjacke. In dieser nämlich wurde bei Öffnung des Massengrabes eine Anzahl von Gedichten gefunden, die Radnóti im Lager Heidenau und während des Todesmarsches durch Jugoslawien und Ungarn geschrieben, in seiner Jacke vor Entdeckung verborgen und mit in sein Grab genommen hat.
Gewiß, jede literarische Kritik hätte bei diesen Gedichten zu verstummen, die jenseits ihrer Qualität ein bewegendes Zeugnis für den einsamen Widerstand eines Dichters sind, der am Ort der puren Menschenvernichtung mit dem fortfuhr, was er immer getan hatte: mit dem Schreiben von Gedichten, und dem Alltag aus Mord, Hunger und Entwürdigung buchstäblich bis zum Letzten seine gebändigte, formenstrenge Dichtung entgegenhielt. Literarische Kritik hätte freilich zu unterbleiben, wenn, ja wenn Miklós Radnóti nicht ganz unzweifelhaft als Dichter dort sein Höchstes erreicht hätte, wo die tiefste Entwürdigung der Menschen praktiziert wurde. Ungarische Literaturwissenschaftler und Dichterkollegen bestätigen es ein ums andere Mal: Miklós Radnóti hat seine schönsten Gedichte im Todeslager, auf dem Gewaltmarsch und offensichtlich ohne Hoffnung geschrieben, daß sie jemals zu Lesern gelangen könnten.
Gleichwohl sind es keine skizzenhaften Notate, dunkle lyrische Splitter, die unbesorgt um Verständlichkeit und Formung niedergeschrieben worden wären, weil sie ohnehin nur ihrem Verfasser zugänglich sein mußten, dem sie im täglichen Kampf gegen das Aufgeben zur einzigen Stütze wurden. Nein, Radnótis Gedichte aus dem Todeslager sind keine verzweifelten Kunstübungen, mit denen sich einer die Zeit vor seinem sicheren Ende auszufüllen suchte, es sind auch keine bloßen Dokumente der Verfolgung, sondern bis ins strenge Detail hinein durchformte Kunstwerke, die sich den Verhältnissen, gegen die sie entstanden, auf wundersame, erschreckende Weise entziehen – hat sich Radnóti, dessen Literatur von Anfang an wie umfangen vom Tod war, doch ausgerechnet im Todeslager von seiner thematischen Bindung an Tod und Untergang, von seinem Ton der Bitterkeit und Trauer gelöst. Im Todeslager schreibt Radnóti vom Leben – ohne Bitternis und in durchaus rühmender Absicht.
Der Lyriker Radnóti war wie gefesselt von der Gewalt und der Lockung des Todes, den er in so vielen seiner Gedichte besungen, beschimpft, beschworen hat. Der Tod stand schon an seiner Wiege: Mutter und Zwillingsbruder starben bei der Geburt. Als Kind muß der am 5. Mai 1909 in Budapest geborenen Radnóti, der in der Nähe einer Kaserne aufwuchs, mitansehen, wie ein Deserteur, der nicht für Habsburgs Herrschaft in den Weltkrieg ziehen wollte, hingerichtet wird, eine Zeugenschaft, die noch im Erwachsenen nachbebt; und als er zwölf ist, stirbt ihm auch der Vater:
Viele sind gestorben und plötzlich,
und wenn wir zu viel zu Abend gegessen, hören wir
im Traum, wie ihnen noch schallend die Nägel
und zischelnd die Haare wachsen im Grab.
Gänzlich frei von Koketterie sind die todessüchtigen Elegien des außerordentlich gebildeten, in der Dichtung verschiedener Sprachen und Kulturen bewanderten Lyrikers Radnóti, der in den dreißiger Jahren sechs eigene Gedichtbände publiziert und rasch berühmt wird. Früh mit dem Tod vertraut, weiß Radnóti, daß vieles anzuklagen und zu verdammen, vieles auch zu preisen, nichts aber lächerlich ist, wenn man an ihn denkt. Die kleinen Genüsse kleiner Leute, Radnóti hat sie gegen den Tod und seine Bußprediger zu rechtfertigen gesucht.
Mit tagtäglich neugeborenem Grauen als unverlierbarer Grundstimmung unternahm es Radnóti, im Gedicht den historischen Moment seiner eigenen Existenz und seiner Epoche zu bestimmen. Dabei setzte er sich und seine Lyrik einem schmerzenden Widerspruch aus, den er zu ertragen, auch geistig durchzustehen die Größe hatte, dem Widerspruch von persönlicher Hoffnungslosigkeit und geschichtlicher Zuversicht. 1936 schreibt er in einem „Elegie“ betitelten Gedicht:
rings auf Tote stoßend, geht mein Schlenderschritt,
neue Schreckgespenster, Zuversichten
und all die Wandersterne wandern mit.
Zuversichten und Schreckgespenster – geschichtliche Hoffnung und persönliche Trauer stehen bei Radnóti unversöhnt gegen- und gleichberechtigt nebeneinander. Radnótis ungeheure Energie, in seiner persönlichen Tragödie den Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Welt zu behaupten, in der Misere seines Lebens ganz unaufgeregt das geschichtlich Vorwärtsweisende aufzudecken, ist keine verzweifelte Ausflucht in ein verkrampftes „Credo quia absurdum“. Auch dessen zeitgemäßeren Variante, der nicht wenige seiner Freunde erlagen, wußte er sich zu entziehen: der stalinistischen Krisenanbetung, die die bittersten Niederlagen zum Zeichen des unausweichlichen Sieges umlog, im Triumph des europäischen Faschismus den Beweis für den nahenden Zusammenbruch des bürgerlichen Staatensystems entdecken wollte und den Gang des Fortschritts unbedenklich an der Zahl der Opfer rühmte, die er forderte. Nein, Radnóti ließ sich nie in die Pflicht der falschen Alternative nehmen, und so hat er weder um die ganze Welt den schwarzen Umhang seiner Verzweiflung geschlagen noch das Leiden des Individuums an einen politischen Zwangsoptimismus verraten. Der da aus mannigfachen Gründen für sich selbst kein Licht sah, wollte ungetröstet bleiben, aber die Welt nicht zur Nacht ohne Ende stilisieren. Radnóti hatte kein Hoffnung für sich und weigerte sich doch, das Leben selbst zur schwarzen Idylle blanker Hoffnungslosigkeit zu verklären. Darum kennt seine auch sprachlich und formal komplexe Dichtung Verzweiflungen und Bitterkeiten, aber keine Resignation und kein selbstgefälliges Paradieren in Düsternissen.
*
Um die Mitte der dreißiger Jahre wird Radnótis Lage im Ungarn des Admirals Horthy zunehmend schwieriger. Der ausgebildete Gymnasialprofessor erhält als Sympathisant der Kommunistischen Partei, der er nie angehörte, Berufsverbot – gegen den avantgardistischen Lyriker, der sich mit Übersetzerarbeit durchbringt, entwerfen doktrinäre Kritiker aus den Reihen ebendieser Partei manche engstirnige wie kaltherzige Anklageschrift. Das Schreckgespenst der Hausdurchsuchung geistert in jenen Jahren durch Ungarn, mehrmals bricht Radnóti mit seiner Frau aus der Bedrängnis durch Feinde und Freunde aus, geht nach Frankreich, wo ihn indes die großen Kolonial-Ausstellungen (Radnóti wird als erster afrikanische Literatur ins Ungarische übersetzen) und später die Massendemonstrationen für die spanische Republik am meisten faszinieren (García Lorca widmet er einen bewegenden lyrischen Nachruf).
Ein Dichter, der nur für den Scheiterhaufen taugt, macht er sich über seine eigene Zukunft keinerlei Illusionen. Früh sieht er die faschistische Eroberung Europas kommen: Mauern entstehen um mich, Städte und Länder verschwinden, und er weiß, was das für ihn bedeuten wird. Doch noch im Sommer 1939 kehrt er von einer Frankreich-Reise nach Ungarn zurück, kurz bevor die Falle, in die er keineswegs ahnungslos tappte, endgültig zuklappte. 1940 können noch seine „Ausgewählten Gedichte“, ein Prosa-Erinnerungsbuch und seine Übersetzungen Apollinaires – des im europäischen Osten und Südosten einflußreichsten französischen Dichters – erscheinen. Dann folgen Jahre wechselnder Arbeitsdienste, wachsender Not; im Frühjahr 1944 besetzt die Deutsche Wehrmacht Ungarn, eines der ersten Gesetze, die die neue Verwaltung erläßt, zwingt die Juden auch in Ungarn zum Tragen des gelben Sterns. Im Juni 1944 ist Radnóti im Lager Heidenau bei Bor, einer, „den sie schließlich töten, / weil er nie töten kann“.
1938 hatten sich zehn ungarische Dichter geeinigt, die „Eklogen“ des Vergil ins Ungarische zu übersetzten, jeder sollte es mit einer der zehn lateinischen Schäferidyllen versuchen. Bei Radnóti, der die neunte auf sich nahm, hatte die Arbeit die mittelbare Folge, daß er in den nächsten Jahren selber acht „Eklogen“ schrieb, die freilich keineswegs ungestörte Idyllen wurden, eher Auseinandersetzungen mit der düsteren Zeit und dem rechten Leben und Dichten in ihr und gegen sie. Dennoch, auch in ihnen beunruhigt Radnótis ruhige Gewißheit, mit der er sich dem, was er als unausweichlich erkannt hat, stellt, ja ausliefert, doch ohne darüber in Resignation oder Zynismus zu stürzen oder auch nur den Anspruch auf Widerstand preiszugeben. Eine verwegene Unbeirrbarkeit liegt in diesem Werk, diesem Leben. In der für ihn so typischen – und ausschnittsweise kaum sinnfällig zu zitierenden – Form des langen, epischen Gedichtes, für das er sich eine staunenswerte Vielfalt an klassischen Formen anzueignen wußte, hat Radnóti, je finsterer die Zeiten wurden, um so rührender das Lob der ungarischen Landschaft und ihrer Menschen gesungen. Der unerhörte Patriotismus dieses Autors, dessen Werke in seiner Heimat verboten waren, ja dessen Existenz von ungarischen Erfüllungsgehilfen schließlich der Vernichtung übergeben wurde, hat nicht wenige seiner Weggefährten einst verstört, später bezwungen.
Die Gedichte aus dem Lager Heidenau sind von bedrückender, quälender Distanz zur Barbarei von Ort und Zeit ihres Entstehens. Im Lager schreibt Radnóti seinen „Brief an die Gattin“, ein rührendes Liebespoem an die Gefährtin des Lebens, die ihm nun im Sterben fern ist und es ihm dennoch erleichtert:
Wirklichkeit warst, Traum wirst du Wunderbare
erneut im Brunnen meiner Knabenjahre.
Und in Heidenau schreibt Radnóti, man zögert es auszusprechen, als wäre es eine verfängliche Beobachtung, schreibt er, umgeben von Mord und Folter – Stimmungslyrik:
Das Lager schläft. Auf die Landschaft
scheint nun der Mond und macht den Stacheldraht erglänzen
und man sieht durch das Fenster die Schatten bewaffneter Wächter.
Das ist schwer zu ertragen: Naturbeobachtung im Lager, Stimmung mit Stacheldraht. Und doch widersetzt sich Radnóti, den die ungarische Literaturgeschichte als Höhepunkt der sogenannten „antifaschistischen Lyrik“ verzeichnet, in diesen Gedichten, die dem Appell, der unmittelbaren politischen Aussage so fern stehen, dem Faschismus ganz vehement: durch sein unverdrossenes Beharren auf einem anderen Menschenbild, auf einem anderen Entwurf der ungarischen Nation, der Geschichte.
*
Die Gedichte Miklós Radnótis sind um die Welt gegangen und haben überall, wo sie gelesen wurden, die Menschen ergriffen, erschüttert. Der italienische Lyriker und Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo rühmte an ihnen, was moderner Dichtung gemeinhin als rettungslos veraltet gilt: die Einheit von Ethik und Ästhetik, die in dieser Dichtung des Todes gegen den Tod unauflöslich ist. In den deutschsprachigen Ländern ist Radnóti freilich ein Unbekannter geblieben – wie fast alle großen ungarischen Dichter der Moderne, von Endre Ady über Attila József, Lajos Kassák bis zum kürzlich verstorbenen Sándor Weóres.
Auch Miklós Radnóti, der Hölderlin und Trakl ins Ungarische übersetzt hat, ist auf deutsch nur in unvollständigen und teilweise unzulänglichen Ausgaben kennenzulernen. Eine schmale Auswahl seiner späten Gedichte hat vor zwanzig Jahren Franz Fühmann ediert, eine umfangreichere vor zehn der Schweizer Markus Bieler; Fühmanns Übersetzungen sind im Ton verhaltenener und vorsichtiger, Bielers Übertragungen dem hohen Pathos Radnótis näher, aber nicht selten unbeholfener. So oder so: Die Entdeckung Radnótis steht noch aus, ist er doch hierzulande nicht einmal vergessen, sondern erst gar nie zur Kenntnis genommen worden. 1940, schon auf dem Wege in die Vernichtung, hat er geschrieben:
Vergäße man! Doch ich vergaß
noch nie etwas in all den Jahren.
Für unsere symposiensläufigen Mitteleuropäer, die lieber das melancholische Gerücht eines angeblich versunkenen Kontinents rühmen, als sich um die Kenntnis seiner getöteten und totgeschwiegenen Dichter zu bemühen, gilt leider: Entdeckten sie! Doch sie entdeckten noch nie etwas in all den Jahren.
Franz Fühmann liest „Pavlos Papierbuch“ — sowie Gedichte von Miklós Radnóti
Reportage von Axel Reitel: Wer war Siegfried Heinrichs?
Schreibe einen Kommentar