Miklós Szabolcsi: Attila József

ELTERNHAUS, KINDHEIT UND GYMNASIALZEIT – ERSTE LITERARISCHE VERSUCHE

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Miklós Szabolcsi: Attila József

Szabolcsi-Attila József

Attila József wurde am 11. April 1905 in Budapest, in der Vorstadt Ferencváros (Franzstadt) geboren. In diesem Satz ist jede Angabe beziehungsreich und von Bedeutung. József gehörte zu jener Generation, über deren Kindheit der Schatten des ersten Weltkriegs lag, deren Jugendzeit in die zwanziger Jahre mit ihren Desillusionen, schweren Prüfungen und dennoch so vielen Hoffnungen fiel und die im kaum beginnenden Mannesalter das Schlimmste, die Machtergreifung des Faschismus, erleben mußte. Den Weg dieser Generation bestimmten hochgesteckte Ziele und jähes Erlahmen der Kräfte, rascher Aufbruch und frühes Scheitern, Hoffnungen und Ernüchterung. Der Geburtsort Budapest – ein wichtiges Moment auch dies in der Geschichte der ungarischen Dichtung, denn Józsefs Altersgenossen kamen überwiegend noch aus der ländlichen Provinz. Die Hauptstadt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Großstadt geworden, begann zu jener Zeit endgültig und entschieden auch das geistige Zentrum des Landes zu werden. Hinter der immer noch amorphen, traditionslosen Bourgeoisie standen bereits die Hunderttausende der wachsenden ungarischen Arbeiterklasse. Budapest als modernes Großstadt-Thema hatte sich bereits zu Beginn des Jahrhunderts in der Literatur durchgesetzt, aber die Gestaltung Budapests als Geburtsstadt – mit der gesamten emotionalen Bedeutung dieses Begriffs – war in der Dichtung noch keineswegs etwas Gewohntes. Nun ist aber Attila József nicht einfach in Budapest, sondern in einem der Außenbezirke, in Ferencváros, geboren. Dieser nach dem österreichischen Kaiser1 benannte Stadtteil hatte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch Fuhrleute und Gärtner beherbergt, doch schon vor der Jahrhundertwende war dort ein dicht bevölkertes Arbeiterviertel, in dessen winkligen Gassen ebenerdige Häuser und weite Marktplätze des alten Dorfes und die Brandmauern, Mietskasernen und Schornsteine des neuen Fabrikviertels aneinanderstießen. Es war der Bezirk der Schlaf- und Massenquartiere, der Stehkneipen und der Wassersuppen aus den Volksküchen, der Mühlen und der Seifenfabriken, des Budapester Schlachthofs und des Donauhafens. Aus dieser Vorstadtlandschaft war bis dahin noch kein Dichter, kein Schriftsteller von Rang hervorgegangen. Mit Attila József gelangte das ungarische Fabrikviertel in die ungarische Dichtung.
Nicht nur Ort und Zeit der Geburt, auch die Herkunft ist kennzeichnend, ja nachgerade symbolisch. „Die Welt bin ich mit alten, neuen Zügen. / Was da auch immer aufeinanderstieß…“,2 schrieb er am Ende seines Lebens, und dies war in der Realität begründet. Der Vater, „der Seifensieder Áron József“,3 war aus dem Süden des damaligen Ungarn – aus dem Komitat Temes4 – in die Hauptstadt gekommen, der Großvater war noch Gutsknecht gewesen. Der Vater hatte bereits ein Handwerk erlernt, war ein angesehener Arbeiter, mit einem Drang zu Abenteuern und Romantik. Er hielt sich bereits längere Zeit in Budapest auf und hatte Arbeit gefunden, als er ein kleines Dienstmädchen, Borcsa Pőcze, die „Mama“, kennen- und liebenlernte. Wiederum aus einer völlig anderen Landschaft und Umwelt war die zierliche junge Frau in die Stadt gekommen: aus einem charakteristischen Teil der Großen Ungarischen Tiefebene, dem Landstrich zwischen Donau und Theiß, einer endlosen Ebene, damals noch durchsetzt von Weihern, Sümpfen und Moorland, besiedelt von hart arbeitenden, knochig-zähen Bauern, Kumanen5 in der Großgemeinde Szabadszállás, einem Menschenschlag besonderer Prägung durch Ursprung und Lebensweise.
Die Ehe verlief anfangs harmonisch; doch der Junge war kaum drei Jahre alt, da verließ der Vater die Mutter. Warum – wir wissen es bis heute nicht. Die Familie glaubte, der Vater sei nach Amerika ausgewandert, und so bekundet es der Dichter selber in mehreren Gedichten. Erst Ende 1957 wurde bekannt, der Vater sei nach Südungarn zurückgekehrt, habe in verschiedenen Städten Rumäniens gelebt, sei seinem Beruf nachgegangen, ohne etwas von seiner Familie zu wissen, nach der er sich sehnte, zu der er jedoch keine Verbindung hatte. Und die Mutter blieb allein mit drei Kindern, zwei Mädchen und dem kleinen Jungen; ihr Leben war ein Ringen mit der Not, mit Bedrängnissen, ein Wandern von Untermiete zu Untermiete, aus einem Massenquartier ins andere. Auch das Los der Findelkinder lernte der Junge kennen.

Mich aber vermittelte die Landesliga für Kinderschutz an Pflegeeltern nach Öcsöd. Da lebte ich bis zu meinem siebenten Lebensjahr und arbeitete bereits; wie bei den Kindern der Dorfarmen üblich, hütete ich Schweine. Als ich sieben Jahre alt war, holte mich meine Mutter – Borbála Pőcze – zurück nach Budapest und ließ mich in die zweite Klasse der Elementarschule einschreiben.

Es begann für ihn das – überall in Europa gleiche – Leben des herumstreunenden, frühreif-kessen Proletarierkindes der Vorstadt.

Als ich neun Jahre alt war, brach der Weltkrieg aus, und uns ging es immer schlechter. Ich hatte mein Teil am Schlange stehen vor den Läden; es kam vor, daß ich mich abends um neun Uhr in die Schlange vorm Lebensmittelladen einreihte und mir früh um halb acht, als ich dran gewesen wär, vor der Nase erklärt wurde, das Schmalz sei alle. Ich half meiner Mutter, so gut ich konnte. Verkaufte Trinkwasser im Kino Világ, stahl Holz und Kohlen auf dem Bahnhof Ferencváros, damit wir was zum Heizen hatten, fertigte bunte Papierwindmühlen und verkaufte sie an bessergestellte Kinder, schleppte Körbe und Pakete in den Markthallen und so weiter.6

Fügen wir dem nur noch hinzu: Die Mutter wurde krank, ihr Zustand verschlimmerte sich zusehends, immer länger dauerten die Aufenthalte im Krankenhaus, und die Kinder trieben sich unterdessen, sich selbst überlassen und hungernd, auf der Straße herum. Bald schon stand die Diagnose fest: Gebärmutterkrebs.

Die Mutter ist zu früh gestorben,
denn kurz leben die Wäscherinnen.
Es zittern ihnen leicht die Beine,
und Kopfweh kriegen sie vom Bügeln
.7

Was brachte Attila József aus dieser Kindheit mit, wie haben ihn die ersten vierzehn Jahre seines Lebens geformt?

Folgst du der Wirklichkeit schweren Spuren
bis hin zu dir, wo du geboren –
Schau nieder hier!
8

heißt es im Gedicht viele Jahre später, und die doppelte Bedeutung, die doppelte Lehre der Kindheit klingt hier an: Schweren Spuren gilt es zu folgen und qualvoll schmerzliche Erinnerungen wachzurufen. Von der Kindheit reden – das ist für ihn in der Tat jedesmal ein Abstieg zur Hölle, zugleich aber kommen mit diesen bleiernen Erinnerungen vielerlei Erkenntnisse zutage: Sein Charakter, seine Begabung, seine politische Zugehörigkeit sind von dorther bestimmt. „Von hier bist du, / daß dieses düstre Verlangen / dich ständig festhält, / wie all die Elenden zu sein“,9 so bekennt der Dichter, der sich stets den Menschen der Vorstadt zugehörig fühlte, sich seiner Kindheit nicht schämte, sie nicht verdrängte, sondern erkundete und zu verstehen suchte; sie war für ihn die Erlebnisgrundlage des bewußten Bekenntnisses zu einer Gemeinschaft. Nicht von oben herab neigt sich Attila József den Armen und Hinfälligen zu; er ist aus ihrer Mitte herausgewachsen, erkennt in ihrem Los das Beispiel und das Gesetz und in seinem eigenen Schicksal eine Verpflichtung zum gemeinsamen Kampf und zum Leben. Erinnerungen und Entschlüsse brachte er aus der Vorstadt mit. Erinnerungen: Bilder der Armut und der Zusammengehörigkeit, „des Kohleintopfs kalter Geruch“10 und das Geschepper auf dem Güterbahnhof, „die krummen, stummen Fernen ihrer grauen Mietskasernen“11 und die Enge in den Notunterkünften. Er vergaß nicht die Menschen der Vorstadt – „den alten Schuster Csoszogi“12 – und beschwört ihre Gestalten liebevoll, fast zärtlich. Mit den Erinnerungen drangen Melodien von Arbeiterliedern herauf und klingen in mehreren seiner Gedichte an.
„Schwere Spuren“,13 das war eine lange Kette von Demütigungen und Unterwerfungen, und besonders war es das Ausgeliefertsein, die ständige Umklammerung durch materielle Not. Von der Welt der Erwachsenen war das Kind nicht nur durch sein Kindsein getrennt, nicht dies in erster Linie bedrückte ihn – wie in so manchem Kindheitsroman der bürgerlichen Literatur zu lesen –, sondern durch die bittere Not, kein Brot zu haben, war er ein anderer geworden; sie trennte ihn wie eine Mauer von den Wohlhabenderen. Die häufig wechselnden Einschnitte im Leben der Familie wurden immer durch Geldprobleme hervorgerufen, nicht selten ging es dabei um das bloße Dasein, und früh, als Kind schon, erfuhr er die gnadenlos zupackende Kraft von Kälte, Hunger und Not; er lernte, daß es zweierlei Welten, die der Reichen und die der Armen, gibt. Immerzu mußte er all seine Kraft, Energie und Geschicklichkeit zusammennehmen, nur um zu überleben, und diese gewaltige Anspannung im Kindesalter mag seine spätere Ermüdung mit erklären.
Die Demütigungen und Verletzungen wirkten jedoch – schon in der Kindheit und später – auch aktivierend. Sie nötigten ihn, sich über dieses Los zu erheben und Lehren zu ziehen – sich darüber zu erheben im Sinne einer Veränderung und Überwindung der Ordnung, die ein solches Los aufzwingt, und zum anderen im Sinne der Bewahrung der eigenen Sauberkeit, der seelischen Intaktheit und der Ehre, nicht zum Paktierer oder Dieb, zum Drückeberger oder Zyniker zu werden.
Durch diese zerrüttete und bedrückende Proletarierkindheit im Ungarn des Jahrhundertbeginns wurde er sich schließlich der Kraft der Klasse bewußt, die „nach Priestern, Soldaten und Bürgern“14 das Werk der Menschheit weiterführt und die bei allem Elend und aller Erniedrigung fähig ist, eine neue Lebensform, eine neue Art menschlicher Beziehungen zu schaffen, die sich durch Zusammengehörigkeit und Solidarität auszeichnet. Von daher gelangt der Dichter zum Erlebnis einer neuen, schwer erkämpften Harmonie von Individuum und Gemeinschaft. Um eine modische Formel zu gebrauchen: Es ist eine durch und durch zeitgemäße, moderne Kindheit gewesen, in der Welt der Maschinen und der Massenbewegungen, in der Welt des aus vielerlei Elementen zu einer einheitlichen Kraft werdenden ungarischen Industrieproletariats. Alle Wunden, die Attila József als Kind erlitt, und alle Konflikte, die er durchlebte, waren auch die seiner Klasse. Es sind jene Konflikte, durch deren Lösung die neue Gesellschaft – und in ihr der neue Mensch und Künstler – geboren wird. Persönlichkeit und Dichtung von Attila József sind tief in der Welt seiner Kindheit verwurzelt; um aus dieser Erlebniswelt eine große Dichtung und eine bewußte Überzeugung formen zu können, mußte er noch einen langen und komplizierten Weg zurücklegen.
Der lesehungrige Vorstadtjunge hat die Periode der Groschenheftlektüre rasch hinter sich gebracht, ebenso die phantastischen Landschaften der damals wie heute populären Romane Jókais,15 er lernte die Bücher kennen, die zum Lesestoff des gebildeten ungarischen Arbeiters gehörten: vor allem die Romane von Zola, dann von Gorki und anderen sozialistischen Autoren.
Sehr früh schon versuchte er sich im Verse machen; von diesen Erstlingen ist nur der folgende in einem Brief an seine Schwester erhalten geblieben:

Wie sehr möchte ich reich sein,
Einmal Gänsebraten essen,
In schönen Sachen kommen und gehen
Und für fünf Forint Lutscher kaufen.

Während ich die Bonbons lutschte,
Zeigte ich meine neuen Sachen herum,
Prahlte allen, wo ich nur kann,
Wie gut es doch dem Attila geht.
16

Es ist ein bei aller Schlichtheit melodiöses, rührendes und tiefen Einblick vermittelndes Bekenntnis des vermutlich neunjährigen Kindes.
Aber auch auf andere Weise beginnt er sich von seiner Umwelt abzuheben. Seine ältere Schwester Jolán17 hatte sehr früh geheiratet und wurde in zweiter Ehe 1918 die Frau eines wohlhabenden Budapester Rechtsanwalts – eine Verbindung, die gesellschaftlich merkwürdig anmuten mußte; möglicherweise wollte der politisch radikal gesinnte Mann das hübsche und aufgeweckte Proletariermädchen in der Rolle eines Pygmalion zu sich heranziehen. Allerdings ergab sich daraus eine Reihe sonderbarer grotesker, den Dichter erniedrigender Situationen. Die Herkunft der jungen Frau mußte vor der reichen Familie verheimlicht werden. Dieses Verhältnis war von Beginn an durchsetzt von Lüge, Unbeholfenheit, Verstellung und Heuchelei.
Die Räterepublik18 von 1919 hat in dem damals Halbwüchsigen bleibende Eindrücke hinterlassen. Die Kundgebungen und Straßenbälle hat er bereits miterlebt. Die Broschüre Lenins Staat und Revolution, die ihm ein unbekannter kommunistischer Redner in die Hand gedrückt hatte, bewahrte er bis zu seinem Tod auf. Unvergeßlich waren diese fiebrigen, von Kampf erfüllten Monate – sie wurden Beispiel und Lehre für ein ganzes Leben. Doch danach verfinsterte sich der politische Horizont und für Attila József auch der persönliche. Der weiße Terror19 setzte ein, die Hungersnot erreichte ihren Höhepunkt, die Mutter lag die ganze Zeit im Krankenhaus, und Ende Dezember 1919, gerade als der Junge bei Verwandten auf dem Land war, um Lebensmittel zu beschaffen, starb sie dreiundvierzigjährig in einem Barackenhospital.

Kriegsende war’s, mit Sorg und bittern Nöten.
Ich fuhr hinaus aufs Land,
denn in der Hauptstadt standen leer die Läden,
mein Budapest war wüst, wie ausgebrannt.
Auf dem Waggondach bäuchlings in der Mitten
konnt ich mit Brot und Hirse heimgelangen,
für dich hatt ich sogar ein Huhn erstritten.
aaaaaDoch du warst schon gegangen.

Den Würmern hin hast du dich mir genommen
aaaaaund deine süße Brust
.20

Da war nun die kleine Familie „Nach der Beerdigung“:

Nicht mal Trostworte sprachen wir,
drei Waisen saßen da verloren,
wie man sich setzt, wenn aus die Schicht,
mit stumpfem Blick und tauben Ohren,
jeder für sich, und keiner spricht…
21

Das Waisenamt bestimmte meinen Schwager, den inzwischen verstorbenen Dr. Ödön Makai, zu meinem Vormund. Ein Frühjahr und einen Sommer lang diente ich auf den Schleppdampfern Vihar, Török und Tatár der Atlantica Seeschiffahrts-A.G. Zu dieser Zeit legte ich extern die Prüfung für die vierte Klasse der Bürgerschule ab. Danach schickten mich mein Vormund und Dr. Sándor Gießwein zu den Salesianern22 nach Nyergesújfalu: ich sollte Seminarist werden. Dort blieb ich nur zwei Wochen, denn schließlich bin ich griechisch-orthodox und kein Katholik. Von da kam ich nach Makó in das Demke-Internat, wo ich alsbald eine Freistelle bekam.23

Makó ist eine kleine ländliche Stadt nahe der Südgrenze Ungarns, unweit des Ortes, in dem Attila Józsefs Vater geboren wurde. Drei Jahre verbrachte hier der junge Mann, und in diese drei Jahre (1920 bis 1923) fällt der Beginn seiner Dichterlaufbahn. Nicht das Makóer Gymnasium mit seiner Atmosphäre der Starrheit wurde ihm ein Zuhause, wenngleich er sich mit beispiellosem Wissensdurst auf den Lehrstoff stürzte – Sprachen und Literatur, Mathematik und Geschichte fesselten ihn gleichermaßen –, sondern der kleine Kreis von Intellektuellen bürgerlich-radikaler Gesinnung und Freimaurern, dem ein paar Rechtsanwälte, Ärzte und Journalisten angehörten und die sich des jungen Mannes annahmen. Wie auf einer Insel lebten hier in den ersten, gefahrvollsten Jahren des Horthy-Regimes24 diese gebildeten Intellektuellen, und nur in diesem Kreis konnte der junge Mann, der in einer ungewöhnlichen Lage und auf sich gestellt war, Verständnis finden. Dies war wichtig für ihn, den Internatsschüler mit einem amtlichen Vormund (daß es der eigene Schwager war, durfte in Makó allerdings niemand wissen – und viele wissen es heute noch nicht), der die abgelegten Anzüge seines Schwagers trug, den die Erinnerungen einer schweren Kindheit belasteten, der mit seinem früh gereiften Verstand und seiner starken Empfänglichkeit für Literatur gezwungen war, sich unter nichtsahnenden Gymnasiasten zu bewegen, zu lernen und zu leben. Die wenigen Freunde sprachen ihm Mut zu und halfen ihm. Noch als Unterprimaner gab er seinen ersten Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel Bettler der Schönheit25 heraus.
Erst aus der Kenntnis dieses Lebensabschnittes ist zu begreifen, welch einen Erlebnis- und Erinnerungsstoff Attila József zu verarbeiten hatte, ehe eine große Dichtung entstehen konnte.

Attila Józsefs Verhältnis zum literarischen Erbe

Es ist eine schwierige Aufgabe, jene fundamentalen Eindrücke und primären Impulse zu bestimmen, die für das Lebenswerk eines Dichters entscheidend sind. Im Gedächtnis eines jeden Menschen, in unser aller Bewußtsein, lagern tief gespeicherte Erinnerungen, Elemente der Kindheit und der Erziehung; sie bilden jenes Fundament, auf das sich die später bewußteren Erlebnisse gründen. Inwieweit und an welche Tradition angeknüpft wurde, hing nicht zuletzt auch davon ab, wie und wodurch bereits im frühen Kindesalter der Geschmack geformt und die Richtung der Entwicklung festgelegt wurde.
Zu den primären Eindrücken in der Bildung von Attila József dürften insbesondere die des ungarischen Volksliedes und der Volksüberlieferung zählen. Die Lieder der Mutter, eines Dienstmädchens aus einem Bauerndorf, die Märchen für die Kinder, all die gehörten und gelernten Lieder vermittelten Erlebnisse, die ihm schon von frühester Jugend an den Rhythmus des Volksliedes, die Formen und Schätze der Volksdichtung nahegebracht und tief eingeprägt haben. Da waren aber auch noch andere Grunderfahrungen: die Stimme der Arbeiterbewegung, ihre Kampflieder und Märsche. Der charakteristische jambische Rhythmus des ungarischen Arbeiterlieds gehört ebenfalls zum primären Erlebnisfonds; und natürlich – das sei hinzugefügt – lernte er als Vorstadtjunge, der Kinosäle ausfegte und Eintrittskarten verkaufte, auch die Schlager und Chansons kennen, die gleichsam als Folklore der Stadtbewohner anzusehen sind. Sehr zeitig entwickelt war offenbar sein außergewöhnliches Rhythmusgefühl, seine Fähigkeit, die komplizierte Wirklichkeit in regelmäßige Formen zu zwingen; einige frühe Versuche, die erhalten geblieben sind, zeugen in ihrer ansonsten kindlich-pubertären Art von diesem Sinn für Rhythmus und der formenden Kraft. All das gehört freilich zur Vorgeschichte der Dichterlaufbahn, und erst danach, auf der Basis der frühen Erlebnisse, kann man von einem bewußten und aktiven Anknüpfen an die Tradition sprechen. Beim jungen Attila József vollzog sich dieser Anschluß an die Tradition in den Jahren auf dem Gymnasium in Makó, also in der Zeit zwischen 1920 und 1923, in den ersten etwa 150 erhalten gebliebenen Gedichten, die teils im ersten Gedichtband, in Bettler der Schönheit, Aufnahme fanden und die dann im zweiten Band, in Nicht ich bin’s, der schreit,26 den Hauptteil ausmachen.

Einfluß der ungarischen Klassiker
Wo und wie lernte Attila József das Erbe kennen? Zunächst in den Schullesebüchern. Hier muß allerdings sogleich eine überraschende Feststellung folgen: Was damals in den Lesebüchern geboten wurde, hatte auf seine Dichtung wenig Einfluß. Tatsächlich waren die ungarischen Schullesebücher Anfang der zwanziger Jahre, als sich die Konterrevolution etablierte, mit nichtssagenden, naiven Reimereien und moralisierenden Histörchen in der Manier der damals vorherrschenden platten völkisch-nationalen Literatur27 gefüllt. Von den Klassikern der ungarischen Literatur, auch der Lyrik, war in diesen Lesebüchern kaum etwas zu finden. Und trotzdem ist in der Dichtung des jungen Attila József zu erkennen, daß er sehr wohl und bewußt an die klassische ungarische Lyrik des 19. Jahrhunderts, und zwar an fast alle ihre wesentlichen Strömungen anknüpfte. Dem Einfluß der Dichtung von Sándor Petőfi28 z.B. konnte und wollte auch er sich nicht entziehen. Petőfis Natürlichkeit und Einfachheit wie auch seine Formen wirkten auf József mit der gleichen lebendigen Kraft wie Petőfis unversöhnlicher revolutionärer Demokratismus und leidenschaftlicher Wille zur Freiheit. Das Beispiel und die Stimme des 1849 im ungarischen Freiheitskampf gefallenen Dichters sind in den Gedichten des siebzehnjährigen Attila József – unausgesprochen – gegenwärtig. 1923 beging das offizielle Ungarn die 100. Wiederkehr des Geburtstages von Sándor Petőfi, und während „das taube Amt“29 – so bezeichnet von Mihály Babits, dem bedeutenden Repräsentanten der progressiven bürgerlichen Literatur und Zeitgenossen Józsefs – im Parlament den plebejisch-revolutionären Kern dieser Dichtung weg- und verleugnete und einen idyllisierten, als harmlos zurechtgetünchten Petőfi feierte, ging es den fortschrittlichen Vertretern der ungarischen Literatur, unter ihnen dem jungen Attila József, um das wahre Bild des Dichters, um jenen revolutionären Petőfi, von dem József in den klassischen, alkäischen Strophen eines seiner frühesten Gedichte, in „Petőfis Feuer“,30 spricht.
Aber auch der Einfluß aus anderen Lebenswerken ungarischer Dichter des 19. Jahrhunderts ist bei Attila József nachweisbar: so die Sprachgewalt und die formenzähmende Kraft der Dichterpersönlichkeit von Dániel Berzsenyi,31 der zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gleichsam neue Dimensionen der Sprache erschloß, oder die heitere, lieblich-melodiöse und doch in die Tiefe dringende Dichtung des Debrecener Scholaren und Poeten Mihály Csokonai Vitéz, der bedeutendsten und vielseitigsten Dichterpersönlichkeit aus der Zeit der Aufklärung, dessen spätbarocke Züge – wie Charme, Eleganz, Grazie, Melodik und Sinn für die unscheinbaren Dinge – auch später wesentliche Merkmale der Poesie Attila Józsefs blieben. Ebenso wäre auf die Wirkung der Bilder von Mihály Vörösmarty,32 dem großen Dichter der ungarischen Romantik, zu verweisen oder erst recht darauf, wie stark die Lyrik des Zeitgenossen und Freundes von Petőfi, Janós Aranys,33 der bis ins letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts lebte, auf den angehenden Dichter des Proletariats gewirkt hat. Dieser nahm all die Gedanken und Emotionen, Stimmungen und Formen der großen Dichtervorfahren auf und wurde insbesondere durch den Petőfischen revolutionären Elan, seinen Idealen der Freiheit und der Liebe, durch Csokonais Anmut und Musikalität, durch die romantischen Bilder von Berzsenyi und durch Vörösmarty und Aranys vollendete Formkunst beeinflußt.
Doch Attila József stand nicht nur in der Traditionsfolge des 19. Jahrhunderts, sondern er knüpfte auch an die ihm unmittelbar vorausgegangene Dichtung an. Seine Lyrik folgt somit der klassischen ungarischen Dichtung, aber auch ihren großen Erneuerern zu Beginn dieses Jahrhunderts. Am Anfang des 20. Jahrhunderts vollzog sich in der ungarischen Literatur, insbesondere in der Lyrik, wie auch in den politischen Verhältnissen des Landes eine gewaltige revolutionäre Wandlung. Der Bruch mit der herrschenden Ordnung des alten Ungarn, mit der oberflächlichen Scheinruhe, mit der vorgetäuschten Solidität und aufgeputzten Selbstgefälligkeit war in der Literatur mit dem Auftreten einer neuen Richtung verbunden. Der „literarische Aufruhr“,34 wie Endre Ady35 den Vorgang nannte, stand in enger Beziehung zu der am Jahrhundertbeginn sich verschärfenden sozialen und nationalen Krise, zur Bewegung des Agrar- und Industrieproletariats, zu den Zielsetzungen der radikalen Intellektuellen und schließlich zum Sozialismus. Die neue Richtung, die sich im Umkreis der Zeitschrift Nyugat36 (Westen) organisierte; stellte sowohl eine neue, demokratische Literaturbewegung dar, politisch mit einem radikalen bürgerlich-demokratischen,37 bei einzelnen mit sozialistisch-revolutionärem Programm, als auch die Kreation neuer Formen, neuer Farben und neuer Töne in der Dichtung. Diese Bewegung brachte Ungarn in der Dichtung auf den europäischen Entwicklungsstand der Zeit und zugleich zum Erkennen der herangereiften sozialen und nationalen Aufgaben. Deshalb wird diese Periode in der ungarischen Literaturwissenschaft als Beginn einer spezifischen osteuropäischen Moderne bezeichnet. Die neue Lyrik mit ihren ungewohnten Tönen und Formen stand im Gegensatz und in Gegnerschaft zur konservativen völkisch-nationalen Literatur, zum erstarrten Epigonismus, aber auch zur geistreich ironisierenden, mitunter geschickt und klug gemachten und an den Mann gebrachten städtisch-kleinbürgerlichen Literatur, die in attraktiv schillernden Formen das Lebensgefühl des Kleinbürgers jener Zeit wiedergab und deren bekanntester Vertreter Ferenc Molnár38 war.
Die neue Richtung bewirkte aber auch eine Absage an die damaligen Anfänge einer sozialistischen, genauer sozialdemokratischen Lyrik, die sich im Repetieren sentimentaler Schablonen sozialdemokratischer Elendsdichtung erschöpfte und die in ihren Formen übertrieben vereinfacht, ja simpel und in vieler Hinsicht Epigone der konservativen Schule war. Im Zusammenhang mit dieser Wendung in der Literatur kam es dann in der sozialdemokratischen Partei zu heftigen Auseinandersetzungen und Polemiken. Im wesentlichen wurden auch die historischen Bestrebungen der ungarischen Arbeiterklasse durch die neue Richtung der Literatur zum Ausdruck gebracht. Gewiß, die neue Richtung war nicht einheitlich, und die tatsächlich vorhandenen Unterschiede sind dem heutigen Betrachter bereits offenkundig. Die Aufmerksamkeit sei hier auf die herausragende Gestalt dieses Neuansatzes in der ungarischen Literatur, auf Endre Ady gerichtet, der die Petőfische Entwicklungslinie fortsetzte und Attila József unmittelbar vorausging. Ady sprach mit der größten Kraft die neuen Worte des neuen Lebens aus und lieh damit der Sehnsucht der ungarischen Intellektuellen nach einem erfüllten, totalen Leben seine Stimme. Auf neue Weise kämpfte er gegen die Macht des Geldes, und seine Dichtung ist in ihrer Gesamtheit aktive Solidarität mit den ungarischen Proletariern und deren führenden Männern und Frauen, mit den „Weißen der Zukunft“39 – wie es in einem seiner Gedichte heißt.

Kritisch-produktiver Umgang mit den Zeitgenossen Endre Ady und Gyula Juhász
Adys bürgerlich-plebejische40 revolutionäre Dichtung ist nicht allem durch ihre unmittelbar politische Wirkung, sondern auch durch die in ihr mitschwingenden Emotionen für viele Generationen ein starker Impuls zur Revolutionsbereitschaft gewesen. In seiner spezifisch bildschöpferischen Technik sind Elemente aus der ungarischen Vorzeit, aus der Bibelübersetzung, aus der Sprache seiner Zeit und aus der westeuropäischen Dichtung zu kraftvollen symbolhaften Metaphern, zu „neuen Zeichen auf der uralten Heerstraße“41 verschmolzen, um seine Revolutionserwartung auszudrücken. Für Adys Schaffen insgesamt ist zudem auch jene Überhöhung des lyrischen Subjekte charakteristisch, die der europäischen bürgerlichen Lyrik um die Jahrhundertwende eigen war; Adys gesteigertes lyrisches Ich wurde jedoch alsbald selbst ein Symbol für das Ungarn der Zukunft. Wir betrachten Adys Dichtung in ihrer Gesamtheit als erste Verwirklichung der ungarischen – und in weiterer Sicht der osteuropäischen – Moderne, die nicht durch irgendwelche Atomisiertheit des bürgerlichen Individuums, sondern durch die tätige und auch bei der Wegsuche gültige Verbundenheit der intellektuellen Persönlichkeit mit den Massen gekennzeichnet ist. Es war eine Moderne, die in die europäische Literatur die Spezifik der osteuropäischen „Randgebiete“ einbrachte. Für den jungen Attila Józefs ist gerade die Lyrik von Endre Ady das erste große, überwältigende und bis ans Lebensende anhaltende künstlerische Erlebnis gewesen, das auf ihn befreiend wirkte und ihm Auftrieb gab.
In Józsefs Gedichten aus der Zeit von Ende 1922 – und fügen wir gleich hinzu: bis Herbst 1923 – stößt man immer wieder auf deutlich hervortretende Einflüsse und Nachempfindungen der Adyschen Lyrik. Nicht selten zeigt sich diese Anlehnung schon in Äußerlichkeiten, so etwa in der für die ungarische Orthographie ungewöhnlichen Großschreibung von Substantiven wie „Leben, Kummer, Sonne, Sehnsucht“ oder in der bei Ady beliebten Verwendung von Parenthesen im Strophenbau. Adysche Strophenformen, Gliederung der Satzstruktur durch Doppelpunkte, Einfügung von Dialogen mit Anführungsstrichen ins Gedicht – alles Eigenheiten, die bei dem jungen József wiederkehren. Anregungen für die eine oder andere Formlösung – so z.B. für das Sonett – könnte er durch die Lektüre Gyula Juhász’, aber auch durch Adys „Drei Baudelaire-Sonette“42 erhalten haben; ähnlich verhält es sich mit den gereimten Zweizeilern, die, von der Romantik und der französischen Dichtung des Jahrhundertendes herkommend, ebenfalls bei Ady und Juhász vorzufinden waren.
Außer übereinstimmenden Wendungen und Wortbildungen gibt es bei József einige fast gänzliche Adaptionen bzw. getreuliche Nachbildungen von Ady-Gedichten. Józsefs Gedicht „Baal“43 z.B. ist gleichsam eine burschikose Entgegnung auf Adys „Gebet zu Gott Baal“,44 wobei József in der Lexik, in den Bildern und Wendungen getreu dem Adyschen Vorbild folgt.
Wie eigenes Erleben und Adyscher Impuls ineinandergreifen, ja wie das Erlebnis selbst erst dank Ady bewußt wurde, dafür ist u.a. das Gedicht „Der Student in Not“45 ein Beispiel. Die Situation darin ist echt; Józsefs starke Sehnsucht im Frühjahr 1922, aus dem Alltag auszubrechen, spricht aus dem Gedicht, jedoch mit Adys Worten, mit Adys Bildideen und nach dessen Muster „Der eingemauerte Student“.46
Doch beschränkt sich Adys Einfluß nicht auf textliche Übereinstimmungen, Formadaptationen und die Entlehnung von Äußerlichkeiten. Der junge József eignete sich Adys Stil nicht einfach als ein treuer und strebsamer Schüler an, und Ady war für ihn nicht etwa ein Lehrmeister unter vielen. Vielmehr setzte er in erster Linie Adys Weg fort, freilich auf eine altersbedingt vorerst unausgereifte Weise, aus anderen Erlebnissen heraus und in einer anderen Umwelt, denn in Adys Dichtung hatte er jene Motive gefunden, die zunächst am besten geeignet waren, seine eigene Situation auszudrücken.
Zwei ungefähr gleichaltrige Mädchen aus der Kleinstadt Makó – die Ideale der Halbwüchsigenliebe von Attila József, Márta Gebe47 und Caca Espersit48 – verwandelten sich nach Adys Modellen in große, geheimnisvolle, sinnliche Frauen. So verflochten sich in den Liebesgedichten eigene unmittelbare Erlebnisse mit literarischen. Doch gingen von Ady auch Impulse aus, die nicht der Realität, sondern lediglich den Sehnsüchten des jungen Mannes entsprachen. Der sechzehn- bis achtzehnjährige Makóer Gymnasiast, Vollwaise und angehende Dichter vergötterte sich, steigerte sein Ich und personifizierte seine „Seele“, sein „Herz“ in gleicher Weise, wie es Ady getan hatte, durch den in der ungarischen Literatur eine unerhörte Weitung des lyrischen Ichs sanktioniert worden war.
Gottesvorstellung und Christusbild dienten dem jungen Dichter dazu, der Welt seine Unzufriedenheit, der Zeit sein Nein, seinen Protest kundzutun und in der Bildgestalt des Christus gegen Gott zu rebellieren. Auch hier war Adys Erbe eine Hilfe, damit er ausdrücken konnte, was ihn zutiefst beunruhigte, wie Ady ihm auch aussprechen half, was er über seine Umwelt, seine Zeit oder die Nation, der er angehörte, empfand. Von Ady wußte er, daß er auf dem „ungarischen Brachland“49 lebte. Schon im allerersten Gedicht über den Dichter-Vorfahr steht der aufschlußreiche Satz:

O Ady, Schnee fällt aufs ungarische Brachland50

Und wie bei Ady die Gottesvorstellung häufig mit Motiven des Ungartums verflochten ist, so auch bei Attila József: Ob man den Gedankengängen in den Gedichten „Gott geht um“51 und „Im gottlosen trüben Polarland“52 folgt; ob man dem Ursprung der Vorstellung „Mensch in Gram Ungar in Gram“53 nachgeht, unweigerlich stößt man auf den Inspirator Ady. Adys „winterliches Ungarn“,54 „Land in Explosion“,55 „geschlagenes Volk“56 und seine selbstzüchtigende Leidenschaft lebten in dem jungen József weiter.
Nicht ohne Echo blieb bei dem jungen Dichter Adys sehnliches Verlangen nach dem Leben und nach Lust (und – blasser zwar, aber davon untrennbar – das Todesverlangen); auch er sehnte sich fort aus der Kleinstadt, hinaus ins große „Leben“, und dies auszudrücken half ihm wiederum Ady, wie er ihm auch half, die Exaktheit des Ausdrucks für seinen eigenen Rebellenzorn zu finden. Attila József hat den ganzen Ady gelesen: vom „Gedicht des Proletarierjungen“,57 mit dem er selbst hätte gemeint sein können, bis zu „Im Lenz blutiger Panoramen“58 und zur „Netten Frühlingsheerschau“,59 deren mitreißende Wucht und deren Haß auf die Herren er in sich aufgenommen hatte. Er mag – mit gutem Grund – das Gefühl gehabt haben, daß auch er einer aus dem „jungen Heer des Fiebers“ sei und Ady auch ihn, den „Jungen Ungar“, wissen ließ:

Zu leben unter Paschas und Idioten,
welch Volk trüg einen spitzem Dornenkranz?
Was nützt’s, daß Gott des Ungarn Herz aus Stahl schuf
um heilge Funken Menschtums draus zu schlagen:
Zerfressen ist’s vom Rost des Vaterlands.

Doch Feuer wehe, Feuer, junge Brüder,
das Feuer, laßt das Feuer nicht erfrieren,

Leben und Glauben sei euch jungen Brüdern
als Botschaft eines Toten mitgegeben.
Die Asche sendet euch schmelzende Feuer,
die leuchten sollen, daß ihr nie verzagt:
März ist’s, und ohne Grenzen ist das Leben
.60

Attila József empfing und begriff die Botschaft; Adys revolutionäres Fieber ist in seinen Gedichten unverkennbar, in den kühn herausfordernden Zeilen des „Kraftlieds“61 und in „Proletarier!“, 62 und schon im Herbst 1922; unmittelbar in Adys Nachfolge, entstand das Gedicht „Marsch der Jungen“,63dessen Rhythmus, Diktion und Elan in vielem auf Ady zurückgeht. Das Gedicht erklingt in dem für Ady höchst kennzeichnenden, erregt flackernden und prophetischen Rhythmus, „mit eisernem Glauben“ und „guten Muts“ kündend von der Kraft und dem Sieg der Söhne des Lebens. Es lebt vom Pulsschlag der Adyschen „Neue[n] Frühlingsheerschau“,64 ist erfüllt vom Pathos, von der Wucht der Verse „Nach den Menschlein des Augenblicks“,65 und den Stempel des Meisters tragen die bitteren, von trotziger Abscheu und Rebellion geprägten Gedichte wie etwa der „Düstere Abschied“,66 in dem ein Echo auf Adys „Wer sah mich?“67 anklingt.
Adys „süßer Rhythmus“,68 so bezeichnet von József in einem Gedicht über diesen,69 pulst auch noch in den nach 1923 entstandenen Gedichten Józsefs: in den balladesk-volksliedhaften Reminiszenzen an Adys Kurutzen-Gedichte,70 in der prophetischen Diktion von „Hierher kommt Liebe aufs neue“.71 Erinnerungen an Adys Czinszka-Gedichte72 sind zudem in den stilisierten Arme-Leute-Gedichten – auch in den Liedern und Liebesgedichten – aus der Zeit um 1928 spürbar. In einem der bekanntesten Gedichte von Attila József, in „Holzfäller“, ist bewußt ein Ady-Motiv eingebaut:

Hau auf das Schicksal ohne Plärren,
dann kreischt das Heideland der Herren
73

In jenen Jahren stellten sich auch andere in Adys Nachfolge, und es gab vielerlei Möglichkeiten, sein Erbe zu nutzen. Ady war für Attila József von befreiender, bewußtseinsfördernder und aufrührerischer Wirkung. Unter seinem Einfluß wandte sich József zeitweilig von der objektiven Realität ab und dem gesteigerten lyrischen Ich zu, erschlossen sich ihm Haltungen und Formen. Das wichtigste jedoch: Anstelle einer sachlich beschreibenden Lyrik vermittelte er ihm das Modell einer leidenschaftlichen, aufwühlenden, sich selbst analysierenden und stilisierenden Dichtung, und auch diese Art von Lyrik-Erlebnis war für József eine Voraussetzung, sich seiner eigenen komplizierten, schwierigen Situation bewußt zu werden und sich an seinen Vorgängern messen zu können. Schöpferisch eignete er sich Adys Symbolsprache an; er ging über sie hinaus, steigerte sein lyrisches Ich, bis er es zum kollektiven Ich weitete, um dann nach einem langen Weg ein harmonisches Verhältnis von Gesellschaft und Dichter, Gemeinschaft und Persönlichkeit zu finden. Leben und Werk Adys sind ihm Zeugnis für die Wichtigkeit des Dichters, dafür, daß in schweren Zeiten die Behauptung und Bewährung der Persönlichkeit zugleich Verteidigung der Menschlichkeit sei. In diesem Sinne stellte József den Wert seiner Persönlichkeit dem Faschismus entgegen. Die Analyse und planvolle, plastisch-anschauliche Vergegenwärtigung der Dichterpsyche – etwas, was seinen tiefsten persönlichen Neigungen entgegenkam – konnten bei Ady studiert werden und blieben zeitlebens ein Wesenszug des Józsefschen Schaffens. Und das allerwichtigste: In den Jahren 1922/23 gaben ihm Adys Ungartum und revolutionäre Leidenschaft Hilfen für seine persönlichen Entscheidungen und zugleich eine Antwort auf die Lage des Landes, auf die Probleme der Gesellschaft und der Epoche. Hinter den beobachteten Erscheinungen das Wesentliche erkennen, in der scheinbaren Statik des Landlebens (man denke an die Reglosigkeit eines Dorfes in der Sommerhitze oder an die winterlichen Straßen der Kleinstadt Makó) in den Jahren der Konterrevolution all die Verbitterung und im Verborgenen glühende revolutionäre Kraft erspüren, die Verlassenheit und das historische Schicksal des ungarischen Volkes begreifen – das war es, was ihn Ady lehrte. Von ihm übernahm Attila József den Protest, die Bitterkeit und den Trotz sowie den revolutionären Elan, die Kühnheit und die Leidenschaft im Kampf gegen die Schmarotzer und die Anmaßungen der Herrschenden. Als das Adysche Erbe vereint mit den eigenen Erfahrungen und denen der Arbeiterbewegung für seine Lyrik bestimmend wurden, setzte er das Werk Adys in würdiger Weise fort.
Ein anderer Wirkungskomplex, der als poetische Schule Attila Józsefs bezeichnet werden könnte, ging von den Dichtern im Umkreis der Zeitschrift Nyugat aus. Ihre Lyrik könnte ganz allgemein als eine spezifisch ungarische Variante der mit den Mitteln des Impressionismus und Symbolismus arbeitenden europäischen Lyrik um die Jahrhundertwende charakterisiert werden, wobei Techniken der Beschreibung und Formeigenheiten des Sonetts oder des französischen gereimten Zweizeilers der Spezifik des Ungarischen (auch der Gegenstände, wie Landschaft usw.) angepaßt werden. (Es ist interessant zu beobachten, wie tief dann diese Art der impressionistischen Beschreibung in der ungarischen Lyrik Wurzeln faßte; noch mehr allerdings in der Malerei, wo der national nuancierte Postimpressionismus mit seinen ausgeprägten ungarischen Landschaften bis in unsere Gegenwart einer der stärksten Zweige ist.)
Von diesen ungarischen Lyrikern symbolistischer und impressionistischer Provenienz hatte die unmittelbarste Wirkung auf Attila József jener „einsame, verwaiste, gramvolle“74 Gyula Juhász,75 der unweit von Makó, im benachbarten Szeged,76 lebte. Gyula Juhász war für Attila József nicht nur der Förderer und väterliche Freund, sondern nach Ady das zweite Vorbild, dessen Einfluß in Józsefs Dichtung vom Frühjahr 1922 bis zum Sommer 1923 – und in einzelnen Gedichten auch später noch – unverkennbar ist. 1922 lernte József den Dichter des Bandes Vergißmeinnicht77 kennen, der auch nach der niedergeschlagenen Revolution den Arbeitern und den Ideen des Fortschritts die Treue bewahrte, der seine Gedichte in der Szegeder sozialdemokratischen Tageszeitung Munka78 (Arbeit) publizierte und in dessen Gedicht „Das März-Fieber“ vom Frühjahr 1921 unmißverständliche Erinnerungen beschworen wurden:

Über den Blumen des Grabhügels und blutiger Scholle
entrollt der Frühling seine Banner schon…
Und tief erbeben
die Seelen im Fieber des März!
79

Zu der Zeit kündigte sich in Juhász’ Gedichten und Artikeln bereits die leidenschaftliche Aussage der Treue zum arbeitenden Volk an, was sein Weihnachten 1923 entstandenes Gedicht „Neues Geständnis“80 zu einer der bedeutendsten lyrischen Manifestationen jener Jahre machte. Aber 1921 war Gyula Juhász noch voller Probleme und Widersprüche; wie die meisten seiner ungarischen Zeitgenossen konnte er mit den Problemen des Friedens von Trianon81 und der Verkleinerung des Staatsgebiets nicht fertig werden, und eine Art Nostalgie nach dem heidnischen Ungartum lebte auch in ihm. Bestimmend für die Haltung Gyula Juhász’ in jenen Jahren war jedoch das Gefühl der Sympathie und der Solidarität mit den arbeitenden Menschen, den Arbeitern von Szeged und den Bauern der Umgebung, deren Leben er mit den Mitteln seiner Dichtung darstellte. Andererseits kämpfte er mit dem Gefühl der Einsamkeit und der Trauer und mit seiner Krankheit; die Welt des Geistes und die Wirklichkeit des Lebens bedeuteten für ihn noch immer eine unlösbare Konfliktsituation. Für ihn gab es noch – wie zu Beginn des Jahrhunderts – eine Welt des Schönen als ersehnte Provinz mit eigenen, von der Wirklichkeit unabhängigen Gesetzen: eine Zufluchtsstätte vor den Problemen der Zeit und des persönlichen Lebens. Und wenn Attila József die Gedichte seines Freundes und Meisters las, teilten sich ihm sicherlich Ringen und Widersprüchlichkeit zwischen Juhász’ „flehendem Herz nach Anna“82 und seiner leidenschaftlichen Verbundenheit mit dem Schicksal des Vaterlandes mit.

Deine Stimme sei des Herbststurms finstres
Rauschen, in dem dumpf die Klage hallt,
aber der Glockenklang weithin töne,
und der Turm weiß leuchtet in der Nacht
83

Diese Verse, sandte Attila József im Sommer 1922 aus dem Dorf Kiszombor84 an Juhász und bewies sein tiefes Verständnis des Wesentlichen in dessen Dichtung, als er das Bild des ungarischen Dorfes im Tiefland in trüber herbstlicher Nacht beschwor, aus der das Weiß des Turms schimmert – ein Bild, wie es János Tornyai85 in den Jahren vor 1920 gemalt haben könnte, oder wie Gyula Juhász’ Malerfreunde, József Koszka86 und Lajos Kásrolyi,87 in den großen Agrarstädten der Tiefebene sie zu malen begannen. József hatte die Atmosphäre der Dichtung von Juhász in sich aufgenommen und vieles an gedanklichem Inhalt und an Form, an Haltung, Sicht der Landschaft und sprachlichem Ausdruck übernommen, und so dürfte er den Szegeder Poeten am zutreffendsten gekennzeichnet haben:

Deine Seele ist ein sonderbares Wunder:
warmer Regenbogen in der Herbstnacht.
Gleiches hat nie noch ein Mensch gesehen:
trauerschweres Mildgewordensein
88

Juhász’ verhaltene Trauer, seine in der Bedrängnis bewahrte revolutionäre Grundhaltung, sein Schmerz um das Schicksal der Nation, der Gram und die Einsamkeit im Provinzdasein fanden bei dem jungen Attila József ebenso ein Echo wie Juhász’ Kult des Schönen und der Künstlerhaltung, nicht zuletzt deshalb, weil die Lebensbedingungen beider in vielem ähnlich waren. Auch in der Inspiration durch die Landschaft kamen sie sich nahe; da waren Makó und Szeged, die Flüsse Maros und Theiß, die düstere Stimmung des Flachlands und die bedrückende Atmosphäre im ganzen konterrevolutionären Ungarn, persönliche Armut und das Abgedrängtsein an die Peripherie. Ideelle und Formparallelen weisen vor allem die Landschaftssonette „Vor der Erntezeit“,89 „Bei der Ernte“,90 „Die brave Kuh“91 auf, und auch in den ersten Genre-Bildern aus dem Arbeiterleben des Jahres 1922 ist die Juhászsche Inspiration unverkennbar.
Unleugbar verlocken Bau, Melodieführung und Äußerlichkeiten der Juhászschen Gedichte zur Nachbildung, ebenso wie die von Ady, weil sie den Leser packen und für sich einnehmen. „… Gyula Juhász erscheint zumeist nachlässig, aber der Kenner weiß, wie wertvoll das Hausleinen ist, das er trägt“,92 schrieb 1930 Attila József über ihn, und folgte er auch nicht dessen scheinbarer Nachlässigkeit – weil sein Rhythmus-Empfinden und sein Metrum-Anspruch kategorischer waren, als daß ihm eine allzu versteckte Vers-Melodik hätte zusagen können – so wußte er das „wertvolle Hausleinen“, den inneren Bogen der poetischen Diktion, die etwa in den Sonetten von Juhász bei aller Schlaffheit der Form kraftvoll war, die Homogenität und Geschlossenheit doch zu schätzen und davon schöpferisch Gebrauch zu machen.
Die Beziehung Juhász-József war allerdings nicht so eindeutig harmonisch wie die zu Ady. Förderung und Anleitung durch Juhász beschränkten sich auf eine bestimmte Zeitspanne, und schon seit 1924 trennten sich ihre Wege. 1923 feierte er sein Vorbild in Szeged noch mit dem Gedicht „Alte Weise über Gyula Juhász“,93 in welchem er den Ton der bitteren Empörer-Gedichte von Juhász aus der Zeit von Ende 1919 und Anfang 1920 aufgriff. „Sie sind zu schwach zum Bösen, weil zu schwach zum Guten…“,94 hatte Juhász ausgerufen, und Attila József summierte die Lage so:

Ungarn – ein Dorf von Burschen, die’s wüst treiben95

Während den jungen Dichter die Unzufriedenheit mit seiner Lage, Rebellion gegen die Umwelt, Bereitschaft zu Bewährungsproben weitertrieben und neue poetische Möglichkeiten anzogen, blieb der an seinen poetisch-ästhetischen Idealen vor der Jahrhundertwende festhaltende, um eine Generation ältere Juhász in zunehmender Einsamkeit und Ermüdung zurück. Attila József verließ Makó, riß sich aus der Lethargie der Provinz, und sehr bald schwand aus seinen Gedichten der Trauer- und Herbst-Kult der ersten Jahre; Juhász’ Dichtung dagegen sank immer mehr ins Grau, sank in Trauer:

Des unbekannten Leidens
Besiegter Soldat ruht hier
96

Ab 1924/25 verliefen die Bahnen der beiden Dichter voneinander getrennt; später, Mitte der dreißiger Jahre, glaubt man allerdings wieder einen Zusammmenklang einiger ihrer Gedichte zu hören, so etwa die Melancholie des Juhász-Gedichts „Gesang“97 in Józsefs „Herbst“ (1935). Nicht von der Hand zu weisen ist der Gedanke, daß Juhász’ „Dorfnacht“98 Attila József zu einem seiner schönsten Gedichte, „Dorf“,99 inspirierte.
1922/23, als Gyula Juhász und Attila József einander noch nahestanden, fand Attila József durch die Bekanntschaft mit Juhász Zugang zu einer Reihe von Errungenschaften der westeuropäischen Lyrik (Technik, Komposition usw.) und unmittelbaren Anschluß an die Welt und die Dichtung des Jahrhundertbeginns. Neben Adys fiebrig flackernder revolutionärer Leidenschaft waren Juhász’ stille Treue zur Sache der Unterdrückten und sein unablässiges Ringen mit den eigenen Schwächen für Attila József eine wichtige Erfahrung. Dennoch blieb die Spezifik der Adyschen Lyrik für ihn bestimmend, denn um sich weiterzuentwickeln, mußte er über den Juhászschen Einfluß hinauswachsen – fort von dessen Nuanciertheit, Realismus und Objektivismus, hin zu einer vergleichsweise aufgewühlten, unausgeglichenen, stilisierten, auf andere Art ich-zentrischen Lyrik.
Außer Gyula Juhász hatten auch andere namhafte Dichter des Nyugat-Kreises – Dezső Kosztolányi100 und Mihály Babits, aber auch weniger namhafte, wie Simon Kemény101 – auf den jungen József Eindruck gemacht. Nicht zu vergessen sind einige Erlebnisse, die ihm aus der Weltliteratur vermittelt wurden: so etwa ein Band der Gedichte Baudelaires, der 1921 in einer von den Lyrikern der Nyugat nachgedichteten ungarischen Fassung erschienen war, oder ebenfalls in jenen Jahren herausgegebene Whitman-Nachdichtungen. Betont sei schließlich, daß alle diese Einflüsse und Inspirationen Józsefs Entwicklung insofern bereicherten, als sie seine eigenen schöpferischen Kräfte zur Umsetzung der spezifischen persönlichen Erlebnisse in die Sprache und Formen der Dichtung förderten. Im folgenden soll das an zwei Beispielen näher gezeigt werden.

Verarbeitung von Anregungen zu eigenständigen Synthesen: „Hunger“ und „Der Ermüdete“
Im Sommer 1922 schrieb der siebzehnjährige junge Mann, damals Flurhüter auf einem Maisfeld in Kiszombor, ein Sonett mit dem Titel „Der Hunger“,102 und dies in einem solchen Grad von Vollkommenheit, daß der gereifte Dichter es später fast ohne Änderungen in die Sammlung seiner ausgewählten Gedichte übernehmen konnte. Dieses Sonett mag ein Musterbeispiel dafür sein, wie Attila József Anregungen verarbeitete und in eine eigenständige Synthese integrierte.

ÉHSÉG

A gép megállt. Elfáradt por kering
fölötte, mint az őszi köd meg pára,
s rászáll az emberek hajlott nyakára,
kik esznek most. Átizzadt szennyes ing

hül a vállukra. Fal, fal egyre mind.
Kenyér s uborka az ebédjük mára
s mind úgy eszik, ne vesszen csöpp se kárba
s hogy jót harap s hozzáharap megint.

Már nem törődnek semmit az idővel.
A harapások majdnem összeesnek,
de jól megrágnak minden falatot.

Egészséges, még jó paraszttüdővel
szivják, rágják a port, szénaszagot,
s csak esznek, esznek, esznek, nem beszélnek, esznek.

DER HUNGER

Die Dreschmaschine steht. Der Staub treibt weg
wie Nebel, die im Herbst sich lang verspäten,
senkt auf die krummen Rücken, die verdrehten
Hälse sich. Und sie essen. Starr von Dreck

wird kalt das Hemd am Leib. Der Schweiß klebt’s fest.
Her mit dem Brot, den Gurken! Mittagsstunde.
Kein Brocken geh verlorn, keine Sekunde!
Nach jedem Biß befiehlt der Hunger: Eßt!

Was sonst geschieht, das haben sie vergessen.
Und Biß trifft Biß. Es kann kein Biß mehr warten.
Doch kaun sie gut an jedem Stück, dem harten.

Und essend füllen sie, wie blind und taub,
die Bauernlungen sich mit schwarzem Staub.
Sie essen, essen. Reden nicht. Sie essen.

Vollendetheit und Bedeutung dieses Gedichts aus dem Jahr 1922 fanden schon früh Beachtung. Es wurde wiederholt analysiert, und man hob jedesmal als wichtigste Besonderheit hervor, daß hinter der scheinbar unbeteiligten, sachlich-kühlen Beschreibung ein höchst aufrührerischer Inhalt steckt, daß allein schon die geschilderten Tatsachen entlarvend wirken. In der Tat ist das Gedicht eine Art Momentaufnahme, es wirkt wie ein Genre-Bild in der Manier von Gyula Juhász. Schon hier zeigt sich die Besonderheit des Dichters, Erleben und Zustände punktuell zu gestalten. Die beiden Hauptmotive des Gedichts – „Stillstand der Zeit“ und „Hunger“ – werden später häufig wiederkehren. Hier zunächst der „Hunger“: Der junge Mann, der bis dahin schon viel gehungert hatte, wird gefesselt durch die Art, wie die Arbeiter an der Dreschmaschine essen, und diesen Eßvorgang stellt er in den Vordergrund des Gedichts – das Schlingen den gierigen Verzehr der geringen Nahrung und das sorgsame Kauen jedes Bissens. Daher die stete Wiederholung des Wortes „essen“ gewöhnlich begleitet von akzentuierenden, ähnlich klingenden Worten („… mind úgy eszik, ne vesszen…“, „nem beszélnek, esznek“), die die Monotonie des Essens und der ganzen Szene vergegenwärtigen („Und Biß trifft Biß. Es kann kein Biß mehr warten“).103
Die meisterliche Handhabung der Kunstmittel verrät allein schon der Bau des Gedichts. Farbig und kompliziert beginnt die erste Strophe, in der der einzige lyrische Vergleich des Gedichts zu finden ist („Wie Nebel, die im Herbst sich lang verspäten“),104 um den Weg des forttreibenden Staubs nachzuzeichnen; aber sobald der Staub sich gesetzt, „gesenkt“ hat und das Hemd am Leib kalt geworden ist, wird auch die Diktion einfacher, nüchterner, sachlicher, endet sie in der letzten Zeile stockend und abgehackt. Über zehn Jahre später wird dieses Verfahren auf höherer Stufe in solchen Gedichten wiederkehren wie „Mein Vaterland“,105 wo dem lyrischen Impetus des einleitenden Teils sachliche Exaktheit folgt. Eine spezifische Spannung zwischen Form und Inhalt verstärkt zusätzlich die Wirkung: der Gegensatz zwischen der sorgfältig gearbeiteten – an die Parnassiensdichtung erinnernde – Sonettform und dem ernüchternden Inhalt. Beispiele für diese Methode mag es bei Babits und Kosztolányi gegeben haben, wesentlich ist, daß sie József und seiner spezifischen Aussage entsprach. Daß er von diesem Gegensatz bewußt Gebrauch machte, zeigen weitere Gedichte vom Herbst jenes Jahres, „Die brave Kuh“, „Der Betrunkene auf dem Gleis“,106 und belegen – vervollkommnet und mit überraschenden Effekten – Gedichte der späteren reifen Jahre. Fügen wir noch hinzu: Außer den erwähnten dekorativen Wörtern und Vergleichen (in den ersten zwei Zeilen) sind in dem Gedicht keine weiteren sogenannten poetischen Wörter zu finden. Der Sonettbau ist völlig regelmäßig (mit den Silbenzahlen 10, 11, 11, 10 – 10, 11, 11, 10 – 11, 11, 10 – 11, 10, 11), und ebensowenig auffällig ist die Reimfolge; der sanfte jambische Rhythmus trägt den Text ganz ungezwungen, auf natürliche Weise. Die scheinbare (weil höchst präzis gearbeitete) Einfachheit der Form stützt so das (ebenfalls scheinbare, weil bedeutsame Perspektiven öffnende) Prosaische des Inhalts.
Von Józsefs Umgang mit dem poetischen Instrumentarium, seiner Fähigkeit zur eigenständigen Synthese zeugt auch das Gedicht, das ein Jahr später, im Herbst 1923, entstand. Es sei noch einmal daran erinnert: Er war achtzehneinhalb und schickte sich an, die Kleinstadt Makó zu verlassen; den „guten Makóern“ widmete er zum Abschied das Gedicht, in dem bis dahin Erreichtes bilanziert und der neue Weg der Entwicklung angedeutet ist.
Im September 1923 verließ Attila József Makó und reiste nach Budapest. Damit war die Zeit der Kindheit und des Heranwachsens zu Ende, die Jugendzeit begann, und auch sie sollte schwer und mühselig werden. Abschied und Ausblick, Abschluß und Neubeginn markiert das Gedicht „Der Ermüdete“:

Auf den Feldern gehen ernste Bauern,
die sich schweigend auf den Heimweg machen.
Fluß und ich, wir liegen beieinander,
zarter Gräser Schlaf an meinem Herzen.

Auch der Fluß wälzt eine große Ruhe.
Last und Sorge sind zu Tau zergangen.
Bin kein Mann, kein Kind, kein Ungar und kein Bruder,
nur ein Müder, den der Schlaf gefangen.

Friedlichkeit verteilt der sanfte Abend.
Ich bin seines warmen Brotes Scheibe.
Auch der Himmel ruht nun. Auf der sanften Maros
und auf meiner Stirne ruhn die Sterne
.107

Das Gedicht war damals bereits in einer Endgültigkeit abgefaßt, daß der Autor es elf Jahre später so gut wie ohne Änderung in den Auswahlband Bärentanz108 aufnehmen konnte, nachdem es auch in der Zwischenzeit wiederholt erschienen war. Da es am Wendepunkt zu einem neuen Entwicklungsabschnitt entstand und, eine neue Weltsicht und neues Weltverständnis ankündigte, ist es mit Recht mehrfach analysiert worden.
Es bedarf einer eingehenderen Beschäftigung mit diesem Gedicht, und hinter dem Traditionellen der äußeren Form eines impressionistischen Landschaftsgedichts und in deren Hülle eingeschlossen das Neue der „inneren Form“, die darin eingebundene Józsefsche Individualität der Stimmung, der Sprache und des Empfindens bewußt zu machen.
Gehen wir also von der äußeren Form aus: Das grafische Bild zeigt eine Gliederung in drei Vierzeiler-Strophen; beschrieben ist eine Landschaft in der Manier französischer Vorbilder, vor allem vermutlich Verlaines und seiner Zeitgenossen, die damals in Ungarn sehr verbreitet und bei den Dichtern der Nyugat geradezu bevorzugt war; doch deshalb darf der Hinweis auf die noch unmittelbare Beziehung zu Gyula Juhász nicht fehlen. Die Gedichtform ist eigentlich eine geweitete, lockere, bequemere Variante des Sonetts; dem entspricht auch die innere Struktur, gleichsam die Handlungsführung: Zustandsbeschreibung in der Art eines Standfotos in der Exposition des Gedichts; gelassene innere Bewegung, langsame Aktionen, Ortsveränderung in Zeit und Raum; „Pointe“ als Ausruf, Entdeckung des Neuen, oder melancholischer Ausklang zum Abschluß.
Dem angedeuteten Strukturmodell folgen auch viele Gedichte von Gyula Juhász, und zwar so konsequent, daß es bei ihm zur Schablone wird und eine der Ursachen für eine gewisse Monotonie seiner Gedichte ist.
Die von Attila József gewählte Gedichtform war also bekannt und stand ihm fertig zu Gebote. Wie aber handhabte er sie? Einerseits demonstrierte er bewußt ihre Beherrschung, andererseits lockerte er sie von innen heraus auf und löste sich von ihr. Er weitete die ursprünglich streng regelmäßige Form unter Beibehaltung des äußeren Rahmens zum freien Vers hin. Bei Juhász waren die Zeilen noch paarweise oder umschließend gereimt, in „Der Ermüdete“ ist auch die Bindung durch den Reim auf jede zweite Zeile reduziert. Innerhalb der Strophen dehnen sich gleichsam die Verse von Zeile zu Zeile: 10 – 9 – 11 – 12 und 11 – 11 – 12 – 10 betragen die Silbenzahlen, nur in der dritten weisen sie Gleichmäßigkeit auf: 10 – 10 – 11 – 11. Regelmäßig folgen einer ersten jambischen Zeile unterschiedlich rhythmisierte Verse, in denen sich Gedanke, Rede und Atempausen mit rhythmischer Ungebundenheit Raum schaffen, bis dann in der ersten Zeile der jeweils nächsten Strophe abermals regelmäßige Jamben den traditionellen Rahmen wiederherstellen. Metrisch stellt das Gedicht folglich einen Übergang von der parnassistischen Versgestaltung zum freien Vers dar.
In dem Gedicht „Der Ermüdete“ sind ihrem Ursprung nach unterschiedliche thematisch-stilistische Elemente zu einer Einheit verschmolzen. Während der Beginn, wie erwähnt, auf Juhász’ Tiefland-Gedichte verweist, erinnert der Schluß – aber auch schon der Verlauf – des Gedichts eher an Verlaines „L’heure du berger“.109
Der ungarische József-Forscher Ervin Gyertyán stellte auch noch andere Verbindungen zur außerungarischen Literatur, z.B. zu „Wanderers Nachtlied“ von Goethe her. Sieht man vom unmittelbar Textlichen und vom Rhythmus ab, so ist eine Verwandtschaft in der Stimmung nicht zu leugnen. Gyertyáns Verweis auf Schillers „Ode an die Freude“ vermag ich allerdings kaum zu folgen. Aber woher auch Elemente des Gedichts stammen mögen – sie sind aufgegangen in einer neuen, organischen Einheit, die bei aller Gelöstheit sowohl begrifflich als auch in der Ordnung der lautlichen Komponenten eine strenge Struktur aufweist. Betrachten wir nur einmal, wie durchdacht die Folge der Vorstellungen und Begriffe ist:

Textscan aus Miklós Szabolcsi: Attila József

Die Geschlossenheit und Logik der Abbilder wird durch die innere Logik der Mikroelemente gefestigt; hingewiesen sei hier nur auf den Wechsel der tiefen (velaren) und hohen (palatalen) Vokale, auf den Zeilenausklang und auf die Reime.
Was alles wirkt nun am Zustandekommen dieser geschlossenen Einheit des Gedichts mit? Es sind die Natur, deren große und kleine Elemente, die „anderen Menschen“ und schließlich der ermüdete einzelne: das Ich des Autors. Die inhaltliche und stimmungsmäßige Einheit dieser Elemente realisiert sich dadurch, daß die „zarten Gräser“, die Sterne, die ernsten Bauern eins werden mit dem Ermüdeten und andererseits das Ich des Autors aufgeht in den Dingen der Welt. „Ich bin seines warmen Brotes Scheibe“,110 lautet die Feststellung im Gedicht, mit einem deutlichen Absinken des Melodiebogens zum Ruhepunkt.
Diese Art, in den Dingen der Welt aufzugehen, war weder in der ungarischen noch in der Weltliteratur völlig neu, dafür gab es schon Beispiele, in der ungarischen Lyrik z.B. „Der Schilfsee111 von János Vajda,112 in der Weltliteratur die Lyrik der Romantiker und seit Francis Jammes ebenfalls viele andere. „Dem Ermüdeten“ sind indes einige Züge eigen, die ihm eine unvergeßliche Individualität verleihen und Charakteristisches aus dem Schaffen des reifen Attila József vorwegnehmen. Eine dieser Besonderheiten liegt im tiefen Verständnis und in der liebevollen Hinneigung zum Geringen in der Welt. Hier im Gedicht zeigt es sich im Beschwören der „zarten Gräser“, in späteren – etwa in den hauchzarten Bildern des Gedichts „Ameise“113 und in Details der großen Landschaftsgedichte – wird es sich voll entfalten. Die „zarten Gräser“ exemplifizieren zugleich Attila Józsefs Fähigkeit, innerhalb einer so engen syntaktischen Beziehung, wie es das Attribut und sein Bezugswort sind, Spannung zu erzeugen. Das Attribut „zart“ anthropomorphisiert durch die Suggestion einer menschlichen Eigenschaft das Bild, wie auch die „stille, große Ruhe“ den Menschen assoziiert. Ähnlich geartet ist das bildschöpferische Verfahren, bei dem abstrakte Prozesse, psychische oder soziologische Erscheinungen durch stark verdichtete Bilder aus der Natur transparent werden:

… Last und Sorge sind zu Tau zergangen.114

Dieser Bildtechnik werden wir auch in den Dichtungen des reifen József, in der „Ode“115 und in „Besinnung“,116 auf höherer Stufe wiederum begegnen.
Die abgerundete Stimmung des Gedichts kommt durch die Abgestimmtheit der Bildnuancen zustande, wobei die Bilder einem ganz bestimmten Vorstellungsbereich entnommen sind, aus dem sie bei aller Kühnheit nicht ausbrechen. Attribute wie „schweigend“, „still“, „ruhig“, „ermüdet“ differieren in den Nuancen, liegen aber auf einer Ebene: Weite und Intimität werden durch die Anthropomorphisierung der Bilder bewirkt. Schließlich kommt noch als bemerkenswerte Färbung eine latente Ironie hinzu. Versteckt ironisiert ist das Hineinversetzen in die Natur: „Fluß und ich, wir liegen beieinander“ – hier ist eigentlich eine Parenthese herauszuhören, eine Distanzierung sogar eine gewisse Verschmitztheit.
Eine weitere Komponente des Gedichts ist in der autobiographisch begründeten, durchweg negierten Aussagefolge „kein Mann, kein Kind, kein Ungar, kein Bruder“ zu erkennen. Jede einzelne Negation macht auf einen realen, für den jungen Verfasser des Gedichts schmerzlichen Umstand aufmerksam: Der Halbwüchsige mit seiner Sehnsucht nach einer Frau wurde ausgelacht. Er war noch jung, bereits ohne Vater und Mutter und stand als sozialer Aufrührer abseits der „nationalen“ Wallungen, er hatte zwar Geschwister, doch unterschied er sich von anderen Gleichaltrigen. Geht man dieser Spur nach, stößt man im Bildinhalt auf Anzeichen jenes Arme-Leute-Motivs das auf Erlebnisse einer schweren Kindheit zurückgeht, und hier wird in der beschwörenden Bildfolge dieses frühen Gedichts der fehlende, vermißte Vater spürbar:

Friedlichkeit verteilt der sanfte Abend.
Ich bin seines warmen Brotes Scheibe
117

Dazu die Interpretation eines Zeitgenossen von József, des Kritikers Ferenc Fejtő:118

Sie beide: die Einsamkeit, mit ihren versteckten, nur mittelbar hervorbrechenden und übertragenen Sehnsüchten – und der Friede, die Milde der abendlichen Stille finden einen wunderbaren Ausdruck in der letzten Strophe, wo „der Abend den Frieden verteilt“ – wie?… Im Gedicht steht es nicht, aber in uns klingt bereits unweigerlich die Assoziation an: wie der Vater zum Abendessen der Familie das Brot. – Und damit jedermann verstehe, wird die versteckte Anspielung von der gedichtformenden Intuition mit einem Sprung zum darauffolgenden Vergleich verstärkt: „Ich bin seines (d.h. des Friedens) warmen Brotes Scheibe“.119

Der Arme-Leute-Aspekt kommt in den beiden zitierten Zeilen tatsächlich zweifach zur Geltung: im Motiv des Brotverteilens und im Fehlen des Vaters.
Friedenssehnsucht und Ruhefinden-Wollen – ein Hauptmotiv des Gedichts – ist in Attila Józsefs Gesamtwerk gegenwärtig neben der ständigen Bereitschaft zum Kampf und der menschlich-politischen Bewährung in den Kämpfen. Zugespitzt ist dieser Widerspruch in dem Gedicht „Der Kummer“ (1930):

Scheute wie ein Hirsch im Wald,
sanften Kummer in den Augen…
Hirsch, das war ich einstens,
Wolf werde ich leider sein
.120

Attila Józsefs Sehnsucht nach Frieden, nach Geborgenheit, nach Ruhe und Entspanntheit, die nie Erfüllung finden konnte, ist ein wesentlicher Kontrapunkt seiner ganzen Dichtung, wie neben dem Kämpfertum die Freude im Spiel, neben Härte und rauher Strenge die Anmut, der Charme, die Grazie.
Wir sind beim Kern des Gedichts „Der Ermüdete“ angelangt, bei der Frage nach der inhaltlichen Dominante in der komplexen Einheit des Gedichts. Ist es die Harmonie oder das Unbefriedigtsein, sind es Glücksgefühl und Erfüllung oder Melancholie und Unvermögen zur Gelöstheit? Sicherlich dominieren im Gedicht die tiefe Ermüdung und das Verlangen nach Ruhe und nach Aufgehen in den Dingen der Welt; das suggerieren – vom Titel angefangen über den verlangsamten Rhythmus und die gelöste Verskunst bis zu den Schlüsselworten – alle angewandten poetischen Mittel. Die Ermüdung ist begründet, sowohl im persönlichen Leid des Waisendaseins als auch in der Perspektivlosigkeit der jungen Generation im Ungarn der zwanziger Jahre. Die tiefe und begründete Ermüdung wird im Gedicht nun aber beinahe zu einem Glücksgefühl, ausgelöst durch die Natur – den Fluß, den Abend, die Sterne –, und zum Ruhefinden verhelfen auch die Gefährten, die anderen Menschen:

… einige ernste Bauern.121

Zwei Empfindungs- und Stimmungsebenen beherrschen also das Gedicht: einerseits Ermüdung, Melancholie und Kummer, aufgelöst m der Umwelt – andererseits Zärtlichkeit und liebevolle Hinwendung zu den geringen Dingen und Wesen, wodurch der Schmerz gemildert und eine versöhnliche, durch die mitfühlende Teilnahme und Güte der Dinge und Wesen der Welt herbeigeführte Lösung suggeriert wird.
Zum Abschluß, gleichsam als Bilanz noch einmal ins Bewußtsein gehoben, ist im Gedicht die Welt der „ernsten Bauern“, die Landschaft an der Maros, und angekündigt wird die abstraktere poetische Welt der folgenden Jahre: das Ringen mit den Kräften der Natur und des Schicksals und der Gedanke der Befreiung durch Güte. Und schließlich kann das Gedicht als ein Innehalten, ein Kräftesammeln vor neuen Aufgaben und Kämpfen gewertet werden, bei dem der „Ermüdete“ allein ist mit sich und der Welt, um dann aufzubrechen auf neuen Wegen.

Erschließung der ungarischen Volksliedtradition: „Arme-Leute-“Gedichte und „Reinen Herzens“
Die Nutzung des ungarischen Volkslieds, das in der ungarischen Literatur traditionelle Zurückgreifen auf die Volksdichtung stellte für den Jungen József eine Form dar, an Traditionen anzuknüpfen und zugleich neue zu stiften. Dieser Schritt zurück zum geschichtlich Überlieferten erweist sich als eine Bewegung nach vorn, aber zunächst wird es nötig sein, kurz Umschau zu halten.
Am Beginn des Jahrhunderts war die Hinwendung zu der als rein, ursprünglich, primitiv und kraftvoll empfundenen Volkskunst eine auch in den westeuropäischen Literaturen allgemeine Tendenz. Diese Bestrebung hatte bekanntlich neben einer progressiven eine reaktionäre Variante. In den osteuropäischen Ländern vollzog sich die Besinnung auf das Volkstümliche in zwei Phasen: zunächst im 19. Jahrhundert, als die Idee der nationalen Erneuerung und Wiedergeburt mit den nationalen Überlieferungen zu einer Volksverbundenheit in der Literatur verschmolz; und dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts – mancherorts noch früher –, nachdem diese Volkstümlichkeit beinahe nur in Äußerlichkeiten erstarrt und politisch konservativ geworden war. Die erneute, zahlreiche Elemente demokratischen Denkens einschließende Besinnung auf die Volkstümlichkeit dürfte sich zuerst in der Musik von Mussorgski manifestiert haben und brach dann sturmflutartig in die osteuropäischen Literaturen und Künste ein. In diesem neuerlichen Zurückgreifen auf die Ausdrucksmittel des Volkes, hauptsächlich der bäuerlichen Volksmassen, kam angesichts der als undurchschaubar empfundenen kapitalistischen Gesellschaft ein Verlangen nach Schlichtheit, Größe, Reinheit und Edelmut zum Ausdruck. Erwies sich diese Bestrebung insgesamt als progressiv, der demokratischen Erneuerung zugewandt, so war ihr doch auch eine konservative, antikapitalistische Tendenz von rechts immanent.
In Ungarn ist die Hinwendung zur volkstümlichen Tradition zu Beginn unseres Jahrhunderts mit den Namen zweier großer Komponisten, Bela Bartók122 und Zoltán Kodály,123 verbunden. Sie wandten sich nach Aneignung des europäischen und ungarischen Musikerbes dem bis dahin verschütteten, jahrhundertealte Schätze bergenden Volkslied zu und brachten dadurch bei den Intellektuellen in Ungarn den Wert dieses Teils des nationalen kulturellen Erbes allmählich ins Bewußtsein. Bartóks und Kodálys Bestrebungen korrespondierten mit der Bewegung, die in der Literatur von der Zeitschrift Nyugat ausging und in Endre Adys Dichtung gipfelte. Eine wichtige Vermittlerrolle kam dabei übrigens dem im deutschen Sprachgebiet recht gut bekannten Schriftsteller Bela Balázs124 zu. Anfang der zwanziger Jahre, als die Lyrik des Nyugat-Kreises von vielen bereits als zu kompliziert und überholt und die immer neuen Impulse der avantgardistischen Richtungen als ermüdend empfunden wurden, setzte erneut eine Gegenströmung mit dem Bedürfnis nach Einfachheit, Volkstümlichkeit und Gemeinverständlichkeit ein. In der Lyrik war es József Erdélyi,125 der politisch eine Art von Protesthaltung der armen Bauernschaft artikulierte und mit einem schon 1920 erschienenen Band die neue Welle der volkstümlichen Dichtung einleitete. Es zeigte sich, daß das Volkslied mit seiner tiefgründigen Einfachheit, seinem Schatz an Bildern, an vielschichtiger Bedeutung wieder Neues zu bieten hatte.
Attila József hatte bereits mit seinen Erinnerungen aus der Kindheit einen eigenen echten Bezug zur volkstümlichen Kunst. Erzählungen der Mutter, Volksliedkenntnisse und auch Kenntnis vom Wirken Bartóks und Kodálys hatten ihn auf diese Begegnung vorbereitet, und so kam es, daß in den Jahren der schöpferisch-ruhelosen Suche und Reife von 1923 bis 1925 eine der Quellen seiner Dichtung das Volkslied wurde. Dieser Entwicklungsabschnitt wies zwei Phasen auf. In der ersten überwog die unmittelbare Nachempfindung und Nachgestaltung des Volkslieds bzw. der Anregungen von Erdélyi. Es entstanden die sogenannten Arme-Leute-Gedichte, in denen József mit Mitteln des Volkslieds und der Volksballade für die Unterdrückten und Ausgebeuteten sprach und – allein durch die Formen der Volksdichtung – suggerierte, daß sie menschlich-moralisch ihren Unterdrückern überlegen seien. Diese Gedichte lassen schon Elemente einer revolutionären Haltung erkennen und zeugen – wie bereits im Zusammenhang mit dem Gedicht „Der Ermüdete“126 erwähnt – von einer originellen Umgestaltung der vorgefundenen und angeeigneten Formen durch den jungen Dichter. Die volksliedhafte Struktur der Arme-Leute-Gedichte ist dabei vielschichtiger, als es auf den ersten Blick scheint: Mit den einfachen sprachlichen Mitteln des Volkslieds werden komplizierteste Haltungen und Denkweisen zum Ausdruck gebracht.
Die schöpferische Nutzung des Volkslieds durch Attila József gewinnt des weiteren eine neue Qualität: Das Volkstümliche geht eine spezifische Synthese mit anderen Elementen seiner Dichtung ein, oder genauer: Das Volkstümliche wirkt hier als nuancierender und belebender Faktor. Schon die Zeitgenossen vermerkten dies als ein Charakteristikum der Dichtung des jungen József, die ständige kontrapunktische Gegenwärtigkeit des Volkslieds und volkstümlicher Töne deuten überdies auf eine Gemeinsamkeit mit dem Schaffen zeitgenössischer Lyriker wie García Lorca, Jessenin oder Majakowski hin. Diese erneuernde und belebende Wirkung des Volkslieds soll beispielhaft an einem Gedicht Józsefs belegt werden, das zu den bekanntesten Texten in der ungarischen Literatur gehört. Beim Lesen sollte man bedenken: Der Verfasser war zwanzig Jahre, Student, Vollwaise, alleinstehend; was er beklagte, war die Erfahrung gleichsam einer ganzen Generation. Die herrschenden Konservativen gebärdeten sich wütend über Inhalt und Ton, die Linkskräfte im Wiener Exil und in Budapest horchten auf.

TISZTA SZÍVVEL

Nincsen apám, se anyám,
se istenem, se hazám,
se bölcsőm, se szemfedőm,
se csókom, se szeretőm.

Harmadnapja nem eszek,
se sokat, se keveset.
Húsz esztendőm hatalom,
húsz esztendőm eladom.

Hogyha nem kell senkinek,
hát az ördög veszi meg.
Tiszta szívvel betörök.
ha kell, embert is ölök.

Elfognak és felkötnek,
áldott földdel elfödnek
s halált hozó fü terem
gyönyörűszép szívemen.

REINEN HERZENS

Mutter tot, der Vater fort,
weder Gott noch Heimatort,
weder Wiege, weder Grab,
kein Bett, keinen Schatz ich hab.

Seit drei Tagen hungre ich,
hungern, das ist widerlich.
Zwanzig Jahre sind mein Heil,
zwanzig Jahre biet ich feil.

Wenn ich keinen Käufer find
schlag ich alles in den Wind.
Breche reinen Herzens ein
morde auch, wenns grad muß sein.

Fängt man mich, werd ich gehenkt
gutes Erdreich mich empfängt,
unheilvoller Kräuterwust
wächst auf meiner wackern Brust
.127

Dieses Gedicht – ebenso wie „Der Ermüdete“ von Anbeginn bis in die Details „vollendet“ – erschien am 25. März 1925 in der Zeitung Szeged und rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Es wurde dann fast ohne Änderungen in den Band Hab weder Vater noch Mutter,128 in Mihály Babits’ Nette Anthologie129 und 1934 in den Auswahlband Bärentanz130 übernommen.
Gehen wir von der Form aus. Allein schon in den siebensilbigen Verszeilen mit ungarischem Akzentrhythmus steckt ein Element der Spannung, denn Formen mit gerader Silbenzahl sind im Prinzip ausgeglichener und zwangloser als solche mit ungerader Silbenzahl. Hier tragen die 4/3 bzw. ¾ gegliederten Verszeilen infolge der Zäsur stets eine gewisse Spannung in sich; das Schrittmaß ist ungleich. Und das ist hier auch dann als Besonderheit zu vermerken, wenn Siebenzeiler mit der Taktfüllung 4/3 bzw. ¾ im ungarischen gesungenen Volkslied häufig vorkommen. Es ist nicht auszuschließen, daß bei dem Józsefschen Gedicht ein solches Volkslied Pate stand, wenngleich die Deutlichkeit der Fugen und die Strenge in der Handhabung des Versmaßes eher eine Konzipierung aus der Rede heraus vermuten lassen.
Das Gedicht besteht aus zwei Teilen, aus zwei „Akten“, worauf bereits der Kritiker und langjährige Freund Józsefs, Andor Németh, hinwies. In den ersten drei Strophen wird eine Zustandsbeschreibung gegeben, ein Status präsens, ohne Bewegung in der Zeit; erst in der vierten Strophe setzt ein zeitlicher Vorgang ein, in der Art einer kleinen Ballade, wie man sie in der siebenbürgischen Volksballade „Kata Kádár“131 vorfindet.
In den 16 kurzen Zeilen sind unterschiedlichste Elemente in einer unauflöslichen, einmaligen Einheit verschmolzen: Elemente aus der frühen ungarischen Dichtung, aus Balladen und Liedern der ungarischen Folklore ebenso wie aus dem europäischen Liedschaffen bzw. von Endre Ady und Villon und aus der ungarischen Lyrik des 20. Jahrhunderts (József Erdélyi, Jenő J. Tersánszky)132 nachweisbar in der Lexik, in der Versform und im Emotionalen. Die erste Strophe ist eine Art Bestandsaufnahme des sich selbst überlassenen Menschen, eine – wie Imre Bori133 zu Recht feststellt – „Skizze der Gefühlswelt des allein gebliebenen Menschen“.134 Auch in den beiden ersten Zeilen der zweiten Strophe dominiert die Verneinung, die sich in der insgesamt bis dahin fünfmaligen Verwendung des negierenden Konjunktionspaares „weder – noch“ und der Verneinung des Verbs „essen“135 äußert, wobei die verneinten „acht Substantive solche Begriffe bezeichnen, die für jedes als total angesehene Menschenleben notwendig, ja unentbehrlich sind“.136 Hinzu kommt, daß die Besitzerzeichen (-m = mein) im Original zu den Verneinungswörtern in scharfem Gegensatz stehen.
Aber was verneint der Dichter? Er verneint nicht, er beklagt vielmehr das Fehlen des Aufgezählten und gibt damit zugleich eine exakte Zustandsbeschreibung. Individuelle Klagen sind aufgezählt, nachdrücklich und ungeschminkt in erster Person, aber vielfach belegt durch das bittere Los einer schwergeprüften Generation. Dies nahmen die Zeitgenossen, Freund wie Feind, sehr wohl wahr. Bereits zu dieser Zeit beklagte József in vielen Gedichten, so früh verwaist zu sein; auch war ihm kein Gott geblieben, denn zu dem ihm dargebotenen bekannte er sich in keiner Weise. Doch sehr bald entwarf er sich einen Gott – halb Vater, halb armer Mann –, an den er noch hätte glauben können, bis ihm wegen des Gedichts „Rebellierender Christus“137 der Prozeß gemacht und zugleich auch der Glaube an das Vaterland genommen wurde. Dies um so mehr, als József mit dem Begriff des Vaterlandes in der damals einzig zugelassenen hohltönenden Phraseologie ohnehin nichts anzufangen wußte. Und die letzte Klage in der Aufzählung, weder einen Kuß noch eine Liebste zu haben, trifft die Situation des Szegeder Studenten wohl recht genau. Auch diese Klage ist nicht individuell begrenzt, sondern zugleich die Stimme der Freunde in Makó, die der „armen Leute“, der Arbeiter und Bauern und fast aller jungen Menschen.
József bleibt als einzige Lösung und zeitweilige Konklusion, als einziges Hab und Gut seine Jugend. Wie seine unbekannten Freunde, die französischen Surrealisten, konfrontiert mit den übermächtigen Erwachsenen, nur ihre Jugend in die Waagschale werfen konnten, so weiß auch József nichts anderes sein eigen zu nennen, anzubieten und zu veräußern. Diese Wendung im Gedicht weist schon in die Villonsche Richtung; umgangssprachlich wäre diese Haltung als verwegen, vorstädtisch, keck zu bezeichnen, aber es ist die einzige Bewegungsmöglichkeit, die ihm offensteht. Ist diese Haltung zynisch? Nur scheinbar, vielmehr folgt sie aus dem konsequenten Zu-Ende-Denken einer Situation; sie ist vom Trotz, von einem „Trotzalledem“ diktiert. Zugleich verbirgt sich hinter der exakten Gliederung der Verszeilen unüberhörbar auch schon Verzweiflung.
Der Übergang von der Zustandsbeschreibung ins Epische wird wieder mit einer keck-kühnen wegwerfenden Geste hergestellt:

… schlag ich alles in den Wind.

Dann folgen als Konklusion die beiden vieldiskutierten Zeilen, zunächst die auch in sich widersprüchlich aufgebaute Zeile „Breche reinen Herzens ein“, dann, durch „wenn“ bedingt, die Möglichkeit:

… morde auch, wenns grad muß sein.138

Zweifellos liegt hier der Kulminationspunkt, der emotionale Akzent, signalisiert und hervorgehoben durch das bis dahin einzige Attribut im Gedicht: „rein“, das in der Fügung „reinen Herzens“ nicht zufällig als Titel erscheint.
In der dritten Strophe des Originals dominieren deutlich die hohen Vokale. In den beiden ersten Zeilen signalisieren die tiefen Töne die Besitzlosigkeit, indem die Melodieführung über die als hart und abgehackt empfundenen kurzen Silbenvokale e und i verläuft. In der ersten Zeile löst sich die Melodie noch so zögernd von den tiefen Tönen, wie die gedankliche Aussage sich allmählich formt, während diese sich in der zweiten schnell steigert. Zwei Lautreihen markieren hier sinnlich wahrnehmbar jeweils Fragen des Dichters. In der dritten Zeile unterstreichen die metallisch klingenden i-Laute die Entschiedenheit der Frage; die ö-Laute im Versausgang unterstützen die abgerundete Aussage, allerdings liegt in der durch kurze Wörter bewirkten Abgehacktheit der vierten Zeile auch Hast, möglicherweise ein aufkommendes Zögern. Der unterschiedliche Verlauf der Vokalfolge (aufsteigend in den ersten beiden, abfallend in den beiden anderen Zeilen) verdeutlicht die Gegensätze, die durch die Strophe in eine ausgewogene Einheit gebunden sind. Nachdem der Gedanke zögernd bis zur Verzweiflung, bis zu der Bereitschaft, „reinen Herzens“ zu töten, aufgestiegen ist, verharrt er, weil kein Weg mehr weiterführt.
Die dritte Strophe des Gedichts ist in ihrer Aussage sehr komplex: notgedrungenes keckes Abwinken, Glaube an die moralische Reinheit der aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen und anarchistisch gefärbte Rebellion sind darin enthalten, wobei die Anarchie dominiert. Obwohl Attila József den individuellen Terror, die „reprise individuelle“ der Anarchisten, nicht gekannt hatte, findet dieser hier bereits einen Widerhall – und dies ist durchaus verständlich; rufen doch bestimmte verzweifelte, aussichtslose menschlich-gesellschaftliche Situationen gleiche Reaktionen hervor. Blasser zwar, aber darin enthalten ist auch dieses „wenns grad muß sein…“,139 die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes, ja möglicherweise sogar der von Andor Németh stammende Hinweis auf den Aggressionstrieb in der Tiefe der menschlichen Psyche:

… und will wie jeder töten, töten bloß.140

Entscheidend ist jedoch das anarchistisch-kecke Aufbegehren, das gerade in diesem Gedicht sichtbar wird.
Die vierte Strophe setzt sich von den vorhergehenden durch ihren balladenhaften Charakter ab. Die erste Zeile erinnert noch an die Räuberballaden und an Villon, von „gehenkt“ geht noch eine Klammer zu „schlag ich alles in den Wind“,141 aber dann wechselt der Ton, wird weicher und lyrischer; drei Attribute: gut, unheilvoll, wacker zeigen die emotionale Wandlung an. Die Melodie hebt auch hier ausdrucksvoll den Verlauf des Gedankens hervor. Ein Sich-Abfinden und Gewißheit signalisieren die hellen Laute in der ersten Zeile; der aus der Tiefe kommende Seufzer beschwört die Lautfolge in den Zeilen zwei und drei; in Cello-Tönen erklingen die hellen Vokale des Originals (zwei ö, ein u, drei e bzw. e und ein i) und zeugen von der dichterischen Ausdruckskraft. Nicht weniger aufschlußreich ist die Musikalität der Konsonanten in dieser Strophe: In drei Zeilen, ja in sechs aufeinanderfolgenden Wörtern dominiert der Konsonant l und stimmt als Ausdruck der Bewegtheit des Dichters die Sprache weich; die f-Laute in denselben Zeilen unterstreichen diese Wirkung noch. Und liegt nicht ein Hauch von Sanftheit in der Alliteration der h-Laute am Anfang der dritten Zeile? Unterstützt wird diese Interpretation der lautlichen Elemente übrigens auch durch die Reime.
Das lyrische Subjekt, das nur scheinbar und lediglich für Außenstehende ein Räuber und Mörder ist, repräsentiert das Gute und Wahre. Auf seiner Brust, der „wackren“, „wächst unheilvoller Kräuterwust“,142 den Schurken zur Mahnung und als Lehre für den Kampf. Diese moderne Volksballade der vierten Strophe beschließt das Werk, rundet es ab und krönt es: als Vollzug historischer Gerechtigkeit, als persönliches Ruhefinden und Memento zugleich. In der schöpferischen Nutzung folkloristischer Formen ist dieses Gedicht mit seiner Synthese von vielfältigem Erbe und Neuem eine außerordentlich hohe Leistung.
„Reinen Herzens“ könnte als ein negatives Gedicht bezeichnet werden, insoweit es bestehende Werte verneint, genauer: sie erst vermißt und dann verneint. Und dennoch ist es kein negatives Gedicht, denn bejaht werden das Ziel, das sinnvolle Leben, der Kampf – verneint wird die veraltete Moral und der oberflächliche Patriotismus. Andor Németh erschien es als „moralisch indifferent“;143 in Wirklichkeit ist es durchdrungen von der Moral der Guten und Reinen. Der Literaturhistoriker István Király bemerkt zu dem Gedicht:

Auch in seiner Sittlichkeit geriet, wer mit hohen Ansprüchen lebte und nicht klein beigab, außerhalb der gegebenen Gesellschaft: die Sittlichkeit war vogelfrei geworden.144

Fügen wir hinzu: Zweifellos handelte es sich um eine andersgeartete Moral als die dazumal konventionelle; eine neue Moral war im Entstehen, und eines ihrer Elemente war gerade die Unbefangenheit, ja die Zur-Kenntnisnahme und Zügelung der aggressiven Triebe. Das Gedicht war ein Entwurf zur neuen, von der Religion autonomen Moral – ein Entwurf zu einer auch politisch neuen Moral. Andor Németh schreibt, sich an József erinnernd, u.a.:

In Gedichten wurde dies selten so ausgedrückt, und zwar so kraftvoll, so unmißverständlich. An seinem Sinn gibt es nichts zu deuteln, noch zu beschönigen oder gar zu entschuldigen. Es besteht aus koordinierten einfachen Aussagesätzen, in denen überwiegend Taten und Handlungen gegen die öffentliche und private Sicherheit angedroht werden. Diese sind sogar bei Berücksichtigung der vom Autor vorgebrachten entlastenden Umstände vom Gesetz schwer zu ahnden, vielleicht um so mehr, wenn der Zynismus in Betracht gezogen wird, mit dem sich der Verfasser des Gedichts auf seine Jugend beruft. Hält man sich an den ,Tatbestand‘, so ist Antal Horger145 beizupflichten: Wer prahlerisch-herausfordernd behauptet, er breche reinen Herzens ein und töte, wenn es sein muß, ist in der Tat für die Erziehung der Jugend nicht geeignet. Was könnte zur moralischen Verteidigung des jungen Dichters vorgebracht werden? Sehr wenig. Es wäre scheinheilig zu behaupten, seine Aussprüche seien ,nicht wortwörtlich zu verstehen‘, denn der junge Dichter wollte diese sehr wohl so verstanden wissen. Der Volksliedrhythmus des Gedichts, die Gliederung der Zeilen, die wie ein Hammerschlag wirkende Kraft der regelmäßigen Zäsuren dienen sämtlich dem Zweck, im Leser oder Hörer des Gedichts den Willen des Autors fest zu verankern. Seine Einfachheit ist überwältigend und bewirkt, daß dieses Gedicht beinahe beim ersten Lesen im Gedächtnis haftenbleibt. – Daß Attila József zu jener Zeit – vielleicht auch später reinen Herzens hätte einen Menschen töten können, ist unzweifelhaft. Ich bin dessen ebenso gewiß, wie ich beschwören würde, daß er außerstande gewesen wäre, einzubrechen oder jemanden auch nur um einen Fillér zu schädigen. Er jedenfalls hat ermessen, wozu er imstande wäre, was die meisten jedoch versäumen. – Er tat es – das Gedicht tat es. – Und damit sind wir im Zentrum der Lebensauffassung von Attila József angelangt, seinem moralischen Indifferentismus. Davon wird noch häufig die Rede sein, denn in vielen seiner Gedichte kehrt dieses Motiv ,Über Gut und Böse denke ich nicht nach‘146 wieder, obwohl ihn diese beiden moralischen Kategorien ständig beschäftigen. Wie bereits erwähnt, beklagt er in einer Strophe, ein düstrer Sünder zu sein, der eins nur nicht begreift: warum er nicht schuldig ist, wenn er es ist. In der Reihenfolge dieser Feststellung verurteilt er sich zunächst, spricht sich aber dann frei. So klingt auch dieses Gedicht aus – mit einem grasüberwucherten Grabhügel, der sich über seinem Herzen erhebt, als hätte er in Szárszó147 sein eigenes Grab geschaut.148

Das Gedicht „Reinen Herzens“ eröffnet neue Wege in der ungarischen Dichtung. In Józsefs Lyrik markiert es einen Gipfel der Rebellion in der Haltung des Anarchisten und Desperados, eine verbitterte Abrechnung mit bis dahin gültigen Werten, eine Tabula rasa und einen Aufbruch zur Suche nach neuen Werten. Nicht anders verhält es sich hinsichtlich der Form: Die Möglichkeiten des Volkslieds, des Liedes und der Volksballade werden bis aufs äußerste genutzt. Was er sich hier angeeignet hatte, setzte und entwickelte er in vielem fort. In erster Linie war es die Haltung: „In den Gedichten von Attila József gehört der zwanzigjährige Halbwüchsige, der seine zwanzig Jahre dem Teufel verkauft und, wenn es sein muß, auch Menschen tötet, als lyrischer Held untrennbar zum Erlebnis und zur Charakterisierung ,dieser Welt, unwirtlich, voller Hüter‘.149 Das Lebensgefühl des jungen Burschen, der voller Ironie über die Welt und sein eigenes Los spricht und sich außerhalb der Gesellschaft recht und schlecht durchschlägt, tritt nicht nur in dieser Schaffensperiode des Dichters zutage, sondern ist ein Grundton der Józsefschen Lyrik insgesamt. Die ironisierende, zuweilen geradezu zynische Verspottung der Welt des Kapitalismus ist einer der Faktoren, die den poetischen Stil seiner großen antifaschistisch-humanistischen Gedichte in den dreißiger Jahren bestimmten.“150 schrieb József Révai.151
Das Erscheinen des Gedichts „Reinen Herzens“ hatte sofort Folgen für den Dichter, und zwar nachteilige. József selbst bemerkt dazu:

Es machte mich sehr stolz, daß mein Professor, Lajos Dézsi,152 mich zu selbständiger Forschung für geeignet erklärte. Doch jede Lust dazu nahm mir, daß Professor Antal Horger, bei dem ich das Examen in ungarischer Sprachwissenschaft abzulegen gehabt hätte, mich zu sich rufen ließ und vor zwei Zeugen – ich weiß noch heute ihre Namen, sie sind bereits Mittelschullehrer – erklärte, aus mir werde, solange es ihn gibt, nie ein Mittelschullehrer, ,weil wir einem Menschen‘, so er, ,der solche Gedichte schreibt‘ – und dabei hielt er mir ein Exemplar des Blattes Szeged vor die Nase – ,die Erziehung der künftigen Generation nicht anvertrauen können‘. Man spricht oft von der Ironie des Schicksals; hier ist sie tatsächlich im Spiel, denn mein Gedicht „Reinen Herzens“ ist sehr bekannt geworden, sieben Artikel wurden darüber geschrieben. Lajos Hatvany153 erklärte es wiederholt zum Dokument der ganzen Nachkriegsgeneration ,für spätere Zeitalter‘,154 und Ignotus155 ,hätschelte, streichelte, brabbelte und murmelte in seiner Seele‘ dieses ,wunderschöne‘156 Gedicht; so schrieb er darüber im Nyugat und machte dieses Gedicht in seiner Ars poetica zum Musterstück der neuen Dichtung.157

Bleibt noch hinzuzufügen: Auch andere linksstehende fortschrittliche Kritiker – so der später namhafte kommunistische Kritiker Gábor Gaál,158 der als Emigrant der Räterepublik zu dieser Zeit in Cluj159 lebte – waren auf das Gedicht aufmerksam geworden.
Es ist offensichtlich, daß bei dem jungen József die Hinwendung zur Volksdichtung von einer übermütig-verwegenen Trotzhaltung der Welt gegenüber begleitet ist – von einer Geste, die an die Haltung junger Burschen auf dem Dorf erinnert. Diese Volksverbundenheit, von der die Lyrik des jungen Attila József geformt wurde, die er unverwechselbar integrierte, blieb ein ständiges nuancierendes Element seiner Dichtung, ohne jemals in eine Bauernromantik abzugleiten. Volksverbundenheit war bei ihm stets gleichbedeutend mit Unumwundenheit, Reinheit und Authentizität und zuweilen, in Abwehr gegen die Formzersetzung durch die Avantgarde, ein Mittel zur Bewahrung von Formen; durchweg aber begünstigte sie die poetische Abbildung der Wirklichkeit und war somit ein konstitutives Element des Realismus seiner Lyrik. Weltanschaulich war Józsefs Volksverbundenheit zunächst plebejischen Inhalts, später jedoch, in seiner sozialistischen Lyrik, hatte sie eine wichtige Funktion gerade durch die Bindung an die Wirklichkeit des Alltags.
Józsefs Verhältnis zum Erbe wurde bislang nur anhand der nationalen Traditionen aufgezeigt, und doch hatte der junge Dichter auch zur Weltliteratur Zugang gefunden. Er kannte und nutzte zunächst vor allem das, was in ungarischer Übertragung in alten und neuen Anthologien und Einzelausgaben vorlag: Schiller, Heine, Victor Hugo, aber auch die Dichter des Fin de siècle bzw. den Band Baudelaires Les Fleurs du mal,160 der eben zu der Zeit in neuer ungarischer Fassung erschienen war. Vor allem aber waren es zwei Dichter, in deren Werken das Zeitalter der Technik, ein neues Bild von den Städten und hymnisch die Kraft der Arbeiter gestaltet waren: Walt Whitman und Emile Verhaeren. Ihre Werke wirkten auf József nicht nur unmittelbar, sondern gleichsam umgedeutet und gefiltert durch die ungarische aktivistische Dichtung.

 

 

 

Inhalt

– Stephan Hermlin über Attila József

– Elternhaus, Kindheit und Gymnasialzeit – erste literarische Versuche

Attila Józsefs Verhältnis zum literarischen Erbe
Einfluß der ungarischen Klassiker
Kritisch-produktiver Umgang mit den Zeitgenossen
Endre Ady und Gyula Juhász
Verarbeitung von Anregungen zu eigenständigen Synthesen: „Hunger“ und „Der Ermüdete“
Erschließung der ungarischen Volksliedtradition: „Arme Leute“-Gedichte und „Reinen Herzens“

– Wander- und Lehrjahre: Begegnung mit der Avantgarde

Wieder in Budapest: Biographische Zwischenbilanz
Liebeslieder und Rebellion in der Manier Villons: „Korallenkette“
Hinwendung zum Dorf: „Tiszazug“ und „Dorf“

Das Verhältnis von Tradition und Neuerertum, Parteiarbeit und revolutionärer Lyrik
In den Reihen der Kommunistischen Partei
Der Gedichtband „So hau den Stamm um“
Auf neuen Wegen: Marxistische Arbeiterdichtung
Die großen philosophischen Gedichte: „Elegie“, „Am Rand der Stadt“ und „Ode“
Höhepunkt der Józsefschen Gedankenlyrik: „Besinnung“

Diskussionen und theoretische Reflexionen
Zur Poetik Attila Józsefs
Diskussionen mit der KPU
Ästhetisch-kritische Auseinandersetzung mit Problemen der Kunst und Literatur

Antifaschistische Dichtung im Zeichen der Volksfront
Letztes Lebensjahr: „Ars poetica“ – eine Summierung von Sinn und Wert der Józsefschen Lyrik

– Das Werk Attila Józsefs in der ungarischen und in der Weltliteratur

– Anmerkungen

– Bibliographie

– Personenregister

 

„Eingeschmolzen in Józsefs Dichtung

sind die entscheidenden poetischen Bewegungen der Moderne: Man findet natürlich den Einfluß Adys, den er ganz früh gelesen hatte, aber auch Baudelaire und Poe, die französischen Surrealisten so gut wie Majakowski und ebenso Becher, Weinert, Brecht“ – so Stephan Hermlin über einen Schriftsteller, dessen Verse in Ungarn die Schuljugend weiß; hierzuland gibt es nur Kenner, die dann aber auch, Hermlins Worte bezeugen es, Liebende sind.
Ein ungarischer Literaturwissenschaftler legt die Gründe dieser Liebe frei: erzählt das Leben eines Menschen, der vom Plebejer zum Sozialisten wurde und dessen Verse von Herkunft und Hoffnung sagen. In Nachdichtungen von Franz Fühmann, Heinz Kahlau und Martin Bischoff werden sie vorgestellt.
1980 beginge Attila József seinen 75. Geburtstag. Wir ehren ihn mit diesem Buch.

Akademie Verlag, Klappentext, 1980

 

Miklós Szabolcsi: Attila József

Hajnalka Halász: (Selbst‑)Zerstörung der Schuld—Chance der Entschuld(ig)ung: Schuld und Schulden in der Lyrik von Attila József

Attila József und seine Dichtung im Kreuzfeuer der Ideologien –  ein Feature von Anat-Katharina Kalman

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Fakten und Vermutungen zu Attila JózsefIMDb
Zum 80. Todesjahr von Attila József: literaturkritik

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