– Zu Theodor Kramers Gedicht „Zur halben Nacht“ aus dem Band Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte 1. –
THEODOR KRAMER
Zur halben Nacht
Was bin ich plötzlich aufgewacht.
Die Luft ist schal und dick;
unsichtbar sitzt zur halben Nacht
ein Druck mir im Genick.
Ist niemand da, der trinken will
mit mir vorm Nahn des Lichts?
Ich trommle laut, ich trommle still
den schwarzen Marsch ins Nichts.
Der Mond steht kalt am Himmel, wie
gefallen aus der Zeit;
die Sträucher seufzen hohl wie nie
vor lauter Einsamkeit.
Ist niemand da, der schlafen will
mit mir vorm Nahn des Lichts?
Ich trommle laut, ich trommle still
den schwarzen Marsch ins Nichts.
Erschöpft hat sich, was du verlangst
von mir, o Welt; ich härm
im Schlaf mich sehr und ich hab Angst
und mach, allein, mir Lärm.
Ist niemand da, der mithörn will
die Stimme des Gerichts?
ich trommle laut, ich trommle still
den schwarzen Marsch ins Nichts.
Dieses Gedicht von Theodor Kramer habe ich unmittelbar nach dem Krieg in einer der ersten Nummern der von Otto Basil herausgegebenen Zeitschrift Plan gelesen. Basil machte seine nicht sehr zahlreichen Leser vor allem mit Autoren bekannt, die vertrieben worden waren. Er druckte auch zum ersten Mal eine Handvoll Gedichte des aus Rumänien geflüchteten Paul Anczel, der sich Paul Celan nannte. In einem dieser roten Hefte las ich das Gedicht „Zur halben Zeit“ von Theodor Kramer, das meine eigenen Gefühle ausdrückte und mir so gut gefiel, daß ich den Refrain – „Ist niemand da, der trinken will / mit mir vorm Nahn des Lichts? / Ich trommle laut, ich trommle still / den schwarzen Marsch ins Nichts“ – bald auswendig konnte. Theodor Kramer, der schon vor dem Krieg mehrere Gedichtbände veröffentlicht hatte, darunter Die Gaunerzinke und Die grünen Kader (österreichische Deserteure gegen Ende des Ersten Weltkriegs), fristete als Collegebibliothekar in Guildford, etwas südlich von London, sein karges Emigrantendasein. Es ist bezeichnend, daß er dieses Gedicht im Juni 1945 schrieb, als die Engländer, bei denen er Zuflucht gefunden hatte, nach der Zerstörung der Naziherrschaft endlich aufatmen und wieder fröhlich sein durften. Für ihn schmeckte dieser mit unzähligen Opfern errungene Sieg schal, weil er noch immer ein Fremder unter Fremden war, mit dem niemand trinken oder schlafen wollte.
Diese Ballade über die Einsamkeit erinnert mich an das Bild eines Wiener Malers aus den späten zwanziger Jahren, auf dem ein Mann mittleren Alters ganz allein am Küchentisch gelehnt sitzt und unendlich traurig vor sich hin starrt. Es war ein typisches Bild im Stil der „Neuen Sachlichkeit“. Ebenso scharf gezeichnet, beinahe kantig, wirken die Gedichte von Theodor Kramer. Sie erinnern auch an die Balladen von François Villon, die der ehemalige k.u.k. Oberst Klammer unter dem Pseudonym K.L. Ammer kongenial ins Deutsche übersetzt hat. Brecht hat einige dieser übersetzten Balladen beinahe wörtlich in seine Dreigroschenoper eingefügt. Ich stelle mir vor, daß man viele Gedichte von Kramer auch mit Musikbegleitung vortragen oder gar singen könnte, wie die Gedichte von Frank Wedekind, Erich Kästner und anderen Vertretern dieser Epoche, die man mit dem Begriff „Neue Sachlichkeit“ etwas ungenau definiert.
Meine Situation war jedenfalls ähnlich wie die des aus seiner Heimat vertriebenen Theodor Kramer. Ich war aus einem Lager aus Serbien zur Zwangsarbeit nach Wien verschleppt worden und wollte nicht in meine frühere Heimat, die in den ersten Nachkriegsjahren von Stalinisten beherrscht war, zurückkehren. So saß ich, ein Fremder unter Fremden, in einem kleinen, ungeheizten Mansardenzimmer im Haus eines Studienfreundes und versuchte, in deutscher Sprache zu schreiben, die nicht meine Muttersprache war, die ich aber seit meiner frühen Kindheit halbwegs beherrschte.
Viktor Matejka, der legendäre kommunistische Stadtrat für Kultur, der sich schon nach den ersten Prozessen in Budapest und Prag, also 1948, von den Kommunisten getrennt hatte, wollte Theodor Kramer nach Wien holen, indem er ihm eine Stelle in der Stadtbibliothek anbot. Doch Kramer zögerte. Erst gegen Ende des Jahres 1957 kam er wieder nach Wien, wo er, wiederum ein Fremder unter Fremden, nach sechs Monaten, kaum einundsechzigjährig starb. Die Stimme des Gerichts, von der er in seinem Gedicht spricht, gibt es nicht. So trommle ich für ihn laut und still den schwarzen Marsch ins Nichts.
Milo Dor, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000
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