DER WESTEN
Der Westen hat mir den Mund gestopft.
Ich habe New York und Paris gesehen, San Francisco
aaaaaund Frankfurt
ich war an Orten, von denen ich nicht zu träumen
aaaaawagte.
Ich kehrte mit einem Stapel Fotos zurück
und mit dem Tod in der Brust.
Ich hatte im Glauben gelebt, daß ich etwas bedeute,
aaaaadaß mein Leben etwas bedeutet.
Ich hatte Gottes Auge gesehen, wie es mich durchs Mikroskop betrachtete
meine Zuckungen auf der Lamelle.
Jetzt ist aller Glaube dahin.
Ich war gerade gut genug für eine idiotische Stabilität
für ein tiefes Vergessen
für einen einsamen Frauenschoß.
Ich flanierte durch Orte, die heute verschwunden sind.
Ach, meine Welt ist versunken!
Meine Welt gibt es nicht mehr
meine elende Welt, in der ich etwas bedeutet habe.
Ich, Mircea Cărtărescu, bin in der neuen Welt niemand
es gibt hier 1038 Mircea Cărtărescus
und Menschenwesen, die 1038 mal besser sind
es gibt Bücher hier, die besser sind als alles, was ich je gemacht habe
und Frauen, die sich einen Dreck darum scheren.
Da springt das pragmatische Ei, und Gott ist hier
just in seiner eigenen Schöpfung, ein schick gekleideter Gott
in schönen Städten an wunderbaren Herbsttagen
und auch in einer Art zarten South-Virginia-Nostalgie
die in Dorins Auto herrscht (Countrymusic aus den Boxen)…
Ich weiß jetzt, wie weit meine Kräfte reichen
und wie weit die Kräfte der Literatur
denn ich habe den Sears Tower gesehen
und aus dem Sears Tower Chicago weit unten im grünen Nebel
und auf der Terrasse eines Wolkenkratzers jagten zwei Windhunde einander
da sagte ich zu Gabriela (wir tranken gerade Cola)
daß ich mit meinem Leben am Ende bin.
Es ist wie in Eliots Dreikönigen: Ich habe den Westen gesehen
bin mit dem Flugzeug über Manhattan geflogen
erblicke mit großen Augen meinen verzauberten Tod
denn in der Tat: dieses hier ist mein Tod.
Ich betrachtete die Schaufenster mit Suzukis
und sah mich darin elend, anonym.
Ich lief stundenlang durch die Königsstraße
schlängelte mich hindurch zwischen den Skateboardkids.
Ich war auf einem Farbfoto der schwarz-weiße Mann
Kafka unter den Arkadiern.
Poeme, Poheme, Philo-Senti-Ame
Modernismen und Kneipengespräche, die Frage, wer der Größte ist
Toplisten im Zug aufgestellt (ich kam aus Onesti): welches sind die zehn besten
Romane der rumänischen Gegenwartsliteratur
die zehn besten lebenden Dichter
ganz in der Art wie die Papuas
auch heute noch in den Kübel mit Palmwein spucken, um ihn zum Gären zu bringen…
Die Poesie aber ist ein Zeichen von Unterentwicklung
desgleichen, seinem Gott ins Auge zu blicken
obwohl er sich nie gezeigt hat.
Ich sah Flipper und Buchhandlungen und konnte den Unterschied nicht erkennen
und begriff, daß die Philosophie Entertainment ist
und die Mystik Showbiz
die Kultur ist Oberfläche und es gibt überhaupt nur Oberfläche
nur ist sie komplexer als jede Tiefe.
Was wäre ich dort? Ein Entzückter, ein bis zum Wahnsinn glücklicher Mensch
der mit seinem Leben am Ende ist
mit seinem definitiv abgefuckten Leben wie der Wurm in der Kirsche
der sich auch etwas Besseres dünkte
ehe er ans Licht kroch und den Dreck neben sich sah
(mein Dreck, meine Gedichte).
Ich habe Menschen gesehen, denen das Abtreibungsgesetz
wichtiger war als der Zerfall der Sowjetunion
ich habe hohe und blaue Himmel gesehen voller Flugzeuge und ihren Lichtkegeln
und ich habe das Gebrüll der viertausend Universitäten erlebt
ich erstieg den Eiffelturm über den Treppenaufgang
und fuhr ins Centre Pompidou durch die Plexiglasröhre
und in Iowa City war ich im Fox Head zu Gast…
Ich plauderte in Ludwigsburg mit Hassan und Bradbury
und Grass und Barth und Federman über die Postmoderne
wie der Verurteilte mit seinem Henker schwatzt
ich hielt das Sausen des Fallbeils
das meinen Kopf vom Körper trennt, auf Tonband fest.
Es war mir zum Heulen im Luxus von Monrepos:
Wie ist das möglich? Wieso sind wir vergeblich geboren?
Weshalb schlagen wir uns mit Vadim und den Nationalisten herum?
Warum können wir nicht endlich leben?
Warum atmen wir jetzt, da wir endlich leben könnten
schon wieder den sauren Geruch der Mülltonnen ein?
Postmoderne und Biedermeier
Dekonstruktion und Tribalismus
Pragmatismus und Nabelschnüre
und das Leben, das anderswo ist…
Ich habe San Francisco gesehen, die Schiffe auf dem blauen Golf
und weit draußen im Ozean die bewaldeten Inseln
im Pazifik, wenn du dir das vorstellen kannst!
Ich habe meine Hände ins Wasser des Pazifik getaucht „thanking the Lord for my fingers“.
Irrsinniges Fernweh überkam mich.
Und dann in der berühmten Buchhandlung Ferlinghettis (es gibt sie tatsächlich!)
als trätest du bewußt in deinen eigenen Traum oder in ein Buch ein…
Die Straßen von San Francisco haben mich aus der Fassung gebracht
und Grant Street mit den Chinesen
und den Riesenpalmen und den ausgeflippten Mädchen
in den Friseursalons.
(Die Kundinnen
betrachteten sich nicht in Spiegeln sondern in Farbmonitoren.)
Und die amerikanischen Nächte, erinnerst du dich, Mircea T.?
Unweit von deinem und Melissas Häuschen, nach
einem ganzen Nachmittag mit SF-Filmen
wir aßen Tacos
und tranken Old Style Bier
beim Hinausgehen rissen uns die Sterne hin
und die stillen Flugzeuge zwischen den Sternen
und in deinem Auto, dem alten Ford, war die Luft eisig
und du fuhrst mich quer durch die leere Stadt bis zum lieben
meinem sehr lieben Mayflower Residence Hall.
Und die Thanksgiving-Paraden und Halloween
mit alten Bankiers als Bären und Clowns verkleidet
und der Junge tschechischer Herkunft, dem Faulkner am Herzen lag
und die kleine Koreanerin aus dem gelben Cam-Bus
und die Melancholie der gelben Blätter in Iowa City
und wir beide, Gabi und ich, beim Shopping, stundenlang
bei Target und K Mart und Goodwills
(aber auch die phantastische Mall im Zentrum)…
… ich kaute Gewürznelkenbonbons an meinem ersten Morgen in Washington
… den Fotoapparat um den Hals auf dem Dupont-Platz in bitterer Kälte…
… ich legte 7 $ hin, um in den Zoo von New Orleans zu kommen
und es regnete und die Tiere hatten sich alle in ihre Höhlen verkrochen…
… im Taxi zankte ich mich mit dem schwarzen Fahrer
da ich von dem, was er sagte, kein Wort verstand: „Hey man…“
… herrliches Schlemmen in den chinesischen und thailändischen Lokalen
in den japanischen auch, am herrlichsten aber bei Meandros, dem Griechen aus Soho…
… The Art Institute (Impressionisten die Menge)
… The Freak Museum (amazing: dreimal Vermeer!)
… The National Gallery (die Malewitsch-Retrospektive)…
Einer, der hundert Jahre lang eingefroren war,
öffnet die Augen und entscheidet sich fürs Sterben.
Was er gesehen hat, war zu schön und zu traurig.
Denn er kannte da keinen und an den Fingern eiterten die Nägel
und seine Zähne waren über die Maßen verrottet
und im Kopf
hatte er allerlei unnützes Zeug
und alles, was er je unternommen hatte
war von der Substanz her bestenfalls halbe Windstärke gewesen.
Ein Mann auf einer fernen Insel hatte
eine Nähmaschine aus Bambus erfunden
und hielt sich für ein Genie
denn niemand von den Eingeborenen
hatte sich je etwas Ähnliches ausgedacht und als die Holländer kamen
belohnten sie ihn für seine Erfindung mit einer elektrischen Nähmaschine.
(„Danke schön“, sagte er und entschied sich fürs Sterben.)
Ich finde meinen Platz nicht, ich bin nicht mehr von hier
und kann von dort keiner sein.
Und die Poesie? Ich fühle mich als letzter Mohikaner
lächerlich wie Denver, der Dinosaurier.
Die beste Poesie ist die, die erträglich ist
die nur erträglich ist und sonst nichts.
Wir haben zehn Jahre lang gute Poesie gemacht
ohne zu wissen, wie schlecht die Poesie war, die wir machten.
Wir haben große Literatur gemacht und begreifen jetzt
daß sie gerade deshalb nicht über die Schwelle kommt, weil sie groß ist
zu groß, erstickend in ihrem Fett.
Auch dieses Gedicht ist kein Gedicht
denn nur was kein Gedicht ist
kann noch als Poesie bestehen
nur was nicht Dichtung sein kann.
Der Westen öffnete mir die Augen, als ich mit der Stirn an den Türrahmen prallte
ich hinterlasse anderen, was bis heute mein Leben war.
Mögen andere glauben, woran ich geglaubt.
Mögen andere lieben, was ich geliebt.
Ich kann nicht mehr.
Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!
Endpunkt oder Neuanfang, Zeugnis schwindender Dichterkraft oder ästhetisch wagemutige, in die Zukunft weisende Grenzüberschreitung? Das Gedicht „Der Westen“, das letzte dieser Auswahl, markiert tatsächlich einen Wendepunkt in der literarischen Entwicklung Mircea Cărtărescus und läßt beide Deutungen zu. Doch spielt auch anderes eine Rolle, wie ein Blick auf ein etwas früher, kurz vor der Zäsur von 1989 entstandenes Werk des rumänischen Dichters deutlich macht: Levantul („Die Levante“) ist ein parodistisches Versepos in 12 „Gesängen“, ein Text von über 200 Seiten, heiter und witzig, der mit überschäumender Fabulierfreude gängige Themen und Motive, charakteristische Topoi und Konstellationen der nationalen Literaturgeschichte ironisch zugespitzt resümiert. Im 9. Gesang, völlig unerwartet, stößt der Leser auf folgenden Hinweis:
ICH, MIRCEA CARTARESCU, SCHRIEB
D I E L E VA N T E
MIT 31, IN EINEM SCHWIERIGEN MOMENT
MEINES LEBENS, ALS DER VERLUST DES GLAUBENS
AN DIE POESIE (DIE BISLANG MEIN LEBEN WAR)
UND AN DIE WIRKLICHKEIT DER WELT SOWIE AN
MEIN GESCHICK AUF ERDEN MICH BEWOG, DIE
ZEIT MIT DEM AUSBRÜTEN EINER ILLUSION ZU VERTUN.
Trotz der typographischen Hervorhebung liest man leicht über diesen Alarmruf hinweg, weil der Text mit seinem schalkhaften Sprachwitz und der insgesamt überaus wohlgelaunten Atmosphäre verhindert, daß man den plötzlich dramatisch ernsten Ton ernst nimmt. Ganz anders in „Der Westen“, einem Gedicht, das kein Gedicht mehr sein will. Da verabschiedet sich das lyrische Ich nach der erschütternden Begegnung mit dem Westen so ungeschützt pathetisch von der „großen“ Poesie, daß der Leser spätestens beim verzweifelten „Ich kann nicht mehr“ des Finales unsicher wird, ob da noch das lyrische Ich spricht oder ob nicht etwa der sensible Autor seine Krise tatsächlich coram publico auslebt, also in selbstzerstörerischer Absicht aus dem Gedicht herausgetreten ist und um Mitgefühl bittet. So oder so, die Gefährdung, der er sich mit solchen Gratwanderungen aussetzt, ist real, und es erfordert gewiß einigen Mut, sie bewußt auf sich zu nehmen und der Entmutigung und Ratlosigkeit Einlaß ins Gedicht zu gewähren, auch wenn es schließlich gelingt, sie vom Persönlichen weg auf die historische Situation zu projizieren.
Heute blickt Cărtărescu auf die „wilden Achtziger“, als er noch beschwingt Gedichte schrieb, wie auf längst vergangene, glückliche Jugendtage zurück und weiß sich doch mit den später entstandenen Prosawerken seiner literarischen Wunschvorstellung entschieden näher. Hat er sich doch mit dem Wechsel von der Lyrik zur Prosa keineswegs anderen Zielen zugewandt, sondern gewissermaßen nur Spur und Fahrzeug gewechselt, um sicherer anzukommen. Tatsächlich ist alles, was dieser Autor bisher geschrieben hat, beeindruckend komplex und so kohärent, daß man den Eindruck gewinnen kann, er habe sein Werk systematisch aus einer Wurzel entwickelt und von Buch zu Buch lediglich einen Urtext entfaltet, vertieft, nuanciert und bereichert; die einzelnen „Werdensprozesse“ – als die Gilles Deleuze das Schreiben erkennt – sind noch längst nicht abgeschlossen, ja, der Fluchtpunkt all dieser Prozesse scheint in großer Ferne zu liegen, und der Horizont, der sich auftut, ist jetzt schon sehr weit.
Bereits in Cărtărescus erstem Gedichtband waren mehrere deutlich auseinanderstrebende Kraftlinien erkennbar, die später dann in wechselnder Akzentuierung hervortraten und sein literarisches Schaffen unterschiedlich bestimmt haben. Von Anfang an schon zeigt er seine Entschlossenheit, sich nicht auf ein schmales Register und ein bestimmtes Bild- und Motivrepertoire festlegen zu lassen, von Anfang an auch ist sein sprachlicher Zugriff auf die Welt von einer Spannweite und Eindringlichkeit, die in einer ihm selbst zuweilen unheimlichen Weise ALLES ins Bild treten lassen, Totalität suggerieren. Dabei sind seine Überzeugungen ganz eindeutig die eines Verfechters der Differenz, der Pluralität und der Fragmentierung, während seine Kunst nicht selten den Verdacht einer gewissen holistischen Neigung erregt.
Wenn der junge Cărtărescu postuliert, die Poesie sollte nicht so sehr den Text, sondern vielmehr die Realität ins Auge fassen, so ist das in den endsiebziger, frühen achtziger Jahren zwar gewiß auch eine Reaktion auf die wesenseigene Tendenz der kommunistischen Ideologen, nicht nur historische Wahrheit in politische Mythen umzumünzen, sondern in der Öffentlichkeit einfach alles nach ihren Vorstellungen und tagespolitischen Interessen zu verfälschen, bleibt aber von der Intention her ausgesprochen unpolitisch. Nicht das Regime oder einzelne konkrete Lügen des Regimes, sondern dessen Sprachregelungsfuror, die grundsätzliche und alltägliche Manipulation des Bewußtseins und die damit verbundene Entwirklichung sind für ihn der Skandal, dem sich der Autor zu stellen hat. Er beschließt gewissermaßen für sich, den Staat und seine Ideologie mit Nichtachtung zu strafen, sich von Servituten der politischen Macht radikal freizumachen und zu halten, selbst auf die Gefahr hin, ewig Grundschullehrer in einem Bukarester Außenbezirk zu bleiben und vergeblich auf die Veröffentlichung seines ersten Buches zu warten (das nach Monaten dann aber schließlich doch erscheint).
Das neue „Realismus“-Konzept, das Cărtărescu für sich und seine Weggefährten formuliert, hat außer anti-idyllischen und anti-utopischen Zielsetzungen ausdrücklich auch ein anti-elitäres Element: Mit der Devise „Die Poesie steigt hinab in die Straßen“ verband man ästhetisch den Anspruch, die Lyrik ohne Qualitätsverlust möglichst unverschlüsselt und sprechbar zu halten, also vorrangig den Zuhörenden ins literarische Kalkül einzubeziehen anstelle des einsamen Lesers. Vermutlich hängen solche Vorgaben einerseits mit dem Umstand zusammen, daß den jungen Autoren jener Zeit für ihre Texte fast ausschließlich die kleine Öffentlichkeit der literarischen Studentenzirkel zugänglich war, andererseits aber sicher ebenso damit, daß die Vorstellungswelt auch der rumänischen Jugend inzwischen zunehmend von den Mustern der Popkultur geprägt war.
Wie fern der Straße (zumal im politischen Sinn) sich Mircea Cărtărescus Poesie aber in Wirklichkeit bewegt, wird gerade im Zusammenhang mit den „revolutionären“ Ereignissen von 1989 deutlich. Sein Tagebuch der Jahre 1990–1996 zeigt ihn zwar durchaus versucht, die Rolle des Schriftstellers mit jener des Bürgers und Intellektuellen zu vereinen und „liberale Politik zu machen“, konkret aber scheitern alle diese kopfbestimmten Initiativen immer wieder kläglich. Schließlich entscheidet er sich in klugem Verzicht dafür, sich weiterhin einzig und allein jener Sache zu widmen, an der er mit allen Fasern seines Wesens hängt und zu der er sich befähigt weiß – der Literatur. Gerade sie aber scheint ihn im Stich zu lassen, wenn die Außenwelt zu sehr an ihm zerrt. „Die Trance, die aus mir einen Schriftsteller gemacht hatte, zerstob – wie ein Traum, wenn man morgens die Augen aufschlägt“, vermerkt er Anfang 1990, frustriert zurückblickend auf das Jahr der großen Wende, das für ihn vor allem das Jahr der ersten großen Schaffenskrise war.
Allmählich nur faßt er sich wieder, allmählich gewinnen neue Pläne Kontur, und was nun in ihm reift, ist von den Ereignissen keineswegs unberührt, auch wenn er diesen in seinen Texten kaum Beachtung schenkt. Das Dunkle, Chaotische und Rätselhafte aber, das ihnen anhaftete, steuert unbewußt seine tastende Suche nach Motiven und Stoffen für das nächste Werk. So erwägt und verwirft er etwa die Idee eines Novellenbandes mit dem Titel Mein Nachtleben, umkreist aber weiterhin den Ansatz, den unter- oder abgründigen Seiten der Wirklichkeit künstlerisch Entscheidendes abzugewinnen. Streng hält er sich im Tagebuch vor:
Nationales und soziales Leben, das Gemeinschaftliche ist mir wurscht. Das Individuum – ich –, das ist es, was mich fasziniert, die Grotte. Der Lichtschimmer in der Grotte.
Man darf sich hier getrost auch an Platon und sein Höhlengleichnis erinnert fühlen – Mircea Cărtărescu ist nicht selten philosophisch inspiriert, es geht ihm gewissermaßen jederzeit um die Dinge hinter den Dingen, ja, er liebäugelt sogar einen Augenblick lang damit, zu den Philosophen überzuwechseln, falls die künstlerische Kraft versiegen sollte. „In der Tat“, heißt es im Tagebuch, „unter den Sparten meiner Psyche wird das Denken zunehmend tyrannischer. […] Derzeit denke ich in der Art, wie ich als Halbwüchsiger imaginierte: ich sah Bilder, doch sie fügten sich zu keiner Welt. Vielleicht könnte ich mich ja, genau wie damals, nur eben im Bereich der Reflexion, in einigen Jahren von einem Menschen, der denkt, zu einem Denker entwickeln.“
Von Platons Höhle zur postmodernen Zerstörung aller Illusionen in bezug auf die Wißbarkeit der Welt führt gleichsam eine gerade Linie. Cărtărescu ist nicht unter die Philosophen gegangen, imaginiert seine Bilder aber stets auch bedrängt von philosophischen Fragen:
Wir können uns selbst nicht entziffern, wie eine Hieroglyphe sich nicht selbst lesen kann. Wir sind da, um von andern gelesen zu werden.
Wenn aber in den Gedichten und später in der Prosa der Autor hier und da unter seinem wirklichen Namen auftaucht, ist das keineswegs nur postmodernes Verwirrspiel oder manieristisches Mätzchen, ebensowenig Selbstbespiegelung. Der ironische Perspektivismus, den Cărtărescu pflegt, läßt auch das konventionelle „lyrische Ich“ nicht unversehrt, sondern macht, je nach Bedarf, zwei oder mehrere Ich-Rollen daraus. In der großen Anrufung der „Frau, Frau, Frau“ beispielsweise wird eine ganze Reihe typischer Muster und Tonlagen des Huldigens vorgeführt, vom schwachsinnigen Gestammel des Gymnasiasten und schwülstigen Kitsch des Bildungsbürgers über den groben Sarkasmus des eifersüchtigen Machos bis hin zu schlichter Poesie; und ebenso vielfältig wie die Figur des Liebenden erscheint im Spiegel von dessen Sprache das Bild der Geliebten. Das Poem – ein großes Konglomerat (oder Destillat?) versteckter, abstrahierter Liebes- oder Lebensgeschichten. Auch den meisten anderen Gedichten ist ein narratives Rahmenmuster unterlegt. Schon hier wird ersichtlich, daß es den Autor zur Prosa drängt. Im Tagebuch hält er fest:
Novelle – Roman? – Als entfaltetes Poem. Nur so.
Auch in seiner Prosa malt Cărtărescu barocke, manieristische Bilder, labyrinthische Traumlandschaften, paradoxe oder auch paralogische Visionen und keineswegs mimetisch-realistische Weltkulissen.
Ganz im Sinne von Gustav René Hockes Bestimmung manieristischer Kunst als „Ergebnis starker polarer Spannungen zum Numinosen, zur Gesellschaft, zum eigenen Ich“ sucht Mircea Cărtărescu konsequent den archimedischen Punkt, von dem aus er mit seiner Kunst, seiner Sprache ALLES packen und bewegen kann. Er nimmt zur Tradition der europäischen Moderne (und Postmoderne), zur amerikanischen Beat-Generation, ganz leichthin und selbstverständlich die kleine nationale Tradition der Rumänen als Teil des „literarischen Balkans“ hinzu (speziell, aber nicht nur in Levantul) und setzt ihr byzantinisch anmutende Glanzlichter auf.
Gerhardt Csejka, Nachwort
einer der herausragenden rumänischen Schriftsteller seiner Generation, veröffentlichte eine Reihe von Gedichtbänden, eher er sich Ende der achtziger Jahre der Prosa zuwandte. Die „überwältigende Kraft von Cărtărescus lyrischem Werk“ (FAZ) offenbart sich in dieser ersten Gedichtsammlung in deutscher Übersetzung: Wie in einem Kaleidskop brechen und überlagern sich poetische Bilder von scheinbar gewöhnlichen Dingen und Gegenständen, von Alltag, Liebe und Schmerz. „Cărtărescu malt expressionistische Wortbilder. Immer wieder schwingt sich die Sprache in die intellektuell und emotional äußerst komplexen Höhen seines metaphernreichen Universums.“ (FAZ).
DAAD, Klappentext, 2001
Rumänische Literatur der Gegenwart, gar zeitgenössische rumänische Lyrik – kennt man diese in Deutschland?
Sicher, Mircea Dinescu wurde Anfang der 90er-Jahre ins Deutsche übertragen, auch gelobt, wohl mehr für seine Rolle im Transformationsprozess im Post-Ceausescu-Staat, hie und da sogar gelesen, Gellu Naum, mehr als eine Generation älter, der einen Völkerverständigungspreis in Leipzig erhielt, blieb dagegen gut gehütetes Geheimnis. (Norman Manea als reiner Prosaautor, somit ,zugänglicher‘, stellt einen Ausnahmefall dar, auch wenn er seit seiner Emigration 1988 weiterhin in Rumänisch schreibt.)
Auch die Vermittler und Übersetzer rumänischer Poesie – Oskar Pastior, Ernest Wichner, Werner Soellner – sind mittlerweile fast gänzlich verstummt, finden wohl keine mutigen Abnehmer mehr auf Verlagsseite.
Um so interessanter mutet eine Veröffentlichung des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschprogramms an, die Gedichte Mircea Cartarescus vorstellt.
Cartarescu wurde 1956 geboren und debütierte bereits 1978. In den folgenden Jahren publizierte er, als Grundschullehrer in einem Außenbezirk Bukarests tätig, stetig bis Ende der 80er-Jahre, hie und da beschnitten von der Zensur. Jedoch, darauf legt er Wert, nicht aus politischen Gründen. Er selber war weder Dissident noch Kollaborateur. Dies macht die vorliegende Kollektion, von Cartarescu selber ausgewählt, auch deutlich.
Es ist eine hoch poetisierte Poesie, eine literatursublimierte Literatur mit eigenem Zungenschlag. Es ist der Ton eines Träumers, dem die Welt Traum ist. „Die sozialpolitische Dimension ist oberflächlich und dem Menschen äusserlich. Sie ist bestimmt nicht unwichtig, aber der wahre Mensch ist der innere Mensch“, sagte Cartarescu einmal in einem Gespräch.
Der Anspruch Cartarescus als Lyriker ist total. Alles ist belebt. So kann ein kleines Motorrad anthropomorph-vitalistische Gedanken über sein Fatum anstellen, so können sich Haushaltsgegenstände ineinander verlieben. So kann sich das lyrische Ich in nur fast klassischer Vanitas-Pose portraitieren, aufleuchtend in einer Streichholzflamme:
Ein zu Staub zerfallenes Gebiß bin ich, eine Mundhöhle,
nach langer Alkoholnacht
eine Schwangerschaftstoxikose, ein blauer
Schwall Zyan, zweistrahlig hervorschießend aus dem
Maul der Spinne
Nicht ohne Hintersinn nannte Mircea Cartarescu seinen Gedichtband von 1985 Totul (Alles). Gelesen hat er vieles, noch mehr hat ihn angeregt. Doch kaum etwas schlägt sich rein und ungefiltert in seinen Arbeiten nieder. Es durchläuft eine Aneignung, eine ganz persönliche Umdeutung und wird angereichert mit naturwissenschaftlichen Sachverhalten, mit Fremdwörtern, mit Scherz, Satire und Parodistischem, mit ausufernden, fast hypertroph anmutenden Bild- und Metaphernfolgen.
Am besten ist man wohl beraten, sich für eine erste Annäherung an Mircea Cartarescus Werk Anleihen aus der Malerei zu bedienen, was ihm wohl nicht unrecht wäre, plädiert er doch seit seinen Anfängen für eine „Konstruktion von virtuellen Innenwelten mit Hilfe der Sprache“. Es fallen einem die symbolistisch-idiosynkratischen Rätselbilder eines Odilon Redon ein, die Gemälde mit Traumfiguren und alptraumartigen Figurationen eines Max Ernst, auch die Inventionen Hans/Jean Arps, des Bildermalers, Skulpteurs und Gedichtemachers. Surrealismus also, was bei den frankophilen Rumänen nicht verwundert.
Von Gellu Naum stammt die Bemerkung:
In mir trage ich die Traurigkeit jener Dichter, die ihr ganzes Leben lang nach Kräften versucht haben, keine Literatur zu machen, und schließlich beim Durchblättern ihrer gut hundert Seiten feststellen mußten, daß sie nichts anderes als Literatur gemacht haben. Eine furchtbare Enttäuschung.
Für Cartarescu war auch dieses eine Enttäuschung, doch noch mehr erschütterte ihn – die Welt. Die Welt nach 1989, die er auf Reisen entdeckte. Davon legt das erschütternde Poem „Der Westen“ Zeugnis ab. Das überschäumend Rhetorische ist zurückgedrängt, Lakonie bricht sich Bahn. „Der Westen hat mir den Mund gestopft.“ So der erste Satz dieses Langgedichtes, bei dem zumindest für die vorliegende Auswahl das Melodische, das Barockisierende einer lächelnden Ernüchterung gewichen ist:
Und die Poesie? Ich fühle mich als letzter Mohikaner
lächerlich wie Denver, der Dinosaurier.
Die Erfahrungen, das Gesehene, Erlebte, Aufgenommene in Westeuropa wie in Nordamerika führte ihm, bei dem gegen Ende des Poems immer unsicherer ist, wer dieses ,Ich‘ ist -der faktische Mircea Cartarescu oder das schulnotorische lyrische Ich – in ungeschützter Deutlichkeit vor Augen, welche Bedeutung die moderne Welt dem modernen Dichter entgegenbringt – gar keine.
Der Westen öffnete mir die Augen, als ich mit der Stirn an
den Türrahmen prallte
ich hinterlasse anderen, was bis heute mein Leben war.
Mögen andere glauben, woran ich geglaubt.
Mögen andere lieben, was ich geliebt.
Ich kann nicht mehr.
Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!
Im informativen Nachwort des Übersetzers Gerhardt Csejka wird man damit vertraut gemacht, dass sich Cartarescu nach 1990 vornehmlich der Prosa widmete und eine ganz eigenwillige Darstellungsform sich erarbeitete, auf Deutsch nachlesbar in Nostalgia (dt. 1997), noch gesteigert in Orbitor, dessen rumänische Paperbackausgabe unter Science-Fiction rangiert. Csejka kündigt im Nachwort – man schrieb das Jahr 2001! – noch eine deutsche Ausgabe an, doch seit dem Verschwinden des Verlags Volk und Welt, der Nostalgia herausbrachte, ist dies wohl Makulatur.
Der Westen öffnete mir die Augen, als ich mit der Stirn an
den Türrahmen prallte
ich hinterlasse anderen, was bis heute mein Leben war.
Edward Kanterian: Im Zeichen des Schmetterlings
Neue Zürcher Zeitung, 20.4.2002
Anke Pfeifer: Sie gelten als einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren und sind auch jenseits der Landesgrenzen sehr bekannt. Seit dreißig Jahren veröffentlichen Sie Lyrik, Prosa und Essays. Vor zwei Jahren haben Sie die umfangreiche Trilogie Orbitor beendet, die zum Teil auch schon auf deutsch vorliegt. Als der abschließende dritte Band erschien, sagten Sie, dieses Romanwerk sei das beste Buch, das Sie schreiben konnten, und was nun komme, sei nur noch ein Anhang. Sind Sie immer noch dieser Meinung?
Mircea Cărtărescu: Es wäre sehr traurig, wenn ich das immer noch glaubte. Als ich es seinerzeit sagte, lastete auf mir der kolossale Druck der vierzehn Jahre, die ich an Orbitor geschrieben hatte. Ich verspürte eine akute Erschöpfung, die über ein Jahr anhielt. Nach dieser Trilogie, in der ich versuchte, mich eins zu eins abzubilden, wobei ich nicht weiß, ob mir das gelungen ist, war es wirklich schwierig, weiter zu schreiben. Inzwischen habe ich es jedoch geschafft, das Buch zu vergessen, und bin versessen darauf, etwas Neues zu schaffen.
Pfeifer: Ich nehme an, es wird sich wieder um Prosa handeln, sagten Sie doch kürzlich bei einer Lesung in Berlin, daß Sie keine Poesie mehr schreiben.
Cărtărescu: Poesie bedeutet zweierlei. Einerseits eine bestimmte Art und Weise, die Welt zu verstehen, sie mit den Augen eines Kindes zu sehen, vor aller intellektuellen Erfahrung. So gesehen gibt es Dichter, die nie ein Gedicht geschrieben haben. Ich habe versucht, für immer Kind oder Heranwachsender zu bleiben, gerade aus diesem Bedürfnis nach Poesie heraus, das ständig in mir ist. Ich lese viel, ganz unterschiedliche Sachen, und überall suche ich die Poesie. Selbst wenn ich einen realistischen Roman, ein Buch über Biologie oder Theologie oder auch die Bibel lese – bei allem interessiert mich hauptsächlich diese besondere poetische Weise, die Dinge zu betrachten. Aber Poesie bedeutet auch noch etwas anderes, nämlich ein literarisches Genre mit spezifischen Regeln, wobei mir die offensichtlichste Regel am wichtigsten erscheint: daß die Zeilen am linken Seitenrand beginnen und nicht bis zum rechten gefüllt werden. In diesem Sinne schreibe ich keine Verse mehr, wohl aber Poesie in Form von Romanen, Essays, Tagebüchern. Ich fühle, daß ich genau zu dem Zeitpunkt mit der Lyrik aufhörte, als ich nicht mehr in der Lage war, konzentriert und wahrhaftig Gedichte zu schreiben. Daher bin ich froh, daß ich die Kraft hatte, auf dieses Genre zu verzichten. Neben den sechs oder sieben Lyrikbänden aus meinem frühen Schaffen gibt es noch einen, den ich bisher nicht publiziert habe. Es war der letzte, den ich seinerzeit geschrieben hatte, und derjenige, bei dem mir wirklich klarwurde, daß sich meine poetischen Quellen erschöpft hatten. Damals war ich unzufrieden und habe ihn nicht publiziert. Heute möchte ich ihn als eher psychologisches denn ästhetisches Dokument herausgeben. Als ich ihn nach so langer Zeit in einem Schuhkarton entdeckte und wieder las, schien er mir überraschenderweise frisch und interessant, weil er wie heutige Lyrik klang. Und so habe ich gedacht, daß eine Veröffentlichung durchaus interessant sein könnte. Der Band heißt Nimic (Nichts) und ist ein Kontrapunkt zu dem in meiner Jugend entstandenen Band Totul (Alles).
Pfeifer: Levantul (Levante), ein Poem, das Sie für Ihr bestes lyrisches Werk halten, erschien 1990 und war auch Ihr letztes. War Ihr Abschied von der Lyrik gerade zu diesem Zeitpunkt Zufall oder hatte er auch mit anderen Dingen zu tun, zum Beispiel mit den tiefgreifenden Veränderungen im damaligen Rumänien?
Cărtărescu: Levantul war ein Abschied von der Jugend und eine Art Quintessenz von Formen der rumänischen Literatur, die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Geltung hatten. Das Buch hat gleichsam eine Kunstepoche beendet, sagen wir, die Moderne der rumänischen Lyrik, und etwas anderes eingeleitet, sagen wir, die Postmoderne. Es ist neben Nostalgia und Orbitor mein bestes Buch. Aber die Tatsache, daß ich zur Prosa gewechselt bin, ist auch einer äußeren Ursache geschuldet, nämlich der Existenz zweier verschiedener Literatenkreise, in denen ich gleichzeitig verkehrte. Es gab den von Nicolae Manolescu geleiteten Cenaclu de luni (Montagskreis), der sieben Jahre lang, von 1977 bis 1984, bis er wegen angeblicher Subversivität aufgelöst wurde, wöchentlich Sitzungen durchführte, an denen ich immer teilnahm. Außerdem ging ich noch zum Literaturkreis Junimea (Jugend) unter der Leitung von Ovid S. Crohmălniceanu. Während im Montagskreis überwiegend Lyrik gelesen wurde, war die Junimea ein Treffpunkt für Prosainteressierte. Meine besten Freunde waren Prosaisten, und für mich war das Schreiben von Prosa eine Art Hommage an diese Menschen. Zunächst entstanden fünf Erzählungen, die später genau in der Reihenfolge ihres Entstehens den Band Nostalgia bildeten. Angefangen habe ich mit dem „Roulettespieler“, den ich mit Erfolg im Literaturkreis vortrug, so daß ich mich entschloß, mit längeren Erzählungen weiterzumachen. Die einzige Erzählung, die ich dort nicht mehr lesen konnte, ist „Rem“, meiner Meinung nach die beste des Bandes. Dann habe ich mich entschlossen, Berufsschriftsteller zu werden, eine Entscheidung, die zumindest in den neunziger Jahren fortwährend Zweifel und Krisen nach sich zog.
Pfeifer: Was sagten Ihre Eltern damals zu Ihrer künstlerischen Betätigung?
Cărtărescu: Sie haben mich nicht gerade ermutigt, im Gegenteil. Als einfache Leute ohne große kulturelle Bildung waren ihnen meine modernen Gedichte völlig unverständlich. Erst sehr viel später, vielleicht im Zusammenhang mit dem relativen materiellen Erfolg, begriffen sie, daß ich etwas Ernsthaftes machte. Doch wegen ihrer Aufrichtigkeit sind sie mir lieb und teuer. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, haben sie es mir direkt gesagt.
Pfeifer: Für die 80er Generation war Schreiben Lebensersatz, Flucht aus der Wirklichkeit. Sie selbst sagten einmal, daß Sie bis zu Ihrem vierunddreißigsten Lebensjahr, also bis 1990, im wesentlichen in Büchern gelebt haben. Wie ist das heute?
Cărtărescu: Ich würde nicht sagen, daß das Verfassen von Literatur für uns damals eine Flucht aus der Wirklichkeit war. Im Gegenteil, die Realität bedeutete einen Rückzug vom Schreiben, einem Schreiben, das uns alles bedeutete. Wir waren jung, naiv. Wir konnten Rumänien nicht verlassen und somit unsere Situation nicht wirklich einschätzen. Wir hatten den Eindruck, die Realität müsse so sein, wie sie war, und die Literatur half uns zu überleben, durchzuhalten. Meine Kollegen und ich haben unter gräßlichen Bedingungen gearbeitet, aber die Literatur, die wir schufen, wird für immer die Literatur jener Zeit sein. Wir haben versucht, wie freie Menschen zu schreiben.
Pfeifer: Waren die Literaturkreise nicht eine Art Parallelwelt?
Cărtărescu: Eigentlich war die Wirklichkeit eine Parallelwelt der Literaturkreise, denn die waren für uns die Normalität. Es gab in den achtziger Jahren einen kulturellen Aufbruch, trotz Dunkelheit, Kälte und Elend. Es gab ein kleines normales Rumänien inmitten eines immensen paranormalen Rumänien. Ich weiß nicht, wie es zur Rede vom Widerstand durch Kunst gekommen ist. Eigentlich zählte nur die Kultur, sie war weder Widerstand noch Flucht. Sie war real, während die übrige Realität meiner Meinung nach anormal war.
Pfeifer: Sie sind heute nicht nur Schriftsteller, sondern auch Wissenschaftler, lehren seit zwanzig Jahren als Dozent für rumänische Literatur an der Bukarester Universität und sind dort seit 2007 Professor. Wie ist das Verhältnis zwischen künstlerischer Praxis und ästhetischer Theorie? Kontrollieren Sie sich beim Schreiben? Oder beschreiben und erklären Sie nun, wie Sie schreiben?
Cărtărescu: Die Verbindung von Literaturtheorie und -praxis definiert den Schriftsteller meiner Generation. Die große Mehrheit sind heute Universitätsprofessoren, entweder in Rumänien oder im Ausland, viele sind außerdem noch Literaturkritiker. Wir haben uns nicht zur Boheme berufen gefühlt und waren vielleicht die erste Generation, die die eigene wie die Literatur im allgemeinen intellektuell verstehen wollte. Für uns war es ganz natürlich, auch Essays und Studien zu schreiben, und so schrieb ich meine „Rumänische Postmoderne“.
Pfeifer: Das war Ihre Promotionsschrift, über eine Richtung, die von Generation in die rumänische Literatur eingeführt wurde.
Cărtărescu: Einem Dichter hilft es sehr, wenn er sich in der Geschichte der Dichtung auskennt oder den Ideenroman als Teil eines literarischen Systems versteht. Heute ist dieses System verfallen, die Literaturgeschichte wurde plattgemacht, und das ist ein großer Verlust, weil das einzelne Werk ohne seine Vorgänger nur schwer zu verstehen ist. Bücher bilden ein System, in dem eins das andere beeinflußt und reflektiert.
Pfeifer: Was ist das Spezifische an der rumänischen Postmoderne?
Cărtărescu: Inzwischen verwende ich diesen Begriff nicht mehr gern, er scheint mir abgegriffen. Was mich anbetrifft, habe ich dazu alles gesagt.
Pfeifer: Aber was bedeutete er damals für Sie und Ihre Generation?
Cărtărescu: Wir entdeckten die Postmoderne im Vergleich zum Westen ziemlich spät, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Meine Generation benutzte den Terminus, um einen Bruch mit der europäischen Dichtungstradition zu markieren und eine neue Tradition zu schaffen, die ihren Ausgangspunkt in der amerikanischen Literatur hatte. Aber wir verwendeten ihn in erster Linie ideologisch im Sinne einer literaturpolitischen Konfrontation und erst in zweiter Linie ästhetisch oder theoretisch, und außerdem hatte jeder seine eigene Vorstellung davon.
Pfeifer: Ihre Generation wollte mit allen Traditionen der rumänischen Literatur brechen und etwas ganz Neues schaffen. Heißt das, daß es für Sie keine Vorgänger gab, an denen Sie sich orientierten?
Cărtărescu: Doch, doch. Wie im Leben, verbünden sich auch in der Literatur die Enkel oft mit den Großeltern. Unsere Gegner waren die Dichter der siebziger Jahre, die eine Art Spätmoderne bedienten, düster, expressionistisch, schwer, während unsere Literatur meist ironisch, spielerisch und humoristisch war. Im Montagskreis lachten wir die ganze Zeit, wir waren aus einer Art Kränkung heraus fröhlich. Dafür gab es Vorbilder, am meisten schätzten wir Ion Luca Caragiale, Tudor Arghezi, Nichita Stănescu. Wir hatten nie das Gefühl, daß die rumänische Literatur mit uns beginnt.
Pfeifer: Welche Rolle spielten für Sie die Vertreter der rumänischen Geisteselite der 1930er Jahre, also der Generation von Mircea Eliade, Emil Cioran, Constantin Noica, denen nach 1990 besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde?
Cărtărescu: Wir waren ihnen nicht gewogen. Unsere Gruppe Bukarester Schriftsteller aus dem Literaturkreis nahm gegenüber Noica und seinen Nachfolgern Andrei Pleşu und Gabriel Liiceanu eine sehr kritische Haltung ein. Genauso kritisch beurteilten wir die sogenannte Generation ’27 mit Mircea Vulcănescu, Petru Comarnescu, Eliade, Cioran usw. Deren rechte, ja rechtsextreme Ideologie war uns suspekt. Wir hatten durch unsere Mentoren, in erster Linie Nicolae Manolescu, eine liberale Bildung erhalten, und uns gefielen diese ideologischen Übertreibungen nicht. Später wurde mir allerdings bewußt, daß unsere Zeitgenossen Liiceanu oder Pleşu und einige andere, die die Gruppe von Păltinis unter Noica besucht hatten, zwar deren Vorstellungen über Kultur akzeptiert, ihre Ideologie jedoch abgelehnt hatten. Sie hatten Mut und Verstand genug, das geistige Erbe dieser großen Denker, Schriftsteller, Künstler anzunehmen und von ihrer beschämenden Politik zu trennen. Cioran ist ein außerordentlicher Stilist und als solcher mit Tudor Arghezi vergleichbar, aber ein Buch wie Schimbarea la faţă a României (Die Verklärung Rumäniens) kann ich nicht ertragen. Immerhin hat er sich später davon losgesagt.
Pfeifer: Und wie steht es mit Mircea Eliades phantastischer Literatur? Das Phantastische spielt doch auch bei Ihnen eine wichtige Rolle.
Cărtărescu: Die rumänische Phantastik ist diejenige Eminescus. Er ist der Urvater aller Rumänen, die phantastische Literatur geschrieben haben, ein Phantastiker deutschen Typs, schließlich konnte er seit seiner Schulzeit in Czernowitz Deutsch und lebte fünf Jahre in Wien und Berlin. Er war innig vertraut mit der deutschen Literatur, mit Novalis, Chamisso, Jean Paul, Bettina von Arnim usw. Er schuf in der Tradition der deutschen Romantik eine Welt, in der sich das Ich bis an die Grenze des Universums ausdehnt. Eliade setzte diese Linie fort. Auch er erschafft in seinen Büchern über Zeit und Raum, über das Heilige und das Profane usw. solch eine phantastische, ideale, mystische Welt. Unsere Generation mochte das Phantastische nicht so sehr, weil es uns literarisch gesehen ziemlich nutzlos schien. Wir schätzten Eliade für seine Geschichte der Religionen. Später wurde mir überraschend klar, wie sehr Eliade meine eigene Prosa doch beeinflußt hat. Es war eine Art Reminiszenz und offenbar ein unterbewußter Vorgang. Meine Prosa nimmt direkt auf Eliades Prosa Bezug, zum Beispiel auf sein Buch Auf der Mântuleasa-Straße. Als ich es las, hat es mich nicht sonderlich beeindruckt. Doch die Geschichte ist wie eine Art Jerichorose, kommt sie mit Wasser in Berührung, entfaltet sie sich. Als ich sie später noch einmal las, wurde mir klar, daß die Themen und Motive in mir weitergewirkt hatten.
Pfeifer: Woher kommt diese Vorliebe rumänischer Autoren für das Phantastische?
Cărtărescu: Die Rumänen sind eben Lateiner, wie die Südamerikaner. Eine Erklärung dafür ist wohl die reiche Imagination, die wir bei Cervantes finden, dem großen Vater der hispanoamerikanischen Literatur, und dann bei dieser ganzen Pléiade südamerikanischer Schriftsteller, von Márquez bis Cortázar und Sábato, sie alle schreiben phantastische Literatur. Und wie Rumänien mit seinen Kontrasten zwischen Arm und Reich, Legal und Illegal eine Art versprengtes südamerikanisches Land ist, so ist auch die rumänische Literatur eine Art Exklave der südamerikanischen Literatur.
Pfeifer: Als ich Orbitor las, dachte ich auch an Gabriel García Márquez und seinen magischen Realismus.
Cărtărescu: Außerdem scheint das Phantastische eine Kompensation für karge, flache Landschaften zu sein. Wo es die Pampa gibt, oder Wüsten, oder weite Ebenen, wie bei uns im Süden Rumäniens den Bărăgan, entwickelt sich eine Literatur des Onirischen, Phantastischen. Wenn man einen Monat in einer dunklen Höhle verbringt, reagiert man mit Halluzinationen. So ist es auch mit der Literatur aus der Ebene.
Pfeifer: In Orbitor gehen Sie zu den Wurzeln der Erschaffung des Menschen im organischen und geistig-religiösen Sinn zurück. Eine Art Ariadnefaden führt durch eine labyrinthische Lebenswelt, die gleichermaßen körperlich und geistig ist. Welche Erkenntnisse haben Sie für sich beim Schreiben gewonnen, und was wollen Sie dem Leser vermitteln?
Cărtărescu: Über Orbitor zu reden vermeide ich nach Möglichkeit, weil ich das Buch selbst noch nicht ganz verstehe. Ich bin dankbar, daß ich es schreiben konnte, und warte darauf, daß andere, Kompetentere, es mir erklären. Ich kann nur sagen, daß ich es mit großer Freude, aber ohne jeden Plan geschrieben habe, so wie Termiten ihre Hügel errichten – ohne zu wissen, was sie tun. Und doch entsteht letztlich ein raffinierter Bau mit Gängen, unzähligen Kammern usw. In den fast fünfzehn Jahren, die ich an dem Buch gearbeitet habe, konnte ich nicht anders, als so vorzugehen. Orbitor ist eine genaue Karte meines Verstandes, meines Gehirns. Gödels berühmte Theorie besagt, niemand könne ein System beschreiben, dem er selbst zugehört. Daher kann ich nur wenig über dieses Buch sagen. Sicher: Es ist auch ein Familienroman. Der erste Band handelt von meiner Mutter und ihren Vorfahren, der dritte von meinem Vater und seinen Ahnen. Genauso wichtig sind aber die Geschichten um den Zwillingsbruder Victor, den großen Abwesenden, dessen Stimme nur in einem einzigen Kapitel am Ende des dritten Bandes zu vernehmen ist. Wenn wir vom Ariadnefaden sprechen, dann ist es dieser Zwillingsbruder. Er ist das eigentliche Objekt von Mirceas großer Suche.
Zudem hatte ich den Ehrgeiz, von der Skatologie bis zur Eschatologie zu gehen. den Raum zwischen Obszönität und Niedertracht und höchstem Ideal auszumessen. Ich wollte nichts dem menschlichen Verstand Vorstellbares auslassen, weder Phantasmen und Halluzinationen noch die historische Realität des rumänischen Kommunismus und der Revolution im letzten Band. Orbitor ist die Synthese all dessen, was ich in meinem Leben kennengelernt und gelesen habe. Es der Ort, wo sich alle meine Bücher treffen, alle bisher geschriebenen und wohl auch alle, die ich noch schreiben werde, eine Art Sonnensystem meines Schaffens.
Pfeifer: In den Mikrokosmos Ihres literarischen Werkes gehen nicht nur Ihre Erfahrungen mit Belletristik ein. Sie kennen sich mit Philosophie und Naturwissenschaften aus, vor allem mit Medizin, Neurowissenschaften, Hirnforschung und Biologie. Auch die Insektenwelt hat es Ihnen angetan. Dieses Wissen arbeiten Sie ein und verleihen Ihrem Werk damit eine unverwechselbare Charakteristik. Eine Art Leitmotiv ist der Schmetterling. Die Bände der Trilogie heißen Linker Flügel, Körper und Rechter Flügel, und im Romangeschehen erscheinen die vielen kleinen und großen Schmetterlinge in wunderbaren Farben. Was hat das zu bedeuten?
Cărtărescu: Orbitor ist in der Tat ein Roman voller Schmetterlinge. Während ich daran schrieb, hatte ich unzählige Erlebnisse mit Schmetterlingen. Bei Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit gibt es eine Figur, um die ständig Schmetterlinge flattern. So kam ich mir auch vor. Beispielsweise war ich ein Jahr lang in Amsterdam und begann dort mit dem Buch. Draußen regnete es, und durch das offene Fenster kam ein großer roter Schmetterling herein, schwirrte durchs Zimmer und fiel auf dem Fensterbrett in eine Wasserlache. Ich habe ihn herausgeholt. Er saß mir dann gegenüber, bis seine Flügel getrocknet waren. Und als es aufgehört hatte zu regnen, ist er in den Regenbogen hinausgeflogen.
Pfeifer: Ein schönes Bild.
Cărtărescu: Ein anderes Mal, ich saß gerade mit meiner Frau beim Kaffee, kam wieder ein Schmetterling herein, flog geradewegs zum Bücherregal und setzte sich auf den Einband meines Gedichtbands Dragostea (Liebe). Dort blieb er eine halbe Stunde und flog dann wieder weg. Der Schmetterling ist vielleicht das wunderbarste Symbol, das der Mensch in der Natur entdeckt hat, weil er durch die Metamorphose, die er durchläuft, ein Symbol der Seele ist. Zuerst ist er eine Raupe, was unserem Erdenleben entspricht, dann spinnt diese sich in eine Puppe ein, eine Art Grab oder Sarg, und wartet auf die Wiedererweckung, so wie der Mensch auf Unsterblichkeit, auf seine Verwandlung in einen Engel hofft. Interessanterweise waren bei den alten Griechen nicht Vögel, sondern Schmetterlinge das Symbol der Seele. Im Altgriechischen heißt die Seele Psyche, sie wurde als Frau mit Schmetterlingsflügeln dargestellt. Der Schmetterling ist außerdem ein Ausdruck vollkommener Symmetrie, wie ein gutes Buch. Der menschliche Körper ist wie ein Schmetterling, und das Symbol des gekreuzigten Christus auch. Der Schmetterling dient sogar der Erkundung des Bewußtseins: Einer der wichtigsten psychologischen Tests ist der Rorschach-Test. Ein Blatt mit Tintenklecksen wird gefaltet, gepreßt und wieder entfaltet, so daß die Muster auf der rechten und der linken Seite spiegelgleich sind. Die meisten der zehn Tafeln, mit denen die Persönlichkeit der Probanden interpretiert wird, zeigen schmetterlingsähnliche Formen. Zu ihnen gibt es viele Kommentare, die ich auch verwendet habe, um dem Roman eine gewisse symbolische Kohärenz zu geben.
Pfeifer: Man könnte den Aufbau der Trilogie auch mit dem eines Altars vergleichen. Die Religion spielt in Rumänien heute wieder eine größere Rolle, Gottesdienste haben mehr Zulauf, viele Menschen, ob jung oder alt, bekreuzigen sich an Kirchen. Überall gibt es Ikonen zu kaufen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Und wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur Religion?
Cărtărescu: Ich bin in einer typisch kommunistischen Familie der fünfziger Jahre großgeworden, in der die Religion verteufelt wurde. Meine Eltern waren einfache Leute vom Lande, die in die Stadt kamen und Arbeiter wurden. Üblich war ein Besuch der berühmten Parteihochschule Ştefan Gheorghiu. Mein Vater ist dann Journalist geworden. Sie sind als ganz junge Leute mit dem Kommunismus indoktriniert worden, daher bin ich ohne religiöse Erziehung aufgewachsen. In der Schule wurde natürlich gesagt, Juri Gagarin war im Weltall und hat dort keinen Gott vorgefunden. Ich glaubte, Religion sei eine Ansammlung von Vorurteilen und Aberglauben, etwas für alte Frauen, die in die Kirche gehen und beten. Zu Hause hatten wir nicht mal eine Bibel. Erst nach der Revolution habe ich von Missionaren eine bekommen, da war ich schon über dreißig. Und weil ich wußte, daß die Bibel wie der Koran ein bedeutsames Buch ist, habe ich, wenn auch voller Skepsis, angefangen zu lesen, doch nach und nach hat mich die Lektüre gefangengenommen. Nach etwa hundert Seiten wurde mir klar, daß es etwas völlig anderes war, als ich angenommen hatte. Die Bibel ist der größte Roman, der je geschrieben wurde. Sie war der Ausgangspunkt für viele Fragen, die ich mir seither gestellt habe. Von dem Zeitpunkt an habe ich sie fast jedes Jahr von neuem von vorn bis hinten durchgelesen. Vor kurzem erst bin ich wieder einmal mit der Apokalypse zu Ende gekommen. Für mich als Gläubigen und auch für mich als Künstler ist die Bibel ein wichtiges Buch.
Die Rumänen hatten fünfzig Jahre lang kein normales religiöses Leben. Nun haben wir es mit einer Art Wiederkehr zu tun, die viele gute Seiten hat, aber auch viele Übertreibungen hervorbringt. Die rumänische orthodoxe Kirche neigt dazu, ihre Macht zu mißbrauchen. Fünfundneunzig Prozent der Rumäne sind orthodoxen Glaubens, und da die Kirche in der kommunistischen Zeit akzeptiert, oder besser gesagt, toleriert wurde, während andere Religionen, wie die griechisch-katholischen Kirche, verboten waren, hat sie autoritäre Reflexe entwickelt. Auch heute mischt sich die Kirche oft in politische Angelegenheiten ein. Das ist unerfreulich, aber in letzter Zeit hat sie auch viel Gutes getan. Zum Beispiel bringt sie sich im Umweltschutz und im karitativen Bereich ein, der schon immer in die Kompetenz religiöser Institutionen fiel.
Pfeifer: Spielen Sie als Künstler Gott und schreiben eine Schöpfungsgeschichte, wie Radu C. Ţeposu von den rumänischen Postmodernen sagte? Beschreiben und interpretieren Sie mit Ihren Werken die Welt nicht nur, sondern erschaffen sie gar?
Cărtărescu: Schon immer hat sich der Künstler für einen kleinen Gott seiner eigenen Welt gehalten. In Orbitor ist ja auch die Rede von der Sekte der „Wissenden“, denen aber bewußt ist, daß sie in einem Buch und nicht in der Realität leben. Aufmerksam suchen und finden sie sich und bewegen den Autor dazu, dieses Buch und kein anderes zu schreiben, also jenes, in dem sie existieren. In diesem Buch und mehr noch in Nostalgia ist der Demiurg, der Schöpfer der Welt, ein beherrschendes Thema. Aber das ist nichts Besonderes, ich glaube, so wie jedes Buch sich selbst reflektiert, träumt auch jeder Autor, ob Realist wie Balzac oder nicht, von der Kontrolle über die Vollendung seines Werks.
Pfeifer: Als Sie nach 1989 nach Westeuropa und Amerika reisten, erlitten Sie nach eigenen Aussagen einen Kulturschock, der Ihre Maßstäbe zerbrach und Ihr Selbstwertgefühl ins Wanken brachte. Das Poem „Der Westen“ ist Ausdruck eines Verzweifelten, der sein bisheriges Leben und künstlerisches Schaffen entwertet sieht. Sie schrieben:
Ich finde meinen Platz nicht, ich bin nicht mehr von hier und kann von dort keiner sein.
Inzwischen haben Sie sich längere Zeit außerhalb Ihres Heimatlandes aufgehalten und können auf zahlreiche Übersetzungen Ihrer Werke sowie auf beachtliche Resonanz im Ausland verweisen. Haben Sie sich nach zwanzig Jahren von dem Schock erholt und einen neuen Platz gefunden?
Cărtărescu: T.S. Eliot hat genau über diese Situation ein Poem geschrieben. Es heißt „Die Reise aus dem Morgenland“ und handelt von den drei Weisen, die dem Stern von Bethlehem folgen und Zeugen von Jesu Geburt werden. Dann stellt sich das Problem der Rückkehr nach Hause. Die drei sind im Zustand völliger Verwirrung, weil sie nicht mehr Heiden sein können, aber auch keine Christen sind. Sie befinden sich zwischen zwei Welten, sind Zeugen einer entstehenden Welt. Genau so habe ich mich gefühlt. Alle Rumänen, eigentlich alle im Osten Europas, haben das nach dem Fall der Berliner und der Öffnung der Grenzen durchgemacht. Das ist auch ganz natürlich, ein Eiserner Vorhang, der zwei Welten so viele Jahrzehnte getrennt hat, kann nicht ohne psychische Spuren überwunden werden. Können Sie sich das vorstellen? Ich bin zum ersten Mal aus diesem furchtbaren und grauen Bukarest des Hungers und der Kälte abgereist und bin… im Land, wo Milch und Honig fließen, gelandet Mitten in New York, über das ich so viel gelesen hatte, ohne zu denken, daß ich es je mit eigenen Augen sehen würde. Nicht mal auf Prag hatte ich mir Hoffnung gemacht! Am ersten Morgen, ich hatte kaum geschlafen und stand um sechs Uhr auf, hängte ich mir den Fotoapparat um und ging in den erstbesten Selbstbedienungsladen, den erstbesten Supermarkt, und begann zu fotografieren, denn ich dachte, zu Hause glaubt mir kein Mensch, wenn ich von diesem materiellen Überfluß erzähle. Nicht zu reden von all den Peinlichkeiten, die allen aus dem Osten passiert sind: nicht zu wissen, wie die Heizung angestellt wird, wie die Toilettentür wieder aufgeht, wie die Dusche funktioniert usw.
Es war also eine Art sozialer und kultureller Paradigmenwechsel, eine traumatisierende Erfahrung. Ich glaube, auch Rolf Bossert, der zwei Monate nach seiner Ausreise aus Rumänien Selbstmord beging, hat sie gemacht und weil er sensibler war als andere, nicht ausgehalten. Aber wir alle hatten Momente, in denen wir an Selbstmord dachten. Weil dieser Schock bedrohlich war und erst allmählich nachgelassen hat. Es hat Jahre gedauert, bis wir begannen, uns von unseren alten Komplexen und Vorurteilen zu befreien.
Für uns war jeder Mensch aus dem Westen beinahe ein Gott. Mir erschienen diese Leute, verglichen mit uns, wie andere Wesen. Dann zeigte sich, daß sie uns doch sehr ähnlich waren, denn wir konnten problemlos kommunizieren, es gab nur unbedeutende Unterschiede und gar keinen Grund, ihnen gegenüber Minderwertigkeitskomplexe oder Überlegenheitsgefühle zu haben. Aber es hat einige Jahre gedauert, bis ich das gelernt hatte. Heute bin ich vertraut mit dem Westen, bin viel herumgekommen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und überall, wo ich war, habe ich gute Freunde gefunden. Fast alles, was ich in den letzten zwanzig Jahren verfaßt habe, ist im Ausland entstanden, in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich, Ungarn und den USA. Dort kann besser schreiben als zu Hause in Rumänien, wo mich immer allerlei Sorgen plagen und ich kaum Zeit zum Arbeiten finde.
Pfeifer: Diese Gefühle finden in Ihrem Band Europa hat die Form meines Gehirns überzeugenden Ausdruck. Die dort enthaltenen Essays beschreiben, wie Sie selbst formulieren, „die geistige Verfassung, die Gedanken Wertvorstellungen eines Künstlers in einer Zeit großer Umbrüche politisch gesellschaftlicher und kultureller Natur“. Was bedeutet für Sie Europa europäische Identität?
Cărtărescu: Mir scheint, daß die rumänische Revolution von 1989 verloren gewesen wäre, wenn man Rumänien nicht in die Europäische Union aufgenommen hätte. Es war das wichtigste Ereignis seit Jahrzehnten. Ich glaube, dadurch haben wir die politische Legitimität erlangt, die uns vorher versagt war. Wir haben zwischen den beiden politischen Strukturen, die Anspruch auf uns erhoben, dem postsowjetischen und dem westlichen, die richtige Entscheidung getroffen. Unsere Orientierung nach Westen, zu den westlichen Werten war richtig, nun müssen wir uns dieser Einladung auch würdig erweisen. Rumänien war und ist nicht ausreichend gerüstet für die Integration in europäische Strukturen, das durfte man auch nicht erwarten, daher muß die Vorbereitung begleitend erfolgen. Durch die Aufnahme in die EU wie auch durch die gegenwärtige Migration, die viele erstmals mit dem realen Westen in Kontakt bringt, beginnen die Rumänen langsam, sich in Europa heimisch zu fühlen. Sie begreifen sich nicht nur als rumänische Staatsbürger, sondern auch als Bürger dieser Supranation. Europa ist kulturell sehr stark. Dieser symbolischen kulturellen Legitimation werden das Ökonomische und die anderen Bereiche folgen.
Pfeifer: In Ihren Texten beschwören Sie Ihre Herkunft und zeichnen das Bild einer idealen balkanisch-orientalischen Welt. Ich denke besonders an Ihre zauberhafte Geschichte von der Donau-Insel Ada Kaleh, die in dem Essayband enthalten ist. Ich habe den Eindruck, daß Sie sich angesichts der Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre Ihrer persönlichen Identität zu vergewissern versucht haben. Ist das richtig? Wie würden Sie diese Identität beschreiben?
Cărtărescu: Das Balkanische ist Rumäniens Süden, wo ich herkomme. Meine Mutter stammt aus Bukarest, mein Vater aus dem Banat. Beide Regionen gehören geographisch zum Balkan. Siebenbürgen dagegen ist nicht balkanisch, sondern gehört zu Zentraleuropa. Wir im Süden haben uns schon immer dem Orient nahe gefühlt. Wir waren fünfhundert Jahre lang Vasallen der Osmanen, und zweifellos prägt uns dieser paradoxe orientalische Geist, in dem sich Weisheit mit Faulheit, Korruption und anderen mit dem Orient verbundenen Dingen paart. Unser Wesen ist nicht rumänisch, sondern südlich, walachisch. Mein Poem Levantul ist eine Hommage an den Süden Rumäniens.
Pfeifer: Nach der Ţiganiada (Ziganiade) von Ioan Budai-Deleanu ist Levantul die zweite Epopöe der rumänischen Literatur. Letztere ist darin sogar die Hauptfigur. Was bedeutet das, und warum haben Sie diesen Titel gewählt? Als „Levantiner“ im engeren Sinn galt im 19. Jahrhundert jemand mit europäischen und orientalischen Wurzeln, viele vermittelten als Kaufmann zwischen Europa und dem Orient.
Cărtărescu: Levante ist im Rumänischen ein Synonym für Balkan. Das Balkanische war für uns immer Teil der Levante, also des östlichen Mittelmeers, eine Welt für sich. Dazu gehören die Ägäis, die Semiten mit ihren antiken Meisterwerken, Kreta, der Minotauros, Alexandria usw. Diese Welt lebt in gewisser Weise weiter. Sie ist älter als die westliche Welt und bewahrt viele Spuren des Hellenismus nach Alexander dem Großen, aber auch von Byzanz. Es ist eine Art Histoire croisée, ein Potpourri aus Einflüssen dreier Kontinente. Geprägt durch die drei großen Religionen Judentum, Islam, Christentum, ist es eine historisch, sozial und kulturell vielfältige Welt. Ich habe die Levante immer in mir gespürt, und als ich einige Dichter des 19. Jahrhunderts las, z.B. Dimitrie Bolintineanu, gab es eine Schwingung, eine Übereinstimmung zwischen ihnen und mir. Bolintineanu stammt ja auch aus dem Süden Rumäniens. Ich habe versucht, die Stimmen dieser eher unbedeutenden Autoren aufzugreifen, die in einem sehr ursprünglichen Rumänisch, einer für uns seltsamen und lächerlichen, aber außergewöhnlich flexiblen und interessanten Sprache schrieben. Ich wollte dieser Levantiner Welt ein Denkmal setzen. „Levantul“ ist historisch nicht lokalisiert, sondern eine Synthese von Epochen, vor alle ist es ein Repertoire der rumänischen Dichtungssprache von ihren Anfänge bis heute, von Themen und Motiven, aber es ist auch ein Abenteuerroman, ein Liebesroman, ein metaphysischer und ein politischer Roman. Es ist ein Buch für das ich eine gewisse Nostalgie hege, denn ich werde nie vergessen, wie es entstand. Ich schrieb es auf der Schreibmaschine mit meiner kleinen Tochter auf dem Arm in einem Atemzug und ganz ohne Streichungen.
Pfeifer: War der Wechsel von der Lyrik zur Prosa bei Ihnen mit eine Wechsel in der Art zu denken und zu leben verbunden? Lebt man als Dichter anders denn als Prosaist?
Cărtărescu: Dichtung ist eine Frage der Inspiration. Man kann drei, vier Tage lang jeden Tag ein Gedicht schreiben und dann sechs Monate lang keines mehr. Dann folgt wieder eine Periode der Inspiration. So habe ich meine Gedichtbände geschrieben: Am Anfang entstand durchschnittlich alle zwei Wochen ein Poem, für einen Band brauchte ich etwa zwei Jahre. Als ich mit Prosa begann, bedeutete das für mich die Disziplinierung des schöpferischen Geistes, die Erfahrung einer kontrollierten Inspiration. Dichtung verhält sich zu Prosa wie eine stürmische Liebe zum Eheleben. Die Ehe ist gesetzter und unaufgeregter, das hat Vorteile, und ich bin ein überzeugter Familienmensch. Das Schreiben von Prosa paßt also zu mir.
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 2012
Aus dem Rumänischen von Anke Pfeifer
Poesiegespräch „Ich kann mehr Farben sehen als Andere“. Ernest Wichner spricht mit Mircea Cărtărescu beim poesiefestival berlin 2020.
Gerhardt Csejka Vortrag Minderheiten- und Nationalliteratur am 28.3.2011 in Temeswar.
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