PARALLELE LEBEN
Schmerzlos zähl ich die Sterne, auch ich −
so wie der Krebs
die weißen Blutkörperchen des Ertrunkenen zählt
der Gegenwart. Nicht erst seit die großen europäischen Zeitungen seine Gedichte drucken, gehört seine Stimme zur Weltliteratur. In seinen Gedichten vertritt Mircea Dinescu das, was schon immer Aufgabe des Dichters gewesen ist: Die Spannungen der Welt in sein Gedicht hineinzunehmen, im Paradox eines Bildes den Widersinn der Geschichte und den Widerstand des einzelnen aufleuchten zu lassen. Aus der Einsamkeit des Hausarrests wurden seine Gedichte zu Lebens-Mitteln für viele, wurden zum Ferment eines politischen Umsturzes.
Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1994
daß Dinescu den Sturz des rumänischen Diktators Ceaucescu im Dezember 89 als erster im rumänischen Fernsehen verkündete.
Er war von dem Regime wegen seiner kritischen Artikel und Interwiews vorher unter Hausarrest gestellt worden.
Auch in den ausgewählten Gedichten des vorliegenden Bandes (rumänisch/ deutsch) ist diese hinter der Kritik stehende Spannung zwischen individueller Freiheitssuche und Einkerkerung durch ein pathologisches Gesellschaftssystem spürbar, ohne daß Dinescu es nötig hat, sich auf die „triviale“ Plattform sogenannter „Politischer Lyrik“ zu begeben und agitatorische Dualismen von der Rostra zu lassen.
Mit feinsinnigen, manchmal zornig-zärtlichen, oft metaphorisch überbordenden Tonlagen schafft er eine sehr persönliche, unmittelbare Atmosphäre zwischen Text und Leser.
Auch seine manchmal kühne Rhythmik unterstreicht den Widerstand des einzelnen gegen jegliche Zwänge der Gleichmacherei; den Paradoxien der Welt hält er die Poesie privater Lebens-Wahlmöglichkeiten entgegen.
„Mit einer Spitzhacke brech ich die Wand auf
und laß euch hineinschaun.“
Werner Friebel, Literaturmagazin Schnipsel
– Mircea Dinescus Gedichte zwischen Poesie und Protest. –
Es ist ein alter Wunschtraum und geschieht doch selten, daß ein Dichter zur Stimme des Landes wird. Aber als der Dichter Mircea Dinescu im rumänischen Fernsehen den Sturz des Diktators Ceausescu verkündete: da war er die Stimme Rumäniens, wenigstens für die Dauer dieser beiden Sätze. „Der Tyrann ist geflohen, das Volk siegte. Geliebte Rumänen, wir müssen das Schicksal in unsere Hände nehmen!“ Was er da sagte und daß er es sagte, das war auch das Ergebnis seiner Gedichte: Verboten und bedroht, schrieb Dinescu sich in ihnen nicht nur metaphorisch frei.
Nun ist die Revolution Vergangenheit, und in den Mühen der Ebene verliert sich ihr heroischer Mythos ebenso rasch wie der des Dichters, dessen Verse die Diktatur erschüttert haben. Mittlerweile ist der vormals verbotene Band Der Tod liest Zeitung in Bukarest erschienen, aus dem Staatsfeind ist ein endlich auch im eigenen Land öffentlich gefeierter Dichter geworden und eine Persönlichkeit des politischen Lebens überdies. Unter so gewandelten Umständen lesen die Texte sich anders als noch vor einem Jahr. Immer noch geben sie Zeugnis von den unvorstellbar bedrückenden Bedingungen ihrer Entstehung, aber mit dem Verblassen ihrer Tagesaktualität gewinnen sie an politischer Selbständigkeit – und, um es vorweg zu sagen, auch an literarischer Leuchtkraft.
Wie die erste in Deutschland erschienene, gleichfalls von Werner Söllner übertragene Sammlung Exil im Pfefferkorn gibt auch dieser zweisprachige Band einen eindrucksvollen Querschnitt durch Dinescus Werk. Auf die beiden ersten Texte, 1971 und 1973 entstanden, folgt eine chronologisch geordnete Auswahl von Gedichten der neun Jahre von 1980 bis zur Revolution, darunter mehrere „aus dem 1989 im Hausarrest entstandene Manuskript des Autors“ (wie der Quellennachweis lakonisch vermerkt). Geschrieben unter zunehmendem äußeren Druck, am Ende unter Lebensgefahr, zeigen sie nicht die geringste Spur von Selbstmitleid. Im Gegenteil. Angst und Trauer verkleidet sich in Spott und funkelnden Wortwitz, das Ernste wird komisch, das Schwerste federleicht. Ob in ironisch-saloppen Reimen und musikalischem Versbau oder ungebundenem lyrischen Parlando, immer versuchen diese Gedichte weniger zu scheinen als zu sein. Aber unter der einladenden Oberfläche sind Fußangeln verborgen, und was auf den ersten Blick anmutet wie eine harmlose Pointe, erweist sich bei näherem hinsehen als abgründig-surreales Bedeutungsgeflecht: Jedes Wort hat hier einen doppelten Boden.
Das beginnt schon mit dem Titel. Das Bild vom Maulkorb fürs Gras bezeichnet nicht nur die Totalität der Diktatur, die keinerlei Zuflucht mehr offenläßt und noch das Unscheinbarste beherrscht. Der Zusammenhang des Gedichts, dem er entnommen ist, gibt ihm eine spezifischere Bedeutung. Da liegt der Dichter, ein lebender Leichnam, im Grab – und noch dem Gras, das darauf wächst, ist es verboten, sein Dasein zu verraten. Auch dieser grausige Hintersinn jedoch kann sich, wie immer in Dinescus Bilderwelt, abermals verwandeln. Denn weil das Wachstum des Grases nicht aufzuhalten ist durch Verbote, verweist das Bild endlich auch auf die unaufhaltsame Macht jener Schwäche, die wie das Wasser mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Der Titel ist gut gewählt. Die in diesem Band gesammelten Gedichte eines vergebens Totgeschwiegenen sind vehement lebendig, ein einziger Protest gegen den täglich erfahrbaren Tod, der allgegenwärtig ist in Überwachung, Bespitzelung und in dem Verbot, auch nur ein Wort mit einem Freund auf der Straße zu wechseln. Und nichts widerlegt diesen Tod entschiedener als die Verweigerung seines düsteren Pathos. Dinescu ist, wie es in einem Gedicht des Bandes heißt, ein „Jazzmusiker vor Jerichos Mauern“. Scheinbar nebenbei demaskieren seine Verse die Verkleidungen der Gewalt; erbarmungslos lakonisch halten sie fest, wie die Heilsversprechen des Allvaters Staat unerfüllt bleiben: „die Regale voller Engel im Laden hab ich nicht gesehn / auch nicht den festgenagelten Heiligenschein“. Wie hier, so bedienen sie sich häufig frommen Bildmaterials, um die profanen Verhältnisse der Bigotterie zu überführen. Gelegentlich, zumal in der Montage von biblischer Tradition und dem Inventar der Staatsfrömmigkeit, gelingen dabei erstaunliche Seiltänze. „Gib nicht auf, blas in die Posaune des Todes / sowie ein Rentner in die heiße Suppe bläst“, beginnt beispielsweise sein „Jerichowalzer“, und er endet: „gib nicht auf / blas in den rostigen Trichter / bis die neuen Mauern Walzer tanzen / im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Man sollte bei diesen Versen nicht nur an die alttestamentliche Geschichte von der Erstürmung des vermeintlich unbezwingbaren Jericho denken, sondern auch an die Forderung, die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt – bekanntlich ein Wort von Karl Marx. Wie dessen Bild gegen den staatsdoktrinären Marxismus ausgespielt und gerade so wieder aggressiv lebendig wird, wie obendrein das revolutionäre Selbstvertrauen sich aufs Allerhöchste beruft und es zugleich blasphemisch verspottet: Das macht Dinescu keiner nach.
Als gäbe ihre vitale Angriffslust sich nicht zufrieden mit den staatlichen Mißverhältnissen, wählen die Gedichte als äußerste Zielscheibe die Unordnung der Welt. Die letzte metaphysische Größe, die ihnen da begegnet, ist abermals der Tod. „Die Offenbarung des Entflohenen“ benennt ihn so banal wie unerbittlich: „seit ich einst zur Welt / kam, liegt eine Schnur um meinen Hals, die jemand hält / und fest, ganz fest zusammenzieht“. Gewiß, der Jemand, der die Schnur in der Hand hält, trägt auch Züge des rumänischen Conducators. Aber er geht doch in dieser Identifikation so wenig auf wie der „Herr“, den ein zweideutiges Gebet anredet:
Im Menschen, Herr, hast du vergessen
das Leuchten deines silbernen Werkzeugs
wie ein zerstreuter Chirurg
der in die Haut des Patienten
die Schere einnäht und das Skalpell.
Woher sonst käme diese ziellose Verzweiflung
und die Ironie dieser Tränen auf Pump?
Die raffinierte Naivität solcher Verse spielt selbstironisch auch mit dem Villon-Mythos vom lebenstrunkenen, Gott und der Welt trotzenden Poeten, der hier in wechselnden Gestalten erscheint. Die zentrale und zugleich vertrackteste von ihnen ist jene „metaphysische Katze“, die dem Tod als gleichsam zweite Hauptfigur gegenübertritt, poetisches Selbstbildnis und poetologisches Emblem in einem. Geschmeidig und gefährlich, tänzerisch und angriffslustig spielt sie mit den Bausteinen der alltäglichen Welt, verschluckt sie kurzerhand, „dann schlägt sie die Augen auf und erfindet uns allesamt neu“.
Bekanntlich lassen Gedichte sich nicht übersetzen, allenfalls nachdichten. Werner Söllner hat das auch hier wieder einfühlsam getan. Allerdings ist ihm diesmal nicht jede Übertragung so sicher gelungen wie in der ersten Sammlung. Allzu häufig müssen pointierte Reime vagen Assonanzen weichen, wird die Syntax dem Metrum geopfert, zerfasert die auch dem Sprachunkundigen wahrnehmbare Prägnanz der rumänischen Verse in halbherzige Mischformen aus poetischer Anverwandlung und prosaischer Paraphrase. Dennoch Söllner hat hier abermals die Gemeinsamkeit zweier Sprachen und Kulturen so selbstverständlich demonstriert, als wären sie niemals in einem Land gegeneinander gehetzt worden.
Eine todtraurige Welt zeigen diese Gedichte, in der es verteufelt lustig zugeht, eine heillose Welt, in der keine Hoffnung ist – außer der Hoffnung. „Bist du nicht müde geworden zu glauben, / daß der Engel mit seinem Handwerkszeug kommen wird / um unsere Sünden zu reparieren?“ fragt das vielleicht schönste Gedicht Johann Sebastian Bach, den Dreihundertjährigen, und schlägt sogleich eine frappierende Volte:
Deinetwegen hat sich der Kellermeister des Frühlings besoffen
und seine Schlüssel verloren.
Macht nichts: so bleiben die Wäldchen aufgeschlossen
die Zwetschgenblüten werden auf uns fallen bis in alle Ewigkeit
Auch das ist, rotzfrech und pastellzart, ein verstecktes Selbstbildnis: der Künstler als ein Frommer ohne Glauben. Diese Spannung prägt alle Texte des Bandes. Gedichte aus der Zeit der Gratwanderungen – und ein haltbarer Vorrat für die Mühen der Ebenen.
Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.1990
Der 1950 geborene rumänische Lyriker Mircea Dinescu hat schon oft für Schlagzeilen gesorgt: als er im April 1989 in einem Interview für die Pariser Zeitung Liberation eine harsche Abrechnung mit dem Ceauşescu-Regime lieferte und als Folge unter strengen Hausarrest gestellt wurde, vor allem aber, als er am 22. Dezember desselben Jahres im rumänischen Fernsehen den Sturz des Conducators verkündete – als erster und als eine Instanz, die über alle Zweifel erhaben war. Dinescu – ein rumänischer Havel? Der Vergleich hinkt, da sich der Dichter nicht aufs politische Parkett begeben hat. Immerhin präsidiert er den rumänischen Schriftstellerverband und hat einen eigenen Verlag gegründet. Hier soll auch ein neuer Gedichtband von ihm herauskommen, Startauflage: 400.000 Exemplare.
Als „Rebell vom Dienst“ (G. Csejka) hat sich der Lyriker Dinescu schon unter Ceauşescu einen Namen gemacht. Acht Gedichtbände konnten seit 1971 trotz aufmüpfigen Tönen erscheinen und wurden teilweise sogar ausgezeichnet, bis beim Band Der Tod liest Zeitung das entschiedene Veto erfolgte. Die Gedichtsammlung ist 1990 prompt zum Bestseller geworden: 200.000 Exemplare waren im Nu ausverkauft. Dinescu gilt – obwohl die Poesie in Rumänien (wie in allen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas ) notorisch hohe Popularität genieß – als ein Phänomen sui generis.
Ob dieses auch für den nichtrumänischen Leser nachvollziehbar ist? 1989 hat der aus Rumänien stammende Lyriker Werner Söllner ein erstes Auswahlbändchen mit Gedichten Dinescus unter dem Titel Exil im Pfefferkorn herausgebracht, kürzlich folgte ein zweiter Band, Ein Maulkorb fürs Gras. Söllner verhehlt nicht, worin die Schwierigkeiten der Übersetzung und der Rezeption dieser Gedichte bestehen: Sie enthalten nicht nur vielfältigste Anspielungen auf die (politische) Realität des Landes, was sie im Detail nur für Einheimische entzifferbar macht, sondern nehmen auch formal Bezug auf Volksdichtung und -lieder. Ohne solchen Kontext läßt sich die Spezifik von Dinescus Dichtung nur erahnen, nicht aber erschließen.
Liest man Werner Söllners Übersetzungen, glaubt man gleichwohl, in den Reichtum dieser Lyrik eingedrungen zu sein: ihre barocke, oft geradezu überbordende Metaphorik, ihre zornig-zärtlichen Tonlagen, ihre kühnen Spiele mit Rhythmus und Reim wirken unmittelbar und stark. Und keine Frage, die Stimme, die hier spricht, hat etwas zu sagen. Söllner dokumentiert die künstlerische Entwicklung des „enfant terrible“ Dinescu von den Anfängen bis 1989, von Anrufung an niemand (1971) über Terror des Anständigseins (1980) bis zu den im Hausarrest entstandenen Gedichten, die den Höhepunkt des Auswahlbandes bilden. Das Crescendo bedeutet Verdichtung der Aussage, wobei die existentielle Notsituation ihr Bedrängendes dazu beigetragen haben mag.
Thematisch fällt die Kontinuität von Dinescus Schaffen auf: Macht und Ohnmacht, Verrat und Loyalität, Sein und Schein, Natur und Naturzerstörung, Liebe und Tod sind die Konstanten seines hyperbolischen Dichtens, das immer wieder in akute Systemkritik und Selbstkritik mündet:
In den Warenlagern sind sie wieder beschäftigt.
Sie scheffeln sich dumm in die Taschen
und bewundern von weit
unsre Gewächshauscourage.
(„In der Bierstube“, 1980)
Das verächtliche Wort „Gewächshauscourage“ bezieht sich auf den (feigen) Dichter, der in den nachfolgenden Zeilen mit dem Machthaber konfrontiert wird:
Unterdessen beschreibt der Poet das Papier
und Herodes schlachtet dazwischen.
Als ein zentrales Thema Dinescus verrät diese Konfrontation alle Schattierungen des Dilemmas, bis sie im gebetartigen Gedicht „An der Wand“ (1989) der bitteren Feststellung der Einsamkeit des Dichters weicht:
Gib mir dein Verb, o Herr, damit ich’s konjugier:
Du bist, sie sind, ich aber bin fast nicht –
ich Eisenkrone. Ofenblech für Asche
Mißgeburt aus Wörterleim und Knochen:
den Topf, in dem die paradiesischen Gewürze kochen
die himmelblaue Suppe, stell sie auf den Tisch:
damit das Lumpenpack sie schmatzend frißt.
Nie flüchtet sich Dinescu in seichte Larmoyanz; sein Temperament (in einigem dem Majakowskijs verwandt) diktiert ihm derbe, schroffe, ironische Töne, Übertreibung ebenso wie Untertreibung, Provokation ebenso wie Protest. Allein die Behandlung Gottes verdiente eine eigene Betrachtung; zwischen ehrfürchtig und blasphemisch kennt sie alle Register.
Das kraftvolle Aufbegehren des Mircea Dinescu findet in den gereimten Gedichten seine prägnanteste Form, ob diese sich Balladen, Chansons oder anders nennen. Besonders spöttisch gebärdet es sich im Schlußgedicht des Bandes, „Die metaphysische Katze“, wo die „abgezehrte Balkankatze“ – apolitisch und illegal, antikommunistisch und trist – zur Herausforderin des Systems wird:
Woher kommt uns dieses Biest, zum Teufel?
Aus De Sicas Neorealismus-Streifen?
Aus dem Kleinbürgertum? Dem Neanderthal?
Schlagt ihr doch die Fahne auf die Stirn
der Aeropag wird nicht protestiern
in den Löchern von Emmenthal.
Mit bloßem Aug mißt sie die Welt von oben
sie bringt Unglück wie die Popen
sie schnurrt, wenn ihr auf Arbeit seid
alles hat sich angesteckt mit Katzenjammer
zieht das Schwert aus Pflug und Hammer
ihr Thraker und ihr Skythen im Arbeitskleid!
Inzwischen hat sich das System geändert (wobei für Katzenjammer immer noch Grund genug herrscht), und es fragt sich, wie Dinescu nun sein kritisches Potential lyrisch ausagiert, welchen „Pakt mit der Wirklichkeit“ er schließt. Und ob dem ehemaligen „Hauptakteur im Schneckenhaus“ die Bühne besser bekommt als das Abseits.
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 7.1.1991
Der Diktator ist gestürzt, das Volk hat gesiegt, Rumänien ist unser! Gott hat uns geholfen!
Mit diesen direkt vom Fernsehen übertragenen Worten endete am 22. Dezember 1989 die jahrzehntelange Diktatur des Nicolae Ceauşescu, der mit seinem Familienclan Rumänien wirtschaftlich, politisch und kulturell ruiniert und mit seinem Geheimdienst Securitate einen brutalen Unterdrückungsapparat installiert hatte, der Regimegegner auch noch im Ausland aufzuspüren und zu liquidieren wußte. Verkündet wurde das Ende des einstigen Schuhmachers, der sich als „conducator“, als Führer glorifizieren ließ, von einem jungen Dichter, der in den letzten Jahren in aller Welt zum Gegenbild des stumpfsinnigen Tyrannen geworden war: Mircea Dinescu.
Dieser Sohn eines Schlossers, 1950 in Slobozia in Südrumänien geboren, erregte schon als Zwanzigjähriger Aufmerksamkeit mit Gedichten, die ihm den Ruf eines „rumänischen Majakowskij“ und eines literarischen Enfant terrible eintrugen. Dinescu machte Karriere als Zeitschriftenredakteur, und er konnte acht Gedichtbände veröffentlichen, die mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet und zum Teil auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Dabei war er keineswegs, wie so viele andere Autoren im Lande, zum Hofpoeten geworden. Die in seinen Gedichten vorgetragenen Attacken gegen das Regime wurden sehr wohl verstanden, und jeder wußte, was gemeint war, als Dinescu sein „lied bei erloschener lampe“ so begann:
es stehn weit offen die gefängnistore
doch es ist keiner da der gehen will
die einen hängen tot an ihren träumen
die andern halten in den steinen still.
Niemand auch mußte rätseln, auf wen der Autor in seinem Gedicht „nimmersatt“ zielte, dessen erste Strophe lautet:
unser märchenriese nimmersatt
der es mit den dörfern hat
pflügt kirchen um und züchtet panik
drischt sie mit der sprachmechanik
Die Sammlung allerdings, in der dieses Gedicht enthalten ist, durfte in Rumänien nicht mehr erscheinen, das politische Klima hatte sich weiter verschlechtert. Und auch Dinescu glaubte seit Mitte der achtziger Jahre nicht mehr, daß es ausreichend sei, seinen Widerspruch in Gedichten zu artikulieren. Er entschied sich daher für die Teilnahme am aktiven Widerstand. Nachdem er der französischen Zeitung Liberation im März 1989 ein Interview gegeben hatte, verlor er sämtliche Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten und wurde unter strengsten Hausarrest gestellt; sämtliche Kontakte zur Außenwelt (Besuche, Briefe, Telefonate) wurden unterbunden. Mit den Gedichten und Stellungnahmen, die er dennoch herausschmuggeln und auf dem Umweg über ausländische Sender in Rumänien verbreiten konnte, setzte er sein Leben aufs Spiel und stärkte den Widerstandswillen seiner Landsleute.
Die alte Frage, ob Worte, ob Literatur, ob gar Lyrik etwas bewirken und verändern könnten, hat sich für Dinescu von selbst beantwortet. Später, nach der Revolution, hat er in einer Rede in Frankfurt davon gesprochen, daß die rumänische Diktatur gewappnet gewesen sei gegen jeden militärischen Eingriff – „nicht aber gegen den Aufstand der Wörter“, denn „die Wörter waren es (…), die die analphabetischen Könige des Kommunismus vom Thron stießen und den Stacheldraht zwischen den Wachttürmen durchtrennten“. Dinescu sprach auch von der „Allergie der Tyrannen gegen die Wörter“, und er erinnerte an einen Kollegen, der noch immer wegen seiner Wörter versteckt leben muß: Salman Rushdie. In unserem Jahrhundert könne offenbar Verrücktheit Glauben genannt werden, „ob sie nun von Allah oder vom heiligen Marx kommt“.
Dinescu, kurz zuvor noch von den Securitate-Agenten mit Erschießen bedroht, erlebte am 22. Dezember 1989, was kaum einem Freiheitsdichter widerfährt: Nachdem man ihn auf der Straße erkannt hatte, trug ihn die Menge auf ihren Schultern zu einem Panzerwagen, fuhr ihn zum Haus des staatlichen Rundfunks und ließ ihn die Siegesmeldung verkünden:
Der Diktator ist gestürzt…
Gewiß, heute wird das Gelingen der rumänischen Revolution angezweifelt, es wird gefragt, ob sich unter dem Ilescu-Regime nicht die Macht der alten Nomenklatura neu gefestigt habe. Und auch Dinescu, der nach der Wende ein Ministeramt ablehnte (allenfalls „Oppositionsminister“ wäre er gern geworden, und eine „Partei der Schüchternen“ hätte er gern gegründet), wird inzwischen öffentlich heftig kritisiert und hatte als unabhängiger Kandidat bei den Parlamentswahlen keinen Erfolg. Aber das ficht ihn nicht an, denn:
Mir persönlich sind Politiker sympathischer, die eine gewisse Schwäche für Lyrik zeigen, als Berufsschriftsteller, die auf dem Felde der Politik dilettieren. Ich glaube, daß die letzteren auch gefährlicher sind.
Aber für einen Tag, für eine Stunde vielleicht nur, war dieser Dichter der Held der Nation, war er die Stimme seines jahrzehntelang erniedrigten und beleidigten Volkes – und zwar wegen seiner Gedichte. Die freilich wurden, obwohl Dinescu seit 1971 publiziert, bei uns in deutscher Übersetzung natürlich erst gedruckt, als es den „Fall Dinescu“ gab, als außerliterarische Gründe Aufmerksamkeit versprachen. Nun ist eine gewisse Skepsis gegenüber politischer Lyrik natürlich verständlich. Das Gutgemeinte ist ja noch nicht unbedingt gut, und daß ein Tyrann einen Dichter verfolgt, muß ja noch lange nicht für die künstlerische Qualität der Arbeiten dieses Dichters sprechen – es kann ja auch der bloße Inhalt, die Botschaft sein, die eine Dichtung politisch effizient macht.
Aber schon der 1989 erschienene, von Dinescus deutsch-rumänischem Kollegen Werner Söllner übertragene und bei Suhrkamp erschienene Auswahlband Exil im Pfefferkorn machte deutlich, daß Dinescu kein Parolen-Poet ist, der ideologische Statements auf Flaschen zieht (bzw. in literarische Molotow-Cocktails abfüllt) oder selbstmitleidig das Los der Verfolgten bejammert. „Mircea Dinescus Lyrik ist sowohl politisch wie poetisch“, hat Söllner im Nachwort zu dem genannten Auswahlband geschrieben, „sie unterzieht die Realität – aus der sie kommt, in die sie geht – einer kritischen Analyse; vor allem meidet sie nicht die konkreten Aspekte dieser Realität. Die Analyse, die der Lyriker vornimmt, hält aber bei Systemkritik nicht inne; sie ist ein zwar wichtiger, doch eben nur ein Bestandteil neben anderen, aus denen Poesie entsteht.“
Diese Feststellung trifft ebenso auf die Gedichte zu, die Söllner nun in dem Band Ein Maulkorb fürs Gras zusammengestellt hat. Das Buch ist bei Ammann in Zürich herausgekommen, einem der wenigen Verlage, die sich für deutsche wie fremdsprachige Dichtung engagieren – ich erinnere nur an die verdienstvollen Werkausgaben von Mandelstam und Pessoa. Der Dinescu-Band ist zweisprachig; ein Nachwort das mit Person und Werk des Dichters vertraut machen könnte, fehlt allerdings.
Dieses neue Buch enthält sämtliche Gedichte aus der Zeit von Dinescus Hausarrest und dazu, ihnen vorangestellt, Arbeiten aus den letzten zwölf Jahren. Wer die Texte nach aktuellen Anspielungen absucht, wird auch die finden – und dabei doch nur eine Ebene dieser Dichtung wahrnehmen. Denn Dinescus Verse, gespeist aus der rumänischen Tradition (vom alten Volkslied bis zur modernen Poesie eines Marin Sorescu) wie auch aus dem europäischen Surrealismus, bilderreich und musikalisch, nicht selten sarkastisch und unbekümmert direkt, sind in aller Regel mehrschichtig. Und darum auch verblassen sie nicht mit der Tagesaktualität, mögen sie ihr auch einen Impuls zum Entstehen verdanken.
Denn wie bei vielen Dichtern, die aufgrund ihrer Haltung und Weltsicht in Opposition zu den Herrschenden gerieten und dann unversehens zu politischen Dichtern wurden (oder dazu erklärt wurden), ist auch Mircea Dinescu eher ein Poet, den existentielle und metaphysische Fragen beschäftigen, ein sarkastischer Pessimist, den dann der reale Zustand der Welt in seinen Einsichten bestätigt:
Der Selbstmörder
aus Melancholie
stürzt sich vom Turm der Notre-Dame
und erschlägt im freien Fall ein Kind.
Wer hat ihn im Flug dazu verurteilt
zum Kindsmörder zu werden?
Zentrales Thema der Gedichte Dinescus – jedenfalls in diesem Querschnitt – ist die Poesie, die Kunst. Wird sie überhaupt gebraucht, oder ist sie nur „wie Kaugummi / für jene, die das Brot schon langweilt“?
Der Beruf des Dichters ist genauso rentabel
wie eine Bisonjagd
das heißt, du nagst an Schmetterlingsknochen
das heißt, dein Bild steht im Käfig eines ausgehungerten Tigers
und während er seinen eigenen Dreck runterschlingt
besuchen dich zu Hause zwei Kugeln
als eine Hommage seiner verträumten Augen…
Bei der Jahrestagung 1990 des P.E.N.-Zentrums Bundesrepublik Deutschland war Mircea Dinescu als Gast geladen und wurde von den deutschen Autoren gebührend gefeiert, denn wann gibt es das schon einmal: Ein Dichter wird zum Volkshelden, und ein Streiter für das Gute wird Sieger. Und dann fragte ihn jemand, ob er denn jetzt, da der Kampf doch gewonnen sei, als Dichter eigentlich noch etwas zu sagen habe. Und Mircea Dinescu antwortete, freundlich und ironisch: Nein, eigentlich habe er keine Themen mehr – nur vielleicht noch das Leben, die Liebe, den Tod und ähnliche Kleinigkeiten…
Ein Held, mal Griesgram und mal Komödiant
werd ich mich lachend oder lügend retten.
Und sterb ich sanft, wird es doch heißen, sie hätten
mich getötet. Denn seit ich einst zur Welt
kam, liegt eine Schnur um meinen Hals, die jemand hält
und fest, ganz fest zusammenzieht.
Jürgen Wallmann, Park, Heft 43/44, Dezember 1992
Mircea Dinescu – Lyrik, Revolution und das neue Europa. Ansprachen und Texte anläßlich der Verleihung der Akademischen Ehrenbürgerwürde der Universität Augsburg. Herausgegeben von Ioan Constantinescu und Henning Krauß. Augsburg 1991
Detlev Konnert: Im Schatten der Karpaten – Rumäniens Weisheit
Knud Cordsen: Poesie als Waffe
BR24, 11.11.2020
Mircea Dinescu liest Gedichte 1967 als 17jähriger.
Mircea Dinescus Auftritt am 22.12.1989 in Rumänien als Dichter und Verkünder.
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