TANZ
der tod liest zeitung am straßenrand,
dem toten bettler deckt sie das gesicht.
er hebt sein glas mit sicherer hand,
der tod auf den feldern, der tod im gedicht.
bürst ihm die kleider, leck ihm die schuh,
dein leben lang diene ihm gut.
nimm den talmiglanz der moscheen dazu,
er leuchte dir bei ebbe im blut.
schwing die ketten, sklave, beim totentanz,
das passende musikinstrument…
durch unser fleisch zieht sich byzanz,
mal als Europa, mal als Orient.
Nun gut, wir haben es also mit einem Dichter zu tun, der Zivilcourage bewiesen hat und immer noch beweist; mit einem Autor, dem das Leben zum Alptraum gemacht wird, weil er nicht schweigend hinzunehmen bereit ist, was ihm und seinen Landsleuten an Entbehrungen und Demütigungen im Alltag zugemutet wird. Klar ist damit nur, daß es etwas zu rühmen gilt. Nur – was? Ist es die Courage des Rumänen oder die literarisch-ästhetische Leistung des Poeten? Ist also Mircea Dinescu ein politischer Fall, oder ist er ein interessanter, vielleicht sogar bedeutender Lyriker?
In Deutschland, wo das Verhältnis zwischen Literatur und Politik schon immer problematischer als in vielen anderen Kulturen war, neigt man dazu, sich bei der Beantwortung derartiger Fragen entweder für das eine oder für das andere zu entscheiden; im Wechsel des Zeigeists und der Moden (die man, solang sie nicht vergangen sind, für Weltanschauungen hält) neigt sich die Waage mal nach der einen, mal nach der anderen Seite.
Doch auch in Rumänien ist dieses Verhältnis schon seit einiger Zeit mehr als problematisch; auch dort hat sich also die halb öffentliche Diskussion über das, was angesichts der politischen Zustände Literatur ausrichten kann oder soll, polarisiert. Auf der einen Seite stehen Schriftsteller, die sich die feingliedrigen Finger an Politik nicht schmutzig machen wollen und statt dessen lieber „das Absolute“ suchen. Über diese schreibt einer der besten Kenner der rumänischen Lyrik, der bekannte rumänische Kritiker Lucian Raicu (er lebt seit drei Jahren im Pariser Exil), in einer Rezension zu Mircea Dinescus drittem Lyrikband Proprietarul de poduri („Der Besitzer der Brücken“,1976): „Eine Poesie, die ausschließlich das Absolute und das Ewige in den Dingen sucht und sich mit Hochmut über die Dinge erhebt, riskiert den Verlust ihrer Vitalität, sie wirkt falsch und affektiert und wird zu Karikatur ihrer selbst; die Geschwindigkeit, mit der sie sich … verbraucht, ist umgekehrt proportional zur Größenordnung ihrer Ansprüche.“
Mircea Dinescus Poesie ist anders: „(Sie) konstituiert sich aus der Beobachtung dieses scheinbaren Paradoxons (…); mit intelligentesten und mit gleichzeitig dichterischen Mitteln tritt sie der poetischen Griesgrämigkeit entgegen, sie entlarvt deren Lächerlichkeit und Leere…“
Ist Poesie noch möglich? Dies ist, nach Lucian Raicu, die Frage, die Mircea Dinescu sich selbst mit seinen Gedichten stellt. Er stellt sie auch seinen Lesern, nur müßte sie dann lauten: Ist etwas wie Glück, im weitesten Sinn, doch gleichzeitig auch sehr konkret, noch möglich? „Was in seiner Lyrik beeindruckt, ist die Anspannung, mit welcher (Dinescu) eine affirmative Antwort sucht: ja, es gibt diese Möglichkeit, diese Chance noch. Es ist allerdings eine Antwort, die er unter undankbaren Bedingungen findet; in Situationen, die die Existenzmöglichkeiten der Poesie auszuschließen scheinen.“
Mircea Dinescus Lyrik ist also sowohl politisch wie poetisch; sie unterzieht die Realität – aus der sie kommt, in die sie geht – einer kritischen Analyse; vor allem meidet sie nicht die konkreten Aspekte dieser Realität. Die Analyse, die der Lyriker vornimmt, hält aber bei Systemkritik nicht inne; sie ist ein zwar wichtiger, doch eben nur ein Bestandteil neben anderen, aus denen Poesie entsteht.
Die von mir eingangs gestellte Frage erledigt sich also von selbst; sie kann nicht nach dem bewährten Schema – „entweder Systemkritik in Versen – oder apolitisches Kunsthandwerk“ – beantwortet werden. Um die scheinbar so einfachen Gedichte von Mircea Dinescu in ihrer ganzen Kompliziertheit (die sich im geschickten Gebrauch überlieferter poetischer Methoden nicht erschöpft) zu begreifen, sollte der Leser sich die Kompliziertheit des Gegenstandes nicht durch eingängige Parolen künstlich einfach machen…
Werner Söllner, Aus dem Nachwort, August 1989
– Mircea Dinescu, Dichter Rumäniens. –
Was wissen wir von rumänischer Literatur? So gut wie nichts, meint Werner Söllner, ein rumäniendeutscher Autor, der vor einigen Jahren seine Heimat verlassen mußte, um weiterschreiben und -leben zu können. Eine im einstigen Ostblock nur allzu übliche Karriere. Söllner, ein wahrlich beachtenswerter und noch zuwenig beachteter Dichter, hat sich nun darangemacht, unsere Unkenntnis zu reduzieren: als Übersetzer, als Nachdichter einer Lyriksammlung des Rumänen Mircea Dinescu, die er mit einem Nachwort versehen und herausgegeben hat.
Werner Söllner schreibt mit durchaus moralischer Emphase: „Am Beispiel Rumäniens wird mithin deutlich, daß nicht nur der in Westeuropa verbreitete Eurozentrismus das Kennenlernen fremder Kulturen verhindert; dieser allein könnte unser Interesse für das europäische Land Rumänien nicht lähmen. Hinderlich für den Austausch von Informationen ist auch die kulturelle Arroganz sogenannter Ieicher Länder (zu denen die Bundesrepublik gehört); diese übertragen ihre wirtschaftliche Vormachtstellung auch auf den Bereich der Künste und der Literatur mit einer Selbstverständlichkeit, die mit Borniertheit zu verwechseln erlaubt sein sollte.“
An einer derartig „materialistischen“ These sind freilich Zweifel angebracht. Schon das Beispiel des enormen Erfolges (und damit verbundener Auflagenhöhen) etwa der lateinamerikanischen Literatur spricht dagegen. Auch die polnische Literatur ist hierzulande bekannt und geschätzt und weithin wahrgenommen; ja, ich glaube, gerade der deutsche Leser, zumindest der geübtere, fühlt sich als Privilegierter der „ersten“ Welt durch ein schlechtes Gewissen der dritten gegenüber so weit verpflichtet, daß er, die billigen Bananen verspeisend, zum Ausgleich auch die geistigen Früchte ferner Landstriche rezipieren zu müssen glaubt. Im übrigen weiß man nur zu gut, daß der deutsche, „eurozentristische“ Leser zum Beispiel auch von der, sagen wir mal, dänischen Literatur und Lyrik sowenig einen Schimmer hat wie von der bulgarischen oder rumänischen.
Aber ich will mich nicht auf eine Polemik einlassen, sondern vielmehr einen Gedichtband Ioben und empfehlen, der „mit Entsetzen Scherz treibt“, oder nüchterner: dessen Gedichte ihre innere Spannung daher beziehen, daß sie mit den unsäglichen Zuständen in Ceausescus Reich ironisch und beinahe beiläufig umgehen. Das heißt jedoch nicht, hier werde in Gedichtform satirisch Systemkritik getrieben und weiter nichts – im Gegenteil.
Die Gedichte Dinescus bedeuten dank ihres metaphorischen Erfindungsreichtums, dank ihrer nahezu spruchartigen Eindringlichkeit weitaus mehr als nur die „Chronologie der laufenden Ereignisse“. In ihnen meldet sich das unterdrückte, gefährdete und nicht nur existentiell fragwürdige, sondern amtlich fragwürdig gewordene Ich zu Wort. Und diese Worte, fast immer auf glückliche Weise vom Gegenständlichen, Konkreten her bezogen, ergeben in ungewöhnlichen, häufig bissigwitzigen Kombinationen eine Landes- und Menschenkunde von unerbittlicher Schärfe. Den Dichter speisen „große vorräte an nachgiebigkeit und angst“; offenkundig der einzige Reichtum des armen, leidenden Landes.
Thema und Ton widersprechen einander: Über Trostlosigkeiten wird tändelnd gesprochen wie in dem fast aphoristisch knappen Gedicht: „Wie wär’s?!“:
gebt mir eine provinzzeitung an die hand
und eine bretterbaracke mit schmutzigem firmenschild
und in drei tagen werden die städte nach vanille duften
und nach offenen häfen.
Oder folgende zwei Zitate aus einem anderen Gedicht, geschrieben mit bitterböser Lustigkeit über die eigene (und wahrscheinlich nicht nur eigene) Situation:
im briefkasten hat sich eine schere eingenistet
mit der man finger abschneidet.
Und weiter heißt es dann:
wenn auch idioten eßbar wären
wären die schlangen vorm intellektuellenmetzger
nicht mehr so lang.
„Wird in den finsteren Zeiten auch gesungen werden?“ fragte einst Brecht, um sich selber die Antwort zu geben: „Ja, da wird auch gesungen werden. Von den finsteren Zeiten.“ Nun – Mircea Dinescu singt von den finsteren Zeiten in Rumänien, und der „Conducator“, der „Führer“ dieses Staates, hat es dem Dichter prompt vergolten: denn der steht seit langem unter Hausarrest, sein Telefon ist abgeschaltet, Briefe, außer anonymen Morddrohungen, werden ihm nicht mehr zugestellt; es ist ihm verboten, auf der Straße mit jemandem zu sprechen, eine fremde Wohnung zu betreten oder gar Besuch zu empfangen. Was Wunder, wenn unter derartigen Verhältnissen Gedichte entstehen wie: „lied bei erloschener lampe!“, dessen letzte Strophen lauten:
aus dieser erde wachsen keine kirchen
und keine fahnen mehr aus diesem grund
die einen zucken mit den schulterstücken
die andern schlagen sich die stirnen wund
wer auf mich wartet, wartet nicht auf mich
was in mir lebt ist sonnenuntergang
gebeugt der strahl und ranzig ist das licht
die träne nicht erlösung sondern zwang
Freilich: Hoffnung auf Gegenwehr, auf einen allgemeinen Widerstand gegen den herrschenden Wahnsinn ist nicht vorhanden. Das Volk? Wohl nicht mehr als ein verbrauchter Begriff. Denn ein „brief an Michail Bulgakow“ endet unversöhnlich:
Ezechiel, vorhang! das ende ist da.
der krieg ist verloren. pensioniert ist der held.
das experiment ist gescheitert, hurra,
der mensch ist ein hund: auch wenn er nicht bellt.
Und mit radikaler Entschiedenheit das Urteil über das Stiefvaterland:
völker viele und menschen wenige
dafür hochstapler und vizekönige
vorn dirigiert sie vom notenblatt
unser märchenriese nimmersatt.
Wer der Märchenriese wohl sei, der alles verschlingt und verschwinden läßt, bedarf keiner mühevollen Deutung. Jeder kennt ihn, und selbst die „Eurozentristen“ wissen ganz gut, wen Dinescu meint. Viele seiner teils gereimten, teils reimlosen Gedichte sind Anrufungen, ja nahezu Fürbitten, denn immer aufs neue schleicht sich die Anrede „herr“ in die Strophen und Zeilen.
Doch obgleich so häufig dieser Adressat genannt wird, geschieht es ohne jede Spur von Religiosität, ohne metaphysischen Hintergrund, ohne Heilsdenken oder Heilsverlangen, weil das Unheil schon so weit fortgeschritten ist, daß der Märchenriese Nimmersatt sogar jegliche noch vorstellbare Transzendenz aufgezehrt hat. Dafür ist in einem Großteil der Gedichte der Tod präsent, doch ein Tod, der auch nichts anderes mehr darstellt als einen Angestellten des umfassenden Terrors und der „die zeitung am straßenrand liest“: „bürst ihm die kleider, leck ihm die schuh, / dein leben lang diene ihm gut“, heißt es da, als sei der Tod tatsächlich ein Beamter der „Securitate“, des rumänischen Geheimdienstes. Aber bei den letzten vier Zeilen vergeht dem Dichter der Galgenhumor völlig, und in einem verzweifelten Klartext heißt die vernichtende Bilanz:
schwing die ketten, sklave, beim totentanz,
das passende musikinstrument…
durch unser fleisch zieht sich Byzanz,
mal Europa, mal Orient.
Günter Kunert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.1989
Mircea Dinescu verkörperte für den kurzen Augenblick eines historischen Wendepunkts das Schicksal eines ganzen Volkes. Das war am 22. Dezember 1989 – unmittelbar nach dem Sturz Ceauçescus, als man den Poeten aus seinem amtlich verordneten Hausarrest befreite, ihn auf den Schultern durch die Straßen trug und ihn dazu auserkor, vor der Kamera des rumänischen Staatsfernsehens den Tod des Diktators zu verkünden.
Der Poet, den die meisten seiner Landsleute bisher nur wegen seiner ins Ausland geschmuggelten und von Radio Free Europe und der Deutschen Welle verbreiteten subversiven Verse kannten, trat nun plötzlich leibhaftig in Erscheinung, aufgewühlt, tränenerstickt und mit dem Pathos eines Menschen, der selber noch nicht ganz begriff, was da geschehen war und was er nun zu verkünden hatte:
Dies sind Momente, in denen Gott sein Antlitz den Rumänen zugewandt hat. Wenden auch wir uns Gott zu, ein paar Sekunden lang, bevor wir uns an die Armee wenden, die mit uns ist.
Dinescu geriet, seinen eigenen Worten zufolge, durch „einen Betriebsunfall der Geschichte“ ins Scheinwerferlicht und in die Schlagzeilen. Er wurde in die Rolle des Volkstribuns lediglich hineingedrängt und akzeptierte triviale Tagesaufgaben – überzeugt davon, daß er seine Arbeit als Interimspräsident des neuen rumänischen Schriftstellerverbandes ebenso wahrzunehmen habe wie seine populistische Tätigkeit als unabhängiger Abgeordneter des Parlaments.
Zwar trauerte er den Zeiten nach, in denen er sich ganz der Literatur hingegeben hatte. Aber weil es in seiner Heimat an Berufspolitikern wie an qualifizierten und moralisch integren Nachwuchskandidaten fehlte, willigte er vorerst ein in ein Tun, über das er nicht ohne Selbstironie sagte:
Mir persönlich sind Politiker sympathischer, die eine gewisse Schwäche für Lyrik zeigen, als Schriftsteller, die auf dem Gebiet der Politik dilettieren. Auch finde ich, daß letztere gefährlicher sind.
Dinescus Einmaligkeit erklärt sich, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, aus den besonderen Umständen seiner Herkunft. 1950 in einer Kleinstadt als Sohn von Eltern geboren, in deren Haushalt es nur ein einziges Buch, ein Bilderbuch, gab, geriet, wie Frank Schirrmacher mitgeteilt hat, der Vierzehnjährige lediglich durch eine absurde staatliche Maßnahme an die Poesie: jede Familie mußte einen bestimmten Beitrag ihres Jahreseinkommens zum Erwerb von Büchern ausgeben.
Durch dieses Bildungsverdikt wurde aus dem Kind eines Schlossers, das weder lesen noch schreiben konnte, ein wißbegieriger Autodidakt, der Eliot auswertete und Rilke liebte und schon 1971 seinen ersten eigenen Gedichtband herausbrachte, Anrufung an niemand.
Mircea Dinescu spürt das Lähmende, das von der modernen verplanten Welt ausgeht, und mit aberwitziger Dichterkonsequenz attackiert er die Logik und das Nützlichkeitsdenken: „da wir schon mal regierungen auf dem mond eingesetzt haben / werden wir bald auch ein brot mit gebiß erfinden“; oder, sich selbst als Erfahrungssonde einbringend:
Als paßte ich mein Lied
der Langeweile andrer an –
so überholt mich langsam das Leben:
baue ein paar Kneipen am Strand
und ich weiß nicht mal
ob die Musik mein Weinen übertönen
oder es begleiten will
ob die Revolte der feige Schatten der Tat ist
ob nicht die Bierstube das Authentische ist
und das Meer nur ein Vorwand
Wie Rimbaud, mit dem ihn nicht nur der Titel seiner Verssammlung Rimbaud als Kaufmann von 1985 verbindet, bringt Dinescu Bilderfluten und Assoziationsketten hervor, die allen Harmonisierungs-Tendenzen trotzen und sinnvoll nur im Hinblick auf die rigorose Befragung der zugrunde liegenden existentiellen Widersprüche sind.
Da kann es heißen: „Jetzt da ich in den tiefsten Süden der Konservenbüchsen verreise“, oder aber:
Die Lerche mit dem kleinen Reaktor im Kropf
könnte uns mit ihrem Trillern zum Himmel jagen
Die Metaphern stehen hart und befremdlich nebeneinander, und die Phantasie des Dichters kennt keine Grenzen und keine Tabus.
Dabei ist Dinescu alles andere als ein Aufklärer, ein Agitator des technischen Fortschritts. Das Ungestüm seiner revolutionären Kraft ist unverkennbar rückwärts gewandt … hin zu jener ländlichen Kultur, die Ceauçescu um jeden Preis hatte vernichten wollen. „Dörfer abreißen“, sagte der Dichter noch nach dem Tod des Tyrannen, „das ist noch schlimmer als Städte zerstören.“
Dinescus Surrealität, seine metaphorische Raserei, hat ihren tiefsten Grund in der Unlösbarkeit des Konflikts zwischen Natur und Technik, Land und Stadt, Tradition und Moderne, gläubigem Christentum und nihilistischer Wut.
Dieser Dichter, der einerseits ein enfant terrible und bewußter Bürgerschreck ist, macht andererseits eine tiefe Verbeugung, wenn er älteren Bauern die Hand gibt; und er bekreuzigt sich in aller Öffentlichkeit – aus einem religiösen Grundgefühl heraus, das in seinen Gedichten allerdings nur noch gebrochen zutage tritt, etwa wenn er klagt „im autofriedhof hab ich den engel rosten gesehen“ oder wenn er Gott mit einem Maler vergleicht, der im regenfeuchten September mit rheumatischer Hand die Schöpfung vollendet.
Mircea Dinescu entwickelte eine individuelle poetische Ikonographie. Er sprach den Trendsettern das Recht ab, ihn wegen seiner erfindungsreichen Bildersprache zu rügen:
der literaturkritiker wirft dem meer vor
es sei manieristisch
Und seine Modernität als Dichter erlangte er letztlich im ausdauernden Kampf mit den Objekten der Industriezivilisation. Gerade indem er sich kundig zeigte über das, was er ablehnte, gelang es ihm, seine Metaphern, die oft Flüche und Verwünschungen sind, in die Richtung zu schleudern, aus der er sich und die Werte seines Ursprungsmilieus bedroht sieht:
Bei uns auf dem Land ist es gut ist es schön
die Prinzipien sind ein bißchen älter geworden
dafür verjüngt Alkohol, den man mit Brot ansetzt
und den der Feldseher zur inneren Anwendung empfiehlt.
Bei uns ist der Kirchhof an die Landwirtschaft verscheuert worden
…
unsre Kleinen stehen mit Kannen vorm Fernseher
vielleicht gibt’s da irgendwann Milch…
Dinescus Utopie, sein psychischer Zufluchtsraum, ist nicht die klassenlose Gesellschaft und auch nicht die Konsum-Spielwiese des Westens, sondern es sind barbarische Tropenregionen, gottverlassene Himmelsstriche, die dem kolonialen Ostafrika Rimbauds ähneln, doch die trotz ihrer schäbigen Exotik zu belebenden Inhalten von Tagträumen werden:
WIE WÄR’S ?!
gebt mir eine provinzzeitung an die hand
und eine bretterbaracke mit schmutzigem firmenschild
und in drei tagen werden die städte nach vanille duften
und nach offenen häfen
Der Dichter, der sich selber in einem seiner Texte „eine Art Rimbaud“ nennt, würde sich am liebsten von einer Eidechse „ein paar nachhilfestunden im fach stille“ erteilen lassen. Das schlichte Dasein der Kreatur, nicht das überspannte Bewußtsein des spätabendländischen Menschen, ist sein Ideal. Und der Polizeistaat, in dem zu leben er gezwungen gewesen war, stellte für Dinescu gewissermaßen nur den zentralen Zellenblock eines gigantischen Gefängnisses dar, das bis in die letzten Winkel der Erde reicht… weswegen denn auch kein anderes Mittel bleibt als die Metaphysik halluzinierenden Protests:
leuchtturmkrank im viehtrog Balkan
wo das meer sogar im kneipenklo gluckert
mit einer zaunlatte zimmerst du dir ein schiff
mit einer mütze voll kürbiskerne wirst du zum handelsmann…
Doch wenn Dinescu auch rigoros diagnostiziert „man malte den Kranken Salbe auf den Schorfs, so erscheint ihm die Absurdität menschlichen Daseins letzten Endes nicht als gesellschaftspolitisches Fiasko, sondern als trivialisiertes Menetekel:
DIE KATZE UND DER TOD
Nur die Katze versteht das Pfeifen im Ofen
sie geht hinaus und erzählt die Geschichte dem zerbeulten Ofenrohr
dann entziffert sie die Hieroglyphen des Mäuschens
ausgiebig gähnt sie
und verschluckt das Haus, den Glockenturm, das Stadtviertel
dann schlägt sie die Augen auf und erfindet uns allesamt neu.
Nur der Priester verweilt noch ein bißchen in ihren gelben Pupillen:
Er geht weg und sieht nach
ob er nicht vielleicht irrtümlich
eine Alte eingesperrt hat in der Kirche
Angewidert von einer Welt, die Dörfer planiert und Landschaften mit Beton versiegelt, versucht der konservative Revolutionär Mircea Dinescu einen letzten Abglanz von Naturschönheit und Religiosität in seine magischen Gedichte zu retten.
Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation in: Stuttgarter Zeitung, 19.10.1990. Hier in Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens. Essays über 33 Schlüsselfiguren der Moderne, Wallstein Verlag, 2008 revidiert.
Politische Weltereignisse dichterisch zu „gewältigen“, bedeutet seit Goethe eine große Herausforderung und stellt vielleicht die schwierigste Aufgabe der Literatur dar. Mehr als in der Zeit der Französischen Revolution deutet diese Auseinandersetzung in unserem Jahrhundert auf ein gespanntes, ja tragisches Verhältnis zur Geschichte, zumal wenn die Dichtung Einfluß auf die Geschehnisse nehmen will.
I.
Bekanntlich machen Revolutionen keine Dichter. Diese gängige Feststellung hat jedoch im Falle Mircea Dinescus einen besonderen Sinn: Es war fast ein Zufall, daß seine Dichtung kurz vor der Revolution und besonders anläßlich der politischen Umwälzung in Rumänien überall im Westen bekannt wurde. Seit gut zwanzig Jahren gilt der Autor des Exil im Pfefferkorn (Suhrkamp 1989) als eine der bedeutsamsten Persönlichkeiten in der rumänischen Lyrik der Gegenwart. Die Literatur dieser Jahre in Osteuropa, die Poesie von Dinescu insbesondere, haben von der Revolution „profitiert“: Sie sind, wie der Dichter selber sagte, „auf die Straße gegangen“ und erlebten damit einen Grenzzustand, der für die politische Lage der ehemaligen Ostblockstaaten eminent charakteristisch ist.
Geboren in der südrumänischen Stadt Slobozia, steht Dinescu seit Jahren mit seiner Person und seinem Werk für die Werte der bürgerlichen und der intellektuellen Freiheit. Als Gegner der Diktatur riskierte er mehrfach sein Leben bis zum 22. Dezember 1989. An jenem Tag war Dinescu derjenige, der dem Volke im rumänischen Fernsehen die Freiheit verkündete:
Der Tyrann ist gestürzt! Das Volk hat gesiegt! Rumänen, wir müssen das Schicksal in unsere Hände nehmen! Gott hat uns geholfen.
Seit seinem Debüt im Jahre 1971 mit dem Buch Anrufung an niemand hat Mircea Dinescu mehrere Gedichtbände veröffentlicht, unter anderen – Elegien (1973), Der Besitzer der Brücken (1976), Terror des Anständigseins (1980), Die Demokratie der Natur (1981), Exil im Pfefferkorn (1983), Rimbaud der Händler (1985), Der Tod liest Zeitung (1990). Das Enfant terrible der rumänischen Dichtung, wie er vor Jahren genannt wurde, erhielt mehrere Male den Preis des rumänischen Schriftstellerverbandes, 1978 den Eminescu-Preis der Rumänischen Akademie, 1989 den Poetry International Award der gleichnamigen holländischen Stiftung und ebenfalls den Förderpreis für Literatur des Bertelsmann Buchclubs 1990.
In unserem Jahrhundert ist die politische Dichtung überall in Europa zu einer dominierenden Gattung geworden. Allzu oft aber bleibt innerhalb dieser Gattung bei der Betonung des Politischen die Poesie auf der Strecke. Nicht so bei Dinescu. In seinen Gedichtbänden – etwa in Exil im Pfefferkorn – neigt die Dichtung nie dazu, ein bloßes politisch-soziales Instrument zu werden, im Gegenteil: Das politische Anliegen wird durch die Magie der Sprache, durch die reiche Einbildungskraft des Autors und manchmal auch durch die karnevaleske Struktur der Gedichte (die in der hervorragenden deutschen Übersetzung erhalten bleiben) in den Dienst der Dichtung gestellt. Infolgedessen geht die Bedeutung der Lyrik Dinescus über eine konjunkturelle weit hinaus. Es ist aufschlußreich, daß sich die Lektüre seiner Gedichte auch nach dem historischen Umbruch in Rumänien als genauso interessant erweist wie vorher, wenn nicht als interessanter. Die Gedichte Dinescus klingen und wirken jetzt, nach der Revolution, anders. Wir dürfen sie auch als Warnung verstehen – die „Pest“ (im Sinne von Camus) ist noch da, auch wenn sie sich tief in unserem Wesen versteckt – oder in einem ganz konkreten, auf die Ereignisse unserer Tage bezogenen Sinne: Wenn wir, Europäer, die Teilung unseres Kontinents äußerlich überwunden haben, wird uns diese Teilung innerlich noch lange zu schaffen machen:
Inchisorile au fost deschise
dar din ele nimeni n-a ieșit,
unii chiar s-au spînzurat de vise
alții chiar s-au îngropat în zid.
(…)
Cine mă așteaptă nu m-așteaptă
omul viu din mine-i asfințit
raza cade rîncedă nu dreaptă
lacrima nu-i apă ci cuțit.
(„Cintec de lampă stinsă“, 1983)1
Der neu erschienene Band Ein Maulkorb fürs Gras (Amman Verlag, Zürich 1990) ist ein eloquentes Beispiel dafür, daß die Poesie von Mircea Dinescu keine „konjunkturelle“ Dichtung ist. In ihrem Kern weilt wie ein Memento der Gedanke, daß die Geschichte und die Zivilisation unserer Zeit ein schweres Erbe für das kommende Zeitalter sind.
chipul zeilor demult s-a retras
pe eticheta cutiilor de conserve,
a mai rămas doar ceata bătrînilor
sa urmărească o biserică fardată prin ploaie
și delicata mașinărie a florii soarelui
să uruie pe colină la nesfîrșit.
Noi stăm inghesuiți cu vitele pe cîmp
și parcă pacheboturi elegante
pe care nervii mării nu le mai suportă
plutesc prin lanurile verzi lăsînd
doar urme de petrol și de petreceri.
Astfel ca niște pești fricoși pîndim
sub paradisul curgător frînghia
ce-o să ne salte și pe noi pe punte.
Dar nu-i nimic:
o altă lume trece
prin dreptul altei lumi și nu se-ating.
(„Pești“, 1976)2
Als Dichter, als Dissident und – besonders nach der Revolution – als prominentes Mitglied des Rates zur Nationalen Einheit hat Dinescu natürlich eine wichtige politische Rolle gespielt. Damals war er noch Parlamentarier, und in den ersten Tagen der Revolution hätte er auch mit dem Gedanken liebäugeln können, auf Dauer ein politisches Amt zu übernehmen. Politische Tätigkeit im Sinne eines Havel oder Szczypiorski ist aber nicht Dinescus Sache. Er hat sich schon im Frühjahr vergangenen Jahres von der aktiven Politik zurückgezogen (zur Zeit bekleidet er nur das Amt des Präsidenten des Schriftstellerverbandes), nachdem er Anfang 1990 aus der Front zur Nationalen Rettung ausgetreten war, weil sie zu einer Partei geworden war. Diese Entscheidung ist nicht allein damit zu erklären, daß die politische Entwicklung in Rumänien nach der Revolution dem Dichter eine gewisse Enttäuschung bereitet hat. Dinescu war und ist der Auffassung, Schriftsteller sind nicht immer (oder nur sehr selten) auch gute Politiker. Ein Dichter, meinte er, muß unabhängig sein, und er sollte Oppositioneller bleiben. In einem Gespräch, das er vor einem Jahr hier in Augsburg geführt hat, sagte Dinescu:
Eugene Ionesco hat mich für den Nobelpreis vorgeschlagen, und diese Tatsache hat mich wieder mit meinem einfachen Verlangen, bloß Dichter zu sein, konfrontiert.
Dinescu fehlt aber keinesfalls der echte politische Instinkt, im Gegenteil. Seine politischen Meinungen stellen nicht nur genau und tiefsinnig die komplizierte sozial-politische Lage seines Landes dar, sondern haben manchmal einen Hauch von Prophetie: „Allgemein gesagt“ – meinte er im oben erwähnten Gespräch – „die Rumänen sind Leute, die sich gut an die Realitäten anpassen. Daher kommt unsere Öde und unser Elend, weil die Rumänen sich ziemlich gut an die Diktatur angepaßt haben. Und meine Befürchtung ist: Wir haben 45 Jahre den Kommunismus vorgetäuscht, der in unserem Lande nicht existiert hat, und wir sollten nicht von heute an die Demokratie vortäuschen“.
Europäischer Dichter ersten Ranges, denkt Dinescu in neuen europäischen Kategorien und dadurch nicht zuletzt an das Geschick und an die kulturelle Bestimmung seines Landes:
Nur im Rahmen einer aktiven und vielfältigen Zusammenarbeit auf europäischem Niveau können wir unsere Isolierung überwinden und unseren Beitrag zur allgemeinen Kultur und Zivilisation leisten.
II.
Zufall oder nicht, Exil im Pfefferkorn beginnt mit dem Gedicht „Troubadour“, in dem der Dichter sich als „monstrum, das sich von den lilien nährt“ bezeichnet; daher die Frage, die er stellt:
ihr da unten, sagt mir: was hört sich,
sind wir tot oder leben wir noch?
Zufall oder nicht, wird Ein Maulkorb fürs Gras mit der „Ballade vom Verlorensein“ eröffnet, deren letzte Strophe lautet:
Mütterchen, in die Braut leg noch Glut
und wein schon, weil ich singen werde;
feiern solln sie alle frohgemut.
Ich verspäte mich noch in der Erde.
Aus der Perspektive des ganzen Werkes von Dinescu könnte man behaupten, daß „Troubadour“ und die „Ballade vom Verlorensein“ den Bedeutungshorizont sowie das Metaphernsystem der beiden Bände bestimmen und zugleich auf zwei Zentralthemen – Dichtung/Dichter und Tod – einerseits aufmerksam machen, andererseits auf ein Hauptcharakteristikum dieses Werkes: die Themenverschmelzung. Die Akzente werden aber in „Troubadour“ anders als in „Ballade vom Verlorensein“ gesetzt: Die thanatische Nebenbedeutung des ersten Textes tritt im zweiten in den Vordergrund, wobei das Dichterische nur ein thematischer Hauch bleibt.
Die Themenverschmelzung hat bei Dinescu auch einen weiteren Sinn: Zeitlich gesehen, entwickelt sich seine Dichtung „organisch“, es gibt in ihr ein Zusammenwachsen der Themen, auch wenn man nicht von deren „Egalisierung“ sprechen kann.
Sorin Alexandrescu3 hat die Theorie aufgestellt, im Werk Dinescus gebe es drei Reservationen: die ästhetische, die ethische und die politische. Die Entwicklung des Dichters erinnert somit an die von Kierkegaard beschriebenen Stadien. Näher betrachtet kann aber diese Theorie nicht stimmen. Sorin Alexandrescu schreibt: „Dinescu ist längst aus der Reservation des Ästhetischen entflohen“, und weiter – „1988 überschreitet Dinescu den Rubikon, verläßt die Reservation des Ethischen und tritt in die Welt des Politischen hinein. Seine Aussagen im Moskauer Rundfunk und bei einem Kongreß in Berlin sind keine literarischen, sondern politische Taten.“4
An dieser Stelle verläßt Sorin Alexandrescu selbst den Bereich der Dichtung, auch wenn er Moartea citește ziarul meint. Dieser Band sei laut Sorin Alexandrescu, „ein Pamphlet, in dem die Metapher zu verschwinden neigt, und dies zugunsten der direkten und brutalen Ausdrucksweise.“ Eine solche konjunkturell bedingte Absicht bedarf des Widerspruchs. Tatsache ist, daß Mircea Dinescu, seit dem Der Tod liest Zeitung eine breite europäische Öffentlichkeit erreicht hat und besonders nach der Revolution, immer wieder den Eindruck machte, daß die einzige „Reservation“, die er verlassen will, die des Politischen ist, im Sinne einer Rückkehr des Dichters zu seinem eigenen Werkzeug. Außerdem ist Der Tod liest Zeitung kein Pamphlet: Fast zwei Jahre nach der Revolution hat er gar nichts von seinem poetischen Wert eingebüßt, auch wenn seine politische Brisanz geringer sein mag. Weit davon entfernt, zum Verschwinden zu neigen, hat hier die Metapher im Vergleich zu anderen Gedichtbänden an Konsistenz und Stärke gewonnen. „Haplea“ („Nimmersatt“) oder „Cina cea de taină“ („Das letzte Abendmahl“) sind gute Beispiele unter vielen anderen:
Sub pielea mamei ascuns
Copil de clopotniță
aștept îngerul morții cu lesă si botință
să mă preschimbe-n piatră de sare linsă de oi…5
Moartea citește ziarul bezeugt vielleicht am deutlichsten unsere Bemerkung über das „Organische“, über das Zusammenwachsen der dichterischen Themen bei Dinescu. Als ob die Dichtung sich hier „verteidigen“ wolle, da die Äußerlichkeit des Politischen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich lenkt, sucht sie das notwendige Gleichgewicht in der Innerlichkeit eines alten Themas, nämlich des Todes, indem sie ihm eine größere Bedeutung als vorher beimißt.
Wie bei anderen wichtigen Dichtern gibt es also bei Dinescu keine „Grenzen“ zwischen den poetischen Themen. Hin und wieder kommt es zu einer Themenverschmelzung Liebe/Politik, Dichtung/Tod, Politik/Tod, Liebe/Tod. Ein „Blaues Herzelied“ wandelt sich in ein „Herzeleid“ und wird zu einem Todeslied. Das alte Bild des Poeten – er wurde, wie bereits gesagt, als „enfant terrible“ oder als „fröhliches Wunderkind“ der rumänischen Dichtung gesehen – erweist sich jedoch als fragmentarisch oder sogar als falsch.
In den Gedichtbänden Dinescus sind unter anderem die zahlreichen Texte auffällig, die entweder als ars poetica bewertet werden könnten oder sich das Dichten zum Thema machen. Der Dichter spricht aber nicht nur von einer „ars poetica“, sondern auch von einer, wie er es nennt, „artă de a muri“ – „ars moriendi“ und dementsprechend zeigt er eine offensichtliche Vorliebe für das Thema Tod. Der Tod ist aber bei Dinescu, wie bei seinem großen Vorgänger Mihai Eminescu, nicht unbedingt eine unheimliche sondern eher eine vertraute Präsenz. In zwei Gedichten, zwischen denen fast zwei Jahrzehnte liegen, begegnet uns der „tagtägliche Tod“, wie wir es bezeichnen würden, ein „Doppelgänger“ des Dichters:
Oh, din oglindă moartea mă imită
[der Tod äfft mich im Spiegel nach]
(„Lentilă“ / „Linse“, 1973)
und
Imi lipsește sărutul acela tîrziu
de femeie dormind în păpușă
nu-mi lipsește în schimb mortul meu străveziu
mortul meu de la ușă.
(„Ușa cu mort“, 1989/1990)6
Infolgedessen sollten wir den Tod bei Dinescu nicht als bloßes dichterisches Thema betrachten, sondern, wiederum wie im Werke Eminescus als einen integrierenden Bestandteil seiner Welt, sowie als eines der Fundamente seiner poetischen Schöpfungsvision. Die literarische Verwandtschaft zwischen den beiden Dichtern begrenzt sich also nicht auf Äußerlichkeiten (Klang, Rhythmus, d.h. Musikalität, auf die Tatsache, daß der dichterische Satz Dinescus hin und wieder auf eine Eminescusche Art und Weise lautet) und geht weit über das thematische Niveau hinaus. Man könnte von einer verwandten Weltanschauung, von einer ähnlichen Auffassung des Todes sprechen. Die moderne Dichtung, angefangen mit Baudelaire, neigt zu einer symptomatischen Verinnerlichung des Todes, die unter den europäischen Autoren des 19. Jahrhunderts vielleicht bei Eminescu am vielfältigsten illustriert wird.7
Im Werke von Dinescu begegnen wir mehrere Male der von John E. Jackson auf Baudelaire bezogen „identification du je à la mort“:8
Oh, în oglindă moartea mă imită;
Traficant al propriei mele morți
[Schwarzhändler meines eigenen Todes bin ich]
(„Titanic vals“ / „Tanz auf der Titanic“, 1981)
oder
sînt mai sărac acuma cu o moarte
dar mai bogat am fost vreodată oare?
[Jetzt bin ich ja um einen Tod ärmer
war ich wohl aber reicher irgendwann?]
(„Eu n-am pornit cu scîndura pe mare“ / „Ich bin aufs Meer auf einem Brett nicht gefahren“, 1972/1975)
Zugleich bemerken wir jedoch – unerwartetes Pendant – eine Spaltung dieser ungewöhnlichen Einheit Mensch/Tod:
Moartea mea se plimbă fără mine
[Mein Tod geht ohne mich spazieren]
(„Aer“ / „Luft“, 1985)
Es ist ebenfalls interessant zu sehen, wie Dinescu die bekannte Eminescusche Metapher „der Tod als Engel“ („Moartea vi s-a părea un înger cu părul blond și des“ – „Der Tod würde euch als Engel mit blondem dichtem Haar erscheinen“) übernimmt und ihr aufgrund seiner existentiellen Erfahrung in einer totalitären Gesellschaft und im Sinne seiner karikierenden Neigung eine andere Bedeutung verleiht: Der Tod ist, kann keine Erlösung mehr sein, zumal sein Jenseits sich als eine Mischung von Hölle und Paradies erweist:
Sub pielea mamei ascuns
copil de clopotniță
aștept îngerul morții cu lesă și botință,
să mă preschimbe-n piatră de sare linsă de oi,
intr-un blid cu apă calduță,
dați-mi scara să urc in maimuță,
sau dați-mi funie
să mă preling la Duhul sfînt în cuhnie
să văd cum își gătește bucatele –
Atoatele,
cum împarte cu satîrul sfințit
trupul meu murat în asfințit.
(„Cina cea de taină“, 1989/1990)9
Jener „parcam murit de mult“ („als wär’ ich längst gestorben“) von Eminescus „Melancolie“ („Melancholie“) taucht somit bei Dinescu wieder auf. Diesmal spricht aber im Horizont des Textes kein „fremder Mund“ („străină gură“), sondern die beinahe vertraute Stimme des Todes als Doppelgänger, in der der Vers „Viața mea e cimitir“ („Mein Leben ist Friedhof“) aus einer Variante der „Melancolie“ leise zu hören ist:
Surioară rîmă, frate vierme,
nu văzurăți trupul meu pe-aici?
– Cum să ṇu, doar l-a-mpărțit la ferme
Moartea chiuind pe cataligi.
(Prea înaltei noastre proprietărese, pentru
o mai dreaptă impărțire a trupului, 1985)10
Das Gedicht, aus dem wir bereits zitiert haben, wie andere Texte auch („Cronica prințului din furnicar scrisă de el însuși“ – Die Chronik des Prinzen von Ameisenhaufen von ihm selbst geschrieben, „Convertirea nebunului“ – Die Bekehrung des Narren), erinnern an Baudelaires „Une Charogne“ und „Cînd te-am văzut, Verena“ (Als ich dich sah, Verena) von Eminescu, sowie an die Bemerkung Walter Benjamins – „die barocke Allegorie sieht die Leiche nur von außen. Baudelaire sieht sie auch von innen“11 – eine Bemerkung, die für das Verständnis der modernen Lyrik von besonderer Bedeutung ist.
Aus dieser Perspektive des Lebens/Todes wirken solche Bilder nicht mehr fremdartig:
La o masă umblătoare
la un vin ce nici n-a fost
stau cu moartea-ntre pahare
chefuind în zi de post.
(„Astăzi nu“, 1983)12
In „Femeia?… măr de ceartă“ (Die Frau?… Zankapfel) war der Tod für Eminescu „dulce amică“ („süße Freundin“). In einem ähnlichen Sinne – da der Tod auf rumänisch eigentlich Frau Tod ist – erscheint er bei Dinescu als „Wirtin“ und „Vermieterin“, als „Vamp“ und auch als vermeintliche „Geliebte“. Man kann folglich mit der Frau Tod ein „Rendezvous“ haben, mit ihr liebäugeln, flirten, streiten oder auf sie schimpfen:
Veni moartea la mine. Grijania!
S-o valsez, s-o curtez. Urîtania!
Să-i sărut milionul de dește
să-i șoptesc in cercel frantuzește
s-o servesc cu pîinică de Spania.
Veni moartea la mine. Grijania!
(„Rendezvous“, 1989/1990)13
Anders als bei Eminescu – auch wenn Dinescu eine ähnliche Einstellung zur Natur hat wie der Autor von „Memento mori“, bei dem, laut George Călinescu die Natur „das Wachsen des Grases im Barte“ bedeutet und „das Zusammenfließen der Reiche“14 – hat hier der Tod die Initiative und dies, überraschenderweise, fast überall im Werke unsesres zeitgenössischen Dichters wie z.B. in einem „Lied des ermüdeten Goldgräbers“:
tînjesc pe piept să-mi inflorească izma
și moartea să mă-nbie Ja un flirt.
(„Cintecul obositului căutător de aur“, 1983)15
Da die Begegnung mit dem Tode ein „Rendenzvous“, ein „Stelldichein“, ein „Flirt“ ist könnte diese Vertrautheit mit ihm für den „Transfer“ der Eigenschaften von einem zum anderen (d.h. auch für die „Vermenschlichung“ des Todes) als verantwortlich verstanden werden:
Oh, din oglindă moartea mă imită
oder
surîsul meu aproape necrofor
[mein Lächeln – wie des Totengräbers]
(„Joc de noroc“ / „Glücksspiel“, 1989/1990)
Die poetische Welt Dinescus ist von sonderbarer Wesen „bevölkert“: die Pferde weiden Fische, die Fische fressen Pferde, die Musikinstrumente begatten sich wie brünstige Elefanten, die Kühe weiden Halsschellen oder Manuskripte, die Rentiere blühen wie Flechten auf, die Kirche trägt Gummischuhe und Mütze, der Tod liest Zeitung usw. In dieser Welt in der „der Sarg in die Ähren schießen“ kann, sind die Toten lebendig, und die Lebenden wirken manchmal wie die Toten:
In gangul acesta un mort,
chiar un mort
a schimbat
lîna de aur pe votcă.
(„Lîna de aur“, 1989/1990)16
Eine völlig subjektive und zugleich für die Mentalität seines Volkes eminent repräsentative Einstellung gegenüber dem Tode begegnet uns bei Dinescu bereits in einem Jugendgedicht – „Baladă de pierdere“ („Ballade vom Verlorensein“, 1971) –, das als eine Replik zu der berühmten Volksballade „Miorița“ („Mioritza“) betrachtet werden kann. Das zentrale Element des Textes ist, wie in der Volksballade auch, die Allegorie des Todes als Hochzeit. Unabhängig davon, daß sie in unterschiedlichen Formen auch in der Volksdichtung anderer Länder (Griechenland, Rußland, Frankreich, Albanien) zu finden ist, bleibt diese Allegorie jedoch charakteristisch für die Weltanschauung des rumänischen Volkes, zumal Miorița – von vielen Exegeten (darunter Mircea Eliade, Leo Spitzer, Lorenzo Renzi) als Meisterwerk der europäischen Volkspoesie gesehen – verleiht ihr eine außergewöhnliche literarische Ausdruckskraft.
Die „Hauptpersonen“ von Miorița sind ein wunderbares Schaf und der moldauische Schäfer. Das Schaf offenbart ihm, daß zwei andere Schäfer ihn aus Habsucht umbringen werden. Da ihm diese Gefahr unabwendbar scheint, akzeptiert er sein Schicksal voller Resignation und erwidert nur, das Schaf müsse seiner Mutter sagen:
Că m-am însurat
C-o mindră crăiasă
A lumii mireasă,
Că la nunta mea
A căzut o stea;
Soarele și luna
Mi-au ținut cununa;
Brazi și păltinași
I-am avut nuntași
Preoți, munții mari,
păsări, lăutari
Păsărele mii
și stele făclii.17
Es wurde viel über den Fatalismus des moldauischen Schäfers sowie über seinen Heldenmut geschrieben. In „Les Légendes du Nord“ war Jules Michelet der Meinung, der Schäfer habe keine Angst vor dem Tode, „er heiratet gerne die Verlobte der Welt“, um in die Natur zurückzukehren. Für Mircea Eliade spielt der Schäfer in Miorița eine demiurgische Rolle: Er verwandelt ein unglückliches profanes Geschehnis in einen heiligen Vorgang.
Bei Dinescu, in „Baladă de pierdere“, finden wir die wichtigsten Mitwirkenden und Zeugen des Dramas wieder: die Mutter, den Mond, den Berg, die pflanzliche Welt, die Braut-Tod und, natürlich, die lyrische „Hauptperson“, und ebenfalls die bedeutenden lyrischen Zustände und „Handlungen“, die die Struktur von Miorița bestimmen:
1. die „Hochzeit“ –
îmi caut trupul de peste munte
voalul miresei l-o fi orbind
(…)
sadă cu toții veseli la masă…;18
2. das allegorische Begräbnis –
tînjesc departe și nu am casă
piatra-nflorește dinspre genunchi
(…)
șădă cu toții veseli la masă
eu mai intîrzii pe sub pămînt;19
3. das Verschmelzen mit der Natur –
piatra-nfloreste dinspre genunchi
(…)
să ardă blonzii, blonzii salcîmii
voi fi prin sînge fratele lor;20
4. das „Testament“ der lyrischen „Hauptperson“ (wie in Miorița sagt sie, was ihre letztwillige Verfügung ist) –
să ardă blonzii, blonzii salcîmii
(…)
dar pune, mamă, jar în mireasă
plîngi de pe-acuma, căci am să cînt,
șadă cu totii veseli la masa
eu mai intîrzii pe sub pămînt;21
5. das Weinen der Mutter.
„Baladă de pierdere“ ist keinWarten auf den Tod, der Tod ist da (überall, scheint Dinescu an dieser Stelle zu sagen, wie in anderen Texten auch), diesmal nicht als „Doppelgänger“: Hier gibt es eine tiefe Übereinstimmung mit der Natur, eine innige Bereitschaft sich in ihr aufzulösen – daher das ruhige Akzeptieren dieses Endes, das nichts mit Fatalismus zu tun hat.
Wie so viele andere Übersetzungen, verliert die deutsche Fassung ausgerechnet in dieser „Ballade vom Verlorensein“ etwas vom Sinne des Originaltextes: Das Substantiv „pierdere“ behält die Erinnerung an das gleichlautende Verbum, drückt aktiv eine Bewegung, ein „pierdere“, das des Selbstverlierens aus; eine Regression ins Nichtsein, deutet auf den Weg zum Jenseits. Das „Verlorensein“, auch wenn es eine verbale Herkunft hat, schildert eher statisch eine Lage. Es ist wichtig, daß wir, um die Feinheiten dieses Gedichtes nicht zu übergehen, nicht ganz der Übersetzung, sondern dem Originaltext folgen:
îmi caut trupul de peste munte –
voalul miresei l-o fi orbind
[ich such’ meinen Leib von jenseits des Berges
macht ihn wohl der Brautschleier blind]
Vom Jenseits gesehen, befindet (befand) sich „trupul de peste munte“ im (ehemaligen) Diesseits, anders gesagt, weilt der Tod nicht nur im Jenseits, sondern auch im Diesseits; er lauert, könnte man sagen, in allen Ecken der dichterischen Welt Dinescus: im Haus wie im Teig, in den Pflanzen, wie in den Tieren, in der menschlichen Seele, wie im Gedicht: Daher die überraschende „Definition“ in „Soră și frate“ („Schwester und Bruder“, 1989/1990):
Instrument cețos cu coarde
și burdufuri și pedală
moartea vine și se-mparte
fiecaruia egală22
Diese „Vertrautheit“ mit der Frau-Tod, die zugleich mehr und weniger als jene Verinnerlichung des Todes in der modernen Dichtung, angefangen mit Baudelaire und Eminescu, ist, führt bei Dinescu in Moartea citește ziarul zu einer Verallgemeinerung des Todes (der Tod ist eine innere aber auch eine äußere, konkrete, überwältigende Präsenz), wie in „Dans“ („Tanz“, 1989/1990):
Moartea în stradă citește ziarul
așezat pe fața cerșetorului mort
moartea în cîrciumă-si umple paharul
moartea-i pe cîmpuri, moartea-i in cort23
oder in „Moartea s-a suit pe casa noastră“ („Der Tod ist uns aufs Haus gestiegen“, 1989/1990):
Moartea s-a suit pe casa noastră
pune țiglă și cîrpește fumul
zice aluatului trei vorbe și fudulul crede și se umflă
și vițelu-abia fătat
îi linge
sarea caldă din sudoarea palmei
și cimpoiul ce pastrează-n burtă rasuflarea mea
parcă se umple de-o mireasmă necîntată încă
moartea s-a suit pe casa noastră
moartea s-a suit pe casa noastră24
In derartigen Texten, in denen das Politische selbst an metaphysischer Substanz gewinnt, geht es vor allem um einen geistigen Tod, einen Tod zu dem damals der Totalitarismus ein ganzes Land verurteilt hatte. So findet wieder eine Themenverschmelzung statt; diesmal wird das Todeslied zu einem politischen Gedicht:
O, dans al morții, clatină-ți lanțul
sclav muzical, fericit instrument…
Prin carnea noastră umblă Bizanțul
ba Europă, ba Orient.
(„Dans“)25
Und in diesem Sinne der Verallgemeinerung des Todes läßt sich auch der Titel des Gedichtbandes Moartea citește ziarul deuten, sowie die Metapher die er enthält.
Auf diese Art und Weise kommen wir zu unserer anfänglichen Bemerkung über die zwei Zentralthemen von Dinescu zurück: Dichtung/Dichter und Tod. Die Verschmelzung der beiden Themen veranlaßt ihn, mit der Dichtung, wie auch mit dem Tode, hart ins Gericht zu gehen:
Ce faci tu, literatură?
(…)
urci in turnul primäriei
și-arunci
un pumn de mei în calea îngerilor apocaliptici
și nu vezi în curtea interioară
criminalul cum iși gîdilă victima
și mortul ticăloșit cum îi face jocul și rîde
cum rîde mortul complice
mortul degeaba
mortul fățarnic al acestor tinuturi.
(„Mortul fătarnic“, 1989/1990)26
„Mortul complice“, „mortul fățarnic al acestor ținuturi“ ist nicht nur der geistig gestorbene Komplize des Kriminellen (Diktators usw.) sondern auch die Dichtung, die auf die innige Begegnung mit den Opfern dieser Welt verzichtet. Stellt Dinescu somit den „Tod“ der Literatur bereits fest? Als Antwort stehen uns seine Gedichte zur Verfügung. Ein Dichter, der leidenschaftlich, erbarmungslos, voller Achilleszorn über die Dichtung schreibt, ist dazu auserkoren, ihre soziale und ästhetische Würde zu bewahren.
Ioan Constantinescu, aus Ioan Constantinescu, Henning Krauß und Klaus P. Prem (Hrsg.): Mircea Dinescu – Dichter und Bürgerrechtler. Neue Gedichte, Dokumente, Analysen, Dr. Bernd Wißner Verlag, 1992
Henning Krauß, aus Ioan Constantinescu, Henning Krauß und Klaus P. Prem (Hrsg.): Mircea Dinescu – Dichter und Bürgerrechtler. Neue Gedichte, Dokumente, Analysen, Dr. Bernd Wißner Verlag, 1992
Der 39jährige Lyriker Mircea Dinescu ist zu einer Leitfigur der rumänischen Revolution geworden. Auch nach dem Sturz Ceaușescus steht er so inmitten der politischen Ereignisse, daß er erst jetzt zu einer ersten Lesereise ins Ausland – in die Bundesrepublik – aufbrechen konnte. Doch auch die muß kurzfristig umdisponiert werden, da ihn politische Aufgaben am 11. April nach Bukarest zurückrufen. (…) Wie Dinescu beim Münchner Start seiner Tournee am Wochenende im Gespräch betonte, wollte er auf seinen Besuch in Augsburg nicht verzichten. Zur aktuellen Lage in Rumänien äußerte sich der Dichter skeptisch: „Heute sind alle Dissidenten“, meinte er und fügte in Anspielung auf eine alte rumänische Redewendung hinzu: „Wir sind wenig gewesen, und jetzt sind wir viele geblieben.“ Nachfolgend das Interview im übersetzten Wortlaut.
Ioan Constantinescu und Hans Krebs: Vargas Llosa Präsidenten-Bewerber in Peru, Vaclav Havel Staatspräsident in der Tschechoslowakei, Szczypiorski Abgeordneter im polnischen Parlament. Sie selbst ein Hauptverantwortlicher der rumänischen Revolution: ist die Politik, die umgestaltet, Sache der Dichter geworden?
Mircea Dinescu: Die politische Stellung vieler Persönlichkeiten in Osteuropa ist, würde ich sagen, ein wenig… zu romantisch, sie ist ähnlich irgendwie mit der politischen Lage im Jahre 1848, in einer Zeit, als die Dichter Führer der Revolution waren. Dies ist – auf unsere Epoche bezogen – eine glückliche und zugleich eine unglückliche Angelegenheit. Einerseits glücklich, weil die falschen Politiker überall in Osteuropa durch markante Persönlichkeiten, durch Intellektuelle von Beruf ersetzt wurden (und werden). Andererseits unglücklich weil, wie soll ich sagen: Ich weiß nicht, was für literarische Werke Llosa als Präsident von Peru schreiben wird. Ich erinnere mich, daß Vaclav Havel vor etwa einem Jahr sagte, er wolle sich aus dem politischen Leben zurückziehen, um ein Theaterstück zu Ende zu bringen. Ich habe das Gefühl, dieses Stück ist nach wie vor unvollendet geblieben.
Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage: Seit mehr als drei Monaten, seitdem die Revolution angefangen hat, bin ich zu einer Art Politiker geworden, und dabei denke ich nostalgisch über die Hausarrest-Zeit, als ich Gedichte schrieb und an Gott in Ruhe dachte, als ich nicht von Journalisten und auch nicht von Freunden bedrängt wurde. Zur Zeit ziehe ich einen Politiker, der schöne Literatur liest und Gedichte schreibt, einem Dichter vor, der Politik betreibt. Es gibt leider in der Geschichte Rumäniens viele Beispiele, die zeigen, daß die Schriftsteller keine guten Politiker gewesen sind. Ich beziehe mich auf Nicolae Iorga und…
Constantinescu und Krebs: Sie zählen auch Goga dazu?
Dinescu: … ja, und auf Octavian Goga, der in den 30er Jahren als Premierminister für seine Rechtspartei Politik betrieben hat. Sicherlich hat die damalige politische Lage nichts mit der jetzigen zu tun. Ich bin jedoch der Meinung, daß der Dichter in der Opposition bleiben, daß er keine Politik betreiben sollte. Sokrates hatte wohl recht: „Die Dichter sollten letztendlich aus der Polis vertrieben“ und zum Schreibtisch zurückgeschickt werden!
Constantinescu und Krebs: Llosa, Szczypiorski sind Romanciers, Havel ist Dramatiker, Sie sind Lyriker. Das macht in der Wirksamkeit einen erheblichen Unterschied. Entspricht Lyrik in besonderer Weise einer Tradition der engagierten Literatur in Rumänien?
Dinescu: Ich habe angefangen, politische Gedichte zu schreiben, einfach so, ohne mir dessen bewußt zu sein, d.h. auf eine Art wie Molières Monsieur Jourdain Prosa „machte“. Ich wollte Liebesgedichte schreiben, aber die Wut hat mich gepackt, Wut in bezug auf die sozial-politische Lage im Lande. Infolgedessen enthalten alle meine in den letzten Jahren geschriebenen Liebesgedichte politische Anspielungen. Ich bin zu einem Pamphletisten wider Willen geworden. Jetzt sehne ich mich nach einer Fahrt ins Grüne; ich würde gerne echte Liebesgedichte schreiben. All dies ist mir aber gegenwärtig nicht möglich: Die Dichtung ist auf die Straße gegangen, und ich bin dort geblieben, auf der Straße. Zur Zeit können wir nicht zum Schreibtisch zurückkehren.
Constantinescu und Krebs: Ihre politische Dichtung hat die historischen Ereignisse in Rumänien, von denen sie herausgefordert wurde, überlebt. Welche Rolle kommt dem Schriftsteller überhaupt in den neuen Machtverhältnissen zu?
Dinescu: Selbstverständlich wird auch die politische Dichtung allmählich, im Laufe der Zeit datiert werden können – und dies aus einem einfachen Grund: Nach einer bestimmten Zeit werden die Leser nicht alle Anspielungen erkennen können, wie es heute der Fall ist. Natürlich habe ich immer versucht, keine lokalisierte Dichtung zu schreiben. In meinen Gedichten beziehe ich mich auf die „Zelle“ dieses totalitären Gesellschaftstypus. Meine Texte gegen den Diktator paßten genausogut zu der damaligen politischen Lage in Bulgarien, in der UdSSR oder in Polen.
Constantinescu und Krebs: Nach dem Sturz des diktatorischen Regimes haben Sie behauptet, daß Sie keinen Ministerposten akzeptieren werden, solange es in der neuen Regierung kein Ministerium für Opposition gibt. Wie denken Sie jetzt über Ihre politische Verantwortung im Felde der konkreten Politik?
Dinescu: Ja, meine Frau hat mir vorgeschlagen, ich sollte nur den Posten des Ministers für Opposition akzeptieren. Zum Glück wurde dieses Ressort nicht vorgesehen. Ich will damit sagen, es wäre schlimm, wenn die Opposition auf diese Weise zu einer echten Institution geworden wäre. Zur Zeit gehöre ich noch zum Parlament und denke darüber nach, ob ich für das künftige Parlament kandidieren soll. Ich genieße eine große Popularität, ich denke mir aber, ich sollte vielleicht doch den Weg zu meinem Schreibtisch zurückfinden und in der Zukunft nicht als „offizielle“, sondern als Privatperson sprechen können.
Constantinescu und Krebs: Rumänien hatte bis zum Zweiten Weltkrieg eine interessante demokratische Tradition. Auf welche Art und Weise könnte sie heute im Verlauf der Umstrukturierung der rumänischen Gesellschaft nach der Revolution nützlich sein?
Dinescu: Man muß zugeben: In Rumänien gab es leider eine sehr lange Pause in Sachen Demokratie: 45 Jahre oder mehr sind eine unglaublich lange Zeit. Bei uns sind die demokratischen Instinkte, der Spürsinn für die echte Demokratie verschwunden. (…) Viele Leute im Lande glauben, daß die Freiheit dies bedeutet – auf die Straßen zu gehen und Steine in die Fenster des Parlaments zu werfen. Die Freiheit ist eine Sache, die gelernt werden soll, man erzieht im Sinne der Freiheit, man erlebt sie allmählich in der Tiefe des menschlichen Wesens. Die „Pause“ in Sachen Freiheit war zu groß. Es ist schon bewiesen: Drei Monate sind keine Zeit, die Freiheit wiederzuentdecken. Allgemein gesagt – die Rumänen sind Leute, die sich gut an die Realitäten anpassen. Daher kommt unsere Öde und unser Elend, weil die Rumänen sich ziemlich gut an die Diktatur angepaßt haben. Und meine Befürchtung ist: Wir haben 45 Jahre den Kommunismus vorgetäuscht, der in unserem Lande nicht existiert hat, und wir sollten nicht von heute an die Demokratie vortäuschen.
Augsburger Allgemeine, 2.4.1990
– Erfahrungen mit dem nach Bukarest zurückgekehrten Mircea Dinescu. –
„Soll ich den Leuten vielleicht Komplimente machen?“ meint Dinescu auf die Frage nach dem deutschen Publikum. Er habe „ein sehr gutes, ein herzliches Publikum“ angetroffen.
Die politische Dichtung ist wohl eine ,dialogisierte‘ Gattung. Ich suchte den Dialog, und ich habe ihn in München, Augsburg, Frankfurt, Heidelberg gefunden. Für mich ist das Publikum eben Dialog.
Was die deutschen Medien angeht, äußert sich der 39jährige in ähnlicher Weise; und dies ist offensichtlich der Ausgangspunkt für die ziemlich überraschende Aussage:
Wir werden versuchen, uns zu einer kulturellen Zusammenarbeit eher mit Deutschland als mit Frankreich zu orientieren.
Unter Bezug auf das Interview, das er Anfang April dieser Zeitung gegeben hat meint Dinescu:
Eigentlich interessiert mich die praktische Politik nicht so sehr. Als die Front der Nationalen Rettung zu einer Partei geworden ist, bin ich aus ihren Reihen ausgetreten. Ein Dichter muß unabhängig und er sollte ein Oppositioneller sein.
Bei aller Popularität, bei allem Vertrauen vieler Menschen ihm als Politiker gegenüber, sehne er sich doch zurück zu seinem Schreibtisch.
Eugène Ionesco hat mich für den Nobelpreis vorgeschlagen und diese Tatsache hat mich wieder – aber auf eine unerwartete Weise – mit meinem einfachen Verlangen, bloß Dichter zu sein, konfrontiert.
Doch diesem Verlangen steht der politische Skeptiker Dinescu selbst im Wege. „Es gibt bei uns“, sagt er, „eine große Schwierigkeit, für Schlüsselpositionen in Ministerien gut qualifizierte und zugleich moralisch unbelastete Leute zu finden. Diese Tatsache erklärt zum Teil, warum noch viele Parteifunktionäre solche Positionen innehaben.“ Die kleinen Mittäter des alten Regimes hätten eine „Mafia-Moral“, sie verrieten sich nicht untereinander. Eine fast metaphorische Bedeutung gibt er dem Satz:
Ceaușescu hat uns zwar keine Auslandsschulden, aber im Gegenzug viele, sehr viele Inlandsschulden hinterlassen.
Deutschland mißt Dinescu im Kontext der Einrichtung des europäischen Hauses eine sehr große Bedeutung bei. Dieses Land sei für viele Träumer aus dem Osten das Land unbegrenzter Möglichkeiten.
Ich glaube, Deutschland – und ich denke an ein Gesamtdeutschland – wird im nächsten Jahrhundert ein neues Amerika sein, aber nicht im Sinne eines Auswanderungslandes, weil in der Zukunft die Europäer keine Gründe mehr haben werden, ihre Länder zu verlassen.
Gern spricht Dinescu über den Schriftstellerverband, dessen Präsident er ist, und über die Konkurrenzsituation, in der sich Verlage und Publikationen des Verbandes befinden. Bei einem solchen Gespräch macht Prof. Bernd-Rüdiger Balda vom Augsburger Zentralklinikum einen mit Interesse aufgenommenen Hilfsvorschlag „in doppelter Richtung“: die deutschsprachige Zeitschrift Neue Literatur, in der auch rumäniendeutsche Schriftsteller aus der Bundesrepublik publizieren, hier zu drucken und gleichwohl am Anfang des Demokratisierungsprozesses einige Druckmaschinen nach Bukarest zu schaffen. Im eigenen Fachbereich gibt Balda, ohne anderen Entscheidungsgremien vorgreifen zu wollen, eine Partnerschaftsbeziehung zwischen dem Zentralklinikum Augsburg und der Universitätsklinik Parhon in Jassy zu bedenken. Sie könnte eine zwischen den Universitäten Augsburg und Jassy angestrebte Partnerschaft wirkungsvoll ergänzen.
Daß die Absicht besteht, Mircea Dinescu 1991 als Gastpoeten an die Augsburger Uni zu laden, nimmt der Dichter bei allen Unwägbarkeiten seiner politischen Zukunft mit zustimmender Freude zur Kenntnis. Sie entspringt seiner so einfachen wie tiefen Überzeugung:
Nur im Rahmen einer aktiven und vielfältigen Zusammenarbeit auf europäischem Niveau können wir unsere Isolierung überwinden und unseren Beitrag zur allgemeinen Kultur und Zivilisation leisten.
Ioan Constantinescu, Augsburger Allgemeine, 11.4.1990
Hans Krebs: Werner Söllner, Ihr exilierter Schriftstellerfreund und Übersetzer Ihrer Gedichte ins Deutsche, hat angesichts des fragwürdigen Machtwechsels Ceaușescu/Iliescu geschrieben, es sei niemand da, der den Rumänen die Last der Vergangenheit abnehmen könne. Und selbst ein oppositioneller Hoffnungsträger wie Dinu Patriciu sagt: „Wenn man 40 Jahre in Kafkas Schloß gelebt hat, überlebt das Schloß seine Zerstörung – in den Köpfen.“ Teilen Sie als ein tätiger Kollege Kafkas diese trostlose Einschätzung?
Mircea Dinescu: Die schmerzliche Realität in Rumänien ist, daß Todesangst jahrzehntelang die Bevölkerung gelähmt hat, daß es keine oppositionelle Bewegung wie die Charta 77 in der Tschechoslowakei oder Solidarnosc in Polen, sondern nur wenige Dissidenten gegeben hat. Und diese Dissidenten – drei, vier Leute – wurden von der Geheimpolizei isoliert. So habe ich zum Beispiel Doina Cornea und Dan Petrescu erst nach der Revolution kennengelernt. In Rumänien sitzen die Macht-Profis am Ruder. Zwar sind die wichtigsten Köpfe der Ceaușescu-Zeit weg, aber die Macht wurde von Leuten zweiter Kategorie übernommen. Die historischen Parteien, die 45 Jahre lang verboten waren, konnten keine Persönlichkeiten für eine richtige Opposition aufbieten. Der Sieg der „Front zur Nationalen Rettung“ unter Iliescu ist auch so zu erklären, daß die Köpfe der Opposition alte Leute sind, die keine echten Lösungen für den Systemwandel angeboten haben.
Krebs: Die Demonstranten auf dem Bukarester Universitätsplatz, für die Neue Freiheit nur an der Oberfläche besteht und die eine „Zweite Revolution“ fordern, wurden von Staatspräsident Iliescu als „Golani“ (Vagabunden) verdammt. Fühlen Sie sich als ein „Golan“?
Dinescu: Ich war gegenüber dieser Revolutions-Parodie skeptisch genug. Doch auf dem Universitätsplatz wurden viele schmerzliche Wahrheiten ausgesprochen; leider versäumte man, dafür eine gemeinsame Sprache mit den Arbeitern zu finden. Ich habe diese Intellektuellen damals Funktionäre des Protests genannt, Leute, die nicht daran gedacht haben, auch andere Schichten der Bevölkerung für ihre Demonstration zu gewinnen. Ein Ergebnis davon war die Tatsache, daß Iliescu die Bergleute nach Bukarest gerufen hat. Das war ein großer Fehler, der auf das Prestige Rumäniens für lange Zeit zurückschlägt. Wer die Klassen in einem Land verfeindet, kann nicht weiter dessen Präsident sein.
Krebs: Sie sind auch im Westen schlagartig bekanntgeworden, als Sie am 22. Dezember 1989 im rumänischen Fernsehen den Sturz Ceaușescus verkündeten. Wenn die fortgesetzten Gerüchte zutreffen, daß die Entmachtung des Conducators von langer Hand durch Iliescu, „Securitate“-Geheimdienst und Moskau vorbereitet und die Weihnachtsrevolution letztlich eine geschickte Inszenierung für das rumänische Volk und die Weltöffentlichkeit war, müßten Sie sich heute als Mitspieler, wenn nicht Opfer einer Farce sehen. Ist dem so?
Dinescu: Es wäre zugleich lächerlich, absurd und tragisch zu glauben, daß zwischen dem 19. und 23., 24. Dezember 1989 in Rumänien eine Farce inszeniert wurde. Das war ein Volksaufstand. Mehr als tausend Menschen sind gestorben, viele Tausende wurden schwer verletzt. Aber das, so scheint mir, ist hier im Westen vielen Leuten enttäuschend wenig. Die Gerüchte, daß die Revolution eigentlich nur eine Inszenierung von KGB und „Securitate“ war, wurden von diesen Geheimdiensten in die Welt gesetzt. Wir, die wir gekämpft haben, wissen es besser. Wir wissen auch, daß gewisse Leute wie Papageien im Fernsehen genau das gesprochen haben, was wir wollten. Nach drei Tagen haben diese Leute, die Generäle und Iliescu, die Macht übernommen. Sie haben die Früchte der Revolution geerntet und sehen es heute gerne, wenn andere glauben, daß sie die ganze Sache geplant haben – Iliescu eingeschlossen.
Krebs: Ob mit oder ohne Mitwirkung ehemaliger „Securitate“-Leute, in Rumänien hat sich die Polarisierung zwischen Arbeitern und Intelligenz verschärft. Wie werten Sie diese Situation als Präsident des Rumänischen Schriftstellerverbandes und als Autor, dessen unter Hausarrest geschriebener Gedichtband Der Tod liest Zeitung im Vorjahr binnen weniger Monate in 300.000 Exemplaren verkauft wurde – also mit einer für westeuropäische Verhältnisse kaum vorstellbaren Breitenwirkung?
Dinescu: Ich bin in Rumänien ein sehr populärer Autor, werde von Intellektuellen und von Arbeitern geschätzt. Die Polarisierung gab es vor den Mai-Wahlen 1990, aber jetzt habe ich lange nicht gehört, daß Arbeiter die Intellektuellen beschimpfen. Die Polarisierung wird irgendwie künstlich von einigen regierungstreuen oder nationalistischen Zeitungen wie Romania Mare (Großes Rumänien) hochgehalten, zumal von Leuten, die früher das Ceaușescu-Regime in Gedichten und Aufsätzen gelobt haben.
Krebs: In Der Tod liest Zeitung gibt es die Gedichtzeile „halt die geschichte an – ich steige aus…“ Sie sind bei den Mai-Wahlen als unabhängiger Kandidat nicht ins Parlament gekommen. Steigen Sie um so kräftiger um in die Poesie, die für Sie unter der Zensur politische Sprengkraft besaß, und nun vielleicht auch in die Prosa?
Dinescu: Bei den Wahlen habe ich auf eine Kandidatur auf der Liste der „Front zur Nationalen Rettung“ verzichtet und auch auf der Liste anderer Parteien, die mich als Bewerber wollten. Ich habe mich zusammen mit dem heutigen Kultusminister Andrei Plesu, mit Ion Caramitru und Dan Hăulica dafür entschieden, als unabhängiger Kandidat aufzutreten. Unsere Idee war auch für andere Intellektuelle anziehend. Sie haben wie wir als Unabhängige kandidiert, keiner wurde aber ins Parlament gewählt – trotz einzelner großer Stimmanteile. Das war eine politische Naivität und ein mathematischer Fehler zugleich, denn von diesem Resultat hat die „Front“ profitiert.
Doch unsere Kraft als Schriftsteller steckt nicht darin, Parlamentarier zu sein. Wir sollten außerparlamentarisch wirken mit unserer Stimme und mit unserer Feder. Die Pamphlete, die ich voriges und dieses Jahr gegen den Premierminister geschrieben habe, waren beim Publikum sehr erfolgreich. Alle 27 literarischen Zeitschriften des Rumänischen Schriftstellerverbandes befinden sich eigentlich in einer politischen Offensive gegen die Regierung. Ich schreibe nach wie vor Gedichte, seit einiger Zeit aber auch Prosa. Dabei handelt es sich um einen kleinen, zum Teil autobiographischen Roman aus einer realistischen, aber auch aus einer surrealistischen Sicht – etwas zwischen Tragödie und Zirkus, so wie das Leben in Rumänien spielt.
Übersetzung: Ioan Constantinescu
Augsburger Allgemeine, 11.5.1991
Am 7. Mai wurde dem rumänischen Lyriker Mircea Dinescu die Ehrenbürgerwürde der Universität Augsburg verliehen. Klaus Wittmann sprach mit dem Autor über die nicht vollzogene rumänische Revolution, die wiedererstarkte Securitate, den Kinderhandel – und über Dinescus derzeit entstehenden Roman.
Klaus Wittmann: Herr Dinescu, Sie werden Ehrenbürger der Uni Augsburg. Was empfinden Sie dabei?
Mircea Dinescu: Ich bin aufgeregter, als wenn ich einen Literaturpreis bekommen würde. Während der Diktatur habe ich die Rolle eines Dissidenten gespielt. Und für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde hat dies wohl ein größeres Gewicht gehabt als die Tatsache, daß ich ein Dichter bin. Bei mir aber gehören diese beiden Seiten – die politische und die dichterische – zusammen.
Wittmann: Stichwort Dissidenz. Ihr Bild ging im Dezember ’89 um die Welt, als Sie vom Fernsehgebäude aus den Sturz von Ceaușescu verkündeten. Vorher standen Sie monatelang unter Hausarrest. Was haben Sie in diesem Moment empfunden?
Dinescu: Ich stand unter Hausarrest, seit ich am 17. März 1989 ein Interview für die Zeitung Liberation gegeben hatte. In diesem Interview hatte ich ein Röntgenbild der Ceaușescu-Diktatur gezeichnet. Bis dahin glaubte ich an eine Art Dissidententum allein im Rahmen der Kultur. Das war aber eine Illusion. Viele sehr bekannte rumänische Schriftsteller haben die Rolle eines Vogel Strauß gespielt, haben sich in Metaphern und Bildern versteckt und dabei geglaubt, daß sie Dissidenz betreiben. Am 22.12.89 sind eine Menge Leute zu mir nach Hause gekommen. Die Sicherheitsbeamten sind geflohen, und dann bin ich auf einem Panzerwagen zum Fernsehgebäude gefahren und habe verkündet: Der Diktator ist geflohen!
Wittmann: Noch einmal nachgefragt: Was ging in diesem Moment in Ihnen vor?
Dinescu: Ich war hin- und hergerissen. Es war auch eine gewisse Euphorie dabei. Die Euphorie war sicherlich zu groß. Ich befand mich plötzlich inmitten Hunderttausender von Leuten, und wir haben gejubelt.
Aber die Euphorie war zu groß. Denn das, was bei uns im Dezember passiert ist, war keine Revolution. Es war ein Volksaufstand: die Konsequenzen einer Revolution sollten größer sein, als sie in der Tat heute sind.
An die Macht sind die Professionellen der Macht gekommen das heißt die zweite Schicht des Apparates. Bei uns gab es kein Dissidententum wie in der Tschechoslowakei oder wie in Polen, es gab weder eine Charta 77 noch eine Solidarnosc. Das heißt, die Intellektuellen, die an die Macht hätten kommen können, waren nicht bereit dazu – und an der Macht befinden sich jetzt wieder Leute, die mit der Macht umgehen können. Es gibt einen fast sprichwörtlichen Satz: Die Söhne unserer ehemaligen Chefs sind heute die Chefs unserer Kinder.
Das ist natürlich nicht nur in Rumänien passiert, aber hier eben sehr oft. Die jetzt an der Macht sind, sind Söhne ehemaliger Parteifunktionäre eigentlich kultivierte Leute. Einige haben im Ausland studiert – und zwar im Westen, in einer Zeit, als wir nicht mal nach Bulgarien fahren durften Es ist eigentlich lächerlich, daß diese Leute, die Söhne der ehemaligen Parteifunktionäre, in Rumänien den Kapitalismus aufbauen möchten, während die Väter Sozialismus und Kommunismus aufgebaut haben.
Wittmann: Ich möchte Sie bitten, in Gedanken eine Liste zu machen. Schreiben Sie drei bis vier Punkte auf die linke Seite: was sich in Rumänien zum Positiven gewendet hat. Und auf die andere Seite: Was ist unverändert oder vielleicht noch schlimmer geworden?
Dinescu: Gut. Die linke Seite: Das Beste ist die Tatsache, daß die Zensur abgeschafft wurde. Es gibt zur Zeit bei uns eine freie Presse, es gibt Hunderte von Zeitungen, und es gibt Leute, die sehr deutlich gegen die Regierung schreiben. Das zweite ist, daß die Bauern ihre Ländereien zurückbekommen. Rumänien war ein reiches Land, aber die Leute haben gehungert. Die Bedrohung des Hungers schwindet. Einen weiteren positiven Punkt gibt es meiner Meinung nach nicht.
Kommen wir zur rechten Seite der Liste. Erstens: Wir haben uns über die Pressefreiheit gefreut. Aber weil die meisten Zeitungen regierungskritisch sind, hat die Regierung eine Art wirtschaftlicher Zensur versucht. Der Papierpreis zum Beispiel wurde von Dezember ’89 bis heute verneunfacht Auf diese Weise sind einige Zeitungen verschwunden. Im Grunde machen die Zeitungen nach wie vor, was sie schon vor der Teuerung gemacht haben: Sie schreiben gegen die Regierung an. Diese hat versucht, im Parlament ein Gesetz zur Einschränkung der Pressefreiheit durchzubekommen aber das wurde nicht akzeptiert im Land gab es großen Widerstand. Zweitens Die Securitate wurde wiederbelebt. Meiner Meinung nach ist sie inzwischen noch mächtiger als in der Ceaușescu-Zeit.
Wittmann: In welchem Sinne?
Dinescu: Während der Diktatur Ceaușescus war der Sicherheitsdienst abhängig von dessen Launen und Hysterien. Er konnte täglich die Generäle wechseln oder einfach verschwinden lassen. Jetzt sind die Generäle und der Sicherheitsdienst unabhängiger. Der Reichtum der Securitate besteht aus den alten Dossiers über Hunderttausende von Leuten. Die Liste der Spitzel wurde noch nicht veröffentlicht. Die Leute wissen nicht, wer von uns Spitzel war oder noch ist. Es besteht die Gefahr, daß der Sicherheitsdienst eines Tages seine alte Macht wieder innehaben wird.
Wittmann: Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit als Schriftsteller aus?
Dinescu: Eigentlich habe ich keine Angst. Ich hatte auch damals keine Angst, als das Terrorregime Ceaușescus mir mit Mord gedroht hat. Heute bekomme ich anonyme Briefe und Anrufe, auch andere Oppositionelle werden bedroht.
Wittmann: Welcher Art sind diese Drohungen?
Dinescu: Beschimpfungen, Morddrohungen – wie unter dem Ceaușescu-Regime. Die haben den gleichen Instinkt wie damals, und sie können nicht über ihren Schatten springen. Ein gravierender Aspekt ist, daß der Sicherheitsdienst alte Spitzel und Kulturfunktionäre reaktiviert, ihnen Geld gegeben hat, damit diese Leute Zeitungen herausgeben können, in denen die wenigen Dissidenten beschimpft werden. Das sind nationalistische Zeitungen, die so die öffentliche Atmosphäre vergiften.
Wittmann: Sind Sie denn für die heutige Regierung eine Gefahr?
Dinescu: Ich habe dem „Rat zur Nationalen Rettung“ angehört. Als diese politische Formation zur Partei wurde, bin ich zurückgetreten und habe alle Ämter abgelehnt. Ich wurde in geheimer Abstimmung zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes gewählt. Der Schriftstellerverband hat 27 Zeitschriften, alle sind regierungskritisch. Eine gewisse Antipathie der führenden Kräfte gegen mich ist offensichtlich und bekannt, weil ich Herrn Iliescu kritisiert habe, als dieser die Bergleute nach Bukarest gerufen hat. Ich habe einige Pamphlete gegen Ministerpräsident Petre Roman verfaßt. Natürlich sieht das die Regierung nicht gern, zudem suchen ausländische Journalisten das Gespräch mit mir.
Wittmann: Wenn man bedroht wird, bis hin zum Mord, wie kann man denn damit leben? Sie sagen das so gelassen.
Dinescu: Ich bin daran gewöhnt. Die eben erwähnte finanzielle Unterstützung der Zeitungen durch diese Leute stört mich mehr. Die meisten ehemaligen Hofdichter von Ceaușescu sind jetzt Besitzer einer Zeitung oder einer Zeitschrift. Die ehemaligen Parteifunktionäre, die Millionen unter Ceaușescu verdient haben, investieren diese Gelder in solche Zeitungen. Es ist eigentlich lächerlich, aber auch tragisch, daß diese Leute, die 45 Jahre den Kommunismus kompromittiert haben, jetzt auch den Kapitalismus kompromittieren. Tragisch und zugleich lächerlich ist auch die Tatsache, daß diese kleinen Goebbels unter Ceaușescu nach vier, fünf Monaten der Angst wieder aktiv sind. Sie beherrschen wahrscheinlich die Hälfte der rumänischen Presse.
Wittmann: Vor einigen Tagen flimmerten über unsere Bildschirme Bilder aus Rumänien, die einen regelrechten Kinderhandel zeigten. Kinder, die von ihren Eltern in Hotelhallen verkauft werden, Kinder, die zur Adoption freigegeben, ja feilgeboten werden. Ist Ihnen davon etwas bekannt, daß Familien Kinder verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren?
Dinescu: Ja. Das hat mich sehr erschüttert. Rumänien ist soviel ich weiß das erste Land, das Kinderexport betreibt. Es gibt in Rumänien keine Sozialleistungen für Kinder, es fehlt an Arznei und Babynahrung – und das nach eineinhalb Jahren, die diese Regierung an der Macht ist.
Dieser Kinderverkauf zeigt die Verantwortungslosigkeit der Regierenden, aber auch die Verantwortungslosigkeit der Eltern. Nach jahrelanger Gehirnwäsche denken sie vielleicht nicht immer richtig über solche Dinge. Es gibt viele solche Fälle, und es werden immer mehr. Es gibt Leute, die absichtlich Kinder machen, um sie verkaufen zu können. Ein Kind wurde für einen Videorecorder getauscht.
Wittmann: Was tut die Regierung dagegen?
Dinescu: Es gibt keine Gesetze. Die Regierung hat bislang nichts unternommen. Es gibt eben eine große Verantwortungslosigkeit. Die Korruption ist größer als unter Ceaușescu. Die größte Krankheit in Rumänien ist wahrscheinlich die, daß die Rumänen nicht wußten, was sie mit der Freiheit anfangen sollen. Deshalb vielleicht auch die Bilder, die manchmal im ausländischen Fernsehen zu sehen sind.
Wittmann: Können Sie angesichts dieser Probleme überhaupt noch als Schriftsteller arbeiten? Wie setzen Sie das in Ihrer Arbeit um?
Dinescu: Ein Schriftsteller lebt nicht von der Heiterkeit. Seine Nahrung ist nicht die Heiterkeit, sondern das Tragische. Rumänien bietet eine ganze Palette des Tragischen an.
Das Amt des Präsidenten des Schriftstellerverbandes nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Ich habe in der Zeit, als ich unter Hausarrest stand viel mehr geschrieben als nach der Revolution. Ich habe angefangen, einen Roman zu schreiben. Es ist eine Mischung aus Realismus und Surrealismus, so wie das Leben der Rumänen zur Zeit aussieht. Ich habe etwa fünfzig Seiten geschrieben und hoffe, daß er im Laufe des kommenden Jahres auf deutsch erscheinen wird.
Wittmann: Sie machen trotz allem, was Sie mir geschildert haben, einen relativ optimistischen Eindruck. Sind Sie Optimist – und sind Sie optimistisch, was die Zukunft der Rumänen angeht?
Dinescu: Ich bin nicht sehr optimistisch. Ich bin fast in der Lage von Moses im Alten Testament der vierzig Jahre lang seine Leute zum Land der Verheißung sozusagen getrieben hat – in der Hoffnung, daß es eine neue Generation gibt. Freie Menschen, nicht Leute mit Sklavenseele, wie es seine Leute gewesen sind. Das heißt, ich hoffe, daß irgendwann eine neue Generation kommt, die eine freie Generation sein wird.
Wittmann: Kein Geringerer als Eugène Ionesco hat Sie für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, was haben Sie empfunden, als Sie davon erfahren haben?
Dinescu: (lacht) Ich weiß, daß es nicht ausreicht, nur für diesen Preis vorgeschlagen zu werden. Ich war eigentlich geschmeichelt, als ich die Nachricht bekommen habe. Ionesco selber sollte ja Nobelpreisträger sein – und ausgerechnet er schlägt mich vor. Ich bin aber erst vierzig Jahre alt. Ich kann noch darauf warten.
(fröhlich) Ich weiß, wenn jemand den Nobelpreis bekommen hat, dann soll er sich aufs Sterben vorbereiten. Ich habe noch Zeit, bis ich siebzig Jahre alt bin, ich kann noch warten.
Übersetzung: Ioan Constantinescu
die tageszeitung, 13.5.1991
Mircea Dinescu – Lyrik, Revolution und das neue Europa. Ansprachen und Texte anläßlich der Verleihung der Akademischen Ehrenbürgerwürde der Universität Augsburg. Herausgegeben von Ioan Constantinescu und Henning Krauß. Augsburg 1991
Detlev Konnert: Im Schatten der Karpaten – Rumäniens Weisheit
Knud Cordsen: Poesie als Waffe
BR24, 11.11.2020
Mircea Dinescu liest Gedichte 1967 als 17jähriger.
Mircea Dinescus Auftritt am 22.12.1989 in Rumänien als Dichter und Verkünder.
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