DER DICHTER
Der Vers ist deine Furcht vor dem Leben,
aber er ist auch dein Leben.
Wenn dein ganz und gar nicht existierendes Kind
dich in seine Stimme aufnimmt wie in ein Haus,
wenn auch der schönste Mensch dir durch die Finger
rinnt, um in seinen Sand zurückzukehren,
wenn dein einziger Freund
dich in seine Freiheit ruft und dich in ihr einschließt,
dann begreifst du, daß es dich anderswo nicht gibt,
und du wirst dich in den Worten suchen.
Die verlorenen Häuser und Menschen gehören dir auf immer,
aber genügt dir diese Unendlichkeit…
Kehre dem Horizont den Rücken, und wie deine Erinnerung ihn bewahrt,
so dehne ihn jedesmal um ein Stück weiter aus.
Runde dich zu giftiger Frucht und falle in den Sand,
kehre zurück in deine grausamen Städte
und besiedele sie mit Liebe. Du hast dich selbst,
einen nicht zu umfassenden Körper, hast deine Nächte,
tief wie die Verzweiflung, und hast Wege,
die dich nie etwas haben verfehlen lassen.
Du hast die Spiegel der Phantasie,
nur manchmal zerschlägst du sie, Alpträume am hellichten Tag,
doch hast du auch andere Träume,
die dir den Sinn des Sonnenaufgangs einreden wollen.
Du hast die Einsamkeit, ihre vagen Versprechungen,
die Drohung der Erinnerung, den Schutz der Dunkelheit,
und weiter, immer weiter.
Manchmal genügt dir diese Unendlichkeit, und manchmal
schließt du mit dem schwärzesten Stift
die Grenzen deines Lebens und skizzierst
sein Antlitz, wie du es deinem eigenen Antlitz raubst.
Der Dichter ist ein Verbannter in seiner Welt.
In einer „nach fünf Kriegen“ 1997 erschienenen Replik des wohl bedeutendsten Gedichtbuches der bulgarischen Literatur – der 1910 von Penčo Slavejkov verfaßten und neunzehn erdachten Autoren beiderlei Geschlechts zugeschriebenen Gedichtauswahl Auf der Insel der Seligen – schrieb Mirela Ivanova in der Biographie ihrer imaginierten Doppelgängerin Mira Stella:
Verblüfft und erstaunt über die Unermeßlichkeit des Wortes, drängt es sie zu schreiben, das, was geschieht und was nicht geschieht, zu benennen, immer gesehen mit ihren noch nicht gezähmten Augen, drängt es sie, ihre unklare Zukunft zu dramatisieren, die Spiegel mit ihrem kahl geschorenen Kopf einzuweihen und Erinnerungen, Ängste und Gedichte zu akkumulieren.
Dabei verwandeln sich ihre Erinnerungen und Ängste selbst in Gedichte. Denn die „Unermeßlichkeit des Wortes“ kann man als das eigentliche Schicksal der Dichterin betrachten. Bereits in einem ihrer frühen Gedichte spricht sie es aus:
Eines Tages wird die Wörtermühle dich zermahlen.
Und da ihre Gedichte ihr inneres Erleben einschließlich aller Ängste und Erinnerungen in Worte bannen, kommt es zu dem für sie charakteristischen Leben im Gebilde aus Worten, wie es in dem Gedicht „Der Dichter“ vorgeführt wird. In ihren Gedichten hat Mirela Ivanova das tragische Schicksal Eurydikes überwunden. Sie kann sich überzeugend Rechenschaft ablegen über das Werden und Vergehen ihrer Gefühle, über das seltsame Phänomen ihrer Erinnerung, das sie immer aufs neue fasziniert und dem sie immer wieder auf den Grund zu kommen sucht, sowie über ihr Ausgeliefertsein an die Vergänglichkeit. Mit dem Tod steht sie auf Du und Du, er begleitet sie stets und überall, wie das Gedicht „Wir“ bezeugt. Das ist auch der Grund dafür, daß sie ihre Erlebnisfähigkeit – und das heißt letzten Endes ihre Leidensfähigkeit – bis zum äußersten auskostet.
Als Korrektiv gesellt sich dem ein überaus modernes Lebensgefühl hinzu, das alles und jedes mit einem ironischen Seitenblick betrachtet und zu entwerten droht. Allerdings scheint sich die deprimierende politische Gegenwart dem ironischen Gestus zu entziehen. Was die Existenz bis auf den Grund zu vernichten oder zu entwürdigen droht, läßt Ironie nicht zu. In dem Gedicht „Chronik“ beschwört Mirela Ivanova eine Situation, in der alle Hoffnung geschwunden zu sein scheint. Was aber lebendig ist und Zukunft verheißt, darf auch liebevoll mit ironischem Blick begleitet werden, wie die Schlußzeilen des Gedichtes „Der Juli ist regnerisch“ zeigen. Die Ironie scheint sich hier selbst aufzuheben und aufzugehen in einer höheren Bejahung des Lebens jenseits aller Worte. Hier wird das weibliche Weltempfinden vielleicht am deutlichsten sichtbar, in dem Mirela Ivanovas gesamte Dichtung ihren Urgrund hat.
Mirela Ivanova wurde am 11. Mai 1962 in Sofia in einer Arztfamilie geboren. Sie besuchte das deutsche Gymnasium in Sofia und studierte anschließend bulgarische und russische Philologie an der Universität in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt des Landes. Sie arbeitete als Journalistin an verschiedenen Zeitungen sowie im Haus der Kinderliteratur. An der populären Tageszeitung Standard gestaltete sie längere Zeit eine eigene Seite im Feuilleton. 1992 gründete sie mit Künstlern ihrer Generation das Poesiekabarett Freitag, der 13., das auf der Bühne und im Fernsehen zeitweise großen Erfolg hatte. Gegenwärtig ist Mirela Ivanova als Kustodin des Ivan-Vazov-Museums in Sofia angestellt. Sie ist verheiratet und hat eine kleine Tochter namens Zornica, was „Morgenstern“ bedeutet.
Mirela Ivanova schrieb und veröffentlichte bereits als Schülerin Gedichte. Ihr erster selbständiger Band erschien 1985 in Varna unter dem Titel Steinerne Flügel, und das war eine eindrucksvolle Umschreibung der damaligen bedrückenden Situation für kreative Menschen im gesamten Ostblock. Seit der Wende im Jahr 1989 hat Mirela Ivanova einige weitere Gedichtbände veröffentlicht, alle in Sofia, so 1990 Einsames Spiel und Geflüster, 1992 Gedächtnis für Einzelheiten und 1995 Auseinandernehmen der Spielsachen. Außerdem ist Mirela Ivanova als begabte Übersetzerin hervorgetreten, hauptsächlich aus dem Deutschen. 1994 erschien in Plovdiv unter dem Titel Das Wandern der Steine eine Auswahl von Gedichten von Stefan Döring, Elke Erb, Gregor Laschen, Oscar Pastior, Johann Tammen und Guntram Vesper. Gedichtübersetzungen von Sarah Kirsch, Durs Grünbein und anderen erschienen als Einzelveröffentlichungen in Zeitschriften. Nicht vergessen sei auch die Übersetzung der Kurzen Weltgeschichte für junge Leser von Ernst Gombrich, Sofia 1999. Der bulgarischen Tradition verpflichtet ist ihre Herausgabe unter dem Titel Ein Leben (1995) von Gedichten, Übersetzungen, Tagebüchern, Erinnerungen und Briefen der Dichterin Mara Belčeva (1868–1937), der Lebensgefährtin des großen, eingangs bereits erwähnten Dichters Penčo Slavejkov (1866–1912).
Der vorliegende Band Einsames Spiel bietet eine Auswahl aus dem bisher vorliegenden Gesamtwerk Mirela Ivanovas in deutscher Übersetzung und gibt einen Einblick in die poetische Welt der Dichterin, in der sie zu einer von Selbstbewußtsein, aber auch vom Bewußtsein der Verletzbarkeit und der Unwiederbringlichkeit des Durchlebten geprägten, rückhaltlos offenen Selbstanalyse gelangt. Mirela Ivanova wird hier nicht zum erstenmal in deutscher Sprache vorgestellt. Bereits 1993 erschienen Gedichte von ihr in den beiden ersten Nummern der kurzlebigen hannoverschen Zeitschrift textura; ein Jahr später wurde eine größere Anzahl ihrer Gedichte in dem von Gregor Laschen herausgegebenen Bulgarienband Hör den Weg der Erde veröffentlicht.
Der vorliegenden Übersetzung ging es unter Verzicht auf die bei Mirela Ivanova ohnehin seltenen Reime vor allem um eine möglichst getreue Wiedergabe der gedanklichen Schärfe und der sinnlichen Nuancierung der bulgarischen Originale. Wie weit das gelungen oder nicht gelungen ist, muß dem Urteil des Lesers überlassen bleiben.
Norbert Randow, Nachwort
Benedikt Erenz: O die Küchen, die Küchen
Die Zeit, 12.10.2000
Bei Norbert Randow zu Besuch.
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