AUFBRUCH ZUR LETZTEN GROSSEN REISE
(1956–1961)
Blaise ist müde. Die Familie feiert ihn… gewaltig, majestätisch, erzählt Nino Frank, etwas ungeduldig, noch röter im Gesicht als sonst, verlangte er sofort eine Flasche Champagner für sich ganz allein, die er lustlos trank. Sprach man von seinem Buch, antwortete er mit einer widerwilligen Gebärde…
Hat ihn sein überwältigender Roman von aller Bitterkeit befreit? Hat die Anstrengung seine Abwehrkräfte gegen die drohende Krankheit geschwächt?
Eines Abends, während eines Urlaubs im Schloss von Ouchy an den Ufern des Genfersees, passiert das Unvermeidliche: der Schlag, der ihn lähmt.
Eine bestürzende Nachricht trifft in diesen Augusttagen mit der Post in Big Sur ein: ein Brief aus Paris, mit einer Handschrift, die Miller nicht kennt. Er schaut die Unterschrift an: ein mühsames B.C., zitterig und offensichtlich mit Mühe geschrieben.
Mein lieber Henry Miller, Ihre Ermahnung, nicht zu viel zu arbeiten und etwas mehr aufzupassen, hat mich zu spät erreicht. Seit einem Jahr sind mein linkes Bein und mein linker Arm gelähmt, und meine Hand, die die Schreibmaschine beherrschte, gehorcht mir nicht mehr. Das Schlimmste, was mir passieren konnte! Es braucht viel Geduld und guten Willen, um das alles zu überwinden, ich denke, ein Jahr ungefähr. Euch beiden meine Freundeshand.
In der Tat, Blaise gibt sich nicht geschlagen. Er ist nicht erledigt. Nach seiner Rückkehr in die Rue Jean Dolent geht er energisch an seine Wiederherstellung. Eine junge Therapeutin kommt alle zwei Tage: Massage, Turnübungen. Raymone hilft dem Kranken aufstehen, sich waschen, sich zu Tisch setzen. Sie passt auf, dass sein Glas nicht nachgefüllt wird. Er wird wütend, doch was soll’s, er macht Fortschritte.
Er braucht seine Hand, seine einzige Hand! Er öffnet sie, schliesst sie, übt mit runden Gegenständen, mit einer grossen Rosskastanie, zwingt sie, sich seinem Willen unterzuordnen – wie einst im Krankenhaus von Lakanal.
Am 13. August 1957 kann Blaise wieder schreiben, wenn auch nur sehr unbeholfen. Er hat es geschafft! Von Hand schreibt er an Henry Miller:… seit einem Jahr geht es besser, doch ich kann nicht mehr gehen…
Doch auch das wird sich geben. Zuerst ein paar Treppentritte – fast allein! –, dann ein paar Schritte im Garten. Und eines schönen Tages tritt er auf die Strasse hinaus. Sieg!
Als Miriam an einem Morgen in die Rue Jean Dolent einbiegt, sieht sie plötzlich Blaise mit Wagon-lit an der Leine auf sich zukommen! Er ist genug sicher auf den Beinen, um die hohe Gefängnismauer entlangzugehen, bis in Sichtweite des Löwen von Belfort auf dem Place Denfert, und sich im Bistro an der Ecke des Boulevard Arago auszuruhen.
Er lässt es sich nicht nehmen, mit der Patin Raymone dem grossen Festtag seiner Enkelin beizuwohnen; ein Ereignis, das er in seinem Memento festhält:
Samstag, 25. Mai 1957. Marine. Erste Hl. Kommunion.
Zwei Worte auf einem der vielen sorgfältig aufbewahrten Zettel geben seine überwältigende Freude wieder: Die Heilung!
Januar 1958. Blaise schreibt:
Ich bin glücklich wie ein Heiliger; ich bin krank wie ein alter, vergessener König. Wir haben den leprakranken Heiligen Ludwig gehabt, der schliesslich im Exil krepiert ist und von dem uns der getreue Chronist zwar die kleinste Einzelheit übermittelt hat, ohne aber jemals die Pest zu erwähnen. Das nenne ich Adel.1
Er zieht das Bein ein bisschen nach, gewiss. Manchmal sieht man ihn das Gesicht verziehen. Doch er arbeitet. Er trägt die Texte für einen Sammelband zusammen: Trop c’est trop. Seine Schrift ist entstellt, mit grossen Buchstaben, aber immerhin leserlich. Noch tätig sein, etwas schaffen! Ich muss das hervorholen, was ich im Bauch habe, und nicht das, was im Kopf ist. Er stellt lange Listen von Überschriften zusammen:
Von meinen sieben Onkeln zu meinen Ahnen, und viele andere mehr.
Ein neues Radioprojekt.
Theaterstück für das Ohr
Magia sexualis
Nondum
Noch nicht
Charles Quints Devise
Noch nicht! Doch in der Hitze des Sommers 1958 streckt ihn ein neuer Anfall nieder. Er kann nicht mehr gehen. Reden macht ihm entsetzlich Mühe; seine Worte entsprechen nicht dem, was er sagen möchte – und er hört das. Mit einer herzzerreissenden und unbeholfenen Hartnäckigkeit trägt er täglich unförmige Zeichen in ein Schulheft ein – drei Zeilen, eine Zeile, ein Wort: kleine alltägliche Ereignisse.
Über mehrere Zeilen lassen sich erschreckende Eintragungen entziffern:
Hilfe Georges 500 N.F.
Grosser Gott! Das darf doch nicht wahr sein! Blaise Cendrars bittet seinen Bruder um finanzielle Unterstützung – wie vor nahezu fünfzig Jahren.
Die Armut bis zum Schluss – was für ein Thema!
In seinem Heft trägt er sorgfältig auch die Namen der Leute ein, die ihn zum Mittagessen oder zum Abendessen besuchen – von der geduldigen, immer aufmerksamen und rücksichtsvollen Raymone freundlich empfangen.
Odilon, schweigsam und in seinen Hader vergraben, kommt manchmal zum Essen. Bereits ist sein Gesicht, das dem seines Vaters so sehr ähnlich sieht, von Müdigkeit gezeichnet und von der Krankheit, an der er 1978 sterben wird.
Die letzte lesbare Zeile in Blaises letztem Heft: heute morgen ein Vogel auf dem Fenstersims. Die Vögel – sie haben ihn immer bewegt: fortfliegen…
Ich verliere mich in der Höhe, hat er in Le Lotissement du ciel geschrieben.
Ende Jahr kommt André Malraux in die Rue Jean Dolent, um Blaise Cendrars den Orden eines Kommandeurs der Ehrenlegion zu überreichen.
Für die beiden Männer, berichtet Nino Frank, hatte dieser Akt eine ganz bestimmte Bedeutung, die über den äusseren Glanz hinausging: Seit seinem Aufstieg an die Spitze des Kulturministeriums hatte Malraux sich mit ganzer Kraft dafür eingesetzt, diese ehrenvolle Auszeichnung für den einzigen Überlebenden der grossen Dichter des „Esprit moderne“ zu erwirken.
Blaise steht aufrecht da. Wie bringt er es fertig, sich aufrecht zu halten? Ihm gegenüber André Malraux, der eine kurze Rede hält. Hört Blaise ihn überhaupt? Sie umarmen sich.
Paul Gilson und Nino Frank versuchen den Kommandeur vor dem Ansturm der Glückwünsche und Gratulationen der Getreuen zu beschützen, die sich bewegt eingefunden haben. Manch einer schaut ergriffen zum Fenster hinaus, als betrachte er den Garten, um die Tränen zu verbergen.
Am nächsten Tag spricht Raymone mit Nino über Blaises fixe Idee, wieder arbeiten zu wollen. Schaffen! sagt er. Mühsam formuliert er ein paar Sätze, bittet Nino, ihm zu helfen und nach Diktat für ihn auf der Maschine zu schreiben.
Mit einer heiseren und abgehackten Stimme liest er unleserliche Notizen von drei oder vier Blättern ab, die er kaum halten kann. Es sind Erinnerungen an Rom, die Begegnung mit einem zerlumpten Clochard, der in ihm das Bild des bettelnden Heiligen Benoit Labre heraufbeschwört. Es ist die Geschichte der vollkommenen Entsagung.
Der Versuch dauert nur einen Tag. Es ist aus. Blaise Cendrars wird nicht mehr schreiben.
A l’Aventure, ein Band mit ausgewählten Texten, ist bei Denoël erschienen. Im Januar 1961 erscheint eine Neuauflage. Auf dem Streifband ist zu lesen: Grosser Literaturpreis der Stadt Paris.
Es ist der erste Preis, der Blaise je zugesprochen worden ist – und auch der letzte. Zu spät. Raymone nimmt an seiner Statt im Hôtel de Ville den Preis entgegen.
Wäre Blaise hingegangen, hätte er gekonnt?
Um eine offizielle Ansprache und einen in extremis verliehenen Preis zu vervollständigen, ist es an dieser Stelle angebracht, zwei Männer zu zitieren, die schon sehr früh die einzigartige Begabung von Blaise Cendrars erkannt haben. Jean Rousselot hält in seiner kurzen, aber sehr treffenden Biographie fest:
… Was Cendrars schreibt, ist nicht Literatur: Es ist Bewegung, es ist Dynamik, es ist ein kosmisches Mus. Ein zukünftiger Exeget müsste aufzeigen, wodurch Blaise Cendrars den statischen Begriff des Schreibens erschüttert hat, und auf seine Abstammung von den grossen Abenteurern und den grossen „Lügnern“ aller Zeiten hinweisen: von Jesus, Homer, Rabelais, dem Heiligen Johannes vom Kreuz, Rimbaud, etc.2
Und in seiner ausgezeichneten Histoire de la poésie française3 weist Robert Sabatier von der Académie Goncourt darauf hin, Cendrars’ Dichtung dürfe man nicht auf den herkömmlichen Begriff „Gedicht“ beschränken, sondern man müsse sie ebensosehr in seiner Prosa suchen:
Die Gedichte Blaise Cendrars’ sind das Konzentrat eines legendären, an Wundern wie an tragischen Ereignissen aussergewöhnlich reichen Lebens. Weil wir uns seiner Bedeutung im höchsten Masse bewusst sind, halten wir mit unserer Begeisterung für diesen Lebenshungrigen nicht zurück. Durch sein Werk, das Werk eines planetarischen Individualisten, hat er es vor jedem anderen verdient, mit unserem eigenen Nobelpreis ausgezeichnet zu werden.
In seiner Verbannung im Haus an der Rue Jean Dolent macht Blaise den Eindruck, als wäre er traurig. Er müsste etwas an die Luft gehen können.
Eine rührend aufmerksame Freundin kommt, um ihm Gesellschaft zu leisten: Gabrielle Delbet. Blaise liebt sie. Er nennt sie Blanche – er passt so gut zu ihr, dieser Name. Mit ihrem Charme und ihrer Aufmerksamkeit bringt sie ihm eine fast vergessene Weisheit zurück, die sie in sich trägt: den inneren Frieden.
Sie findet für Blaise und Raymone eine Wohnung an der Rue José-Maria de Heredia, ein gutbürgerliches Rez-de-chaussée, von wo aus es jedoch möglich ist, mit Blaise hinauszugehen, seinen hinfälligen, abgezehrten Körper an die Sonne zu setzen, auf eine Bank in der Avenue, die am Gebäude der UNESCO vorbeiführt, wo die Flaggen aus aller Welt flattern, wie Nino Frank feststellt.
Henry Miller, wieder einmal auf der Durchreise in Paris, hat Blaise besucht… Ein schrecklicher Moment, sagt er zu Miriam. Ein Schock. Er, ausgerechnet er… Er traut sich nicht mehr, ihm zu schreiben, er hat den Mut nicht dazu… was soll er ihm erzählen? Was? Im übrigen, könnte Blaise es überhaupt lesen?
Diözese von Paris. Pfarrei Saint-Dominique, Rue de la Tombe-Issoire 18.
Im Jahre neunzehnhundertneunundfünfzig, am 1. Mai, in Gegenwart von zwei Zeugen, hat sich Sauser Frédéric genannt Cendrars Blaise… in der Erkenntnis, dass ausserhalb der wahrhaften Kirche kein Heil ist, aus freiem Willen und ohne jeglichen Zwang zum römisch-katholischen und apostolischen Glauben bekannt und vor mir der Häresie Calvins abgeschworen… Kraft meines Amtes habe ich ihm öffentlich die Absolution erteilt…
So steht es geschrieben aus der Hand des Ersten Vikars von Saint-Dominique, der an diesem Tag den Neubekehrten getauft hat.
In der gleichen Kirche schliessen am 1. Mai 1959 Sauser Frédéric und Duchâteau Raymone, vereint durch das Sakrament der Ehe, den Bund fürs Leben…
Das schwierigste für Blaise war, erzählt Raymone, den Satz nachzusprechen: Ich entsage Satan, seinem Gepränge, seinen Werken…
Von Blaises Freunden haben nur wenige genug Seelenstärke, den Gelähmten in der dunklen Erdgeschoss-Wohnung zwischen Hinterhof und Strasse zu besuchen. Der treue Nino Frank schaut beinahe täglich vorbei. Wenn ich mich verabschiedete, sagte er auf Italienisch Ciao. Bernard Privat von Grasset lässt es sich nicht nehmen, ihn regelmässig zu besuchen. Doktor Chabrol, der Gatte einer Cousine von Raymone, der ihn behandelt, schaut jeden Tag nach ihm. Auch ein paar Familienangehörige kommen, doch wenn sie da sind, wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen. Raymone wacht Tag und Nacht, mutig, geduldig und ergeben an der Seite dieses Mannes, dessen einzige Stütze sie nun ist.
Das Fenster öffnen, es wieder schliessen; die Kissen aufschütteln…
Das Essen. Die Speisen kleinschneiden, damit er überhaupt etwas zu sich nehmen kann.
Und bei jedem heiseren Ruf: Ja, Blaise, ich bin da! Ich bin da!
Am Abend bringt sie ihn zu Bett und vertraut ihn einer Nachtwache an, bevor sie ins Theater geht. Theaterspielen – ihr Beruf.
Blaise spricht nicht mehr.
Miriam setzt sich neben sein Bett – oft.
Seine offene Hand ruht auf der Decke über seinen Knien.
Miriam legt ihre Hand in Blaises offene Hand.
Ein langer Strand des Schweigens, wo die Wogen der Gefühle verebben.
Ein unhörbares Flüstern verbindet sie.
Das Schlagen des Herzens. Erbarmen, o Herr.
Das Schweigen.
Die Gegenwart.
21. Januar 1961.
Ein dringender Anruf von Raymone: Miriam, der Arzt meint, das Ende sei nahe. Um am Krankenbett des Sterbenden bleiben zu können, bringt Miriam die Kinder in ihr Landhaus in der Nähe von Paris.
Kaum ist sie dort, kommt ein neuer Anruf von Raymone: – Komm schnell, er hat nach dir gerufen.
Am Steuer ihres Wagens sucht Miriam – oder hat er nach Marie gerufen? – mit klopfendem Herzen nach den Worten des Gebets, Jesus, Christus, Retter, Erlöser, und sie betet mit lauter Stimme, mit festem Glauben: Unser Vater, der Du bist im Himmel, geheiligt sei Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden, im Himmel wie auf Erden, im Himmel…
Sie tritt ins Zimmer, geht auf Blaise zu, er liegt ausgestreckt auf dem weissen Bett. Er sieht sie. Ihre Blicke begegnen sich.
Sie setzt sich zu seiner Linken, und mit beiden Händen umfasst sie seine Hand.
– Blaise.
Zu seiner Rechten, neben dem Schiff, das ihn fortträgt, kniet Raymone.
– Blaise, flüstert Miriam, lass gehen, lass…
Sie atmet mit ihm. Ein langes Zittern geht durch seinen Körper, der in sich selbst zurücksinkt. Er atmet ein.
Er atmet aus.
Sein Gesicht ist plötzlich entspannt, keine Falte mehr – der letzte Ausdruck von Heiterkeit.
Mit einer sanften Geste drückt Raymone die Lider über den Blick, der sich verloren hat.
Schweigen.
Friede.
Dort unten liegt
Blaise Cendrars
Zwei oder drei Zehntel südlich
des Breitengrades Null
Ein, zwei, drei Dutzend Grade
Westliche Länge
Im Bauch eines Pottwals
In einem grossen Fass Indigo
Blaise Cendrars
bietet sich dem deutschsprachigen Leser die einzigartige Möglichkeit, Blaise Cendrars kennenzulernen: Seine Tochter Miriam Cendrars hat – aufgrund ihrer Erinnerungen und zahlreicher unveröffentlichter Dokumente – die Geschichte des turbulenten Lebens und literarischen Schaffens ihres Vaters in einer umfassenden Biographie zusammengetragen. Mit einer Fülle von spannenden Details schildert die Autorin die verschiedenen Lebensstationen und die aussergewöhnliche Art von Blaise Cendrars, seine Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen zu faszinierender Literatur zu verarbeiten. Den Abenteurer Blaise Cendrars auf seinem Lebensweg zu begleiten, wird für den Leser selbst zu einem Abenteuer: Cendrars als Bijoutier-Lehrling im zaristischen Russland kurz vor der Revolution; Cendrars auf Reisen in Sibirien und China; Cendrars als junger Dichter im Kreis der Pariser Bohème vor dem Ersten Weltkrieg; Cendrars und seine Frauen; Cendrars als Kriegsfreiwilliger in französischen Schützengräben, wo er seinen rechten Arm verlor; Cendrars auf Reisen in Südamerika; Cendrars im Zweiten Weltkrieg als Berichterstatter für englische Medien; Cendrars in den fünfziger Jahren: berühmt und einsam. In ihrem faszinierenden Werk, das zugleich ein spannendes Dokument über ein halbes Jahrhundert bewegter Geschichte in Europa und auf anderen Kontinenten ist, schildert die Autorin nicht nur das aussergewöhnliche Leben ihres Vaters, sondern lässt ihn selbst ausführlich zu Wort kommen. An entscheidenden Stellen fügt sie immer wieder Zitate – Prosa und Gedichte – aus Cendrars’ Werk ein. Mit dieser Technik hat sie zugleich einen Reader geschaffen, der die Literatur von Blaise Cendrars in die Zusammenhänge ihrer Zeit und ihres Entstehens stellt.
– Die Tochter macht sich an die Arbeit. Miriam Cendrars im Gespräch mit Peter Burri. –
Peter Burri: Wann – und wie – ist Ihnen die Idee gekommen, ein Buch über Ihren Vater zu schreiben?
Miriam Cendrars: Es ist keine blosse Idee gewesen, sondern eine absolute Notwendigkeit, die sich gleich nach dem Tod von Blaise Cendrars bemerkbar machte. Es gab zwar schon ein paar Biographien, aber das waren nur ganz kleine Bände, geschrieben aufgrund von Vorgaben, die Blaise den verschiedenen Autoren vermittelte. Diese Bücher orientieren sich an einem bestimmten Image, an einer bestimmten Legende – an einer „wahren“ Legende, wie ich gleich bemerken möchte, denn die Sicht entsprach dem Schriftsteller und Dichter Blaise Cendrars. Es waren keine wissenschaftlichen Arbeiten – ich muss immer lachen, wenn ich das Wort „wissenschaftlich“ höre, denn ich glaube nicht daran –, aber es waren auch keine Biographien im klassischen Sinne des Begriffs.
Nach dem Tod von Blaise Cendrars, den ich miterlebt hatte und der für mich ein grosser Schock war, spürte ich sofort: Da ist ein Dichter, ein Schriftsteller, der auf seinem Niveau behandelt werden sollte und unter der Perspektive, die ihm gebührt. Wenn man aber zu nah auf den Ereignissen ist, kann man nicht schreiben. Ich war zu jung und noch nicht reif genug, und ich wollte auch nicht das Buch der Tochter von Blaise Cendrars schreiben, das war ganz und gar nicht mein Ziel. Ich bin eine grosse Bewunderin seines Werkes, des Schriftstellers Blaise Cendrars, und nur in dieser Eigenschaft wollte ich mein Buch schreiben und nicht als Huldigung einer Tochter. Die Notwendigkeit war also da, und die Sache ist über zwanzig Jahre hin gereift. Aber ich konnte noch nicht beginnen, aus verschiedenen Gründen, auch weil ich berufstätig war, und wenn man arbeitet, bleibt wenig Zeit, um Recherchen anzustellen und zu schreiben. Schliesslich bin ich in Pension gegangen und habe diese Arbeit angepackt.
Burri: Wie sind Sie vorgegangen?
Cendrars: Während dieser zwanzig Jahre konnte ich natürlich viele Dokumente sammeln. Dabei gab es immer wieder Ereignisse, zum Beispiel die Entdeckung all dessen, was heute die Bestände der Cendrars-Sammlung in der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern ausmacht. Material, das ich 1969 für eine erste Publikation benützte, die Inédits secrets hiess und mit der ich das Leben von Blaise Cendrars in den Jahren 1903 bis 1917 aufarbeitete – ein Abschnitt, der völlig unbekannt war.
Ich musste alle diese Dokumente durchstöbern, ordnen, wahrlich eine Detektivarbeit! Als Indizien gab es nur die Tinten- oder die Papierqualität, die Schriftzüge, die sich von einem Lebensabschnitt zum andern veränderten; viele Zeugnisse waren nicht datiert; kurz und gut, eine enorme Arbeit.
Das war das eine. Dann gab es auch all das, was ich von meiner Mutter hatte, die zahlreiche Aufzeichnungen hinterlassen und mir auch viel vom Leben von Blaise Cendrars erzählt hatte. Und schliesslich gab es noch meine persönliche Beziehung zu Blaise, die natürlich schon vor meinem Heranwachsen begonnen hatte, aber einen Unterbruch erlebte und dann erst nach 1945 weiterging, nach meiner Rückkehr aus England, wo ich die Kriegsjahre verbracht hatte.
Burri: Sie haben eine Art Roman-Biographie geschrieben, zugleich aber auch so etwas wie einen Cendrars-„Reader“, denn sie fügen an entscheidenden Stellen immer wieder Zitate aus den Werken von Blaise Cendrars ein. Als was würden Sie selber Ihr Buch bezeichnen?
Cendrars: Ich schrieb eigentlich einen biographischen Essay, wenn Sie so wollen. Als die Académie Française mein Werk auszeichnete, erhielt ich den Essay-Preis, nicht den Biographie-Preis. Mein Ziel war ja auch nicht, eine klassische Biographie zu schreiben, sondern eine Form zu finden, die Blaise Cendrars und der Bedeutung seines Werkes entspricht. Es sollte kein trockenes Rekapitulieren, keine blosse Chronologie der Ereignisse werden, was wohl kaum von grösserem öffentlichem Interesse gewesen wäre.
Burri: Sie entdecken in Ihrem Buch gleichsam einen Mann, der Ihr Vater ist; Sie schlüpfen zuweilen in eine andere Person, die Sie gleichzeitig aus Distanz betrachten. Wie war es für Sie, aus dieser doppelten Optik heraus zu arbeiten? Blaise Cendrars ist ja immerhin Ihr Vater, und Sie kennen ihn aus ganz persönlichen Situationen.
Cendrars: Eine sehr intime Frage, die Sie mir da stellen… Aber ich will sie gerne beantworten. Wie ich schon sagte, wollte ich dieses Buch als Bewunderin des Dichters und Schriftstellers Blaise Cendrars schreiben. Natürlich konnte ich dabei nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass ich diesen Autor aus nächster Nähe kannte und dass ich seine Tochter bin – und auch die Tochter seiner ersten Frau, die im Leben des jungen Blaise eine entscheidende Rolle spielte.
Was die Distanz betrifft… Da gibt es ein Paradox: Distanz ist Liebe… Das ist eine Feststellung, die sehr Cendrars-spezifisch („cendrarsien“) ist. Wenn man liebt, im reinsten Sinne des Wortes, dann empfindet man keinerlei Gefühle wie Besitzanspruch, Stolz oder Eitelkeit. Ich sage nicht, dass diese Gefühle mir unbekannt wären. Doch bei der Arbeit an diesem Buch versuchte ich abzusehen, wie solche Gefühle allenfalls auf meinen Text abfärben könnten, und ich versuchte mich so gut wie möglich davor zu hüten.
Das einzige Mittel, sich davor zu hüten, ist die Person zu lieben, von der man spricht.
Burri: Wenn ich vorhin von der Distanz gesprochen habe, die es in Ihrem Buch gegenüber der Person von Blaise Cendrars gibt, dann habe ich nicht gemeint, dass Sie ein „objektives“ Buch geschrieben haben. Denn Sie beziehen ja auch Position…
Cendrars: … sicher, oder: Vielleicht ist es das, was ich anstrebte. Ich wollte Position beziehen, aber nicht ein Urteil abgeben. Es ist nicht an mir, zu urteilen – über wen immer; und am wenigsten über Blaise Cendrars. Meine Aufgabe ist es, zu beobachten, auf Fakten und Hintergründe zu schauen: mit einem zärtlichen, einem liebenden Blick, mit soviel Verständnis, wie ich aufbringen kann, aber manchmal auch mit einer gewissen Härte. Liebe schliesst Härte nicht aus, wohl aber ein Urteilen.
Burri: Was, glauben Sie, haben Sie von Ihrem Vater geerbt?
Cendrars: Blaise hatte einen grossen Einfluss auf mich in meiner Kindheit und beim Heranwachsen. Er war mein Vorbild, wenn Sie so wollen, mein „Held“, den ich bewunderte und den uns unsere Mutter auch bewundern half. Er war einer, für den Unabhängigkeit, Freiheit und Authentizität die wichtigsten Dinge im Leben waren. Wenn er mir etwas hinterlassen hat, dann ist es, glaube ich, dieser Geschmack („goût“) an der Unabhängigkeit, Freiheit und Authentizität – und an der Aufrichtigkeit.
Burri: Bei uns spricht man von Blaise Cendrars oft als von einem „Abenteurer“. Damit ist gewiss etwas anderes gemeint, als wenn eine Zigarettenfirma mit dem Slogan „Freiheit und Abenteuer“ wirbt. Gleichwohl, wie kommt Ihnen diese Einschätzung vor?
Cendrars: Das ist ein wichtiger Punkt. Denn das gehört zu den Klischees und vorgefassten Meinungen, die ich mit meinem Buch berichtigen wollte. Ein Abenteurer, ja. Natürlich ist er viel gereist – in einer Zeit, in der man nicht so leicht reiste wie heute. Er war immer unterwegs, und man hat seine Werke auch schon mit Büchern von Abenteuer-Schriftstellern verglichen. Doch seine Abenteurer-Seite war, so konkret er sie auslebte, nur der äussere Aspekt eines inneren Abenteuers. Er hätte seine Reisen auch rund um sein jeweiliges Zimmer unternehmen können (lacht); das Ziel dieser Reisen war nicht ein äusserliches, sondern ein inneres.
Burri: Aber er machte sie, er brauchte sie…
Cendrars: … gewiss, bis er ans Ende seiner Reise kam, als er 1940 in Aix-en-Provence Halt machte, wo er nachgedacht hat und in der städtischen Bibliothek arbeitete, drei Jahre lang, ohne zu schreiben; wo aber dann wieder auch eines seiner schönsten Bücher entstand: Le Lotissement du ciel.
Burri: Damals waren Sie zwanzig Jahre alt und weit weg von Ihrem Vater, in England, und es war Krieg in Europa. Sie reden in Ihrem Buch kaum von sich selbst. Was alles haben denn eigentlich Sie in Ihrem Leben gemacht?
Cendrars: In meinem Buch rede ich nur insofern von mir, als es etwas zum Verständnis von Blaise Cendrars beitragen kann. Mein Leben? Ich habe (lacht) viel gemacht: Ich bin Journalistin, ich war im Verlagswesen tätig, ich habe Zeitschriften und Magazine gegründet und geleitet, ich habe viele Kinder gemacht…
Burri: … leibliche, oder meinen Sie Ihre Zeitschriften?
Cendrars: Kinder, aus Fleisch und Blut! Kinder, die jetzt ihrerseits auch wieder Kinder haben. Und ich bin viel gereist. Ein ausgefülltes Leben… Wenn mich die Jungen fragen, wenn ich mit ihnen diskutiere und sehe, wie sie manchmal entmutigt und traurig sind, gerade heute, wo das Leben – ich sehe das an meinen eigenen Kindern – nicht immer leicht ist, wenn ich dann also befragt werde, sage ich: Als ich jung war, erwartete ich sehr viel vom Leben – und eines kann ich euch sagen: dass das Leben mir hundertmal mehr gegeben hat, als ich erwartet habe.
Burri: Das hätte vielleicht auch Blaise Cendrars gesagt… Er ist in der Schweizer Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds im Neuenburger Jura geboren, an einem seltsamen Ort, der auf 1.000 Meter über Meer liegt; eine Bergstadt aus der Zeit der kleinindustriellen Revolution, die eine eigene Geschichte hat. Waren Sie da einmal?
Cendrars: Aber ja! La Chaux-de-Fonds ist eine Stadt, die mir in Sachen Blaise Cendrars sehr viel erklärte. Ich fuhr zur Aufführung Blaise Cendrars des Théâtre Populaire Romand (das seinen Sitz in La Chaux-de-Fonds hat, P. B.) und hielt einen kleinen Vortrag. Die Atmosphäre war sehr sympathisch, es gab Leute, die die Familie Sauser noch kannten, und einige kamen zu mir und sagten: „Ich bin ein entfernter Verwandter von Ihnen.“ Ich fühlte mich in La Chaux-de-Fonds sehr zuhause.
Burri: Waren Sie auch einmal im Berner Bauerndorf Sigriswil, wo die Familie Sauser ursprünglich herstammte?
Cendrars: Eben jetzt, vor kurzem. Ich besuchte da eine Bauernfamilie, die zwölf Kühe und schöne Weiden hat, und sie sagten, sie seien meine Verwandten. Ich war entzückt, sie in dieser aussergewöhnlich schönen Landschaft zu sehen.
Burri: Im französischen Sprachraum sind Blaise Cendrars und sein umfangreiches Werk sehr bekannt. Im deutschsprachigen Raum hat es verschiedene Versuche gegeben, diesen Schriftsteller zu den Lesern zu bringen: in den sechziger Jahren, kurz nach seinem Tod, im Rauch Verlag Düsseldorf, in den siebziger Jahren dann im Zürcher Arche Verlag, den damals Peter Schifferli leitete. Wie ist es heute, haben Sie Kontakte mit Cendrars-Interessierten, mit „Cendrarsiens“ deutscher Sprache?
Cendrars: Eigentlich nicht. Es gab hin und wieder ein paar Verlegerkontakte, aber nur kurz auf der Frankfurter Buchmesse. Persönlich kenne ich niemanden deutscher Zunge, der sich auf Cendrars spezialisierte.
Burri: Gibt es ein Buch Ihres Vaters, das Sie am liebsten mögen?
Cendrars: Das ist schwierig in seinem Fall. Jedesmal, wenn er ein neues Werk begann, war vorher „tabula rasa“, war die Vergangenheit gelöscht – das ist, was ihn charakterisierte: dass er sich unaufhörlich erneuerte. Mit jedem Buch begann etwas Neues. Natürlich liebe ich ganz besonders seine Gedichte, die ganz aussergewöhnlich sind und bezeichnend für das 20. Jahrhundert. Was die Prosa betrifft, so ist wohl Bourlinguer besonders wichtig, vor allem das Kapitel „Gênes“, das gefällt mir ausserordentlich. In Le Lotissement du ciel und La Tour Eiffel sidérale gibt es grossartige Passagen, die mir sehr am Herzen liegen. Aber ich kann nicht sagen, dass es ein bestimmtes Werk gibt, das ich den andern vorziehen würde.
Burri: Seit 1984 liegt nun Ihr eigenes grosses Werk über Blaise Cendrars vor, und nun auch auf deutsch. Ist mit diesem Buch Ihr Schreibziel erfüllt?
Cendrars: Damit ist eine wichtige Etappe erreicht, aber ich habe immer noch alle Hände voll zu tun. Aus dem Nachlass von Blaise Cendrars, der längst noch nicht geordnet ist, werden weitere Schriften erscheinen. Und ich arbeite auch selber an einem neuen Buch, das auf meine Kindheit zurückgeht: auf das Leben im Dorf Baiardo in der Nähe von Ventimiglia. Ich bin vor kurzem zum ersten Mal wieder an diesen Ort zurückgekehrt, um das Aufkommen des Faschismus in einem kleinen Bergdorf, wie ich es in meinen frühesten Jahren erlebte, zu recherchieren. Das wird das Thema meines nächsten Buches sein.
Bern, im Mai 1986, aus Peter Burri (Hrsg.): Cendrars entdecken. Blaise Cendrars, sein Schreiben, sein Werk im Spiegel der Gegenwart, Lenos Verlag, 1986
– Eine prägende Begegnung. –
Mit diesem Titelvorschlag – Blaise, für die Zukunft beschworen – tat ich dergleichen, als hätte ich vergessen, dass die Gegenwart eine unmittelbare Zukunft ist. Ich hätte wohl besser gesagt: Blaise, für die Gegenwart beschworen. Denn von heute aus haben wir die Zukunft von Blaise Cendrars festzumachen. Wenn wir von ihm in der Gegenwart reden, treffen wir eine Wahl. Die Erinnerung ist Vorstellung, das hat uns Cendrars reichlich gezeigt, und Proust hat dargelegt, dass die Vergangenheit – als Gleichwertigkeit von Nie wieder und Immer vorhanden – umso umfassender und lebendiger ist im Gegenstand, der die Erinnerung enthält. Cendrars lebt, also. So übrigens lautete die Titelzeile des Frontispizes, das ich für die Nummer 26 der Revue Sud schuf und wo Nino Frank4 sein Glas zum 91. Geburtstag von Blaise Cendrars hob, mit einem neapolitanischen „Cento di questi giorni!“ – was soviel heisst wie: Ich wünsche dir noch ein langes Leben. Und er fügte bei:
Auf dass die Lehrer es dir gewähren mögen!
Wie es scheint (und unsere Zusammenkunft bekräftigt dies), brauchte es gerade Lehrer und Professoren, die einen andern Gang zugeschaltet haben, damit Cendrars zum Thema eines Kolloquiums werden konnte, das ihn uns – ohne dass er dabei zum Fossil geworden wäre – zurückgibt in eine fruchtbare Gegenwart, die nach Zukunft verlangt. Seit der Spezialnummer des Mercure de France, die ein Jahr nach Cendrars’ Tod erschien, wünschte ich mir, dass es mit dieser Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft vorwärtsgehe, denn diese Gegenwart war in meinen Augen erst am Beginnen. Etwas später sollte ich beifügen:
Es ist nun Sache derer, denen das Werk von Blaise Cendrars in unserer Gegenwart als ein Vorwort zur Zukunft erscheint, seine künftige Aktualität und seine menschliche Präsenz zu bezeugen.
Darf ich mir also erlauben, mich heute unter die Gelehrten zu mischen, die aus hoher Warte reden, auch wenn ich nur ein kleines Bekenntnis ablege: das Bekenntnis eines Mannes, der auf alle Ehren dieser Welt verzichtet hätte, wenn er dem „Homer der transsibirischen Eisenbahn“ eines Tages schon auf seiner Reise begegnet wäre. Auf der Rückkehr von einer Reise in die USA hatte ich Cendrars im Januar 1961 den Gruss seines alten Freundes Jacques-Henry Lévesque überbracht. Der Bourlingueur sass festgenagelt in seinem Sessel, in seiner Parterre-Wohnung in der Rue José- Mariade-Hérédia. Sein Gesicht war schon kalt; seine blauen Augen schauten irgendwohin, in eine unsichtbare Ferne. Wenn er sagte, dass er hundert Jahre alt werden würde, stand das für seine Freunde nie in Frage, denn sie waren davon überzeugt. Nur in diesem Punkt hat er uns enttäuscht.
Cendrars wäre heute 94 Jahre alt. Er war vier, als Rimbaud in Marseille mit dem Tod kämpfte. Ein Jahr später sollte Walt Whitman sterben. Man könnte von einem Spiel des Schicksals träumen, das zwei Züge sich kreuzen lässt, in denen Reisende, die aufbrechen, und solche, die zurückkehren, einander einen Bruchteil einer Sekunde lang hätten zuwinken können.
Cendrars lebt. Cendrars heute und morgen. Wieviele Essays, Abschlussarbeiten und Dissertationen, wieviele Erinnerungen gibt es an und über ihn! Und dennoch bleibt er in Frankreich ein berühmter Verkannter, trotz neuer Ausgaben seiner Werke, trotz einer Gesamtausgabe. Es ist, wie Claude Leroy in der Spezialnummer der Zeitschrift Europe vermerkte, als ob „Cendrars lesen immer noch eine neue Idee von Literatur“ bedeute. Man braucht nur in Schulbüchern nachzublättern. Im Abschnitt „La Poésie du Monde et de l’Aventure“ eines bekannten Lehrmittels werden Cendrars zwei Seiten zugestanden, während Emile Verhaeren mit sechs, Anatole France mit zwölf und Charles Peguy mit 37 Seiten bedacht werden. In einem andern vergleichbaren Werk ist Cendrars nur eine Seite gewidmet, Apollinaire deren fünfzehn, Peguy sechzehn, Paul Eluard wieder nur acht; wir haben also den Beweis, dass das Werk von Blaise Cendrars noch immer nicht auf seinen Reichtum hin überprüft wurde, auf seine Andersartigkeit und seine komplexe Tiefe hin. Dieser Autor hat sich jeglicher Klassifizierung lange Zeit entzogen und ist ihr auch entgangen. Für viele ist er immer noch nur der unverbesserliche Reisende, einer, der Kilometer verschlingt, eine Art Vagabund und Globetrotter. Nur wenige haben zu entdecken gewusst, dass sich hinter dieser Maske ein nachdenklicher Mensch verbarg, der – wie Louis Parrot betonte – voller Gier und Neugierde war, „sich in die unabänderliche und immer wechselnde Zeit unserer heutigen Tiefe zu stürzen, in dieses Unendlich Wirkliche, von dem Hölderlin sprach“.
Cendrars als Gegenwart. Cendrars lebt – so wie er auch in mir wohnt seit dem ersten Tag. Da ich nun schon ein Bekenntnis, ein Zeugnis angekündigt habe, muss ich vielleicht etwas über mich selber sagen. 1941, als ich – als Zwangsarbeiter – Holzfäller in den Sevennen war, hatte ich in meinen Brotkorb zu Tabak und Wurst für die langen Winternächte auch ein paar Bücher gepackt. In jener Zeit wuchs ich heran: Ich mengte Rilke, Plato, Gide, Emerson und Tagore durcheinander. Später, in noch übleren Kriegswirren, in der Wüste Afrikas und in den Trümmern von Monte Cassino, versuchte ich mich an andern, noch stärkeren Getränken: an Autoren, die nach Staub, Schweiss und Frauen rochen. Niemand hatte mich aber bis dahin auf Cendrars aufmerksam gemacht. Erst bei Kriegsende, eines Tages auf Urlaub, rannte ich mir bei der Lektüre der Poesies completes und von Homme foudroyé den Kopf ein. Foudroyé, zerschmettert war ich dann selber, und war gleich der ganzen Welt, auch dem Herzen der Welt (Anspielung auf „Le Cœur du monde“, Gedichtzyklus von Blaise Cendrars, P. B.) unendlich gram, dass sie mir diesen grossartigen Dichter vorenthalten hatten.
Zwei Jahre später hatte ich Gelegenheit, Blaise Cendrars zu begegnen. Damals stellte ich aus dem Stegreif eine kleine Zeitschrift auf die Beine und versuchte natürlich, bekannte Autoren zur Mitarbeit zu gewinnen. Muss ich erwähnen, dass nur die Bekanntesten mir geantwortet haben? Cendrars schickte mir einen Text mit dem Titel „Le Ravissement d’amour“, eine Rhapsodie auf den Heiligen Joseph von Copertino,5 woraus später ein Kapitel seines Romans Le Lotissement du ciel werden sollte. Seinem königlichen Geschenk legte Blaise eine Einladung bei, nach Villefranche-sur-Mer zu kommen, wo er damals wohnte, und präzisierte:
Wenn Sie eines Tages kommen wollen, so benachrichtigen Sie mich bitte doch zum voraus, wegen der Verpflegung.
Als Gegenleistung wollte er, dass ich die Gedichte eines seiner Freunde publiziere, der „ganz allein im hintersten Winkel von Äquatorial-Afrika lebt. Damit würden Sie einem verlorenen Poeten eine Freude bereiten. Persönlich“ – so fuhr Cendrars fort – „schätze ich diese verzweifelten Gedichte sehr. Was für ein Trost wäre es für diesen Mann, sich unvermutet gedruckt zu sehen.“ So kam es, dass ich Gedichte von Raymond Lèques in meiner kleinen Zeitschrift publizierte und später, als ich die Editions de la Licorne betreute, auch einen ganzen Band mit afrikanischen Gedichten, der O Mama Yo hiess. Raymond Lèques, längst aus Afrika zurückgekehrt, lebt heute in der Nähe von Bordeaux und hat meines Wissens seither nie mehr etwas veröffentlicht.
Im Sommer 1949 schrieb ich eines Tages an Blaise, um seiner Einladung Folge zu leisten. In jener Zeit arbeitete er viel. Seine Schreibmaschine hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und wollte nicht mehr innehalten. Cendrars antwortete mir, dass er zum Erscheinen von Le Lotissement du ciel nach Paris fahren müsse; doch gleich darauf kam der Gegenbefehl:
Wenn Sie immer noch über ein Auto verfügen, können Sie auf den Nachmittag des 3. Juli kommen. Ich bewege mich nicht von der Stelle. Ich habe zuviel zu tun.
Ein Freund, der nach Italien fuhr, stellte mich in Villefranche ab. Da wimmelte es von Amerikanern. Marine-Einheiten waren vor Anker gegangen. Der Hafen überlief von Mädchen und herumalbernden Soldaten. Doch weiter oben, am Hang, lag die Villa Saint-Segond abgeschnitten von jedem Lärm. In mörderischer Hitze musste ich einen langen, von Bougainvilleen purpurrot leuchtenden und vom starken Geruch von Geranien getränkten Steilpfad erklimmen. Ein Tor führte in einen Urwald, und ich befand mich schweissgetränkt vor Cendrars’ Tür. Ich klopfte. Aus dem Obergeschoss tauchte ein mächtiger, mit einem Freibeuter-Kopf gewappneter Torso auf. Wenig später drückte ich die berühmte main amie. Da stand dieser Mann, so wie ich ihn mir ausgemalt und für mich modelliert hatte, mit seinem Teint von geräuchtem Schinken, seiner zerfurchten Haut, mit seinem lebhaften Elefantenauge, das mich erforschte. Nur seine schleppende Stimme überraschte mich, sein Neuenburger Akzent, der für mich neu war. Und der berühmte Armstumpf, der sich bewegte, faszinierte mich. Blaise hiess mich das Hemd wechseln und plazierte mich in der Sonne, damit ich mich ja nicht erkälte. Sein klarer, in diesem Augenblick undefinierbar heiterer und gleichwohl von schmerzlicher Ironie durchsetzter Blick machte sich am Ärmel seines Hemdes fest, in dem jetzt mein rechter Arm steckte. Dann kam Raymone mit einem Tablett, und ich erkannte die Schauspielerin wieder, die zusammen mit Louis Jouvet mit Molières Schule der Frauen auf Tournee gewesen war: in einer Produktion, in der ich vor zehn Jahren als Statist und Stuhlzuträger für Don Enrique mitgewirkt hatte. Um dieses Jubiläum zu feiern, mischte Cendrars sein Lieblingsgetränk, Weisswein mit Zucker und Zitrone, während der Hund, ein bretonischer Spaniel, der auf den Namen „Wagon-Lit“ hörte, um ein winziges Kätzchen herumtobte, das von einer Siamesenkatze und einem Dachrinnen-König abstammte. „Wissen Sie“, sagte Blaise plötzlich, „dass die Siamesen das Produkt einer dreifachen Hochzeit von Affe, Hase und Katze sind?“ Ich gab vor, gleicher Meinung zu sein, auch wenn ich nicht länger bei dieser Frage verweilte.
Und schon waren wir unterwegs in Brasilien, in Afrika, auf Galapagos und in Traumländern! An diesem Abend schlief ich mit einem Kopf ein, der vor Millionen von Insekten aus Amazonien summte…
Am nächsten Tag kam ich wieder mit nassgeschwitztem Hemd in der Villa Saint-Segond an. Und ein weiteres Mal führte mich Cendrars ins Badezimmer, wo ich mich umkleiden konnte. Auf der Terrasse, die ein musikalisch klingender Wasserbrunnen schmückte, stand im Schatten der Tisch. Während des Essens warf Cendrars dem Hund „Wagon-Lit“ unablässig einen Stecken zu, beide wurden dieses Spiels nicht müde. Die kleine Katze war verschnupft. Raymone setzte ihr einen Löffel Olivenöl vor, während Blaise in Sorge war, weil er den Wiedehopf diesen Morgen nicht gesehen hatte. Und er begann zu erzählen, er erzählte fortlaufend. Er habe Arbeit für mindestens zehn Jahre, sagte er – und diese Schätzung sollte sich dann auch bewahrheiten. Zehn Jahre lang bearbeitete Blaise fortan das fruchtbare Feld seiner Erinnerungen und seiner Phantasie, bevor er sich aus dieser Welt zurückzog.
Denke ich heute an ihn zurück, dann denke ich nicht an den Besiegten von der Rue José-Maria-de-Hérédia, nicht an das schon kalt gewordene Gesicht, das ich dort küsste, sondern an einen Mann, in dem das Leben wohnte: an den fabelhaften Arbeiter von Saint-Segond; und ich will mir lieber ausmalen, er sei – wie in seinem Text „L’Eubage“ – auf eine lange interstellarische Reise gegangen, in der Gischt der Sterne entschwunden (und nicht nur in der „Gischt der Tage“, der écume des jours: so heisst ein berühmtes Buch von Boris Vian, P. B.). Ich kehre immer wieder zu dieser ersten Begegnung zurück, zu diesem Tag, an dem eine Freundschaft begann, als Cendrars kraftvoll und findig erzählte, während wir durch sein „Brasilien“ spazierten: durch einen Dschungel von wilden Palmen, Eukalyptus-Bäumen und Schlingpflanzen, wo zwischen Yuccas und Orangenbäumen auch noch ein paar tausendjährige Olivenbäume lebten.
Und Cendrars erzählte… Zeigte mir die „grösste Glyzinie der Welt“, ein monströses Nest von ineinander verflochtenen Python-Schlangen. Und er erzählte von seinem Dokumentarfilm, den er im wirklichen Brasilien gedreht haben wollte: von einem Film über die Methode, mit der eine Anaconda-Schlange einen Tapir verschlingt und verdaut… Und er vertraute mir an, dass der Puma das Opfer seiner eigenen Sexualität sei; denn sobald ein Puma den Menschen rieche, laufe er herbei – und das koste ihn möglicherweise das Leben…
Dann war der Abschied gekommen. Wir standen am Gartentor. Bevor ich mich auf den Weg machte, der unter der Sonne brannte, erzählte mir Cendrars die letzte Geschichte dieses Tages: In Aix-en-Provence sei er im Schwimmbad einem andern Badenden auf den Kopf gesprungen. Das Opfer habe reanimiert werden müssen. Es habe sich um den amerikanischen Präsidenten Roosevelt gehandelt. Eine wahre Geschichte – oder die Geschichte eines grossen Mythomanen? Jedenfalls eine Geschichte von Blaise Cendrars.
Wenig später schrieb er mir, dass er Villefranche verlasse. Das war Anfang 1950. Er kehrte nach Paris zurück. Er hatte Arbeit noch für zehn Jahre.
Bis zu seinem Tod reichte er mir seine eine Hand, die vier Hände aufwog.
Nun sind es zwanzig Jahre her, seit er von uns gegangen ist – und wir sind zusammengekommen, um ihm gerecht zu werden. Eine Hommage an Cendrars wäre unnütz und nichtig, sollte es sich dabei nur um eine gemeinsame Geste der Erinnerung, um eine Kranzniederlegung handeln. Ich möchte mit meiner Beschwörung eines Menschen, der immer noch so gegenwärtig ist, dazu einladen, vermehrt und besser auf eine Stimme zu hören, die eine der humansten bleiben wird, eine der wenigen starken Stimmen, die in unserer Zeit nachhaltig verkündet haben, „dass Heiterkeit nur von einem verzweifelten Geist erreicht werden kann und dass man, um verzweifelt zu sein, viel geliebt haben und die Welt noch immer lieben muss“ – was eine Gegenhaltung zu Pessimismus, Kleinbeigeben oder Flucht ins Absurde darstellt. Kaum war Blaise Cendrars gestorben, gab es Stimmen, die diese Prosa der transsibirischen Eisenbahn zum alten Eisen legen wollten. Wo aber gibt es heute einen Dichter, der neue transsibirische Wege besingt? Wer hat denn – denkt man an die Fussabdrücke, die der Mensch neuerdings auf dem Mond hinterliess – den Raumflug des menschlichen Geistes und seine schöpfungsmythischen Perspektiven vorweggenommen? Unsere Zeit ist arm an Visionären, an Sehern; sie fördert allenfalls eine verpuppte Geschichte zutage, die nicht im Sinn hat, zu einer Schmetterlings-Legende zu werden.6 Kehren wir also sechzig Jahre zurück, zu den Prophezeiungen von Cendrars in „Panama“:
Sonnen, Monde, Sterne
Apokalyptische Welten
Ihr alle habt noch eine grosse Rolle zu spielen…
Ich warte…
Wenn ich heute eine lebendige Erinnerung an Blaise Cendrars vermitteln wollte, so gerade auch um zu zeigen, dass seine Werke noch immer von lebendiger Gegenwart sind. Über die Zeit hinaus sind mit ihm die Stimme, das Atmen, das Denken und der vitale Rhythmus eines Dichters, der von fortdauernder Aktualität ist, in Bewegung. Darum ist dieser Zeuge allen Jungseins schon immer in direktem Kontakt mit dem „tiefen Heute“ gewesen, darum ist er es immer noch und wird er es weiterhin sein. Ich wiederhole: Blaise Cendrars ist erst im Kommen.
F.-J. Temple, 1981, aus Blaise Cendrars 20 ans après, hg von Claude Leroy, Editions Klincksieck, Paris 1983; es handelt sich um einen Vortag; in leicht anderer Form begleitete dieser Text auch die Cendrars-Werkausgabe im „Club français du livre, Paris 1968–1971, übersetzt von Peter Burri.
Hans-Jürgen Heinrichs: Die Signatur des Feuers
Forian Vetsch: Pionier Rückwärts auf dem Zeitstrahl
Jan Volker Röhnert: Das Fahrrad von Blaise Cendrars
Hugo Dittberner: Die Lokomotive des Schreibens
Frankfurter Rundschau, 1.10.1986
Blaise Cendrars (1887–1961). Dokumentarfilm aus dem Jahr 1999 in der Reihe Un siècle d’écrivains.
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