KOMM MIT NACH WULIN
Von den binnen Wochen erbauten Wolken-
aaakratzern hängt das Grün aus dem Himmel
in die Straßen. Alte, beladen mit einem Eisberg
aaaaus Styropor, fahren vorbei, und in den Augen
der Kinder liegt die Tiefe der konfuzianischen
aaaZeit: Kummer ist eine Art schwerer Zweifel.
Eine Reklame, groß wie eine Schule, bunter als
aaaNächte in den Volieren: BETRINK DICH IM BEZIRK
WULIN! O DER WIND IN WULIN! WO KEINER SCHLÄFT,
aaaIST DAS PARADIES! Im selbstfahrenden Bus, Ziel
Wulin: der eingeschlafene Fahrer, ich breite ihm
aaadie Daunenjacke über die schlotternden Knie.
Kanalbaumuseum, Schiffbaumuseum, Vögel-
aaamuseum, Scherenmuseum, Messermuseum,
Wundenmuseum, Schießpulvermuseum, Katzen-
aaamuseum, Tannenbaummuseum, Regenschirm-
museum, Regentropfenmuseum, Tränenmuseum.
aaaKOMM NACH WULIN! BLEIB IN WULIN! FÜR IMMER!
Poeten, die sich mit existenziellem Ernst den Lebensfragen widmen“, schrieb Dorothea von Törne in der Literarischen Welt über Mirko Bonnés Traklpark. Mit Wimpern und Asche, einem Band mit Gedichten aus den letzten sechs Jahren, bestätigt Bonné, dass er zu den eigenständigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik zählt.
Subtil und präzise widmen sich die Gedichte der Darstellung der Schönheit wie der Zerstörung unserer Welt. In überraschender grafischer Gestalt und kunstvoll gegliederten Kapiteln entfalten sie einen Lesefluss, der in eine erfahrungssatte Lektüre hineinzieht. Diese Gedichte suchen ihresgleichen, sie lassen einen lange nicht los.
Schöffling & Co., Klappentext, 2018
– Wimpern und Asche: Mirko Bonné präsentiert sich in seinem neuen Gedichtband als Enthusiast der Vogelflugdeutung. –
Die Entzifferung der Vogelschrift gehört zu den ältesten Passionen der Dichter. In der römischen Antike war es die Aufgabe des Auspex, aus dem Geschrei und dem Flug der Vögel den Götterwillen zu lesen. In der lyrischen Moderne sind es die naturmagisch gestimmten Poeten, die im Vogelflug ein Zeichen für die brüchig gewordene Seinsordnung erkennen.
Der als Erzähler wie Lyriker gleichermaßen präsente Mirko Bonné präsentiert sich in seinem neuen Gedichtband Wimpern und Asche als großer Enthusiast der Vogelflugdeutung. Laufvögel wie der flugunfähige Nandu sind ihm genauso nahe wie die „Stare im Mohn“ oder seine Wappentiere, die Krähe und die Dohle. Das Gedicht „Einhelligkeit mit Dohlen“ evoziert einen fast mystischen Offenbarungsaugenblick zwischen Mensch und Tier. Es ist die Beschreibung eines anderen Zustands, eine „Innigkeit so mit Dohlen“, die auf zwei Liebende zurückstrahlt, als könne die versiegelte Welt für einen Moment aufgebrochen werden, als ein Vorschein des Glücks.
An gleich zwei zentralen Stellen konstruiert Bonné eine rein lautliche, wortmagische Nähe zwischen einem Poeten und seinem Vogel. „Die Fasane bei Gryphius“, die in gleich zwei Gedichten aufgerufen werden, fungieren als Chiffre einer Verbindung zwischen Schönheit und Vergänglichkeit. In Bonnés 2017 erschienenen Roman Lichter als der Tag formulierten Gryphius-Verse die Grundmelodie eines heillosen Lebens:
Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind.
Wenn nun „die Fasane bei Gryphius“ beschworen werden, dann als Hoffnungszeichen für eine Daseinsempfindung, in dem das Ich „ganz von heller Welt umgeben“ ist, wie es im Gedicht „Grüne Kräne“ heißt.
Das Motto des Gedichtbands zitiert eine Zeile des 2006 verstorbenen Dichters Christian Saalberg, die als Grundbewegung in Bonnés Versen wiederkehrt:
Das Nein entfernt sich und das Ja kommt näher.
Die Daseinsbejahung, die sich im Parlando der meditativen, naturenthusiastischen Gedichte manifestiert, findet einen harten Kontrapunkt im zentralen Gedichtzyklus Wimpern und Asche. Die beiden Grundworte einer sprachmagischen Dichtung sind hier keine Metaphern zur Wiederverzauberung der Welt, sondern annoncieren deren Verwüstung. Denn das Poem spricht von der Verheerung der Meere durch gigantische Mengen von Plastik- und Kunststoff-Müll, die als winzige Partikel in alle Naturstoffe eindringen:
Ich blicke übers Meer,
streue Wimpern, streue Asche, zähle, ich
zähle, was nicht da ist, zusammen.
So wird er oder sie singen,
hintreibend über einen
Atlantik aus Plastik.
Und gegen die Helligkeit, die ansonsten in Bonnés Poesie der emphatischen Selbstvergewisserung aufleuchtet, triumphiert hier die Dystopie:
die Welt wird schwarz
– „Fliegt, ihr Biester!“: Der Dichter und Romanautor Mirko Bonné holt in seinem neuen Lyrikband Wimpern und Asche den Plastikmüll und die Zerstörung der Umwelt in die Sprache der Poesie. –
Vielleicht ist die Lyrik doch, trotz aller Einhegungsversuche, das Unsichere und Flüchtige schlechthin. Sie bewegt sich am liebsten jenseits der Sprachapparate. Mirko Bonnés neuer Gedichtband spielt mit den Assoziationsfeldern zweier Wörter, die sofort in etwas Offenes führen: Wimpern und Asche. Nicht nur der Titel des gesamten Buches lautet so, sondern auch ein als einzelnes Kapitel hervorgehobenes Langgedicht. Es ist eine Art Sprechgesang, knüpft sehnsüchtig und ironisch an die Tradition des Epos an und verhandelt dabei radikal die Gegenwart.
Mit langem geschichtlichen Atem wird zunächst ein Gewässer beschworen, Hamburgs Binnen- und Außenalster. Doch allmählich verwandelt sich der Text in eine rhythmisch aufgeladene Aufzählung all dessen, was mittlerweile an Kunststoffen in den Weltmeeren versammelt ist – eine Plastikmüll-Elegie. Und hier sind „Wimpern“ und „Asche“ untrennbar miteinander verbunden, Objekte, die eigentlich extrem entgegengesetzten Bereichen zugehörig sind – die leichten, sensiblen, sich ständig erneuernden und die Gesichtszüge ästhetisch markierenden Wimpern, aber auch die leichte, abgestorbene, übriggebliebene Asche.
Die kleinen, nahezu unsichtbaren Plastikteilchen, die sich inzwischen sogar in der Tiefsee finden, können für beides stehen: Wimpern oder Asche, und aus diesem zentralen Bild heraus entwickelt sich ein poetologisches Programm. Eine Passage aus diesem Gedicht greift der Autor heraus und stellt sie noch einmal, kursiv gedruckt, als lyrisches Credo an das Ende seines Bandes:
Ich zähle alles, was da ist, zusammen
und komme auf nichts. Ich zähle und
zähle Asche, zähle Wimpern, Blicke,
Boote, Möwen, und ich komme auf nichts.
Fliegt, ihr Biester! Segelt ihnen nach,
Nussschalen. Ich blicke übers Meer,
streue Wimpern, streue Asche, zähle,
zähle, was nicht da ist, zusammen.
Es handelt sich unverkennbar um ein zeitgenössisches Lebensgefühl:
Ich zähle alles, was da ist, zusammen
und komme auf nichts
Es gibt kaum etwas, an das man sich halten könnte. Je mehr Möglichkeiten auftauchen, desto schneller verschwinden sie auch. In einer paradoxen Umkehr zieht das Gedicht jedoch daraus Gewinn:
Ich zähle, was nicht da ist, zusammen.
Das alte Motiv einer ästhetischen Gegenwelt erscheint, und es ist klar, dass dabei immer auch die Vergeblichkeit mitschwingt. Als Antwort bleibt etwas Fragiles, Widersprüchliches, aber auch erstaunlich Beharrliches. Der Dichter benennt weiter und hält fest.
Die Sprache Bonnés ist manchmal spröde, in diversen Gelegenheitsgedichten und Reiseskizzen oft auch nah an der Prosa, referierend, alltagsdurchdrungen. Einflüsse amerikanischer, nüchtern registrierender und doch das Magische streifender Dichter wie Charles Simic oder John Ashbery lassen sich erkennen. Sehnsucht oder Melancholie, Stimmungen also, die in Gedichten nur aus der Distanz heraus wirken können, sind bei Bonné oft mit Humor gekoppelt. Er zitiert sie im Bewusstsein der Gegenwart, und dadurch entsteht etwas Kaleidoskopartiges, das so manche vorläufigen Übereinkünfte außer Kraft setzt.
Dieser Lyriker hat nichts Akademisches. Umso auffälliger sind seine vielen Ausflüge in die Literaturgeschichte – Erinnerungen an die Schreibhaltung und die existenziellen Voraussetzungen früherer Dichter. „An einem grauen Stuttgarter Mittag“ beispielsweise, am starkbefahrenen Olgaeck mitten in der autogerechten Stadt der sechziger Jahre, überfällt ihn plötzlich eine schwäbische Vision in Form von Schiller oder Hölderlin, „die blonde Mähne bis sonstwo“. Und er reflektiert darüber, dass „das Grau oben am Himmel“ damals dasselbe war. In einem kurzen, bestimmten Moment gerät die sich absolut setzende Gegenwart außer Kontrolle, und etwas Neues stellt sich ein:
Die Zärtlichkeit,
die fehlt, bis du sie spürst, bis du
spürst, du lebst, sie war dieselbe,
die Abgestorbenheit ist nur Gerede.
Diese Rückversicherungen durch literarische Vorläufer sind charakteristisch für Bonné. Er ist neben seinen eigenen Texten bereits als Übersetzer aus dem Angelsächsischen hervorgetreten, und als virtuoser Stimmenimitator zeigt er sich auch in etlichen seiner neuen Gedichte. „Tränenturm“, eine Hölderlin-Imagination, versetzt sich in die brennende Sprache des dichtenden Revolutionärs, der im Tübinger Turm festsitzt, und es gibt auch eine völlig anders gelagerte Faulkner-Maskerade, Shakespeare-Adaptionen oder ein biografisches Augenzwinkern mit Apollinaire. Und es findet sich sogar ein Songtext im Stil von Peter Gabriel, der von innen her aufgeraut und mit allen nötigen Indikatoren der Ironie ausgestattet wird.
Dies gehört zuverlässig zu den Merkmalen und Stützen von Bonnés Zeitbefragungen, den Brechungen allzu eindeutiger Befindlichkeiten und Theorien. Dem entsprechen auch Erkenntnisse wie jene, dass „Plastik“ bei Novalis ein rein ästhetischer Begriff war, jetzt aber die Weltmeere verseucht. Die Natur ist für Bonné immer noch ein zentrales poetisches Sujet. Er improvisiert gern mit alten Mustern der Landschaftslyrik. Tiere, vor allem Vögel, spielen eine große Rolle, und manchmal schieben sich durch Technik und Bewusstsein geprägte Wahrnehmungsmuster auf überraschende Weise in romantisch angelegte Bilder:
Blumen, die aussahen, als fotografierten sie das Gras.
Die Spiele des Dichters mit Vergänglichkeit und Sehnsucht sind von der Zerstörung der Umwelt gezeichnet, von den verheerenden Auswirkungen der kapitalistischen Zivilisation. An einem leeren walisischen Strand stößt die lyrische Stimme auf verlassene Spielhallen und Spaßbuden, eine „Wirklichkeit“, „offshore eingespeist in ein von jeher erloschenes Netz“. Die letzten beiden Zeilen des betreffendes Gedichts lauten „Untergangsunter- / haltung“. Dass sich der zeitgenössische Lyriker zwangsläufig mit solchen Vorgaben konfrontiert sieht, die er nicht ausschalten kann, scheint in diesem Wort zu kulminieren. Es ist aber nicht das letzte.
In dem Stuttgarter Hotel, in dem durchreisende Schriftsteller untergebracht werden, wohnte Bonné offenkundig einmal im siebten Stock, ein paar Seiten weiter führt der „siebte Stock“ zu einem lyrischen Selbstbild in New York. So stellen sich Bezüge her, die der vorgefundenen Wirklichkeit etwas entgegensetzen, ohne unwirklich zu sein. Selbst dem „Mauerseglerhitze“ im November, dem viel zu warmen Spätherbst, kann ein „lindes Pulsen der Luft“ abgewonnen werden. Das wirkt wie ein Gegengift. Die Sinnlichkeit dieser Gedichte entfaltet sich durch Wahrnehmung und Beobachtung.
Der Lyriker Mirko Bonné verhandelt seine Subjektivität immer mit. Sie zweifelt an sich und fragt, hier wird nicht von außen ein Mischpult bedient. Unsicher und flüchtig, so ist dieses Ich, doch es bewegt sich umso bewusster im „Licht“, einem häufig wiederkehrenden Motiv in diesem Band. Es kommt darauf an, wie man etwas sieht, selbst an einem verregneten Morgen in Melbourne:
Sie ist ein Regen,
die Welt, und liebt die fünf Sinne. Über-
schwemmt dich. Ist zartfühlend, ist schroff
oder Buschfeuer.
Jeder erwartet viel Besseres als Träume.
Such keinen Ausgang, finde den Eingang!
(Zitat aus „Venceremos“, Seite 67)
Inhalt
Dieser Band enthält Gedichte, die in den letzten sechs Jahren vor dem Erscheinungsdatum entstanden sind, in insgesamt dreizehn Kapitel zusammengefasst, deren Überschrift sich immer als Aussage in einem der Gedichte des jeweiligen Kapitels wiederfindet. Nur das Kapitel „Wimpern und Asche“, das diesem Gedichtband auch den Namen gibt, umfasst ein einziges Gedicht.
Themen und Sprache
Die Themen umfassen alle Bereiche des Lebens, Gedanken, Gefühle, Fragen und die Suche nach Antworten. Es sind oft kleine Situationen, die den Autor zu seinen Gedanken und Überlegungen anregen, die sich dann oft zu einer Geschichte weiten. Da besucht er zum Beispiel das New Yorker Metropolitan Museum und findet dort, am Fuße einer Statue der Aphrodite, ein Gecko, klein, blau, aus Gummi, unterhält sich mit ihm. Immer wieder geht es um die Schönheit der Natur in allen Jahreszeiten und darüber, wie wir Menschen sie zerstören. Das Gedicht, das diesem Gedichtband den Namen gibt, „Wimpern und Asche“, ist eine Gedankenreise in epischer Länge, von der Alster bei Hochwasser folgt der Text drei Plastikkanistern, die dort treiben, in die Elbe, in die Nordsee, verbindet sie mit Fakten zu Mikroplastik im Meer.
Obgleich für Plastik wohl
dasselbe gilt wie für die Seele. Ein
endgültiges Verschwinden,
nein, das gibt es nicht.
(Zitat aus „Wimpern und Asche“, Seite 76, 77).
Das Gedicht „Zwischen den Zeilen“ dagegen erinnerte mich sofort an die Romane Eiskalte Himmel, 2006, und seinen neuen, 2021 erschienenen Roman Seeland Schneeland.
Am Morgen war die Schneelandschaft
zurück, nicht irgendeine, sondern die
am Ende des Romans. Und damit auch
das ganze Buch mit seinen Menschen.
(Zitat aus „Zwischen den Zeilen“, Seite 116)
Fazit
Mirko Bonné ist ein Poet, der uns in seinen Gedichten, wie auch in seinen Romanen, eindrückliche und bewegende Geschichten erzählt.
DIE FÜNF. Fragen an Mirko Bonné
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