– Zu Christine Lavants Gedicht „Hinfällig starre ich ins Rad der Zeit…“ aus dem Gedichtband Christine Lavant: Die Bettlerschale. –
CHRISTINE LAVANT
Hinfällig starre ich ins Rad der Zeit.
Wie langsam drehen sich die Sonnenspeichen!
Kein Meister lehrt mich, früh das Ziel erreichen,
doch scheint es oft, als wär ich eingeweiht.
Die Allernächsten gaben mich dem preis,
was in den Höhlen der Verlassenheiten
begreifbar ist, und meine Finger gleiten
entlang der Bilderschrift, die alles weiß.
Viel lieber säße ich noch tief im Mohn
bei Trost und Hoffnung und ein wenig Lüge,
denn hier trägt alles schon die klaren Züge
der argen Wahrheit – man erfriert davon.
Die ontologische Bedrängnis wird in den Gedichten Christine Lavants immer wieder durch Symbole einer schicksalhaften Verflechtung, eines geheimnisvollen Drehens um die Dinge der seelischen Welt ausgedrückt. Es ist ein Verlauf, dem das Ich ausgeliefert ist, bei dem es aber geistig aktiv bleibt. Zwischen dem Suchen und Fühlen, zwischen einer Aufklärung und Betäubung, zwischen Verstand und Instinkt findet sich das Ich in einer existentiellen Not. Im Dialog mit unbekannten Mächten sucht es Sinn und Gründe für das, was mit ihm geschieht. Die Bilder, mit denen die Dichterin das ausdrückt, sind drastisch, elementar, konnotativ weitreichend, aber die einzelnen Wörter und die Sätze sind grammatikalisch korrekt, sie lassen sich nach den Kategorien bestimmen. Jedoch oft nur auf den ersten Blick. Dringt man tiefer in diese sprachlichen Strukturen ein, so sieht man zwar immer noch Gesetzmäßigkeiten, aber dabei viele Berührungen, Übergänge, Zugehörigkeiten zu mehreren Kategorien oder Gegensätze im formal Bestimmbaren. Es sind zwar keine Sprachexperimente, wie man sie in der modernen Lyrik findet, vielmehr ein Sprachgefühl, das den besonderen seelischen Gesetzen des eigenen Ich folgt. Nicht willkürlich, sondern so, daß die grammatikalischen Normen, berücksichtigt, aber doch mit dem jeweiligen Empfinden variabel werden.
Den Übergang zu solchen Ausdrücken in einer schmerzlichen Empfindung der Welt zeigen schon einige Gedichte im ersten Gedichtband Die unvollendete Liebe. Noch deutlicher wird das in der Bettlerschale. Nehmen wir daraus das folgende Gedicht:
Hinfällig starre ich ins Rad der Zeit.
Wie langsam drehen sich die Sonnenspeichen!
Kein Meister lehrt mich, früh das Ziel erreichen,
doch scheint es oft, als wär ich eingeweiht.
Die Allernächsten gaben mich dem preis,
was in den Höhlen der Verlassenheiten
begreifbar ist, und meine Finger gleiten
entlang der Bilderschrift, die alles weiß.
Viel lieber säße ich noch tief im Mohn
bei Trost und Hoffnung und ein wenig Lüge,
denn hier trägt alles schon die klaren Züge
der argen Wahrheit – man erfriert davon.
Das Gefühl der ohnmächtigen, bedrohlichen Situation des Ich in der Welt ist fast total geworden. Zwar gibt es auch hier Kontraste, die vom Verlorensein bis zur Ahnung eines höheren Sinnes reichen. Doch ist es am Ende nicht klar, was dieser Sinn ist: die vernünftige Erkenntnis oder das unbewußte Ahnen, das in einer Art Betäubung vorkommt, wofür die Dichterin scheinbar plädiert. Im Gedicht ist auch etwas vom Selbstbewußtsein, vom Stolz zu spüren, was in einigen anderen Gedichten in diesem Band als Zorn, Auflehnung, sogar als Blasphemie vorkommt. Durch die grammatischen Oberflächen werden Hintergründe verschieden gefärbt. Das System der Sprache ist da und verursacht in Berührung mit einem ursprünglicheren System und mit der dichterischen Natur eine besondere Ausdrucksweise.
Dreimal kommt im relativ kurzen Gedicht das Personalpronomen „ich“ vor. In der Infinitivstruktur des dritten Verses „… Kein Meister lehrt mich früh das Ziel erreichen…“ ist auch das Ich eingebaut, ebenso im letzten Satz des Gedichtes – „man erfriert davon“, der dem Sinn nach passivisch ist, das Indefinitpronomen hat aber auch hier deutlich das Ich impliziert. Zweimal kommt noch der Akkusativ mich vor und einmal das Possessivpronomen meine. Das dichterische Subjekt ist das Zentrum der Vorgänge von Dauer und der Zustände. Im ersten Vers wird das Ich mit einem durativen Verb im Aktiv starre verbunden. Auch das ist aber mehr ein Zustand als eine Handlung. Die Zustände werden ja von einem Agens verursacht, das nicht genannt wird. Auch das Ich im ersten Vers der letzten Strophe hat ein duratives Verb „säße“ als Prädikat. Auch das ist mehr ein Zustand als eine Handlung. Deutlich wird der Zustand im letzten Satz der ersten Strophe „… als wär ich eingeweiht“ ausgedrückt. Der folgende Vers in der zweiten Strophe „Die Allernächsten gaben mich dem preis…“ hat eine aktive Form, durch das Prädikat „preisgeben“ und die Lexeme „Höhlen der Verlassenheit“ sowie durch das Demonstrativpronomen dem, das hier mehr als ein Indefinitpronomen fungiert, wird das Ausgeliefertsein, das ja einem Zustand ähnlich ist, ausgedrückt. Auch in der Struktur „… denn hier trägt alles schon die klaren Züge / der argen Wahrheit“ drückt das Adverb hier mehr einen Zustand in der Dichterin (in mir) aus. Zustände und Vorgänge, von außen verursacht, sind die dichterischen Aussagen. Jedoch bedeutet das keine Statik der Empfindung, keine Erstarrung des Denkens.
In den Wortkategorien des Gedichtes sind die Kontraste deutlich. Sie drücken eine Spannung, ein Suchen aus. Die Ohnmacht ist gleich am Anfang mit dem Adverb „hinfällig“ (auch als Adjektiv „Ich Hinfällige“ zu verstehen) und das Verb „starre“ ausgedrückt. „Das Rad der Zeit“ ist nicht nur als ein zeitlicher Verlauf (mit Assoziationen an die Uhr) zu begreifen. Es ist ja eben in diesem Gedichtband auch das Gedicht „Gerädert von deiner Sonne“. Das Rädern als Symbol des Folterns klingt auch im „Rad der Zeit“ mit. Die Sonne ist hier nicht ein Symbol der angenehmen Wärme, sie ist ein „Rad“ mit „Speichen“. Grelles Licht, Hitze, aber auch Verlauf der Zeit, wo man alle Momente erlebt. (Die Sonnenspeichen drehen sich langsam.) Einige positive Elemente des Symbols Sonne sind jedoch auch in diesen Versen zu spüren, obwohl sie nicht direkt ausgedrückt werden.
Das Magische des zentralen Planeten in seiner Verwobenheit mit dem Menschen (Größe, Kraft, das schicksalhafte Geschehen) fühlt man deutlich. Es sind auch die Begriffe „Meister“ und „Ziel“ damit verbunden. Unbekannte, überirdische kosmische Kräfte gibt es, wodurch unser Leben geleitet wird. Etwas, was sich eben die Menschen darunter vorstellen: ein persönlicher Gott, mystische Mächte oder physikalische kosmische Geheimnisse. Eine Magie haftet dem Geschehen an, das Ganze ist unentwirrbar, es gibt keine letzten Erkenntnisse, obwohl wir diese suchen. Das bedeutet aber bei der Lavant hier keine völlige Hingabe an die unbekannten Mächte. Sie ist sich ihres denkenden, suchenden Wesens bewußt, ist geistig sogar zu aktiv, eine Denkerin und Seherin, gleichzeitig eine Eingeweihte und Verdammte.
Die ersten zwei Strophen beginnen mit Aussagen vom Leiden (in je drei Versen), dann kommt das Gefühl des höheren Sinnes, der Eingeweihtheit. Ein Kontrast, ein Versuch der Rettung, Hoffnung, eine Umkehrung. In beiden Strophen wird das auch grammatisch mit adversativen Verhältnissen der Sätze ausgedrückt: „… doch scheint es oft, als wär ich eingeweiht. … und meine Finger gleiten / entlang der Bilderschrift, die alles weiß.“
Beide Verhältnisse drücken auch etwas Konsekutives aus, was auch ein dem Sinn des Gedichtes entsprechender grammatischer Bau ist. Ein Kontrast mit seiner Tragik geht in der zweiten Strophe von den Allernächsten aus, von denen die Dichterin an etwas Furchtbares preisgegeben wurde, das nicht genannt, aber im Bild „Höhlen der Verlassenheiten“ zu spüren ist. Es ist gewiß kein mystisches Phantom, sondern das furchtbare ontologische Empfinden des Alleinseins. Doch dadurch entsteht auch eine feinere, obwohl schmerzhafte Sensibilität, das Ertasten einer Bilderschrift, die alles weiß. In der ersten Strophe ist die Einweihung, die durch das Leiden kommt, noch als positiv zu fühlen. In der zweiten Strophe läßt sich die „Bilderschrift, die alles weiß“ als ein großes, tiefes Wissen deuten, das zur Weisheit führt, oder als eine schmerzhafte Aufklärung, die in eine Verzweiflung führt. Bei der Lavant ist in diesem Gedicht nichts davon gesagt, es ist aber alles drinnen, in einer Qualität, die zwar in der Weltliteratur bekannt, aber doch hier auf eine typische Art ausgedrückt ist. Der Mohn in der dritten Strophe als Symbol der Betäubung, der Ruhe, die dadurch kommt, ist bei der Dichterin oft zu finden. Auch in der Weltliteratur. Die Struktur „im Mohn sitzen“ ist jedoch der Lavant eigen. „Trost“, „Hoffnung“, „Lüge“ sind in einer kopulativen Folge angeführt, doch ist Lüge ein Kontrast zu den bei den vorigen positiven Begriffen. „Lüge“ bildet auch einen Übergang zu den… klaren Zügen der argen Wahrheit als dem negativen Pol. Das Gedicht endet mit dem Satz – „man erfriert davon“.
Es ist keine vollkommene Verneinung des Wertes der Erkenntnisse, sondern ein Ausdruck des Zustandes, der durch die Aufhellung im Wahrnehmen des Alleinseins entsteht. Die letzte Strophe beginnt mit einer (obwohl täuschenden) Hoffnung und geht dann – auch mit einem adversativen grammatischen Verhältnis der Sätze – in die Erschütterung über. Ein Erschrecken zieht sich durch das ganze Gedicht, es endet in der Kälte, Leere. Die Hoffnung ist aber trotzdem angedeutet, es gibt ein Gleiten in die Betäubung. Das mag etwas Ursprüngliches oder Höheres sein, eine Hingabe an andere Mächte – auch als Kunst. Hier ist es eine Betäubung (symbolisch auch ein Rauschzustand der Kunst).
Eine existenzielle Bedrängnis, ein Erkennen der Tragik, aber doch ein Leben und Suchen, Hingabe, Verzweiflung, Empörung, Aussöhnung sind überhaupt die Gegensätze in der Dichtung Christine Lavants. Sie zeugen von einer vereinsamten, empfindsamen, suchenden Seele mit vielen Schlägen des Schicksals in einer rätselhaft ahumanen Welt. Das drückt sich auch grammatisch durch die vielen Antonyme und durch die adversativen und konsekutiven Sätze aus, die sehr oft nach kopulativen Sätzen eine Wendung, eine neue, gegensätzliche Aussage bilden.
Mirko Križman, aus Grete Lübbe-Grothues (Hrsg.): Über Christine Lavant, Otto Müller Verlag Salzburg, 1984
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