– Zu Christine Lavants Gedicht „Verborgene Spindel im Mond“ aus dem Band Christine Lavant: Spindel im Mond. –
CHRISTINE LAVANT
Verborgene Spindel im Mond
Wer dreht zwischen Vater und Sohn unsre Zeit,
wer webt an den hänfernen Sterbestunden,
wer stellt ihrem Docht alle Öltropfen vor
und führt hinters Licht unsre Augen?
Spindel, Spindel – ich schaue dich an.
Ich durchschaue das Rad zwischen Gestern und Morgen!
Aber heute geht mir die Kindschaft durchs Herz,
aber heute wächst mir der Hanf um den Hals
und verknüpft dort den Vater, den Sohn und die Zeit,
um das Rad aus den Angeln zu heben.
O Spindel, gib dein Geheimnis her!
Ich schreie dich an durch viel hündische Stunden,
sie umkreisen die Frucht der lebendigen Zeit
und locken den wölfischen Tod in den Docht
und mich in das Mutterleib-Zwielicht.
Das erste Gedicht des Bandes Spindel im Mond ist ein repräsentativ einleitendes Gedicht: Man findet da einige Anklänge an das Gedicht „Hinfällig starre ich ins Rad der Zeit“ aus der Bettlerschale. Ein Kreisen, ein Flechten des Schicksals, voller Geheimnisse, die aber auch hier zu tieferen Erkenntnissen, zum Seherischen führen. Die Gegensätze zwischen der rationalen Aufklärung und den Instinkten gehen wieder in ein Halbbewußtsein, in eine Betäubung über, wo die Welt mit anderen Augen durchschaut und der Weg ins Unterbewußte, Instinkthafte des menschlichen Wesens gesucht und befürwortet wird.
Wieder gibt es ein zentrales zeitliches und magisches Symbol – den Mond.
Viele alte Völker zählten ihre Zeit nach den Erscheinungen dieses Himmelskörpers (z.B. die alten Juden und ihre benachbarten Völker). Auch Bräuche, durch die religiösen Vorschriften bestimmt, richtete man nach den Erscheinungen des Mondes. Man weihte dem Mondgott die Erstgeburten der Tiere. In der Bibel ist auch oft vom Mond die Rede. Die Dichterin kannte die Bibel sehr gut. Eine magische Kraft des Mondes spiegelt sich auch im antiken Mondeskult ab, ausgedrückt durch die Symbolisierung in der Gottheit. Licht, Schlaf, Rausch, Magie, all das schrieb man schon von alters her dem Mond zu. Das kennt man schon seit dem Sanskrit. Solche Empfindungen ziehen sich durch die Literaturen bis heute.
Bei der Lavant gibt es außergewöhnlich viele Variationen mit dem Mond-Symbol.
Dazu kommt schon am Anfang das Symbol „Spindel“ vor. Es handelt sich um ein uraltes Gerät, hier assoziativ das Drehen verstärkend. Das Motiv und das Symbol sind aus mehreren Erfahrungen der Dichterin zusammengesetzt. Der Faden und das Verknüpfen sind in der Weltliteratur häufige Veranschaulichungen des Lebens, der verlaufenden schicksalhaften Begebenheiten und Zustände. Spinnen, weben, abschneiden (und damit verbunden die Spindel) sind mythologische Bilder der Geburt, des Schicksals, des Todes (vgl. die Moiren in der griechischen Mythologie, ähnliche Symbolisierungen des Schicksals findet man aber auch bei anderen indogermanischen Völkern). In den Volksmotiven spielt das Spinnen eine wichtige Rolle; es war ja eine der notwendigsten Arbeiten für den Lebensunterhalt. Die Arbeit verlief meist in Räumen, oft an Abenden, was bei primitiven Lichtern und Mondeslicht sagenhafte Gespräche auslöste. Überlieferte Erzählungen wurden mit neuen Elementen erweitert oder umgedeutet, etwas Feierliches und Magisches haftete aber immer daran. Unter den Kärntner Sagen von Franz Pehr findet man auch die Sage „Vom Flachsspinnen“. Da wird von einer Bäuerin erzählt, die bei Mondlicht spann und deswegen vom ärgerlichen Mond sieben Spindeln in die Stube geworfen bekam, um sie bis Mitternacht vollzuspinnen. Das gelang ihr durch List, aber der Mond tadelte sie doch und drohte ihr mit dem Tod, wenn sie noch nachts arbeiten würde. Die sagenhafte Verbindung von Spindel und Mond zeigt sich hier deutlich.
Im bäuerlichen Milieu, wo die Lavant lebte, konnte sie empirische und sagenhafte Erlebnisse der Spindel, des Flechtens, der Mondnächte in sich aufnehmen. Das Archaische zog die Dichterin an, ihr Wesen und Schaffen in einer Spannung zwischen dem Wirklichen und Irrationalen, zwischen Wachen und Träumen, zwischen Aufklärung und Betäubung fand durch neue Bilder ihre bedrängnisvollen existentialistischen dichterischen Aussagen. Einer Existenz in seelischer Not ist die Spindel eine Zeitmetapher und auch eine Metapher für körperliche und geistige Arbeiten, das Dichten mit eingeschlossen oder vor allem hervorgehoben. So „entgeht“ die Dichterin „der vergehenden Zeit zwischen Gestern und Morgen… durchschaut sie, das heißt, hintergeht sie transzendierend in der poetischen Schöpfung…“
Es bleibt aber das Geheimnis des Lebens. Das wird schon durch das einleitende Attribut „verborgene“ angedeutet. Generationen sind dem Schicksal (Leben) ausgeliefert, dessen Agens und Sinn befragt wird. Das führt die Dichterin dann im zweiten Vers mit dem Fragepronomen „Wer“ und dem Verb „dreht“ weiter. „Vater“ und „Sohn“ sind Symbole der Generationen, aber auch eine leichte Assoziation an das zentrale Ereignis in der christlichen Mythologie. Unsere Zeit verläuft in ständigen Überlieferungen; auch in Spannungen zwischen den Generationen. Es ist das Leben und Sterben, das ewige Geschehen, mag es idealistisch oder materialistisch aufgefaßt werden. Wir sind fürs Sterben prädestiniert, das „Weben“ der Sterbestunde beginnt ja schon beim Keim des Lebens. Es ist wie ein Brennen des Lichtes, das zuletzt auslöscht. Das ist in diesem Gedicht in der ersten Strophe mit den Symbolen „hänfernen Sterbestunden“, „Docht“, „Öltropfen“, „Licht“ ausgedrückt. In der Weltliteratur findet man eine solche Symbolik (besonders das Brennen des Lichtes als Symbol des Lebens, Öl oder Wachs als Symbole des Heiligen oder der menschlichen körperlichen Substanz, die das Leben – auch im seelischen Bereich – ermöglicht) sehr oft. Die Lavant formt aber hier die Frage: „… wer stellt ihrem Docht alle Öltropfen vor / und führt hinters Licht unsre Augen?“ Es ist die Frage nach der Energie des Lebens, nach dem Ursprung des Lebens, nach der Erkenntnis dieses Geheimnisses, wodurch wir dann ein anderes Licht sehen könnten, eben das, was hinter dem rational bewußten Leben, dem schmerzlich Erkannten, wodurch und wovon man erfriert, irrational bleibt. Die Symbole in dieser Strophe sind auch als Variationen der biblischen Symbolik zu erkennen (Licht, Offenbarung, Erkenntnis, Hoffnung, Erlösung, auch Gefahr). Auch aus der heidnischen Anbetung der Sonne und des Feuers stammt schon die symbolbildende Anregung. Das kennt man bei den ältesten Kulturen.
Die zweite Strophe beginnt mit der Gemination „Spindel, Spindel…“ Es ist wie ein Seufzer, eine Ermahnung und schließlich eine Personifizierung mit der Anrede des Durchschauten. Zwei Verben führen zu solcher Aussage: „schaue… an“ und „durchschaue“. Das zweite Verb ist die Folge des ersten und des bildhaft geschilderten Geschehens, samt der Schlußfrage in der ganzen ersten Strophe. Es wird das Rad „durchschaut“. Wie im vorigen Gedicht ist das ein Symbol des zeitlichen Verlaufs, besonders wenn wir noch die gleich folgenden substantivierten Adverbien Gestern und Morgen im Kontext berücksichtigen. Nicht ganz ohne Assoziation an das Rädern ist auch diese Symbolik (denken wir an den zweiten Vers des Gedichtes „Gerädert von deiner Sonne“ … „gerädert von deinem Mond…“, ebenso an den Vers „Das Sonnenrad darf nicht beraten, nur rädern…“ des Gedichtes „Im Traum, der kein Traum ist“ in der Sammlung Die Bettlerschale). Die nächsten vier Verse in dieser Strophe lassen das auch zum Teil vermuten. Es sind zuerst zwei adversative Sätze, die eine Abkehr von diesem „Rad“ und der „Spindel“ ausdrücken. Den schmerzlichen Vorgang, den durchschauten Verlauf der Zeit, will die Dichterin nicht mehr wahrnehmen. Eine Flucht ins Unbewußte – in die „Kindschaft“, wo man an das „Weben“ der Zeit nicht mehr denkt, sondern das Leben als einen instinkthaften Vorgang fühlt, samt dem Tod, der ein Teil dieses Vorganges ist und sich nähert, ein Kontinuum des menschlichen Lebens bedeutet. Das wird mit den Versen „… aber heute geht mir die Kindschaft durchs Herz, / aber heute wächst mir der Hanf um den Hals…“ ausgedrückt. Das dichterische Ich wird ausgeliefert, dargebracht wie ein neugeborenes Wesen dem Mond, der Macht.
Das ist auch eine Umkehr, eine Wandlung im Empfinden: keine Frage mehr nach den Generationen, nach der Zeit, wo sich so viel Schicksalhaftes abspielt; es ist eine natürliche Ganzheit, ein totales Leben, eine totale Welt. Das Zeitbewußtsein und die Spannung darin sollten vergessen werden, es ist ein anderes Erlebnis des Verlaufes der Dinge, das übliche „Rad“ soll „aus den Angeln“ gehoben werden.
Hier sind es die Angeln (im Rad, in der Spindel des Mondes), im vorigen Gedicht waren es die („Sonnen“)„speichen“, beides ein Symbol der Spannung des nach gewissen Gesetzen sich drehenden Lebens. Die Flucht davor ins Unbewußte ist in beiden Gedichten eine Folge der schmerzlichen Erkenntnis des trockenen, furchtbaren, geheimnisvollen Geschehens, von dem die erste Abkehr in das seherische und dann in das instinktive Empfinden der Welt führt.
Seherin, Kind, Närrin, Törin sind bei der Dichterin oft Begriffe für ein total empfundenes Wesen ohne Spaltung des aufgeklärten und leidenden Ichs.
Noch einmal wird in diesem Gedicht das Geheimnis angerufen in der dritten, letzten Strophe. Es ist wieder ein Seufzen, gesteigert in einen Schrei, in ein Verlangen nach dem Sinn dieses schrecklichen Zeitverlaufes mit seinem Leiden. Die Zeit wird hier sogar mit dem normalen Begriff „Stunden“ ausgedrückt, aber das Attribut „hündische“ bezeugt, daß es sich ums Leiden handelt. Symbolisiert wird das durch die Strukturen… die Frucht der lebendigen Zeit, wo man sich des Todes bewußt ist, der gierig kommt, noch früher und gefräßiger, weil man leidet und sich schneller verbraucht. Das drückt der vorletzte Vers aus:
… und locken den wölfischen Tod in den Docht.
Das Verb „locken“ besagt, daß sich durch das Leiden das Leben auch allein aufzehrt, der Tod wird beschleunigt, die Lebenssubstanz – der Docht – wird aufgefressen.
Aber im kurzen letzten Vers ist wieder eine Rettung angedeutet. Es ist in Wirklichkeit wieder ein adversatives Verhältnis, trotz der formal kopulativen Gliederung. Wie im vorigen Gedicht wird auch hier eine Rettung im Unbewußten gesucht, eine Abkehr von der erkannten Welt, vom „Licht“ dieser Welt. Zurück ins Ursprüngliche, Instinkthafte, Sichere, hier ausgedrückt durch das Symbol „Mutterleib“–„Zwielicht“. Es ist ein Licht, aber ein anderes, nicht das des Erkennens, wo man erfriert, sondern ein warmes, anders kreisendes, instinkthaftes Empfinden des Lebens.
Das Gedicht ist voller Spannung. Wieder zeigt sich das in den Antonymen, nicht immer im einfachen semiotischen Sinn, sondern in der Position des Empfindens. Es sind gegensätzliche, einander folgende oder voneinander abhängige Dinge, Erscheinungen, Geschehnisse.
Substantive – als Schlüsselwörter der Existenz:
Spindel – Mond;
Vater – Sohn – Zeit;
Sterbestunden – Docht – Öltropfen;
Licht – Augen;
Kindschaft – Herz;
Mutterleib – Zwielicht;
Die existentielle Bedrängnis könnte man aus diesem Rahmen erkennen. Ebenso wäre es mit den Verben, verbunden mit einigen Substantiven und Personalpronomina:
geht mir durchs Herz;
wächst mir der Hanf um den Hals;
locken den wölfischen Tod in den Docht;
und mich in das Mutterleib-Zwielicht;
Auch die Adjektive samt den Substantiven als Beziehungswörter:
hänfernen Sterbestunden;
hündische Stunden;
der lebendigen Zeit;
den wölfischen Tod;
Die ganze erste Strophe ist aus Fragesätzen gebildet. Auch die Anfangszeile drückt durch das Attribut verborgene eine Ungewißheit (eine Frage im weitesten Sinne) aus. Dann kommt in der zweiten Strophe das scheinbar Gefundene (es ist aber nur gespürt) und die Erkenntnis, dann eine Abkehr in adversativen Sätzen mit der Infinitivstruktur als Finalverhältnis. Der Anrede in Form eines Befehlssatzes folgt ein formaler Aussagesatz, der aber auch als Befehlssatz empfunden wird. Die beiden nächsten Sätze sind auch formal Aussagesätze, man fühlt sie entweder adversativ oder als Attributsätze zum vorigen, obwohl sie die Struktur von Hauptsätzen haben. Und dann kommt der Schluß (und Entschluß) mit dem adversativen Verhältnis trotz kopulativer Form.
Es geschehen Dinge, sie werden angereiht, aber schon darin sind Fragen, Zweifel, gegensätzliche Empfindungen und Gedanken. Deswegen decken sich die Sätze kontextuell-semiotisch nicht immer mit den formalen grammatischen Kennzeichen und Kategorien. Es ist eine tiefere, unruhige dichterische Gedankenwelt.
Die erste Strophe enthält Fragen eines Menschen überhaupt. Das dichterische Ich ist daran beteiligt, interessiert am Schicksal der Menschheit. Die zweite und die dritte Strophe enthalten Ich-Rufe und Ich-Aussagen. Zuerst haben wir zwei Personalpronomina „ich“ als Subjekte in aktiven Sätzen. Es ist aber auch hier ein „Schauen“ und „Durchschauen“, also nicht eine äußere, sondern eine innere Aktivität, dem Vorgang nahe. Deutlich wird dann der Vorgang, wenn in den nächsten zwei Zeilen mit dem vorigen Subjekt – hier grammatisch ein Objekt „mir“ – etwas geschieht. Das eigentliche Subjekt des Kontextes ist dieses Objekt, weil die Vorgänge mit ihm, nur mit seiner inneren Dynamik möglich sind. Auch die „Kindschaft“, die hier als Subjekt einen gewaltigen Akt vollziehen soll, ist nur im Ich. Dieses wird am aktivsten in der letzten Strophe: „Ich schreie dich an…“ aber dann kommt wieder ein Vorgang mit dem Ich, obwohl die Objekte, die Adverbialien und das grammatische Subjekt („… viel hündische Stunden“) außerhalb des Ich sind. Als Bilder fungieren sie jedoch im Sinne der Aktivitäten des dichterischen Ich, das von den geheimnisvollen, gefährlichen Kräften, von der Spaltung, in die ursprüngliche komplexe Geborgenheit will.
Auch hier gibt es keine passive Hingabe, es ist eine geistige Aktivität, wo ein Suchen, Ergründen, Anreden, Zweifeln, ein gewisses Erkennen, Schließen, eine Empörung, Abkehr und Wandlung vorkommen. Zwar nichts Definitives, konkret Rettendes, doch gedanklich reagierend auf den inneren Verlauf des Lebens, bedingt durch den äußeren, und umgekehrt.
Mirko Križman, aus Grete Lübbe-Grothues (Hrsg.): Über Christine Lavant, Otto Müller Verlag Salzburg, 1984
Schreibe einen Kommentar