mitternachtstrolleybus

Mashup von Juliane Duda zum Buch mitternachtstrolleybus

mitternachtstrolleybus

MITTERNACHTSTROLLEYBUS

Was tu ich in Moskau, wenn ich traurig bin,
wenn Verzweiflung mir nachrennt im Dunkel?
Ich geh durch den Regen zum Trolleybus hin,
dem letzten, dem blauen.

Er schaukelt mit mir durch ein Meer von Beton
und wirft am Boulevard seinen Anker:
er nimmt jeden auf, bezahlt mit ’nem Bon
den Kummer, den Kummer.

Die Türen im Trolleybus schließen ganz dicht,
versperrn sich vor Nacht und Kälte.
Leis schnurrt der Motor; ich seh ein Gesicht
und bin nicht mehr einsam.

Ich stehe ja Schulter an Schulter an Bord
mit Matrosen, Liebenden, Alten.
Mein Herz ist ein Schlagzeug, es stützt den Akkord
im Chorus, im Schweigen.

Zu Mitternacht schwimm, blauer Bus, deinen Kreis!
Wird’s hell, gleich verläuft sich das Wasser,
und Vogel Schmerz aus der Schläfe ist leis
verflogen, verflogen.

Bulat Okudshawa
Übersetzung Sarah Kirsch

 

 

 

Nachwort

Dein Auftritt, Poet!
R. Roshdestwenski

Paris 1963
Eine Brücke über die Seine. Auf den Asphalt gemalt: Wladimir Majakowski. Daneben die Umschlagzeichnung für Majakowskis großes Liebesgedicht „Darüber“ mit dem Bild der Lily Brik. Rundherum in vielen Sprachen: „Danke“, Drüberhin der Verkehr. „Wie fühlen Sie sich, Dichter und geliebte Frau?“
„Majakowski in Paris“ heißt Andrej Wosnessenskis Gedicht, eins aus dem Zyklus, den die Frankreichreise anregte. Wieder der Gruß zurück, wieder der Tribut an den vor 33 Jahren Gestorbenen: der Tribut der Pariser Straßenmaler, der Tribut eines sowjetischen Dichters. Nicht daß es nur ihn gäbe: Die Straßenmalerei sucht sich ihr Geld auch durch andere Motive zu verdienen, und die sowjetische Poesie von heute anerkennt Demjan Bedny und Boris Pasternak, Eduard Bagrizki und Ossip Mandelstam, Sergej Jessenin und Nikolai Tichonow, auch die tragisch entwurzelte Marine Zwetajewa als ihre Anreger. Um nur wenige Zeitgenossen Majakowskis zu nennen. Gruß zurück? Der „beklemmend Frühzeitige“, wie er bei Wosnessenski heißt, hatte im Grunde in den zwanzig Jahren zwischen 1909 und 1930 eine ganze lyrische Epoche vorweggenommen. Alles, was wir heute erleben: Gedichthunger, 100.000-Auflagen von Lyrikbänden, die Öffentlichkeitsleistung des Lyrikers – alles das hat Majakowski gewollt und selbst vorbereitet. Der Entwurf stammt von ihm.
Die Rangerhöhung des Dichters begann mit dem Griff des Dichters nach der Welt. „Entfeßle den Tastsinn fürs kommende bessere Sein“, hieß es 1915. Und 1927:

Fall hin,
aaaaaaerhitzt,
aaaaaaaaaaaund schlürfe den Trank
aus dem reißenden Strom
aaaaaaaaaaaaaanamens ,Fakt‘.

Diese Erkundung der wirklichen Welt dauert an, und es ist selbstverständlich, daß es sich bei dieser Verwirklichung Majakowskis nicht um eine uniforme „Schule“ handeln kann. Je größer der Meister, desto unähnlicher die Schüler. So ist der Tribut von Paris vor allem ein Gruß noch vorn, wo Majakowski neben Brecht, Garcia Lorca, Eluard und Nezval, Pablo Neruda und Attila József und den anderen „beklemmend Frühzeitigen“ die Poesie der Zukunft vertritt.
„Majakowski, Sie gleichen einer Brücke“, Aluminiumflug – der Brückenrippen in Paris – Tunnelbau in Moskau. Der Moskauer Majakowski-Platz ist in den letzten Jahren untertunnelt worden, so daß eine der vielen neuen Autoschleusen der Metropole unter dem Denkmal des Dichters hindurchführt. „Ihr Platz – eine Brücke“. Auch der Entwurf stammt von ihm: 1926 hatte Majakowski auf die berühmte Brooklynbrücke ein Gedicht gemacht:

Ich bin stolz
aaaaaaaaaauf diese
aaaaaaaaaaaaaaaastählerne Meile!
Lebendig erstand hier
aaaaaaaaaaaaaaaaaus Ziffern und Nullen
meine Vision:
aaaaaaaaaaBerechnung der Teile,
die Konstruktion –
aaaaaaaaaaaaaastatt stilistischer Schrullen.

 

Rangerhöhung des Dichters
Es ist auch manches nach dem Westen gedrungen vom geräuschvollen Ruhm der sowjetischen Dichtertage. Aber man hat sich mehr an den staunenswerten Besucherzahlen der Lyrikabende erbaut als das Ergebnis gründlich studiert. 1962: vier Stunden lang 17 Lyriker vor 11.000 Zuhörern. Die Dichter umdrängt, wie auf unserem Bild Andrej Wosnessenski. Diese Rangerhöhung der Dichter ist aber vor allem immer eine Rangerhöhung der Leser. Als Jewgeni Jewtuschenko von seiner Englandreise zurückkehrte, schrieb er:

Man muß sagen, daß der Erfolg unserer Poesie die Engländer und überhaupt die Menschen des Westens mächtig beeindruckt: Es ist im Westen Brauch, von der Liebe zur Poesie auf das intellektuelle Niveau der Leser zu schließen.

Nun gibt es ja auch anderswo Pressefeste und Buchbasare, auf denen sich die Schriftsteller ihren Lesern zu Gespräch und Autogramm stellen, und 1958 hörte man von einem Massenmeeting in Santiago de Chile, wo – in einem Stadion – 10.00 Menschen Pablo Nerudas Gedichte hörten. Auch wir hatten Dichterlesungen mit Publikum. Der Unterschied liegt nicht nur in der Regelmäßigkeit, in den anderen Maßstäben, in der ausschließlichen Konzentration auf Lyrik. Auskunft über Absichten und Möglichkeiten der sowjetischen Tage der Poesie, die sich jetzt schon gelegentlich über eine Woche hinziehen, kann die Beobachtung des aktuellen Kontakts dieser Veranstaltungen und die Lektüre des seit 1956 regelmäßig erscheinenden Sammelbandes Der Tag der Poesie geben.
Wenn ich von „aktuellem Kontakt“ spreche, meine ich, was sonst noch los ist. Und das ist sehr viel. Lyrik gehört zum Alltag. Ich erlebte das – in ebenso überfüllten Sälen – auf Abenden für Sergej Jessenin, Alexander Blok oder Rafael Alberti. Das Moskauer Majakowski-Museum veranstaltet regelmäßig Dichterabende. Der Schriftstellerklub hat sein Programm. Die Bibliothek für ausländische Literatur am Roten Platz in der Rasin-Straße stellt Gäste aus aller Welt vor. Das ließe sich beliebig fortsetzen, und so gesehen ist der Tag der Poesie – freilich heute als Erster unter Gleichen – eingebettet ein intensives literarisches Leben. Moskau steht hier nur als Beispiel.
Kein modisches Abenteuer. Das bestätigt auch ein Blick in die Festtagssammelbände. Es sind Anthologien der Begegnung der Generationen. Nehmen wir den Band von 1962. Man sieht ihn auf dem Wosnessenski-Foto vielfach erhoben. 50.000 Exemplare sind so weggetragen worden. Was steht drin? Gedichte von allen sowjetischen Dichtern, die erreichbar waren, von der siebzigjährigen Anna Achmatowa bis zur fünfundzwanzigjährigen Bella Achmadulina. Pablo Nerudas Verse „Poesie“, Hikmets letzter Zyklus „Das Stroh der Haare“. Ein Gespräch zwischen dem Griechen Jannis Ritsos und dem Türken Nazim Hikmet über eine „Poesie ohne Grenzen“, in dem Hikmet sagt:

Engels hat einmal bemerkt, die Dichter haben ein Organ für das Aroma der Zukunft. Gerade mit dieser Eigenschaft können sie Einfluß gewinnen auf Mensch und Gesellschaft.

Eingestreut finden sich Anmerkungen zu einzelnen Gedichten, geschrieben von Jungen über Ältere, von Älteren über Junge. Notizen auch zu neuen russischen Übersetzungen, etwa aus Vitězslav Nezval oder Salvatore Quasimodo. Und zum Schluß – unter der Überschrift „Erbe“: Neues über Sergej Jessenin, ein Puschkin-Aufsatz von Marina Zwetajewa, die Geschichte einer Zeichnung Majakowskis vom Dichter Wladimir Lugowskoi, dann Lugowskois späte Gedichte. In dem Band für 1963 stehen in diesem Abschnitt Erinnerungen an Eduard Bagrizki, eine Rede des Regisseurs Meyerhold über Majakowski und die ungemein fesselnde Geschichte von der Auffindung längst verlorengeglaubter Lermontow-Dokumente.
Legende kommt aus dem Lateinischen und heißt „das zu Lesende“. Sie war in der kirchlichen Literatur des Mittelalters die Lebens- und Leidensgeschichte der Heiligen, die an deren Gedächtnistogen beim Gottesdienst verlesen wurde. Weil die Heiligenlegende vielfach von der Soge überwuchert war, bekam Legende die Bedeutung von sagenhafter oder dichterischer Darstellung im Unterschied zur Geschichte. So steht es im elften Band des Großen Brockhaus von 1932 auf Seite 238.
Die sowjetische Poesie von heute ist der Legendenbildung ganz besonders ausgesetzt. Man erzählt sie im Westen gar zu gern als die Lebens- und Leidensgeschichte von Heiligen und rechnet darauf, daß nur wenige sich exakt informieren können. Legenden sind verführerisch. Legenden sind zählebig. Legenden müssen zerstört werden. Das liebste Legendenkind ist das von den „zornigen jungen Männern“ der Sowjetunion, den Antitraditionalisten, den Empörern aus Jugend, den Dickköpfen mit dem Väterkomplex. Hauptzeuge: Jewgeni Jewtuschenko, jetzt 34 Jahre alt, Autor von 10 Gedichtbänden, einer der erfolgreichsten Dichter der Welt. Wie kam er dazu? Er formulierte seine Besessenheit von der Welt, von der Kunst, von der Wahrheit mit einer apodiktischen Schärfe, die unvergeßlich ist:

Schmach über den, der nicht groß ist.
Jeder hat es zu sein.

Und:

dann werden sie mit bitterem Schamgefühl
auch unserer sonderbaren Zeiten gedenken,
in der man Mut genannt hat,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawas einfach Anstand war.

Wer da immer die Klägerhaltung sehen will, dem möchte man nachdrücklich die Gesamtschau auf seine Poesie empfehlen, auf die Sima-Gedichte, die Kuba-Gedichte, auf „Lektion in Mut“, ein Gedicht, das auf die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Helsinki geschrieben wurde. Wer sich in Jewtuschenkos Gedichte einliest, wird hinter manchem Deklarativen, hinter Koketterie und Pose, die – übrigens ganz im Sinne Jewtuschenkos – mit Nachdruck kritisiert wurden, einen Mann entdecken, der nicht bloß „Streithammel und Dickkopf“ ist, sondern auf Änderung bedacht, einen Mann von revolutionärer Bereitschaft. Jewtuschenko empfindet mit gesteigerter Sensibilität, und man muß einmal die Verse vom „Lächeln“ oder von der „Stille“ aufmerksam lesen, um zu begreifen, wie sehr ihn jede Zweideutigkeit trifft. Er ist nur konsequent, wenn er sich ganz ausspricht und Besorgnis und Zwiespalt nicht verschweigt. Jewtuschenko hat in seinen Versen zu verschiednen Zeiten von Sima gesprochen, seinem Geburtsort in Sibirien – Symbol für die Ursprünglichkeit, Ungebrochenheit und Kraft, Start und Ziel aller Bemühungen des Dichters.
Empörer aus Jugend? Ja und nein. Immer werden die Söhne anders sein als ihre Väter, wie die Zukunft anders ist als die Gegenwart. Und bewahrt wird nicht in der Wiederholung, sondern in der Fortführung, in der Steigerung des Werks.

Es lebe die Wut! Es lebe die Würde! Auftritt, Poet!

So Roshdestwenski. Das Gedicht für Arkadi Raikin ist auf einen weltberühmten Leningrader Kabarettisten geschrieben, einen Dichter in seinem Fach, was Endler – völlig zu Recht – bewog, das weitergreifende „Poet“ zu wählen. Es ist ein Gedicht gegen die „mechanischen Bürger“ neuer Staaten, wie Gorki sie nannte, denen besorgte Satire zum billigen Spaß wird, ein Gedicht gegen Legenden, ein Gedicht von der Verantwortung des Dichters. Ein Gedicht aber auch von der Sensationsmüdigkeit, so gut wie Jewtuschenkos „Stille“.
Kein Zweifel, das größere Interesse des Publikums für den Künstler, für den Dichter, birgt die Gefahr des Mißverständnisses, äußerlicher Betriebsamkeit. Man spürt in Bella Achmadulinas „Winter“ die Sehnsucht nach dem Zurücktreten hinter sich selbst und denkt wieder: Die Tatsachen der Poesie sind stärker als die der Biographie. Das Gedicht entscheidet, nicht das Drumherum des Vortrags. „Dein Auftritt, Poet!“ ist ein Gedicht vom Ernst der Kunst. Nicht von dem angestrengten Ernst des Spießers, der sich an der Zote erholt. Vom heiteren Ernst vielmehr oder von der ernsten Heiterkeit, wie sie in Jewtuschenkos „Lektion in Mut“ und „Revolution und Patschanga“, Wosnessenskis „Lonjumeau“ und Poperetschnys „Steinen“ lebt und verwandelt wiederkehrt in Kuschners „Sechsten Etagen“, in Sosnoras „Brennessel“ oder in Iskanders „Kindern vom Schwarzen Meer“.

Von den vielen Tausenden, die heute in der Sowjetunion ernst zu nehmende Gedichte schreiben, sie in kleinen Bändchen drucken in Sibirien, Mittelasien, Georgien, in der Ukraine oder im mittel- und nordrussischen Gebiet, sind in unserer Anthologie nur verschwindend wenige berücksichtigt. Es sind nur russische Gedichte aufgenommen worden, und man muß sich vorstellen, daß in mehr als einem halben Hundert Sprachen in der Sowjetunion literarisch gearbeitet wird.
Mitternachtstrolleybus ist das Buch der jungen Generation. „Zukünftige Witwen haben uns zur Welt gebracht, in den dreißiger Jahren, in schwerster Nacht“, heißt es bei Wladimir Zybin. Das Erlebnis dieser Kindheit im Krieg steht am Anfang. 1956 waren sie etwas über zwanzig. Wenige, die die entscheidende Wandlung ihres Landes nicht auch außerhalb der Metropolen erlebten. Sibirien zog sie zu verschiedenen Zeiten und das Neuland von Kasachstan, Junna Moriz, vorher Robert Roshdestwenski machten eine Reise in den hohen Norden, lebten mit den Polforschern. Weltoffenheit war zunächst Offenheit für den eigenen Kontinent. Sie setzten damit eine alte Tradition sowjetischer Dichter fort. Nikolai Tichonow und Wladimir Lugowskoi bereisten z.B. Anfang der dreißiger Jahre Turkmenien. Turkmenien wurde zur Etappe in ihrer Dichtung. Auch Majakowski, im europäischen Teil seiner Heimat Jahr für Jahr unterwegs, plante die Erkundung des Ostens. Und in neuerer Zeit war Alexander Twardowski Sibirien zum Symbol für die Fülle seiner Welt geworden – „Ferne über Fernen“ heißt sein großes Poem, philosophische Reise in den Raum und in die Zeit.
Bald darauf folgten die Besuche der Jungen in Westeuropa, in Kuba, in den USA, in Afrika und Indien. Quelle wichtiger poetischer Leistungen. Jewtuschenkos Kuba-Gedichte, Wosnessenskis französischer Zyklus oder der „Gesang der Neger“ aus der „Dreieckigen Birne“ mögen als Beispiel stehen:

Wir sind Neger, wir sind Poeten,
aaaaaaaaaaaaaaaaain uns wachsen strömend die Planeten.
So liegen wir wie Säcke, gefüllt mit Legenden, Weltsonnen, Kometen…
Stößt uns ihr stumpfer Schritt,
foltern sie den Erdenball.
Unter eurem Stiefeltritt
brüllt das All!

Poesie in Bewegung, Poesie ohne Grenzen, wie es bei Hikmet und Ritsos hieß, zeigt die junge sowjetische Poesie, Konturen kommender Größe. Entwürfe, Zwischenstadien, Anläufe wird man finden. Vorbereitungen. Die sowjetische Poesie steht am Beginn einer neuen Zeit großer Leistungen. Sie ist nicht allein verwiesen auf die Mikroskopierung der Welt, deren Verdienste damit nicht unterschätzt sein sollen. Sie wird im großen Ausmaß – Verwirklichung Majakowskis – eine Poesie der Provokation zum Menschen, eine Poesie mit dem Organ für das Aroma der Zukunft sein. Die junge Generation wird einen entscheidenden Anteil an ihr haben.

Die Fotografien der Dichter stammen von Grigori Teitelbaum. Manchen von ihnen kennt er seit langem, und seine Bilder sind daher ungewöhnlich viel mehr geworden als stereotype Paßfotos. Ich habe den temperamentvollen Moskauer bei seinem Berlinbesuch im Spätherbst 1964 leider nur kurz kennengelernt – einen Mann voller Geschichten und Pläne. Er erzählte von den Abenteuern des Fotojournalismus. Wenn unser Mitternachtstrolleybus die jungen sowjetischen Dichter nach Berlin und Halle und Dresden, nach Frankfurt, München und Hamburg bringt, so danken wir es der Kunst Grigori Teitelbaums, daß wir das Bild der Dichter heute schon vor unseren Augen haben.

Zum erstenmal erscheint in deutscher Sprache eine Anthologie sowjetischer Poesie, die ausschließlich von Lyrikern übertragen wurde. In Deutschland ist die Kenntnis des Russischen bei weitem noch nicht so selbstverständlich geworden wie die des Englischen, Französischen oder Spanischen. Rainer Maria Rilke, Erich Weinert, Paul Wiens und Hugo Huppert haben aus sicherer Sprachkenntnis übertragen. Neuerdings hat Paul Celan Blok, Jessenin und Mandelstam vorgelegt. In den meisten anderen Fällen ging bisher immer Russischkenntnis vor eigenschöpferische Begabung. Nun bereitet natürlich die mangelnde Sprachkenntnis Schwierigkeiten, und wir haben es hier Oskar Törne in Jena zu danken, daß wir den Nachdichtern ausführlich annotierte Interlinearübersetzungen vorlegen konnten. Mit dem Russischen von der Schule her vertraut, vermochten unsere Dichter so den Kontakt zum Gedicht zu schließen. Inwieweit ist ein übersetztes Gedicht authentisch? Die vollkommene Übersetzung von Versen ist eine Utopie. Die Worte zweier Sprachen decken sich nicht, auch die allereinfachsten nicht, wie Baum und Tisch. Wieviel weniger erst Syntaktisches oder Metaphorisches. Wortklang und Satzmelodie sind nicht zu übertragen, selten nur nachzuahmen. Auch der Reim ist nicht immer zu erhalten. Die meisten russischen Gedichte sind gereimt, wenn auch nicht graphisch rein, sondern phonetisch, was im Russischen wegen der besonderen Ausspracheregeln die Reimmöglichkeiten außerordentlich steigert. Vielfach empfahl es sich, um Wortkrämpfe zu vermeiden, auf den Reim zu verzichten. Der Eindruck einer relativen Ungebundenheit wird, denke ich, aufgewogen durch die Natürlichkeit der Satzfügung und der Wortwahl.
Kann ein deutscher Dichter sich verleugnen, wenn er einen russischen Dichter übersetzt? Darauf müßten die Nachdichter ausführlich antworten. Wer die vorliegenden Texte liest, wird sofort sehen, daß das gar nicht möglich ist. Schon die Wahl der „Partner“, wenn sie freiwillig geschah, zeigt ja die Sympathien, die Gleichgestimmtheit. Wenn Sarah Kirsch die „Sechsten Etagen“, die „Brennessel“ oder Junna Moriz’ „Hör, grauer Vogel“ übersetzt, so denkt man doch an ihren „Saurier“ und wohl auch an das „Fohlen“. Und in Adolf Endlers Roshdestwenski-Arbeiten ist etwas aus den „Kindern der Nibelungen“. Und so bei Joachim Rähmer, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Annemarie Bostroem, Adelheid Christoph, Heinz Czechowski, Axel Schulze und ihren Kollegen. Bei Volker Braun hört man in der „Lektion in Mut“ das „Rhinluch“ und „Provokation für mich“. Aber wie der Nachdichter dem Original etwas hinzufügt, gibt auch das übersetzte Gedicht seinem Nachdichter etwas her. Das wird freilich weniger schnell sichtbar und ist wohl auch davon abhängig, wie der Kontakt aufrechterhalten wird. Die sowjetische Dichtung hat alle Potenzen, in Deutschland zu einer Wirkung zu gelangen, wie sie zuvor nur die französische, angelsächsische und spanische erlangt hat. Sie muß nur ihrer Größe gemäß ins Deutsche gebracht werden. Auch hier gilt: Dein Auftritt, Poet!
Die zweite Auflage erscheint verbessert und ergänzt. Hinzugekommen sind Gedichte von Achmadulina, Wosnessenski, Jewtuschenko, Matwejewa, Moriz und Iskander.
Wladimir Britanischski, Alexander Kuchno und Juri Adrianow werden neu vorgestellt.
Sieht man die Leidenschaft, mit der um die Positionen der Jungen gestritten wurde, vom Jahresende 66, so tritt hinter dem äußeren Aufwand immer mehr die eigentliche Leistung hervor: Dem lyrischen Gedicht wird wieder etwas abverlangt und – zugetraut. Einiges davon zeigt die Anthologie. Sie wird aber, gerade in der zweiten Auflage, ihre Aufgabe erst dann ganz erfüllt haben, wenn sie als unzulänglich empfunden wird – im Hinblick auf kommende Einzelausgaben von Wosnessenski, Achmadulina, Okudshawa, Matwejewa, Jewtuschenko.

Fritz Mierau, Nachwort

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Gespräch + Archiv +
Kalliope
Nachrufe auf Fritz Mierau: Süddeutsche Zeitung ✝ Börsenblatt ✝ FR ✝
Zeit ✝ Tagesspiegel

 

Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.

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