Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa

Mandelstam-Erinnerungen an Anna Achmatowa

ERINNERUNGEN AN ANNA ACHMATOWA

I

Eine Widmung in einem Buch:

Für Freundin Nadja, damit sie sich ein weiteres Mal an das erinnert, was mit uns war.

Von dem, was mit uns war, ist das Tiefste und Stärkste die Angst und ihr Produkt – das ekelhafte Gefühl der Scham und der vollkommenen Hilflosigkeit. Daran muss man sich nicht erinnern, „das“ ist immer bei uns. Wir haben einander gestanden, dass „das“ stärker war als Liebe und Eifersucht, stärker als alle menschlichen Gefühle, die uns zuteil wurden. Von den ersten Tagen an, als wir noch tapfer waren, bis Ende der fünfziger Jahre hat die Angst alles, was das Leben der Menschen normalerweise ausmacht, in uns erstickt, und für jeden Lichtblick bezahlten wir mit Albträumen, im Schlaf oder im Wachen.
Die Angst hatte einen leibhaftigen Grund: geschrubbte Hände mit kurzen dicken Fingern, die in unseren Taschen wühlen, die gleichmütigen Gesichter der nächtlichen Gäste, ihre trüben Augen und von Schlaflosigkeit geröteten Lider. Nächtliches Klingeln – „Ihr machtet friedlich1 in Sotschi Urlaub, da schleppten sich schon diese Nächte zu mir, und ich hörte dieses Klingeln“ –, das Poltern der Stiefel, der „schwarze Rabe“,2 wer ist da?, der Tölpel, der auf der Straße Wache steht, nicht um etwas Neues über uns zu erfahren, sondern bloß mit dem Ziel, uns Angst zu machen und restlos einzuschüchtern.
Nachts in den Stunden der Liebe ertappte ich mich bei dem Gedanken: Wenn sie nun hereinkommen und uns unterbrechen? So war es dann auch und hinterließ eine eigentümliche Spur – die Mischung zweier Erinnerungen.3
Außer der körperlichen gab es da noch eine andere Seite, gleichsam eine moralische. 1938 erfuhren wir, dass man „dort“ die „psychologischen Verhörmethoden“ aufgegeben hatte und zum „vereinfachten Verhör“ übergegangen war, also schlicht folterte und schlug. A. A.4

sagte:

Jetzt ist alles klar: Mütze auf, Ohrenklappen runter – und ab die Post!

Und aus irgendwelchen Gründen dachten wir, ohne Psychologie bräuchten wir keine Angst mehr zu haben, sollten sie uns ruhig die Rippen brechen…
Aber sie änderte ihre Meinung bald: keine Angst mehr haben? Angst muss man haben – wir kennen uns ja selber nicht. Vielleicht brechen wir zusammen und plappern alles Mögliche aus, wie A, B und C es getan haben, und nach unseren Angaben holt man Leute ab ohne Ende… Wirklich, woher sollen Menschen wissen, wie sie sich in unmenschlichen Situationen verhalten? Ich habe viel von ihr gelernt, und auch dieses: Herrgott, hilf, denn ich kann ja nicht einmal für mich selbst garantieren…
Mehr als alle anderen fürchtete A. A. die „Arglosen“. In unserer Situation waren sie am gefährlichsten. Dem Arglosen fehlt die Widerständigkeit. Wenn er ihnen in die Hände fiel, konnte ein Argloser aus Dummheit Verwandte, Bekannte und Unbekannte zugrunde richten. Eltern, die ihre Kinder schützen wollten, ließen sie in Unwissenheit, und dann konnten die Eltern einkassiert werden, und der Arglose blieb seinem Schicksal überlassen, oder der Arglose wurde einkassiert, ein netter, offenherziger Mensch, oder es wurde niemand einkassiert – manche haben Glück! –, und der Arglose lief durch die Straßen und Häuser, redete, wie er es verstand, schrieb manchmal auch Briefe oder führte Tagebuch, und die Zeche für seine Idiotie zahlten andere. Für uns war ein Argloser schlimmer als ein Provokateur: Dem Provokateur spielst du Komödien vor, und er weiß das, der Arglose schaut blauäugig in die Welt, und du kannst ihm den Mund nicht stopfen.
In unserer Zeit hat nur die Angst aus den Menschen Menschen gemacht, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht zu gewöhnlicher Feigheit führte. Angst war ein Organisationsprinzip, Feigheit die erbärmliche Aufgabe von Positionen. Das konnten wir uns nicht erlauben, und um die Wahrheit zu sagen, eine solche Versuchung verspürten wir auch nicht.
In den schlimmsten Jahren ging A. A. immer als Erste in die Häuser, wo nachts „liebe Gäste“ gewirtschaftet hatten – diese hier:

Und die ganze Nacht5 erwarte ich liebe Gäste, und klirr mit den Fesseln der Kette an meiner Tür.

Kürzlich fragte ich Tatotschka,6 die Wunderschöne, die zu ihrem Glück nur fünf Jahre ohne Wiederholungsurteil runtergerissen hat, das aber mit allem, was dazugehörte: Beschlagnahmen, Wohnsitzbeschränkungen, Fallstricken und Verlusten: „Ist sie gekommen?“ „Natürlich“, antwortete Tatotschka. „Sofort… Als Erste… Wir hatten noch nicht einmal aufgeräumt…“ „Und wer hat gesagt, heute bräuchte man nur Aschenbecher und Spucknapf – sie oder du?“ „Sie natürlich“, antwortete Tatotschka verwundert.
Diese hinreißende Frau, L.s Witwe, symbolisiert für mich Sinnlosigkeit und Grauen des Terrors – womit hatte sie, zart, ätherisch, rührend, ein solches Schicksal verdient? Das war nun wirklich eine Frau wie eine Blume – wie konnte man ihr das Leben vergiften, den Mann umbringen, bei Verhören ins Gesicht spucken, sie von ihrem kleinen Sohn trennen, den sie dann nie wiedersah, weil auch er umkam, während sie in stinkender Wattejacke und Ohrenklappenmütze im Lager verfaulte? Womit hatte sie das verdient? Sie wurde der Idee zum Opfer gebracht, man müsse die Welt verändern, um alle Menschen glücklich zu machen, und einer so großen Aufgabe war nur der Übermensch gewachsen mit seinen starken Mitstreitern, den – wenn auch zweitklassigen – Spielarten des Übermenschen, denen alles erlaubt ist. Was tut man nicht alles aus Menschenliebe…
Andererseits ist meine Tata, die auch im Alter hinreißend geblieben ist, ein Symbol weiblicher Stärke, unerhörten passiven Widerstands gegen diejenigen, die „starke Männer“ in fügsame, zitternde Kreaturen mit gut organisiertem Kollektivverstand verwandelten. Wer sagte noch, dass der Kollektivverstand immer etwas Kreatürliches ist? Auf die Bemerkung, sie könne zum zweiten Mal heiraten – so wurde manchmal als Geste besonderen Entgegenkommens mitgeteilt, dass der Ehemann tot war, erschossen, erfroren oder auf andere Weise umgekommen –, gab Tatotschka dem Staatsanwalt zur Antwort:

Von Toten lasse ich mich nicht scheiden.

Frauen gingen weniger deformiert aus diesen Prüfungen hervor als Männer, Psychosen waren seltener bei ihnen, sie gaben nicht so früh auf, obwohl auch sie geschlagen und mit Hunger und Schlafentzug gequält wurden. Sogar ihre Lagerzeit ertrugen sie standhafter als Männer. Schalamow sagte mir, dass Frauen manchmal ihren Männern an die Kolyma nachgereist kamen, um ihr Los wenigstens irgendwie zu erleichtern. Sie setzten sich unglaublichen Qualen aus, wurden vergewaltigt, misshandelt. Doch sie kamen her und lebten dort. Aber er hat nie gehört, dass auch nur ein Mann zu seiner Frau oder Freundin gekommen wäre – „Liebste, ich gebe mein Leben für dich hin…“
Was hat uns dieses verfluchte Zeitalter der tierischen Angst gegeben? Was kann ich zu ihrer Rechtfertigung sagen? Wenn ich nachdenke, vielleicht einiges, aber vorerst: Es gab trotz allem ein paar Menschen, die Menschen geblieben sind, Einzelne, Tropfen im Ozean; nicht alle sind zu Unmenschen geworden. Und: Unter Umständen wie diesen erkennt man einen Menschen schneller und leichter als dort, wo sich mit den Konventionen anständiger Äußerungen und anständigen Verhaltens Unmenschen als Menschen tarnen können, und schließlich: Wenn akute Krankheiten nicht zum Tode führen, ermöglichen sie eine gründlichere Heilung als chronische, langsam verlaufende mit verderblichen Folgeschäden. Alle drei von mir auf die Schnelle gefundenen Rechtfertigungen schlagen wohl eher negativ als positiv zu Buche.

A. A. und ich haben uns sehr dafür interessiert, was Tapferkeit ist. Erstens stellten wir sofort fest, dass Tapferkeit, Mut und Standhaftigkeit keine Synonyme sind. Zweitens haben Leute; die im Alltagsleben jämmerliche Feiglinge waren, Speichellecker oder Beamte, die mit den Augen an den Vorgesetzten hingen und nicht wagten, eine eigene Meinung zu hegen, geschweige denn auszusprechen, sich während des Krieges als mutige Offiziere entpuppt, als echte, unerschütterliche Kämpfernaturen. Was hat den Kampfgeist in ihnen gestärkt? Doch nicht etwa, dass sie einfach Befehle befolgten, ohne die geringste Verantwortung für das Geschehen zu übernehmen?
Was mit uns geschah, könnte man eine Krise des Geistes nennen, und die sogenannten echten starken Männer, die he-men, wie die Engländer sagen, wiesen als Erste die Verantwortung für das, was passierte, von sich und schlossen gehorsam die Reihen der Jasager. Die Schwächeren dagegen, von denen man sagt: „Was ist das schon für ein Mann“, legten die größte Widerstandskraft an den Tag. Im schwachen Körper fand sich unerwartet ein Fetzen Geist. Nicht wer weiß wie stark, aber bei unseren Sünden heißt das schon etwas. Gemeinsam mit den Frauen strampelten sie sich ab, wobei sie sich den Glauben an den Menschen bewahrten, daran, dass er wiedererstehen, bereuen und ein neues Leben anfangen kann. Die Starken kletterten die soziale Leiter hinauf, die Schwachen blieben auf den untersten Stufen hängen. Die neue Zeit brachte eine Riesenmenge junger Leute hervor, die Wohlstand und Karriere bewusst ablehnen. Das ist ein erster Hinweis auf Heilung, und A. A. und ich haben dieses wundervolle Symptom noch wahrnehmen können. Allerdings kann man nicht garantieren, dass die Jungen, die noch alles vor sich haben, nicht wieder auf den alten Weg geraten. Wer weiß? Mit ihnen ist es wie mit den Arglosen – alles hängt von den Umständen ab.
Zum Glück lebt sie nicht mehr, und meine Tage sind gezählt.
Frauen auf dem Dorf erzählen sich morgens ihre Träume. Ich erzähle, was A. A. „meinen Traum“ genannt hat: Darin verdichtete sich die Zeit – dreißig Jahre verschmolzen zu einem Klumpen, und der unerträgliche Schmerz um zwei Menschen, vermutlich von Schuldgefühlen durchsetzt, gewann symbolische Gestalt.
Der Flur von Punins Wohnung,7 wo der Esstisch steht, und am Flurende hinter dem Vorhang schläft Ljowa, wenn man ihn ins Haus lässt – die alte Punin-Generation war trotz allem humaner, und Ljowa wurde nicht andauernd weggejagt. Im Flur sind „sie“, man zeigt ihr die Order und fragt, wo Gumiljow ist. Sie weiß, dass Nikolai Stepanowitsch sich in ihrem Zimmer versteckt hat – die letzte Tür auf dem Flur links. Sie holt den verschlafenen Ljowa hinter dem Vorhang hervor und stößt ihn zu den Tschekisten:

Da ist Gumiljow.

Es bleibt unklar, wen von den beiden sie suchen: Der ältere wurde ja schon umgebracht. „Mich quält, dass ich ihnen Ljowa ausgeliefert habe“, sagte sie zu mir, als sie zum ersten Mal „meinen Traum“ erzählte.
Aber was blieb ihr im Grunde schon übrig? Sie hätten ja beide abholen können. Selbst im Traum gab es keinen Ausweg.
Andere Zeiten – andere Träume. Die erste – darin stecken viele Jahre oder ein paar Jahrzehnte Träume desselben Typs von Abholen und Umkommen. Die nächste kam mit der allmählichen Überwindung der Angst. Dazu gehört der Traum, den ich in Pskow8 hatte. Dort kam auch jemand vor, der nicht mehr am Leben war. Wildes Klopfen an der Tür. O. M. rüttelt mich: „Zieh dich an, die kommen zu uns…“ „Nein“, antworte ich. „Du lebst ja nicht mehr, deshalb kommen sie dich nicht holen. Und wenn sie wegen mir kommen, ist mir das egal. Sollen sie doch die Tür einschlagen, was interessiert mich das? Ich hab’s satt… Mir reicht’s…“ Und ich drehe mich auf die andere Seite und schlafe im Traum wieder ein.
Eine komische Folge dieses Traums – ich kann von Klopfen und Klingeln nicht mehr geweckt werden: Ich weigere mich, wach zu werden. In Tarussa klopften Lastwagenfahrer, die irgendetwas holen wollten – der Datschenbesitzer hatte sie geschickt –, dermaßen laut an alle Fenster und Türen, dass das Haus fast einstürzte, doch ich erlaubte mir nicht, wach zu werden. Wach werden und aufmachen – das war eine Art „Mitarbeit“, und ich habe nicht vor, in dieser Sache mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wenn sie mich zertreten und vernichten wollen, muss das ohne meine Zustimmung geschehen.
Also habe ich die Angst überwunden. Das passierte nicht früh und nicht spät, sondern als die Zeit gekommen war, als O. M.s Gedichte in Abschriften verbreitet waren und ich aufhörte, um sie zu zittern: Jetzt können sie nicht mehr zerstört und vom Angesicht der Erde getilgt werden wie ein Mensch. Meine Aufgabe ist erfüllt.
Für Anna Andrejewna war es schwerer: Erstens war da Ljowa, zweitens gab es ungeschriebene Gedichte. Manchmal sagte ich zu ihr: „Wovor haben Sie Angst? Wir haben nichts mehr zu verlieren“, und sie antwortete: „Doch, ich schon.“
In der neuen Zeit wurde ihre Angst abgelöst durch das, wofür Surkow sie lobte:

Sie verhält sich extrem taktvoll…

In meiner Sprache hieß das „übermäßige Vorsicht“, Irgendwann wollte man sie überreden, das Requiem9 an Zeitschriftenredaktionen zu schicken, zum Beispiel an Nowyi mir. Es bekümmerte sie ja, dass ihre Gedichte kaum in Abschriften zirkulierten. Aber an Redaktionen schicken mochte sie nichts. „Was wollen Sie – dass es mit voller Wucht wieder mich trifft?“, sagte sie zu mir.
O. M.s Gedichte verteilte sie dagegen nach Kräften, wobei sie ihre Verbreitung auf jede Weise unterstützte: „Nadenka, mit Ossja ist alles in Ordnung. Er braucht Gutenberg nicht“, sagte A. A., als ich traurig war, dass nach wie vor kein Buch von ihm herauskam. Das ist tatsächlich so. Wenn man ein Buch kauft, kann man es verlieren oder nicht lesen. Aber wer vergisst Gedichte, die er sich unter großen Schwierigkeiten beschafft, um sie dann heimlich auf der Schreibmaschine abzutippen? Von solchen Gedichten trennt man sich nicht so leicht. Darin liegt ein Vorteil unserer Prä-Gutenberg-Epoche.
In der zweiten Phase der neuen Zeit spürte A. A. sicheren Boden unter den Füßen und gab sich dem Glück hin – damals war das Requiem schon ihrer Obhut entschlüpft und davongeflogen. In den Tagen verschwand ihre übliche Verbitterung, und einmal sagte sie sogar zu mir:

Genug daran gedacht – es gibt im Leben auch noch Anderes als Politik…

Konnten wir uns etwa vorstellen, dass wir erleben würden, was jetzt passiert? Uns schien doch, „er“ sei „ewig“. So war es ja auch.
Die neue Zeit begann an dem Tag, als wir über die Straße gingen – zum Kirchgarten,10 wo ich mit ihr Spaziergänge machte – und eine Menge Spitzel auf der Straße bemerkten. Sie guckten aus allen Toreinfahrten, an jedem Ort, überall. „Das ist für uns, nicht gegen uns“, sagte A. A., „haben Sie keine Angst, da tut sich etwas Gutes.“ Anders gesagt, es lief gerade eine Beratung, die dem berühmten Parteitag11 vorausging. Beruhigt haben wir uns aber erst in den sechziger Jahren, und die Ruhe dauerte nur einen Moment.
A. A.s Ratschlag, „an anderes zu denken“, bedeutete nur, dass sie sich einer Altersillusion hingab. Im Alter gibt es eine Phase der Vertrauensseligkeit, wenn einem alles in rosafarbenem Licht erscheint; an dieser Vertrauensseligkeit leidet auch die frühe Jugend. An der Jugendnarrheit habe ich ebenfalls gelitten. A. A. hat mich daran erinnert, dass ich zu Beginn unserer Bekanntschaft absolut „prosowjetisch“ eingestellt war, also ihre Erzählungen von Verhaftungen fast gleichgültig anhörte und glaubte, „das“ könne nicht so weitergehen, und früher oder später käme alles ins Lot. Das ist einer meiner unzähligen Jugendfehler, und es ist uns nicht gegeben, sie zu korrigieren. Sowohl ich als auch sie mussten die rosarote Brille abnehmen. Die Angst kehrte direkt vor dem Ende zu ihr zurück.
Ihre letzten Monate verbrachte A. A. im Botkin-Krankenhaus [in Moskau]. Vorher wohnte sie bei Ardows – Ira hatte sie wie üblich den Winter über hinausgeworfen, damit sie nicht störte. Sie hatte die ganze Zeit vor, sich meine neue Wohnung anzusehen, doch als sie gerade aufbrechen wollte, fühlte sie sich plötzlich schlecht. Wir verschoben den Besuch um zwei Tage, doch statt zu mir in die Wohnung kam sie ins Krankenhaus. Voller Schreck stürzte ich zu ihr. Schalamow begleitete mich. Er wartete in der Garderobe, während ich die Treppen hochstieg. In einem so schlimmen Zustand hatte ich sie noch nie gesehen. Sie lag halb bewusstlos da, schon dem Leben entrückt, aber sie erkannte mich noch. Hin und wieder öffnete sie die Augen und strengte sich sichtbar an, mir etwas zu sagen. Mich frappierte, wie sorgfältig sie auswählte, worüber sie sprechen wollte – über das Teuerste, das, was uns verband, die Vergangenheit… „Nadja, ich war in Taschkent so krank, und Sie waren bei mir… Ich wollte Sie so gerne besuchen… Bewahren Sie meine ,Blätter‘12 auf, ich schreibe noch weiter…“
Ich ging völlig entsetzt zu Schalamow hinunter: Das war das Ende, wie sollte ich ohne sie sein?13 Doch wie immer hat sie getan, was keiner erwartete – sie ist auferstanden. Am wenigsten hatten das die Ärzte erwartet, wie sie mir sagte, als sie schon im Flur saß und sich auf die Heimfahrt vorbereitete.14 Am selben Tag hatte eine Ärztin sie untersucht und sich darüber gewundert, wie sie sich wieder aufgerappelt hatte. „Wahrscheinlich haben Sie noch etwas zu tun“, sagte ich. „Mein Gott, wie viel denn noch?“, antwortete sie. Woher nahmen wir den Glauben, ein Mensch verließe die Welt erst dann, wenn er alles getan hat, was ihm auf Erden aufgetragen war? Der Staat bewies uns das glatte Gegenteil: O. M. ging ja in seiner Blütezeit fort, voller Kraft und Ideen. Als er ging, war er ein starker und ruhiger Mensch. Was haben sie in wenigen Monaten aus ihm gemacht? Er war einer von denen, die Gewalt physisch nicht ertragen. Weggesperrt, irrlichterte er herum, bis er nicht mehr er selbst war. Er hatte schon immer die Vorahnung eines gewaltsamen Todes gehabt:

Ein bisschen noch – und zum Verstummen bringt man das schlichte Lied von Kränkungen aus Lehm…

Zum Verstummen bringen, ganz genau. Das wurde bei uns einwandfrei erledigt.
Heute ist die Lage anscheinend entspannter. Ein prominenter Schriftsteller15 sagte zutreffend über den Prozess gegen D. und S.:

Wozu die Aufregung? In den zwanziger Jahren haben wir die Leute für so etwas an die Wand gestellt, da hat sich keiner aufgeregt…

Was wahr ist, ist wahr, aber Lagerstaub16 bleibt trotzdem Lagerstaub:

Bis zum Grab, Popenfrau…17

In der Station für Privilegierte, wo A. A. lag, gab es keine gewöhnlichen Sterblichen, nur die Mütter und Schwiegermütter der Nomenklatur, Funktionärinnen der zwanziger Jahre, die die Verfolgungen zufällig überlebt hatten und noch genau wussten, wie und wofür man Leute an die Wand gestellt hatte, um die Errungenschaften der Revolution zu bewahren. Sie lasen in der Zeitung vom Prozess gegen S. und D. und kommentierten ihn lauthals: „Solche Schufte… In der heutigen Zeit…“ „Wozu muss ich mir das anhören?“, beklagte sich A. A. Und im Flüsterton: „D. und S. sollen zusammenrücken – mein Platz ist bei ihnen…“ „Der sechste Staatsanwalt18 hat einen Infarkt…“, zitierte ich. Sie wedelte mit den Händen: Leise, man kann Sie hören… Und plötzlich sah ich, dass die Angst zu ihr zurückgekehrt war. „Nicht doch, Anousch, Ihnen tut man nichts“ „Und das Requiem? Das ist doch genau so wie bei den beiden…“19
Ich konnte ihr ja nicht gut ins Gesicht sagen, dass bei uns wirklich eine Verbesserung eingetreten war und man Sterbende nicht mehr von Krankenhauspritschen zerrte, um sie zum Verhör zu schleppen. Die Zeit war vorbei. Eine neue war angebrochen: öffentliche Gerichtsverhandlung mit Publikum, öffentliche Anklagen, Staatsanwalt, Verteidiger und ein kleines Häufchen Lagerstaub für die kriminelle Publikation unpassender literarischer Werke. Damit literarische Werke nicht in eine andere Welt entwischen, sollten Schriftsteller sie aus den Redaktionen holen, wo man sie abgelehnt hat, und zu Hause gut verstecken oder gleich vernichten. Das Zweite ist sogar patriotischer: Wozu denn Sachen schreiben und verwahren, die bei uns nicht gedruckt werden dürfen? „Aber Ihnen, Anousch, tut man nichts, wirklich nicht… Ihnen verzeiht man das Requiem… Im schlimmsten Fall bitten Sie selbst um Verzeihung.“ Das war der letzte Angstanfall – kurz vor ihrem Tod.
Sie kam aus dem Krankenhaus, und man tat ihr wirklich nichts. Sie starb am zweiten Tag nach ihrer Ankunft im Sanatorium. Drei Tage behielt man den Leichnam in der Leichenhalle – es war der 8. März, der Internationale Frauentag. Die Leute riefen beim Schriftstellerverband an, um sich zu erkundigen, aber man sagte ihnen, sie sei schon in Leningrad: Man fürchtete Menschenmassen auf der Beerdigung. Am 9. März wurde der Leichnam im kleinen Saal der Leichenhalle aufgebahrt, eine Handvoll Menschen verabschiedete sich von ihr, dann wurde der Leichnam zum Flugplatz gebracht und in ein Flugzeug geladen. Einige Menschen, darunter auch ich, begleiteten sie im selben Flugzeug.
Im Grunde wurde der Leichnam aus Moskau entführt – das ist russische Tradition.20
Irgendwelche Frauen veranstalteten deshalb auf der Parteiversammlung des Verbandes einen Skandal: Warum wurde keine Gelegenheit gegeben, sich von Achmatowa zu verabschieden? Wie erzählt wird, erklärte ein leitender Funktionär:

Tote müssen wir nicht fürchten, Genossen…

Wirklich nicht? Bemerkenswert ist daran, dass nicht nur wir vor Toten und Lebenden Angst haben, sondern sie auch. Sie haben etwas zu verlieren, und sie fürchten sich mehr als wir, die nichts zu verlieren haben.
Die Angst hat uns erstickt, sie tut es heute noch. Es gibt wenige, die sich davon befreit haben – zu ihnen gehöre auch ich. Mich kann man nicht mehr einschüchtern, ich habe meine Aufgabe erfüllt.

„Dass Gedichte so zählebig sind, hätten wir nicht gedacht“, sagte A. A. zu mir, als sie nach all den Jahren erleben konnte, wie die Menschen von neuem zu Gedichten zurückkehrten. In den zwanziger Jahren hatte Tynjanow noch das Ende der Lyrik und den Übergang zur Prosa vorausgesagt. Während unseres langen Lebens geschah es mehrere Male, dass eine Generation von Lyriklesern auftauchte und wieder verschwand. Die erste Welle des Interesses brandete in den zehner Jahren auf. Es waren die Symbolisten, die sich die neuen Leser heranzogen. Wie heftig die Symbolisten später auch abgelehnt wurden, sie haben eine ungeheure Erziehungsarbeit geleistet und die Lust auf Dichtung geweckt – allerdings nur in kleinen Kreisen. In den dreißiger Jahren ließ das Interesse stark nach. „Niemand kennt mehr Mandelstam“, sagte Katajew21 einmal. „Es sei denn, Jewgeni Petrowitsch oder ich erwähnen ihn irgendwo…“ Wie dreist, dachte ich, der als Vermittler, das fehlte ja noch, aber O. M. beschwichtigte mich:

Heute ist das so…

Und es war tatsächlich so, obwohl sein Name nicht länger als zehn Jahre auf dem Index stand und sich 1931/32 ein paar Gedichte und Prosatexte in den Druck geschmuggelt hatten. Am erstaunlichsten war, dass O. M. dieses Vergessenwerden leicht ertrug. Es irritierte ihn nicht. Er regte sich nur über das Publikationsverbot auf; dass die Leser ihn vergaßen, schrieb er wohl dem Umstand zu, dass er nicht gedruckt wurde, aber vermutlich dachte er gar nicht darüber nach. In Wirklichkeit war die Lage sehr viel ernster.
Während des Krieges nahm das Leserinteresse erneut zu. Ebenjener Katajew – im Gegensatz zu anderen Schriftstellern schnitt er mich nie und lief, sein jeweiliges Mädchen auf der Straße stehenlassend, auch im Zentrum von Moskau oder Taschkent zu mir hin –, dieser Katajew ließ mich, kaum in Taschkent angekommen, wissen: – Achmatowa erlebt ihren zweiten Ruhm, Sie müssen unbedingt zu ihr und gucken, wie das aussieht…“ Ich fürchte, dass das, was A. A. für eine neue Blütezeit hielt, nur alte Leser vom Typ Katajew erfasste.
Meine Kollegin Ussowa von der Mittelasiatischen Universität überredete mich, einen evakuierten jungen Dichter anzuhören. Es handelte sich um einen hypermodernen Jungspund aus Odessa, unter dessen dichterischen Autoritäten kein einziger Lyriker war, der nicht in Literaturzeitschriften gedruckt wurde; dafür hatte er Jüngerinnen um sich geschart, die ihn für den künftigen Simonow hielten. Ich sprach versehentlich den Namen Achmatowa aus, und der Dichter mitsamt seinen Jüngerinnen war eingeschnappt: Ach, das alte Zeug!
Dort, in Taschkent, war ich bei einer weiteren pikanten Szene zugegen, einem Worterguss von Mischa Wolpin, typisch für den undankbaren Leser der zwanziger Jahre. Frisch, straff, in Felduniform erschienen Erdman und Wolpin 22 im Haus in der Schukowskaja, wo ein Teil der evakuierten Schriftsteller untergebracht war. Sie schauten bei meinem Bruder Jewgeni Chasin vorbei. Erdman schwieg wie gewöhnlich, Wolpin führte das Wort. Er erklärte, dass er, Wolpin, sich nur für die Dichter Jessenin und Majakowski interessiere: „Krümmt sich die zungenlose Straße“,23 „Herren in Bars“24, Weizenhaare und dergleichen mehr… Achmatowa finde er langweilig – was solle er mit Achmatowa? Man denke nur: Er liebt mich, er liebt mich nicht…
In der Atmosphäre der Willkür, typisch für die zwanziger Jahre, erschien der Leser der Willkür, der auf Händen getragen werden wollte. Dieser Leser war begierig auf Neuheiten und akzeptierte nichts außer Neuheiten. Das Wort bedeutete, ganz im Geiste der Gegenwart, den Bruch mit der Form und mit gängigen Begriffen: Liebe? Gebt mir ein Mädchen, das reicht mir erst einmal für drei Tage…
Im Versuch, Zu- und Abnahme des Leserinteresses zu erklären, sagte Achmatowa einmal:

Lyrik ist eben so – hast du ein einziges Mal ein Surrogat probiert, rührst du danach kein Gedicht mehr an.

Darin liegt ein Quentchen, aber keinesfalls die ganze Wahrheit. Surrogate gibt es auch heute genug, doch der Leser weiß genau, was er will, was das Abschreiben lohnt und wessen Büchern er nachjagt. In der Epoche des Kults der Stärke und der Ablehnung aller Werte las der Leser Gedichte, um seine Haltung zu bestätigen und seinen zynischen Glauben an Anpassung zu rechtfertigen. Diesem Leser war Achmatowas Pathos der Entsagung absolut fremd, er bemerkte nur, was zur leichten Beute von Kritikastern werden konnte, und ignorierte völlig ihre Stärken: die herbe Zurückhaltung, die Genauigkeit und Kraft, mit der sie ins Schwarze trifft. Der verwöhnte Leser suchte nicht nach echter poetischer Wahrheit, er machte sich nicht die Mühe, Krümchen geistiger Verwandlung aufzuspüren, er wollte berauscht und hingerissen werden, „das Portemonnaie noch in der Hand“, wie A. A. es ausdrückte. Dieser Leser merkte nicht einmal, dass Achmatowa keine Dichterin der Liebe, sondern des Liebesverzichts um einer höheren Menschlichkeit willen war.
Um Mandelstam stand es noch schlimmer. Es erforderte Mühe, ihn zu verstehen, und noch größere Mühe, sich, hatte man ihn verstanden, von seiner Macht zu befreien, davon, was er das „Bewusstsein des Dichters“ nannte, „im Recht zu sein“. Im Kampf gegen die Macht des Dichters sind alle Mittel recht – von Klatsch und Verleumdung über diverse nicht politische Bloßstellungen bis zu Beschlüssen höchster Staatsorgane und Haftbefehlen.
In unserer Gesellschaft gab es in all den Jahren eine sehr genaue Abstufung von menschlichem Material – zwei Pole und dazwischen eine ganze Skala von Übergängen. An den Polen waren zwei gegensätzliche soziale Typen angesiedelt: auf der einen Seite Herolde des Neuen, Voluntaristen, die alle Werte ablehnten, Theoretiker der Macht und Anhänger der Diktatur, auf der anderen Seite diejenigen, die der Macht ihr auf Wertvorstellungen gegründetes Bewusstsein, „im Recht zu sein“, entgegenhielten. Diese beiden konträren Gruppen konnten einander nicht verstehen und wollten es auch nicht. Auf den Pol der Macht wirkte der Pol des Geistes lächerlich, töricht und absurd. Einer meiner Bekannten, ein Jungspund und heimlicher Lyrikliebhaber, der mit einer Frau aus dem gegnerischen Lager verheiratet war, fasste sich Ende der fünfziger Jahre ein Herz und hängte in seiner Untermieterkammer – er war mit seiner Frau aus einer Randrepublik nach Moskau gezogen – ein Porträt von Achmatowa auf. Seine Frau bekam Besuch von den Söhnen einflussreicher Männer, die nach dem 20. und 21. Parteitag ihre Posten verloren hatten. Die jungen Leute sollten in irgendwelchen Geheimakademien das Handwerk ihrer Väter erlernen, um schleunigst an deren Stelle zu treten. Wenn sie ihre einstige Spielgefährtin besuchten, betrachteten sie befremdet Achmatowas Porträt und machten sich laut darüber lustig. Die dargestellte Frau war ihnen physisch fremd. Ihre Schönheit kam ihnen hässlich vor. Ich habe gehört, dass man diese Leute jetzt Einzeller nennt, manchmal auch – nach den Aktivisten der chinesischen Kulturrevolution – Rotgardisten, obwohl die unter schwierigeren Umständen arbeiteten, nämlich auf der Straße und nicht in einem geschlossenen Raum, dem russischen Folterkeller. Die Einzeller begreifen die komplexe Zusammensetzung der menschlichen Natur nicht, und in einer Epoche, in der sie das Banner der „Umwertung aller Werte“ vorantragen und die Mehrheit ihnen nachfolgt, verschwinden die Lyrikleser vom Angesicht der Erde.
Der geistige Sieg über die Einzellerstruktur bewirkte Ende der fünfziger Jahre, dass die Liebe zur Dichtung wieder zunahm. In der russischen Kultur enthält Dichtung offenbar ein befreiendes Element.
Mein Freund C. B. [Clarence Brown] sagte eines Tages zu mir: „Ich bin mir sicher, dass bei uns kein Dichter etwas dagegen hätte, ein russischer Dichter zu sein.“ „Mit allen biographischen Konsequenzen?“, fragte ich. „Ja“, sagte C. B., „bei euch ist das etwas Ernsthaftes…“
Mir scheint zwar, dass C. B. die „biographischen Konsequenzen“ unterschätzt hat, und darin stimmte A. A. mir zu, aber ihr fiel auf, dass das Gegenstück, der Wunsch eines russischen Dichters, lieber ein ausländischer Dichter zu sein, undenkbar ist. Das kann nicht sein, trotz der „biographischen Konsequenzen“. Die sind unausweichlich. An der russischen Dichtung zu arbeiten ist eine große Ehre, und mit dieser Ehre nimmt man auch die Konsequenzen in Kauf.
Allerdings fielen C. B.s Besuche in die Blüteperiode unseres Lebens, als die Verhaftungen aufgehört und, wenigstens in diesem Ausmaß, noch nicht wieder angefangen hatten, die ganze Welt sich gegen den Fall S. und D. empörte und sogar wir unseren Senf dazugaben. Im Übrigen hätte er, wenn er in der Zeit der Grabesstille zu uns gekommen wäre, wie alle, die damals zu uns kamen, nichts verstanden und von niemandem etwas erklärt bekommen, so dass er auch damals hätte glauben können, es wäre gut, ein russischer Dichter zu sein.
Ich für meinen Teil wäre lieber ein Schuster egal welcher Nationalität oder besser noch eine Schusterfrau gewesen: Die Schuhe wären ganz, der Mann bei der Arbeit.
Leningrad. Die Kirche. Die Totenmesse. Eine tausendköpfige Menge bildete einen Ring um die Nikolaus-Marine-Kathedrale. Drinnen herrschte Gedränge. Fotoapparate klickten, aber den Fotografen wurden hinterher die Filme weggenommen: Ein kirchliches Begräbnis ist schädliche Propaganda, und es war auch nicht ganz die richtige Frau: Der Beschluss25 war ja immer noch nicht aufgehoben. Die Filme verschwanden in einem Archiv, und die Fotografen bekamen Unannehmlichkeiten, obwohl sie sich vorher alle nur möglichen Genehmigungen besorgt hatten.
Nach dem Gottesdienst verließ ich die Kirche und stieg in den Bus, der für den Transport des Sargs bereitgestellt worden war. Aus der Kirche ergoss sich ein ununterbrochener Menschenstrom, und ebenso ununterbrochen strömte die Menge derer hinein, die noch nicht am Sarg vorbeidefiliert waren. Der Abschied ging langsam vor sich. In der Menge waren auch Altersgenossinnen, aber vor allem unbekannte junge Gesichter. Die normalen Kirchgängerinnen – abgehärmte alte Frauen in vorsintflutlicher Kleidung – drängten sich wild entschlossen ins Innere und beschimpften diejenigen, die zu einem Notfall, einem Begräbnis gekommen waren und sie, die den Gottesdienst ständig besuchten, verdrängten. Die Organisatoren des Begräbnisses wurden nervös: Der Abschied zieht sich in die Länge – wer hätte gedacht, dass solche Massen kommen? –, und der Zeitplan gerät durcheinander…
Der zweite Abschied und die bürgerliche Totenfeier fanden im Schriftstellerverband statt. Dort wartete schon lange eine Menschenmenge, man ließ niemanden mehr hinein. Der Pförtner stand an der Tür und wehrte die herandrängenden Menschen ab. Auch Ljowa und ich wurden nicht mehr hineingelassen, und wir versuchten, um die Ecke zu schleichen und dort versteckt das offizielle Schauspiel abzuwarten. Doch ein Verwaltungsmensch erkannte Ljowa und bugsierte uns auf unseren Platz. Ein dickliches Akademiemitglied plapperte einen hanebüchenen Unsinn über Achmatowas Studie zu Puschkins „Goldenem Hahn“, von der A. A. schon lange nichts mehr hatte wissen wollen. Dichterdamen mit verschiedenfarbenem Haar schworen Achmatowa hysterisch die Treue, irgendein Dichter hielt dröhnend eine Rede, und die Zeremonie war beendet. In der Menge – in der Kirche und im Verband – erkannte ich Kuschners starres, konzentriertes Gesicht und Brodskys verzweifelte Augen. Die Moskauer – es waren wenige – unterschieden sich deutlich von den Leningradern: Sie benahmen sich, als gehörte Achmatowa, die sie im Flugzeug hergebracht hatten, ihnen. In Leningrad hatte Anna Andrejewna viel isolierter gelebt als in Moskau, wo sie pausenlos von ihren vielen Freunden bestürmt wurde und in jeder Wohnung, in der sie turnusmäßig zwei Wochen verbrachte, das entstand, was Achmatowka26 genannt wurde. Erst in letzter Zeit hatte sie in Leningrad Kontakt mit einem Zirkel junger Dichter gehabt. „Sie sind rothaarig“, sagte A. A. und zeigte mir „den wichtigsten“, den blutjungen rothaarigen Brodsky mit Bart. Ich bin froh, dass diese Jungs A. A.s Leningrader Einsamkeit verschönert haben.
Wieder fuhren die Busse an. In unserem, in dem der Sarg transportiert wurde, waren Koma, Wolodja, Tomaschewskaja, für einen Moment stieg Anja ein, und Ljowa nannte sie seine Nichte. Nach einem kurzen Halt am Fontänenhaus fuhren die Wagen nach Komarowo, vorneweg brauste ein Milizauto. Wovor beschützte es die Tote? Denn wir wissen ja, „meine Miliz passt auf mich auf…“27
Einen Platz auf dem Friedhof zu bekommen hatte erhebliche Mühe gekostet. Auch dieser Raum ist Mangelware, auch hier dringt die Ideologie ein. Während die Leiche in der Kirche aufgebahrt war, liefen ununterbrochen Verhandlungen mit Moskau, wo man mit Surkows Hilfe um ein Stück Erde stritt. Der Friedhofsdirektor von Komarowo gab schließlich nach, unter der Bedingung, dass am Grab keine religiöse Zeremonie stattfinden dürfe. Das Leben ist schwer bei uns, fast unmöglich, und auch das Sterben ist nicht leicht. Sogar der letzte Weg wird durch Tausende von Anordnungen und Beschlüssen behindert, ganz zu schweigen davon, dass selbst ein Sarg fast schon Mangelware ist. Und trotzdem kann man von Glück sagen, dass A. A. in heimatlicher Erde liegt, ohne Schildchen am Fuß. Sie hätte ihn auch anders gehen können – den Weg alles Irdischen.28
Die letzten Eindrücke: auf dem Friedhof ein kleines Grüppchen, ein paar Leute aus Komarowo. Fast alles bekannte Gesichter. Plötzlich taucht ein gewisser Michalkow auf, den der Moskauer Verband nach dem Skandal um den Begräbnistermin hergeschickt hat, hält eine Rede und verschwindet. Man geht auseinander. Auf ihrer Datscha ein Gottesdienst. Die Anwesenden können die Stirn nicht mehr bekreuzen – sie haben es verlernt. Der Geistliche zelebriert die Messe ausgezeichnet, aber er hat es schwer – es sind lauter Unkundige da. Der für den Totenschmaus gedeckte Tisch. Das Streichquartett – dasselbe, das in Komarowo für sie gespielt hat. Tarkowski, ganz bleich, jemand fährt uns beide in die Stadt. Es ist zu Ende. Ich werde sie auf dieser Erde nicht mehr sehen. Sie hat jeden Tag des Lebens hochgeschätzt und den Tod mit aller Kraft hinausgezögert. Vor dem Ende lichtete sich das Dunkel ein wenig, alles wurde bedeutend leichter, und sie konnte sich eine Zukunft vorstellen. Das letzte Buch29 war sogar weniger amputiert als die anderen, doch auch dort machte man sie zur Dichterin der Liebe statt der Entsagung. Diese lebenslustige Frau hat sich von Jugend auf alle irdischen Güter versagt.

Mehr als vierzig Jahre sind seit Beginn unserer Freundschaft vergangen. In ihrer frühen Jugend kannte ich sie nicht. Darüber gibt es nur noch Erzählungen, von ihr und O. M. Wie sie mit Walja Sresnewskaja lebte, zum Beispiel, und das Hausmädchen, besorgt, weil das Geld zur Neige ging, sich beschwerte:

Früher löste Anna Andrejewna ihr Haar, rannte wie ein Hirsch durchs Zimmer und murmelte vor sich hin – da hatten wir auch Geld, aber jetzt…

A. A. blieb lange leichtfüßig. Wir waren daran gewöhnt, aber Außenstehende wunderten sich. Das Hausmädchen von Narbuts, das sie aus irgendwelchen Gründen zu uns in die Furmanow-Straße geschickt hatten (im Winter 1933/34), berichtete seiner Herrschaft:

Bei denen lebt eine Frau – die berührt den Boden nicht, wenn sie läuft…

Damals war A. A. noch verblüffend gelenkig: Sie konnte sich, wenn sie auf dem Boden lag, so verbiegen, dass ihre Absätze den Hinterkopf berührten. Die Ballerina Lidija Iwanowa, die später ertrunken ist, erzählte ihr, dass keiner in ihrer Truppe mit seinem Körper machen könne, was A. A. ohne jede Übung schaffte.
Ich sehe sie bei meinen Besuchen im Fontänenhaus vor mir, wo sie, noch schlank und geschmeidig, die Hände durchscheinend, halb ausgestreckt auf Punins massigem Sofa lag, zugedeckt mit einer Wolldecke. Keine Fotografie, kein Porträt kann die fügsame Neigung ihres Halses wiedergeben, die süße und herbe Linie des Mundes und den seltsamen Höcker auf der Nase, der an eine phönizische Sklavin denken lässt. Und dann berichtete sie mit, wie O. M. sagte, heißem Wispern, wer abgeholt worden war, was man ihm vorwarf – die Akademie-Prozesse, die Prozesse um das Russische Museum, die Eremitage-Prozesse. In all den Zeiten waren es zu viele, um sie aufzuzählen, aber sie dachte immer daran, dass man nicht fragen darf: „Was hat er getan?“ „Sie alle haben nichts getan“ – daran haben wir nie gezweifelt. Und weiter: Von welcher Ehefrau wurde ein Paket angenommen und von welcher nicht, und – mein Gott! – wann wird das alles ein Ende haben?… Das war damals, als wir in Leningrad, in Zarskoje Selo, auf der Krim lebten oder aus Moskau zu ihr kamen. Dann ihre Reisen zu uns nach Moskau. In Woronesch war sie auch einmal, fuhr aber öfter nach Moskau, um mich zu treffen. 1937/38, als wir in der Hundert-Werst-Zone30 lebten, sind wir drei Mal nach Leningrad gefahren, saßen mit ihr an Punins Tisch und übernachteten sogar hinter Ljowas Vorhang. Beim letzten Besuch hatte sich O. M. schon hingelegt, als sie zu ihm kam und sich aufs Bett setzte. Er deklamierte die „Kiewerin“ für sie.31

Und bei demselben Besuch:

Nicht als europäische Hauptstadt32 mit dem ersten Preis für Schönheit – als schrecklicher Verbannungsort am Jenissej, als Umsteigebahnhof nach Tschita, nach Ischim, zum wasserlosen Irgis, zum vielgerühmten Atbassar, als Umsteigebahnhof in die Stadt Freiheit, im Pestgestank schimmliger Pritschen zeigte sich mir diese Stadt in dieser hellblauen Mitternacht – sie, besungen vom ersten Dichter, von uns Sündern und von dir…

Doch mit der Dynamik unseres Lebens konnte man nicht Schritt halten: Alle von ihr aufgezählten Verbannungsorte erschienen zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr so furchtbar, weil sich die Kolyma mit ihrem unübertrefflichen Grauen etabliert hatte. Währenddessen war A. A., in ihrem Zimmer sitzend, immer verblüff end gut unterrichtet. Ich hatte nicht einmal die Chance, ihr zu erzählen, was für ein Wasser in Kasachstan bei der Feldarbeit getrunken wird – sie wusste auch das. Sie wusste immer alles. Nicht einmal in seliges Nichtwissen konnte sie sich vor der Wirklichkeit retten.
Ich kam nach Taschkent – sie hatte meine Übersiedlung aus dem Dorf organisiert, wo ich zugrunde ging, und mir dadurch das Leben gerettet –, und ich war überrascht, dass sie eine korpulente, schwere Frau geworden war, die sich nur mit Mühe fortbewegte und niemals alleine wegging, weil sie 1937 an Platzangst erkrankt war. Wenn sie jetzt Gedichte schrieb, lief sie nicht mehr wie ein Hirsch herum, sie lag, mit dem Heft in der Hand. Ihr Gedächtnis ließ auch nach, und im Kopf Gedichte verfassen konnte sie nicht mehr.
Das veränderte Aussehen ließ sich leicht mit dem Alter erklären, wenn es dafür auch sehr früh war. Der tiefere – innere – Wandel äußerte sich in ihrer Sprechweise wie im ganzen Verhalten. Seinerzeit – in Leningrad, in Moskau, auch bei uns in der Furmanow-Straße – hatte O. M., während er meine Sticheleien abwehrte, häufig gesagt:

Wenn du wenigstens einmal in Tränen ausbrechen würdest!33

Und:

Warum bist du so logisch? Schau dir Anna Andrejewna an und steck deine Logik weg…

Logisches Denken ist bei Frauen natürlich ein großer Nachteil, und A. A. wusste das genau. Solange der endgültige Bruch mit Punin nicht vollzogen war, solange O. M. und die Menschen unserer Generation34 noch lebten, verbarg A. A. ihren Verstand und ihre Logik perfekt. Auf Dispute ließ sie sich prinzipiell nicht ein.35
Als sie uns in Moskau besuchte, waren wir oft zu viert: Wir beide, sie und Pasternak. O. M. hielt große Stücke auf den Hering, den sie zubereitete. Das war Kultur nach Art der Punins: Zu Mittag irgendein Fraß, zum Wodka delikate Happen. Ins Labyrinth männlicher Gespräche begab A. A. sich nicht, sie war die liebenswürdige Hausfrau, scherzte,36 lächelte… Wir hatten keine Ahnung von der Kraft ihres Verstandes und der Bissigkeit ihrer Rede. Die kannten vermutlich nur ihre Ehemänner, von denen sie sich trennte, wenn von morgens bis abends der „Strom von Beweisen“ floss, der zeigte, „dass ich ausnahmslos recht hatte.“37 Doch O. M. war ein Freund, mit ihm musste nichts geklärt werden, und deshalb erlebten wir keinen „Strom von Beweisen“. Aus diesem Grund schlug ich in Taschkent, als ich die neue Stimme hörte, nur die Hände über dem Kopf zusammen:

Wie Sie sie reingelegt haben, Anousch! Wie Sie Ihren Verstand versteckt haben!

A. A. erklärte mir scherzhaft, dass man den wirklich vor „ihnen“ verstecken müsse, weil sie sonst sofort wegliefen. Und die Kschessinskaja erklärte das Geheimnis ihres Erfolges so: Man muss „sie“ reden lassen, darf „ihre“ Bekenntnisse nicht unterbrechen, eine Frau braucht bloß teilnahmsvoll zu lauschen und die Augen nicht von „ihnen“ zu wenden, dann ist der Erfolg garantiert, mehr ist nicht erforderlich. A. A.s Vater verließ irgendwann die Familie, um zu einer seltsamen, unscheinbaren buckligen Frau zu gehen. „Wahrscheinlich konnte sie zuhören“, kommentierte A. A.38
In Taschkent gab es keinen von „ihnen“, deren Bekenntnissen man teilnahmsvoll hätte lauschen müssen, und A. A. begann nach Kräften zu reden. Genau zu dieser Zeit tauchten in ihren Gedichten harte, freimütige Formeln auf („Die treuste Freundin fremder Ehemänner39 und untröstliche Witwe von so vielen“) und nahmen zwei – letztlich dann doch inexistente – Bücher Gestalt an.
A. A. wunderte sich stets darüber, wie ungenau die Menschen sprechen, wie sie in ihren Erzählungen Tatsachen verzerren, wie sich beliebige Ereignisse in ihrer Wiedergabe40 verwandeln. Sie trainierte ihren Verstand, indem sie nach den allgemeingültigen Gesetzen suchte, die diese Verzerrungen und Verschiebungen steuern. Wie mit der Pinzette zupfte sie jede Erzählung und jede Klatschgeschichte auseinander, zerlegte sie in ihre Bestandteile und offenbarte, worauf sich die Abweichung von der Wahrheit gründete. Typische Verzerrungen wurden zu Gesetzen verallgemeinert (zum Beispiel Wunschdenken, Glätten scharfer Kanten, Angleichung qua Analogie, die Augen vor Dingen verschließen, um sich selbst zu beruhigen usw.). Sie riss überall die Hüllen des Anstands ab und nannte die Dinge unverblümt beim Namen. Mich frappierte damals die Unbarmherzigkeit ihres Urteils, und ich erkannte, dass die Analyse das wesentliche Strukturelement ihres Denkens ist. Von O. M., einem Menschen mit ganzheitlicher Weltanschauung und hierarchischem Ideensystem, hätte ich das nicht sagen können. Seine Logik diente der Konstruktion und Absicherung des Ganzen, sie dagegen zerlegte das Ganze für ihre Zwecke.
„Wie Sie sie getäuscht haben, Anousch!“, sagte ich immer wieder. Nicht nur ich war entgeistert, alle ihre Jugendfreunde wären es gewesen angesichts des Exzesses sezierender rationaler Äußerungen dieser vor kurzem noch so schweigsamen, taktvollen Frau. „Sie kamen mir immer so sanftmütig vor…“ An diesen Charakterzug hatte O. M. übrigens nie geglaubt. Sie sagte einmal zu ihm, sie sei sanftmütig, und er zog eine scheußliche Grimasse und sprach das Wort drohend mit scharfem, zischendem fff aus. A. A. gab zu, dass von so einer Sanffftmut nichts Gutes zu erwarten war. In Taschkent bestand sie nicht mehr auf der einstigen Sanftmut. Nach ihren Erzählungen war sie als junges Mädchen sehr schwierig: reizbar, ungeduldig, ständig aufbrausend. Es kostete sie große Mühe, ihren jähzornigen Charakter zu zügeln. Zuerst konnte ich das kaum glauben – damals hielt sie ihre Ungebärdigkeit noch im Zaum. Diese Eigenschaften brachen bei ihr von neuem im Alter durch, wenn die mäßigenden Kräfte häufig erlahmen. In den letzten Jahren erwachte auf geheimnisvolle Weise die junge ungezügelte Anjuta wieder zum Leben.
Im Übrigen überraschte ich sie auch. Sie hatte gedacht, ich sei eine laute, mutwillige und freche Göre, und als sie mit mir unter einem Dach lebte, konnte sie sich nicht genug darüber wundern, dass ich im Grunde ziemlich ruhig war. Ohne Männer hatten wir uns beide in die diametral entgegengesetzte Richtung verändert.
Das Verfassen des ungeschriebenen Buchs begann in Taschkent und dauerte viele Jahre. A. A. nannte es „Mein Buch“ oder „Studien zur Natur der Diffamierung“, und ich versicherte ihr, dass sie mit dem „Buch“ in Sozialpsychologie promovieren könnte. Denn diese privaten, aber für den menschlichen Verstand typischen Verzerrungen und Verschiebungen breiteten sich in der Gesellschaft aus und bildeten die sogenannte öffentliche Meinung. Extreme Fälle von Verzerrungen stifteten sentimentale Legenden oder üble Diffamierungen, die oft auch nach dem Tod an einem Menschen haften blieben, in die Geschichte eingingen. A. A. hasste Legenden, Schönfärbereien und Abmilderungen, doch für uns sah sie die Verleumdung als besonders gefährlich an, wie fantastisch sie auch sein mochte. „An uns bleibt alles kleben“, sagte sie. Tatsächlich, an ihr und O. M. und in den letzten Jahren auch an mir blieb alles Erdenkliche „kleben“, Erst vor kurzem versiegte die süßliche Legende von der Liebschaft zwischen Achmatowa und Blok. Sie war so weit verbreitet gewesen, dass ich O. M. in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft danach fragte. Er lachte und sagte, dass A. A. sich immer treu bleibe: nur „Offizierskerle“. Damit meinte er einen bestimmten körperlichen Typ Mann.41 Meine Definition von A. A.s Partnern ist genauer: Professoren und Kommissare. Kommissare in Sachen Kunst waren in den ersten Jahren der Revolution sowohl Punin als auch Lourié.
Weitere Beispiele für das, was an A. A. „kleben blieb“: Ein höchst angesehener schwedischer Journalist kam zu ihr und stellte ihr die weltbewegende Frage, ob sie als junges Mädchen wirklich, wie erzählt werde, in Literaturkneipen auf dem Tisch getanzt habe. Dann war da die Augenzeugin und Memoirenschreiberin, die ausführlich schilderte, wie eine Wanderzirkustruppe unter Gumiljows Leitung mit Achmatowa als erster Akrobatin auf dem Gut der Gumiljows unter den Bauern ihr Wesen trieb. Und außerdem zahlreiche Liebschaften, die es nie gegeben hat…
Was O. M. betrifft, so kursieren bis heute in gewissen Kreisen Anekdoten über ihn, die Woloschin in die Welt gesetzt hatte, der aus irgendeinem Grund Gefallen daran fand, O. M. als eine Art modernen François Villon darzustellen. Diese Anekdoten schadeten O. M. seinerzeit sehr, denn sie gestatteten unseren Funktionären, einen so merkwürdigen Menschen nicht ernst zu nehmen.42
In den zehner Jahren galt Rufschädigung als nettes Spiel, als von Woloschin geschätzte „Mystifikation“, doch in späteren, böseren Zeiten landete sie in der „Akte“ eines Menschen. Eichenbaums leichtsinnige Äußerung über [Achmatowa als] Nonne und Hure konnte wunderbar in Schdanows Beschluss Verwendung finden. Der Schmutz aus dem Salon von Lilja und Ossip Brik besiegelte O. M.s und A. A.s Schicksal. Und noch eine absolute Bagatelle: Jemand nannte O. M. klein und schmächtig, und heute meinen alle, sie hätten, wenn sie Mandelstam sahen, einen kleinen, schmächtigen Menschen gesehen. Eine fremde Meinung ist ansteckend. Sie ist akut infektiös. Aber es geht ja nicht um singuläre Verschiebungen, die das Aussehen eines Einzelnen verändern. Alle historischen Ereignisse erreichen uns mit den spezifischen Verzerrungen, mit denen sie sich im Bewusstsein der Zeitgenossen eingeprägt haben. Tatsachen werden entsprechend den herrschenden Vorstellungen (Konventionen) zurechtgeschliffen, nach denen eine Gesellschaft lebt, sie werden Gesamtkonzeptionen angepasst, die die Menschen immer überrumpeln. Wie Rosanow bemerkt, wird Geschichte immer von Hypnose und Selbsthypnose vorangetrieben. Analytische Köpfe, die die Macht von Gesamtkonzeptionen brechen, sind notwendig wie die Luft zum Atmen, wie der Wind auf dem Meer, wie das reinigende Gewitter.

„Mein Buch“ oder „Studien zu den Besonderheiten menschlichen Denkens“, des individuellen wie des kollektiven, wurde im Verlauf mehrerer Jahre verfasst, doch es war eine mündliche Abfassung, die nie aufs Papier gelangte. Nachdem A. A. individuelle Besonderheiten untersucht hatte, wandte sie sich der sozialen Entstellung von Fakten zu, denn der Kopf, an den Anschauungen vermittelt oder weitergereicht werden, wurde von den gemeinsamen Konventionen bereits auf die Wahrnehmung vorbereitet; Anschauungen leben im „Kollektiv der Köpfe“ ebenso wie in den Köpfen Einzelner. Und man sollte besser nicht darüber nachdenken, was das berüchtigte „Kollektiv der Köpfe“ in jedem konkreten Moment wohl einmütig aufgreifen mag. A. A. hat zum Beispiel brillant nachgewiesen (ich wollte das durchaus nicht glauben), dass die stalinistischen Hinrichtungen, die irrwitzigen Anklagen auf Sabotage, Spionage, Subversion und ähnliche Dinge von der ganzen Gesellschaft unterstützt wurden, von ihr herrührten, ihr imponierten. Das mag niemand glauben. L. Ja. G.43 meint, die Deutschen seien alle am Faschismus schuld, während das arme russische Volk keinerlei Schuld an der vergangenen Epoche trage: Es sei lediglich von seiner Passivität übermannt worden. Ist das so? Ich glaube, dass A. A. recht hat. Zur Zeit der Ärzteprozesse konnte ich fabelhafte kleine Szenen beobachten. Die Sekretärin vom Sprachwissenschaftlichen Institut brüllte laut, das Wasser in den Karaffen sei von subversiven Elementen vergiftet worden – sobald jemand daran nippe, werde er krank. Und alle hörten zu, und keiner brachte sie ins Irrenhaus. Etliche in dieser Zeit verwitwete Damen, etwa Sonka Wischnewezkaja-Wischnewskaja, beschuldigten die Ärzte, ihre Männer böswillig umgebracht zu haben. Im Wohnheim des Pädagogischen Instituts in Uljanowsk stürzte sich eine Grippekranke mit geballten Fäusten auf ihre unglückliche Ärztin und beschuldigte sie, einen Anschlag auf ihr Leben verübt zu haben. Sie war Dozentin an meinem Lehrstuhl, sogar auf ihre Art anständig, promoviert, sie hatte versucht, für mich einzutreten, als ich entlassen werden sollte.
Das ist das „Kollektiv der Köpfe“, und jede Zeit hat ihre eigene Pest. Waren diese Leute für die Sondermaßnahmen, oder litten sie, von Natur aus unschuldig, einfach an russischer Passivität? Wer hat recht – die Autorin von „Mein Buch“ oder die hochintelligente L. Ja. G.? Für kollektive Verbrechen tragen wir eine kollektive Verantwortung.
Doch neben ernsthaften Gesetzen gab es in „Mein Buch“ auch solche zweiter Ordnung, und damit amüsierten wir uns sehr. A. A. erfand ungefähr ein Dutzend dieser halb scherzhaften Gesetze, doch ich kann mich nur noch an eins erinnern: das „Gesetz globaler Schweinerei“, der Eigenart der letzten Nadel, beim Herunterfallen unweigerlich in eine Fußbodenritze zu geraten. Schade, dass wir im Alltag all die Albernheiten, die unsere Lieben sagen, nicht aufschreiben können: Wie viele brillante Gespräche von A. A. und O. M. sind verlorengegangen! Das lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken. Nur die Konturen, die groben Umrisse bleiben, nicht der leuchtende Strom der Gedanken und treffenden Worte. Einmal habe ich versucht, etwas von A. A.s Erörterungen über Gedichte zu notieren, aber sie merkte es und erhob ein wildes Geschrei:

Was! Sie auch!44

Außerdem will das Mitschreiben gekonnt sein. In der Mitschrift wird auch die beste Formulierung von den „Buch“-Gesetzen, den Konventionen der Zeit und dem Charakter des Schreibenden entschärft. Das Schwierigste ist es, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Mein Buch“ hat uns, obwohl es nicht geschrieben wurde, viel beigebracht. Vor allem haben wir gelernt, Verhalten und Sprache einiger zweifelhafter Bekannter zu untersuchen, um zu klären, ob sie zur vielköpfigen Gattung der Spitzel gehörten oder sich bloß aus Dummheit abwegig benahmen. In unserer Situation waren solche Analysen sehr nützlich; dank ihrer haben wir keine Unschuldigen gemieden, weil wir sie für Spitzel hielten, und keine Spitzel geküsst, weil wir glaubten, unseren treusten Freund vor uns zu haben. Auch Spitzel sind manchmal sehr nett, besonders solche, die sich Frauen im kritischen Alter widmen, wenn diese gern noch einmal ihre welken Reize spielen lassen würden wie Zirkuspferde, die auf dem Land gestrandet sind, aber ihre Zirkuspirouetten noch nicht vergessen haben. Diese Spitzel haben leicht, ja mit stupender Leichtigkeit etliche Idiotinnen betört und aus ihnen herausgeholt, was herauszuholen war… In einer Epoche wie unserer würde ich allen raten, sich mit den Gesetzen und Kategorien aus Achmatowas ungeschriebenem Buch vertraut zu machen.
Außer dem ungeschriebenen Buch war da noch ein geschriebenes, aber inexistentes Drama namens „Prolog“. Sein Schicksal ist ziemlich tragisch, aber auch nicht tragischer als all unsere millionenfachen Schicksale und Lebenswege. Ich weiß bis heute nicht, was man mehr bedauern sollte – den Menschen oder die Sache. Wird ein Mensch vernichtet, bleibt nur seine Asche, und die Erinnerung an ihn schwindet allmählich: Zunächst wird seiner gedacht, dann ist er plötzlich vergessen – das Leben geht weiter… An die Zerstörung eines Gebäudes oder eines Kunstwerks erinnert man sich sehr viel länger: die Kathedrale von Reims, die Kirchen in Moskau und überall in Russland… Die Menschen tun mir unsäglich leid, sie tun mir so leid, dass ich für ihr Leben alle Werke der Baukunst hergeben würde… Aber mir ist es dermaßen leid um verlorene Gedichte, und es tut mit dermaßen in der Seele weh, wenn alte Ikonen zu Brennholz zerhackt oder wundervolle Kirchlein ihrer Balken und Ziegelsteine wegen abgerissen werden, dass ich mein Leben opfern würde – natürlich nicht das von anderen –, um sie vor Vandalismus zu schützen. Bis heute kann ich nicht entscheiden, welcher Verlust furchtbarer ist.
„Ich weiß, warum man die Menschen nicht aus Leningrad herauslassen durfte“, sagte A. A. bald nach Aufhebung der Blockade. „Sie mussten die Stadt retten.“ Ja, sie retteten dieses architektonische Wunder Leningrad, doch wie viele starben, vertiert vor Hunger und Qual? Dinge oder Menschen? Was ist mehr zu beklagen?
Das Drama „Prolog“ ging verloren. Seine Geschichte sieht so aus: A. A. schrieb den Text in Taschkent. In Leningrad wurde sie von Schdanows Beschluss überrumpelt. Es heißt, die Konkurrenz zweier „Erben“ habe ihn verursacht. Auf einem Lyrikabend im Moskauer Polytechnischen Museum erhob sich bei A. A.s Eintritt der ganze Saal. M. befürwortete die Publikation von A. A.s Gedichten. Schdanow, der gegen ihn arbeitete, informierte seinen Herrn und Meister über die Geschichte im Polytechnischen Museum. „Wer hat das organisiert?“, fragte der aufgebracht. Da er den Mechanismus unseres Ruhms genau kannte, konnte er sich nicht vorstellen, dass die Leute spontan aufgestanden waren. Schdanow handelte mit schlafwandlerischer Sicherheit und gewann. Das bekam Achmatowa von Soschtschenko erzählt, von wem der es hatte, weiß ich nicht, doch wie Pasternak sagte, ist alles „zitatecht“, man hört die Stimmen der Beteiligten… Kurz nach dem Beschluss wurde Ljowa abgeholt. Damals hatte er schon seine erste Haft abgesessen, hatte an der Front gekämpft und einen Haufen Medaillen für eroberte Städte eingeheimst, innerhalb eines Jahres sein Studium beendet und promoviert. Die beiden, Mutter und Sohn, nahmen sich vor zu leben, und in diesen Jahren, frei von Punins Einfluss, waren sie außergewöhnlich eng miteinander befreundet… Sie hatten ein gemeinsames Zimmer, aber nach der gerade gültigen Instruktion wurden A. A.s Papiere nicht durchwühlt. Dieses Mal benahm sie sich wie eine einfache Bäuerin: Sie heulte auf, lamentierte, und als die Gäste fort waren und ihren einzigen Sohn mitgenommen hatten, irrlichterte sie lange durchs Zimmer, griff nach Papieren – zum Teufel mit den Gedichten, sind an allem schuld! – und schleuderte sie in den brennenden Ofen. Das Drama „Prolog“ landete aus guten Gründen im Feuer: Vielleicht kommen sie plötzlich zurück, wie damals zu Ossip – dann schnappen sie sich den „Prolog“, und Ljowa ergeht es schlecht, er ist ja ihre Geisel… Geiseln nimmt man, um das friedliche, vernünftige Verhalten derer sicherzustellen, für die sie festsitzen… Wozu braucht man diese Schreiberei, wenn sie nur Unheil bringt?…
Die Gedichte konnten später aus dem Gedächtnis rekonstruiert werden. Das zeichnet Gedichte aus – der Autor und seine Freunde erinnern sich daran. Sie erinnerten sich an fast alles. Bekannte „schenkten“ ihr die eigenen Gedichte. Ich schenkte ihr „De profundis“ und noch etwas – einen Vierzeiler, einen Teil der „Kiteschanka“…45 Doch das Drama konnte nicht rekonstruiert werden – sie hatte damals nicht erlaubt, es auswendig zu lernen, und nur nach dem Gehör war das kaum möglich. Es ging verloren.
In den sechziger Jahren kam A. A. auf die Idee, ihr Drama zu rekonstruieren. Sie fragte alle, denen sie es damals vorgelesen hatte, ob sie noch etwas wüssten, doch die Menschen sind erstaunlich oberflächliche Leser, und beim Zuhören allein merken sie sich gar nichts. A. A. glaubte, sie könne sich selbst an ihren „Prolog“ erinnern, und bald fing sie an, den Text stückweise aufzuschreiben. Doch zu der Zeit hatte sie sich schon verändert: Die Eigenarten ihrer Jugend waren schon zu ihr zurückgekehrt. Zuerst verschwanden die Schroffheit des Verstandes und die Unbarmherzigkeit des Urteils. Während sie in Gesprächen noch hin und wieder aufflackerten, waren sie in den Gedichten fast ganz erloschen (höchstens in „Heimaterde“ war noch etwas von der reifen Achmatowa). Achmatowas letzte Phase war das intensive Durchleben von Begegnungen, Nicht-Begegnungen, Empfindungen und Gefühlen. Die zugespitzte soziale Formulierung der vierziger Jahre verschwand. Das war nicht mehr die tränenlose, das war eine neue Frau, durchaus imstande, Tränen zu vergießen, manchmal sogar über Kleinigkeiten.
Gründe für ihren wiedergewonnenen Optimismus gab es natürlich. In dieser relativ ruhigen kurzen Lebensphase rappelten wir uns auf und begannen zu denken und zu leben. Uns erreichten viele gute Nachrichten, die unsere Stimmung hoben. In den vergangenen dunklen Jahren waren wir, vom Leben abgeschnitten, überzeugt gewesen, die Ideen, die unser Verhalten leiteten und uns an allzu schändlichen Kompromissen hinderten, seien in den Staub getreten, unwiederbringlich zerstört und würden nie wieder aufleben. Wir glaubten sogar, die Welt, eingetreten in die Ära des Triumphs der Wissenschaft, habe alle unsere jämmerlichen idealistischen Vorstellungen von höherer Wahrheit, von Werten, vom besonderen, nicht nur kreatürlichen Wesen des Menschen zunichte gemacht. Wir hielten uns für besiegt, aber da wir glaubten, wir seien die letzten Hüter der Werte, blieben wir stehen, wo wir standen. Selbst in der Kunst schien eine andere Strömung Oberhand gewonnen zu haben. „Überall auf der Welt“, sagte A. A., „haben abstrakte Kunst und Futurismus gesiegt – die ,Inhaltsmenschen‘ können sich zur Ruhe setzen…“ Doch allmählich drangen Nachrichten über neue Ideen und ein neues Weltbild zu uns. Das betraf vor allem die Wissenschaft, die in unserer Jugend als wichtigster Gegenpol religiösen Denkens und damit der Kunst gegolten hatte. Es stellte sich heraus, dass es den Antagonismus Verstand/Wissen versus Glaube/Offenbarung in der modernen Wissenschaft nicht mehr gab, erstens dank logischer Schlüsse innerhalb der Wissenschaft und zweitens im Zusammenhang mit neuen wissenschaftlichen Methoden. Der Positivismus erstreckte sich nicht mehr auf allgemeine Daseinsvorstellungen, er wurde zu einer bloßen Untersuchungs- und Auslegungsmethode wissenschaftlichen Materials. Anders gesagt, der Positivismus, im 19. Jahrhundert noch aggressive Weltanschauung, wurde zu dem, was ihm eigentlich zukam: zur methodischen Basis wissenschaftlicher Erkenntnis.
A. A. teilte mir die Neuigkeiten auf ihre Art mit:

Wissen Sie, was mir die Physiker erzählt haben…

Einer von ihnen war extra gekommen, um sie zu trösten. Diesen Trost akzeptierte sie, aber als E. G.46 sie trösten wollte, das gerade herausgekommene Buch47 sei doch gar kein solches Monster, verschloss A. A. ihr Ohr:

Mich braucht man nicht zu trösten: Ich bin untröstlich…

Doch sie blieb es nicht: Ein zweites Buch kam heraus, dann ein drittes.48 Die Leute strömten in hellen Scharen zu ihr. Ihre Gedichte wanderten durchs ganze Land. Die Verzweiflung verließ sie, die harte, direkte Sprechweise milderte sich ab. A. A. zog sich in ihr Inneres zurück und suchte die dramatische Kollision in sich selbst. Unter diesen Umständen war es unmöglich, das Drama zu rekonstruieren, sie war gezwungen, es neu zu schreiben, das heißt, ein anderes Stück.
Die neue Dramenversion ähnelte den Gedichten der letzten Phase, thematisiert die „Nicht-Begegnung“, doch ohne den scharfen sozialen Beigeschmack der Lyrik über die „Nicht-Begegnung“. Im Drama ist die Nicht-Begegnung eine himmlische: Es geht um die Seelen der Menschen, die sich auf Erden nicht begegnet sind. Und dieses Mal interessierte A. A. sich für Formales, für eine neue Organisation der Bühne: das Theater auf dem Theater, der Graben, die Türen, der Ort, wo ihre sich auf Erden nicht begegnenden Seelen umherschweifen. Auch im Alter scharfsichtig, schweifte A. A. ihrerseits nicht lange durch die himmlischen Theaterwelten. Nachdem sie sich einige Stücke aus dem Westen angeschaut hatte, sagte sie mir, alle ihre Einfälle habe das Theater im Westen schon gehabt und umgesetzt. Das war das Ende der sogenannten Rekonstruktion des „Prologs“, denn sie hatte ein Grundprinzip verraten, das O. M. so formulierte:

Wir sind Inhaltsmenschen.

Der erste „Prolog“ war ein inhaltlich pointiertes und aggressives Werk. Was die Inszenierung betraf, kümmerte A. A. sich nur um eines: Sie schleppte eine dieser Leitern auf die Bühne, wie sie in Taschkent oft auf das Obergeschoss eines Hauses führten, und die Hauptfigur, im bloßen Nachthemd, klettert vor den Augen der Zuschauer kurzerhand die Leiter hinunter, weil sie zu einem Schauprozess gerufen wird und keine Zeit zum Anziehen hat. Der „Prolog“ sah auf wunderbare Weise den ganzen Wirrwarr voraus, den Schdanows Beschluss zur Folge hatte.49 Auf der Bühne steht ein großer Tisch, an dem das Literaturgericht Platz genommen hat. Von allen Seiten kommen Schriftsteller gelaufen. Der eine trägt eine Tüte, aus der ein Fischschwanz guckt, der andere hat die gleiche Tüte, aber mit einem Fischkopf. Alle bedrängen eine Sekretärin von unmenschlicher Schönheit: Wo denn schließlich der Prozess stattfinde. Jeder fühlt sich dadurch geehrt, dass er dort ist und sich äußert. Die Sekretärin antwortet mit der berühmten Formel:

Ihr seid viele, ich bin allein.

Man macht der Hauptfigur den Prozess, und alles läuft darauf hinaus, dass Anklagen gegen sie erhoben werden, die sie nicht versteht und nicht verstehen kann, während Gericht und Zuschauer verärgert sind, weil sie unpassend antwortet. Für sie sind die Anklagen völlig klar und normal. Das ganze Drama war in Prosa geschrieben, und jede Replik traf hart wie ein Tennisball. Die Repliken waren extrem verdichtete Formeln aus der offiziellen Literatur und Ideologie. Die Figur im Nachthemd wispert hin und wieder halbverrückte Gedichte. Sie hat nicht einmal Angst. Das ist keine Angst mehr, das ist die tiefe Überzeugung, dass der Mensch in eine Welt von Untoten und Unmenschen geraten ist. Die hilflose Heldin ist dadurch stark, dass sie ein Mensch unter Unmenschen ist. Von allen Gefühlen steht ihr nur noch eines zur Verfügung – das Staunen: Die Untoten können ihr nicht das Leben nehmen, denn der Prozess findet außerhalb des Lebens statt. Wenn es ein Leben gibt, dann ist es nicht hier. Die Protagonistin ist auch im Gefängnis frei, denn es gibt keine Freiheit – in Freiheit sind nur die Schriftsteller mit den Fischköpfen und -schwänzen.
Die ersten Zuhörer verglichen das Stück mit Gogols „Die Gäste verlassen das Theater“ und mit Suchowo-Kobylin. Sie hätten es auch mit Kafka vergleichen können, aber der war damals noch nicht bekannt. Weniger ähnlich ist es Nabokovs Häftlingsroman,50 wo die Verachtung des Autors aus den Menschen mechanische Monster macht. Tatsächlich konnte dieses Stück nur von der unbarmherzig reifen Achmatowa geschrieben werden, die ihr eigenes Schicksal reflektierte. Die Gespräche der Figuren sind ganz alltäglich, „Dutzendware“, wie A. A. sich ausdrückte, genau solche, wie sie bei Schauprozessen und Distanzierungen dokumentiert wurden, wo ungebildete, aber aufmerksame Sekretärinnen von unmenschlicher Schönheit Protokoll führten. Die lyrische Hauptfigur ist eine der Frauen, die nichts besitzen außer Aschenbecher und Spucknapf. Wir waren furchtbar viele, aber nur sehr wenige von uns schrieben Gedichte. Diese Gabe hat nicht jede.

 

 

 

Nachwort

1
Ossip Mandelstam, seine Frau Nadeschda und die Dichterin Anna Achmatowa wurden Ende des 19. Jahrhunderts geboren. Sie erlebten den Ersten Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg, sie erlitten die stalinistischen Repressionen, die Ossip das Leben kosteten. Während des Zweiten Weltkriegs standen Nadeschda Mandelstam und Anna Achmatowa gemeinsam die Evakuierung vor der deutschen Okkupation durch. Sie erlebten das „Tauwetter“ und schließlich die Breschnew-Ära.
Die drei Zeitzeugen einer schrecklichen Epoche verband eine enge lebenslange Beziehung. Während Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam die russische Lyrik der Moderne entscheidend prägten, hielt Nadeschda, die Mann und Freundin um viele Jahre überlebte, das 20. Jahrhundert in ihren Erinnerungen fest. Der Text über die verehrte Dichterin und geliebte Freundin fokussiert die Zeitläufe in einem ganz persönlichen, sehr emotionalen Porträt.
Im Westen wurde Nadeschda Mandelstam Anfang der siebziger Jahre mit ihrem autobiographischen Bericht Das Jahrhundert der Wölfe über Nacht berühmt. Das Buch war eines der ersten und wirkmächtigsten Zeugnisse, die den Lesern einen tiefen Eindruck vom Ausmaß des Terrors vermittelten, der das Alltagsleben in der Sowjetunion der dreißiger Jahre erfasst hatte. Konzentriert auf das Schicksal Ossip Mandelstams, spielt auch Anna Achmatowa, die bei seiner nächtlichen Verhaftung im Mai 1934 zugegen war, in dem Buch eine tragende Rolle. Die Tapferkeit und Integrität Achmatowas ging über kollegiale Solidarität weit hinaus und zeugt von einer fast übermenschlichen Kraft, der Angst zu widerstehen.
Dass Mandelstams Werk heute einen unbestreitbaren weltliterarischen Rang einnimmt, ist keine Selbstverständlichkeit. Erhalten hat es sich, weil seine Frau es immer wieder vor Stalins Vollstreckern in Sicherheit brachte und es zugleich an einem unzugänglichen Ort barg: in ihrem Gedächtnis. Ihre Niederschriften der auswendig gelernten Texte bildeten die Grundlage für die Ausgaben seiner Werke.
Nadeschda Jakowlewna Mandelstam wurde am 18.(30.) Oktober 1899 in Saratow in eine jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater, Jakow Arkadjewitsch Chasin, war Rechtsanwalt, die Mutter, Wera Jakowlewna Chasina, ausgebildete Medizinerin. Über Nadeschdas ältere Geschwister Alexander und Anna ist wenig bekannt, dem Bruder Jewgeni (Schenja) fühlte sie sich ihr Leben lang besonders eng verbunden. Weil sie viel krank war, fuhren die Eltern mit Nadeschda oder Nadja, wie die Jüngste genannt wurde, zur ärztlichen Behandlung nach Europa. Den Reisen und Kuraufenthalten in der Schweiz, in Frankreich, Deutschland und Italien, aber auch den wechselnden Gouvernanten verdankte Nadeschda ihre ausgezeichneten Sprachkenntnisse. Ihre Jugend verbrachte sie in Kiew. Sie besuchte das Schekulina-Mädchengymnasium und studierte 1917/18 an der Kiewer Universität zwei Semester Jura.
Kiew war seit der Februarrevolution 1917 und dem Sturz des Zaren Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen um die Zukunft der Ukraine, die nach der Oktoberrevolution 1917 in Petrograd zwischen Unabhängigkeitsbestrebungen und Unterordnung unter die Zentralmacht der Bolschewiki zerrissen war. Auf die Eroberung Kiews durch die Bolschewiki Anfang 1918 folgte die Besetzung der Ukraine durch die Mittelmächte und die Einsetzung einer deutschen Militärverwaltung, die den Unabhängigkeitskurs stützte. Zwei Jahre lang tobte in Kiew ein Bürgerkrieg mit ständigen Machtwechseln. Es kam zu Pogromen gegen jüdische Einwohner. Auch wenn Nadeschda Mandelstam diese Ereignisse kaum thematisiert, waren sie im Hintergrund präsent.
Nadja Chasina hatte sich 1918 einem kleinen Kreis oder, wie sie es nannte, einem „Trüppchen“ der revolutionären Kiewer Bohème angeschlossen, das radikale linke Ansichten vertrat. Sie begann zu malen, nahm Unterricht bei Alexandra Ekster und Alexander Muraschko. Aus dieser Zeit stammen die langjährigen Freundschaften mit „Trüppchen“-Kollegen, mit Künstlern wie Alexander Tyschler und Rafail Falk und mit Literaten wie Benedikt Liwschiz, Ilja Ehrenburg und Alexander Deutsch. Einer ihrer Treffpunkte war das Künstlercafe ChLAM (die russische Abbreviatur von „Künstler, Literaten, Schauspieler, Musiker“ hat die Wortbedeutung „Trödel“ oder „Krimskrams“). Dort erschien zur Geburtstagsfeier für Alexander Deutsch auch Ossip Mandelstam. Er war am Vortag mit seinem Bruder Alexander (Schura) aus Moskau in die von der Roten Armee besetzte Stadt gekommen. „Wir baten ihn, Gedichte vorzutragen“, schrieb Deutsch in sein Tagebuch, „und er stimmte bereitwillig zu. Er deklamierte mit geschlossenen Augen, ließ sich vom Rhythmus tragen… Wenn er die Augen öffnete, sah er nur Nadja Ch. an…“ Nadeschda Jakowlewna erinnerte sich:

Am ersten Abend tauchte er im ChLAM auf, und wir kamen leicht und gedankenlos zusammen. Den 1. Mai 1919 betrachteten wir als unseren Tag, obwohl wir danach anderthalb Jahre getrennt leben mussten…

Im Spätsommer 1919, bevor die Bolschewiki Kiew räumten, fanden Ossip und Schura Mandelstam vorübergehend Unterschlupf bei Nadeschdas Familie. Ende August reisten die Brüder per Mitfahrgelegenheit nach Charkow und weiter auf die Krim. Nadja sollte mit Ilja Ehrenburg nachkommen. Der Plan scheiterte. Erst im März 1921 fuhr Mandelstam – er hatte von Ehrenburg Nadjas neue Adresse bekommen – wieder nach Kiew und lud sie ein, mit ihm die Hauptstädte des Nordens zu besuchen. Seitdem begleitete ihn Nadeschda auf seinen Reisen und folgte ihm auch in die Verbannung: Anfang Juni 1934 in den Ural nach Tscherdyn, von dort nach Woronesch ins südrussische Schwarzerdegebiet, wo sie bis Mai 1937 bleiben mussten, und schließlich ins Sanatorium Samaticha bei Moskau, die letzte Station ihres gemeinsamen Lebens.
Ende Februar oder Anfang März 1922 heirateten Ossip Mandelstam und Nadeschda Chasina in Kiew, Trauzeuge war Benedikt Liwschiz.
Im selben Jahr machte Mandelstam seine Frau in Moskau mit Marina Zwetajewa bekannt, 1924 in Leningrad mit Anna Achmatowa. Beide empfingen die junge Frau aus Kiew auf ihre Weise: Zwetajewa stieß sie mit ihrer Arroganz vor den Kopf, Achmatowa begegnete ihr warmherzig, freundlich und schlicht. Nadeschda Mandelstam hat damals beide Lektionen gut gelernt.
Achmatowa schrieb in den „Tagebuchblättern“ über die Begegnung:

An diesem Tag begann meine Freundschaft mit Nadjuscha, und sie hat bis auf den heutigen Tag gehalten.

Diese Freundschaft begleitete die beiden Frauen durch vier Jahrzehnte, in denen sie die schlimmsten Wechselfälle des sowjetischen Lebens ertragen mussten: Tod und Verhaftung von Angehörigen, Verfolgung und Verrat, Zensur und Verstummen. Einige Jahre, in Zarskoje Selo und in Taschkent, lebten die Freundinnen sogar Seite an Seite, im selben Haus oder in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander.
An der Seite ihres Mannes ging Nadeschda Mandelstam keiner eigenen Arbeit mehr nach; nur vorübergehend war sie noch für Zeitungen tätig – 1930/31 in Moskau für das Blatt Für kommunistische Bildung und 1934/35 für Die Kommune in Woronesch. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Ossip bei seinen Übersetzungen zu helfen, seine Gedichte und Prosatexte nach Diktat zu notieren und ins Reine zu schreiben. Ein wesentlicher Teil von Mandelstams Hinterlassenschaft hat sich in ihrer Niederschrift erhalten, die daher als Autograph gelten kann.
Nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung wurde beiden Mandelstams die Wohnberechtigung für Moskau aberkannt. Sie lebten in Sawelowo, in Kalinin, dem heutigen Twer, und machten stets nur kurze Abstecher in die Hauptstädte, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Im Frühjahr 1938 hielten sie sich auf Kosten des Schriftstellerverbands im Sanatorium Samaticha in einem Moskauer Vorort auf, wo der Dichter am 2. Mai verhaftet wurde. Das Urteil war im Vergleich zu denen anderer Leidensgenossen nicht besonders hart: fünf Jahre Arbeitslager. Doch das Durchgangslager bei Wladiwostok, wo Ossip Mandelstam im Oktober 1938 eintraf, zerstörte seine Gesundheit innerhalb von drei Monaten. Um den 30. November herum schrieb er seinen letzten Brief. Er war an seinen Bruder und seine Frau gerichtet:

… Meine liebe Nadinka, ich weiß nicht, ob du noch lebst, mein Herz. Schura, schreib mir sofort von Nadja… Und ich bitte euch, schickt mir ein Radiogramm51 und sendet mir telegraphisch Geld.

Nadeschda Jakowlewna überwies am 15. Dezember 1938 telegraphisch Geld ins Lager. Am 19. Januar 1939, als der Terror nachzulassen schien, forderte sie von Lawrenti Berija, dem neuen Volkskommissar des NKWD, ihren Mann entweder freizulassen oder auch sie strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, da sie als Zeugin und Mittäterin permanent an seinem Leben und Werk beteiligt gewesen sei. Am 5. Februar 1939 erhielt sie auf der Post die Überweisung mit dem Vermerk „Empfänger verstorben“ zurück. Am 7. Februar forderte sie von der Lagerverwaltung die Sterbeurkunde ihres Mannes an. Diese wurde im Juni 1940 Mandelstams Bruder Schura zugestellt, mit dem Todesdatum 27. Dezember 1938 (das die Witwe stets anzweifelte). Er gab sie an Nadeschda weiter.

2
Unmittelbar nach der Verhaftung ihres Mannes holte Nadeschda Mandelstam Gegenstände und das Archiv aus ihrer Wohnung in Kalinin, um sie in Sicherheit zu bringen. Kurz nach ihrer Abreise, am 29. Mai, kamen Geheimdienstbeamte mit einem Haftbefehl und durchsuchten die Wohnung. Nadeschda Jakowlewna schlug sich bei Freunden und Bekannten durch. Ab Ende September arbeitete sie im Spinnkombinat in Strunino im Gebiet Wladimir. Als sie bemerkte, dass die lokale Abteilung des Geheimdiensts NKWD sich für sie interessierte, kündigte sie ihre Stelle und versuchte den Verfolgungen durch eine Flucht nach Zentralasien zu entgehen: Bis Mitte Dezember versteckte sie sich in einem Dorf in Kasachstan, in Schortandy, wo einer ihrer engsten Freunde, der Biologe Boris Kusin, in der Verbannung lebte. Danach kehrte sie nach Moskau zurück, wo sie sich ohne Wohnberechtigung bis Mitte Februar 1939 aufhielt, was nicht ungefährlich war. Nach einer mehrwöchigen Station in Maly Jaroslawez im Gebiet Kaluga ging sie erneut nach Moskau, kümmerte sich um Aufteilung und Tausch ihrer Wohnung und hatte eigentlich vor, wieder nach Schortandy zu fahren, ließ die Idee aber fallen, weil Kusins Verlobte sich angekündigt hatte. Ende Mai 1939 fuhr Nadeschda Mandelstam wieder nach Kalinin. Jelena Arens, eine gute Freundin, die dort in der Verbannung lebte, verschaffte ihr eine Stelle in einem Artel, einer Handwerksgenossenschaft für Kinderspielzeug. Fast den ganzen Sommer über wohnte die Mutter bei ihr; auch Natalja Stempel kam zu Besuch, die Freundin aus Woronesch. Im September kehrte Nadeschda an ihren früheren Verbannungsort zurück und fand dort Arbeit als Lehrerin an einer Mittelschule. Das rastlose Leben kam vorübergehend zur Ruhe.
Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Anfang September war Leningrad, die Stadt Anna Achmatowas, eingeschlossen. Die Dichterin wurde am 28. September nach Moskau ausgeflogen. Im Oktober fuhr sie im Zug Richtung Osten, zunächst in die tatarische Provinzstadt Tschistopol, dann im November weiter in die usbekische Hauptstadt Taschkent, zwei Städte, in die Familien von Schriftstellern evakuiert wurden. Anna Achmatowa empfand die Evakuierung als schreckliches Unglück.
Ebenfalls Ende September wurden auch Nadeschda Mandelstam und ihre Mutter evakuiert – zunächst in den Kreis Muinaka in Usbekistan, dann nach Kasachstan, ins Gebiet Dschambul. Aus der Kolchose „Rote Morgendämmerung“ im Dorf Michailowka erreichte Anna Achmatowa und Jewgenij Chasin ein Brief Nadeschdas. Den beiden gelang es, Mutter und Tochter Anfang Juli 1942 nach Taschkent zu holen. Gemeinsam mit Lidija Tschukowskaja, einer engen Freundin von Anna Achmatowa, arbeitete Nadeschda Mandelstam als Lehrerin im Zentralen Haus für Kunsterziehung. Zu ihren Schülern, die sie „verfluchte Wunderkinder“ nannte, gehörte auch Marina Zwetajewas Sohn Georgi Efron („Mur“). Sie unterrichtete Englisch, Deutsch oder Französisch und absolvierte zur selben Zeit als Externe an der Mittelasiatischen Universität Taschkent ein Fremdsprachenstudium; von 1944 bis 1949 war sie dort als Englischdozentin tätig.
Auch nach dem Krieg blieb Nadeschda Mandelstam eine Heimatlose. Jahrelang zog sie durch die Universitätsstädte der Sowjetunion: 1949–1953 lebte sie in Uljanowsk, im Wolgagebiet, 700 Kilometer östlich von Moskau; 1953–1955 im ostsibirischen Tschita, 1955–1958 in Tscheboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik. 1953 schrieb sie in Uljanowsk ihre Dissertation, die sie erst 1956 in Leningrad verteidigen konnte. In den Jahren 195 9 und 1960 – nun bereits als Rentnerin – wohnte sie in Tarussa in der Nähe von Moskau, 1962 bis 1964 arbeitete sie wieder an einer Hochschule, in der westrussischen Stadt Pskow. Die Sommermonate verbrachte sie wie früher im Umland von Moskau. Erst 1964 gelang es ihr, wieder eine Wohnberechtigung für Moskau zu erhalten und dorthin umzuziehen.
Das Werk und das Archiv ihres Mannes zu bewahren, sah Nadeschda Mandelstam als ihre Lebensaufgabe. Um die Gedichte und Prosatexte vor den Verfolgern in Sicherheit zu bringen, lernte sie sämtliche Texte in allen Varianten auswendig, schrieb sie mit der Hand ab und gab diese Aufzeichnungen an zuverlässige Freunde weiter. Auf diesem Weg gelangten sie in den Samisdat, den inoffiziellen Umlauf von Abschriften verbotener Texte, und auch ins Ausland. Mandelstams Archiv bewahrte Nadeschda Jakowlewna lieber bei Freunden auf als bei sich zu Hause.
Mit Chruschtschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU, in der er den Personenkult um Stalin und die damit einhergehenden Verbrechen kritisierte, begann 1956 ein Prozess der Entstalinisierung, das sogenannte Tauwetter. Nadeschda Mandelstam erreichte, dass Ossip Mandelstam rehabilitiert wurde – wenn auch nicht vollständig, wie sich später herausstellte. Im selben Jahr wurde eine Kommission einberufen, die sich um Ossip Mandelstams literarischen Nachlass kümmern sollte; ein erstes Bändchen seiner Gedichte in der Serie „Dichterbibliothek“ war geplant. Als Herausgeber wurde auf Nadeschdas Vorschlag hin der langjährige Freund und Avantgarde-Kenner Nikolai Chardschijew gewonnen, dem sie zu diesem Zweck Mandelstams gesamtes poetisches Archiv übergab. Das Publikum, das sich am 19. Mai 1965 in der mechanisch-mathematischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau zum ersten dem Dichter gewidmeten Abend in seiner Heimat zusammenfand, begrüßte sie mit lang anhaltendem Applaus.

3
Nadeschda Mandelstams Vospominanija („Erinnerungen“) gehören zu den bedeutendsten russischen Memoiren des 20. Jahrhunderts. Im Sommer 1958 hatte sie damit begonnen, Erinnerungen an Ossip niederzuschreiben; immer wieder stand sie kurz davor, den Text abzuschließen, um ihn dann doch jedes Mal wieder von neuem zu überarbeiten. Im Januar 1966 nahm Clarence Brown, Slawist an der Universität Princeton, das Typoskript der Vospominanija an sich und brachte es außer Landes. Anfang 1968 – der Text war im Westen noch nicht erschienen – besaß Nadeschda Mandelstam die Kühnheit, ihn der liberalen Zeitschrift Nowyi mir anzubieten. Der Chefredakteur, Alexander Twardowski, lehnte eine Publikation ab, nannte das Werk jedoch „die Erfüllung… einer tief und nobel empfundenen Pflicht“. Er lobte die literarische Qualität und brachte die Überzeugung zum Ausdruck, dass seine Zeit kommen werde.
Er ahnte nicht, dass diese Zeit gar nicht mehr fern war. 1970 erschienen die „Erinnerungen“ auf Russisch und auf Englisch: in New York im Emigrantenverlag Tschechow und in London bei Atheneum. Den stürmischen Besprechungen folgten Übersetzungen in fast alle europäischen Sprachen. Auf Deutsch kamen die „Erinnerungen“ 1971 unter dem Titel Das Jahrhundert der Wölfe heraus. Die Autorin wurde mit Literaturpreisen geehrt. Ihre Memoiren waren bald berühmter als Ossip Mandelstams Gedichte, deren Entdeckung damals noch ausstand.
Unter dem Eindruck von Anna Achmatowas Tod am 5. März 1966 hatte Nadeschda Mandelstam damit begonnen, ihre Erinnerungen an die Freundin niederzuschreiben. Die Arbeit war Ende Mai 1967 abgeschlossen. Zu dieser Zeit hatte sie bereits die Hoffnung verloren, dass jemals ein Band mit Mandelstam-Gedichten in der „Dichterbibliothek“ erscheinen würde. Unzufrieden damit, dass Chardschijew sie nicht mehr in Ablauf und Details seiner editorischen Arbeit einweihte, nahm sie das Archiv wieder an sich, was ihrer langjährigen Freundschaft ein Ende setzte. Ein Rechtsstreit zwischen Achmatowas Sohn Lew Gumiljow und ihrer Stieftochter Irina (Ira) Punina über den Nachlass der Dichterin endete damit, dass Achmatowas einziger Sohn und gesetzlicher Erbe nicht über das Archiv der Dichterin verfügen durfte. Dass Anna Achmatowa hinsichtlich ihres Erbes keine klaren Regelungen getroffen hatte, veränderte den Blick auf die Freundin. Im Herbst 1967 vernichtete Nadeschda Mandelstam ihr Manuskript der Achmatowa-Erinnerungen. Ein Typoskript hat sich wie durch ein Wunder bei Natalja Stempel erhalten, die es dem Verfasser dieser Zeilen schenkte. Sie begann mit der Arbeit an einem neuen Erinnerungswerk, das sie später Vtoraja Kniga („Zweites Buch“) nannte und das sich in Tonart und Ausrichtung von den Vospominanija und dem Text über Achmatowa radikal unterschied, wenngleich die Autorin einen Teil des Materials aus den Erinnerungen an Anna Achmatowa im „Zweiten Buch“ weiterverwenden konnte. Die Arbeit am Manuskript war im Sommer 1970 abgeschlossen; bereits im Oktober gelangte das Buch in den Westen, wo es 1973 gedruckt wurde. Auf Deutsch erschien es 1975 in einer stark gekürzten Fassung unter dem Titel Generation ohne Tränen.
Während die „Erinnerungen“ einen genialen Dichter vor dem Hintergrund einer entsetzlichen Epoche porträtieren, wird im „Zweiten Buch“ die Epoche selbst dargestellt: ein literarisches Gruppenbild aus Hunderten von Gesichtern, das ein vernichtendes Urteil über die Realität und das System der Sowjetunion spricht. Viele russische Leser würdigten die entlarvende Kraft des Buchs, stießen aber in der Beschreibung ihnen persönlich bekannter oder vertrauter Personen auf Verzerrungen und Wertungen, die sie nicht akzeptieren konnten. Das führte zu einer Reihe von Protesten, Rechtfertigungen und Zurückweisungen. Der Schriftsteller Wenjamin Kawerin hat vielleicht die deutlichsten und härtesten Worte für das gefunden, was etliche Leser des „Zweiten Buchs“ verletzte oder empörte. In einem offenen Brief schrieb er 1973:

Sie sind nicht Mandelstams Witwe, Sie sind sein Schatten. In dem bekannten Stück von Jewgeni Schwarz versucht der Schatten, an die Stelle seines Besitzers zu treten, eines aufrichtigen, gutherzigen, großzügigen Menschen. Aber es gibt Worte, die dem Schatten die Macht nehmen. Nämlich diese: Schatten, wisse, wo du hingehörst.

Die meisten Leser waren jedoch frei von der Last persönlicher Erinnerungen und nahmen das „Zweite Buch“ als Fortsetzung einer Ossip-Mandelstam-Biographie wahr. Ihr Urteil fasste Joseph Brodsky in seinem Nekrolog für Nadeschda Mandelstam zusammen:

Diese beiden Bände von Nadeschda Jakowlewna Mandelstam kommen tatsächlich einem irdischen Jüngsten Gericht über ihre Zeit und über die Literatur ihrer Zeit gleich.

Seit Ende der sechziger Jahre hatte Nadeschda Mandelstam Kontakt zu westlichen Slawisten, darunter indirekt auch zu Gleb Struwe und Boris Filippow, den Herausgebern der amerikanischen Werkausgabe von Ossip Mandelstam, die 1964 und 1966 erschienen war. Nadeschda Jakowlewna übergab ihnen Kopien des damals noch unveröffentlichten Materials für die Publikation im Ausland. Ihre winzige Einzimmerwohnung in der Bolschaja Tscherjomuschkinskaja uliza wurde zu einer Anlaufstelle für Kenner und Verehrer, die sich für Ossip Mandelstams Leben und Werk interessierten.
Nach dem Erscheinen des Jahrhunderts der Wölfe im Westen war die Gefahr von Repressionen gegen die Verfasserin deutlich erhöht. Als besonders bedrohlich empfand Nadeschda Jakowlewna die Vorstellung, Ossip Mandelstams Archiv könnte beschlagnahmt werden. Das bewegte sie zu der nicht einfachen Entscheidung, das Archiv in den Westen zu geben. 1972 organisierte der Kulturattaché an der französischen Botschaft in Moskau, Stepan Tatischtschew, die Übersendung des Archivs nach Paris, wo Nikita Struwe, später Leiter des Emigrantenverlags YMCA-Press, sich darum kümmerte. 1974 wurde das Archiv auf Wunsch von Nadeschda Mandelstam der Firestone-Bibliothek der Universität Princeton als Schenkung übereignet. Dort befindet es sich noch heute; erster Kurator der Sammlung war Clarence Brown.
In den siebziger Jahren schrieb Nadeschda Mandelstam einige Skizzen nieder, vor allem über ihre Kindheit, die für eine geplante Autobiographie, Tret’ja Kniga, „Das dritte Buch“, gedacht waren. Sie führte eine lebhafte Korrespondenz und empfing ausländische Journalisten zu Interviewterminen.
Am 29. Dezember 1980 starb Nadeschda Mandelstam in ihrer Wohnung in Moskau. Als sich dort am nächsten Tag ihre Freunde versammelten, um ihr Andenken zu ehren, wurde ihr Leichnam gewaltsam weggeholt und, von der Miliz eskortiert, ins Leichenhaus geschafft. Das Begräbnis wurde zu einer Demonstration der oppositionellen Intelligenz. Auf ihrem Grab auf dem Staro-Kunzewo-Friedhof steht ein Holzkreuz, daneben ein Granitstein zum Gedenken an Ossip Mandelstam. Zweieinhalb Jahre später, am 2. Juli 1983, wurde ihr persönliches Archiv, das ein Freund, Juri Frejdin, in seinem Besitz hatte, bei einer Hausdurchsuchung vom KGB beschlagnahmt.

4
Nadeschda Mandelstam hat ihren Mann um zweiundvierzig Jahre, ihre Freundin Anna Achmatowa um fast fünfzehn Jahre überlebt. Der Tod der Dichterin am 5. März 1966 erschütterte alle, denen die Lyrik lebens- und oft genug auch überlebenswichtig geworden war. Mit Achmatowas Tod war der „Thron“, wie der Schriftsteller Semjon Lipkin sich ausdrückte, „verwaist“: Hingeschieden war die letzte der „Unsterblichen“, der Protagonisten des Silbernen Zeitalters in der russischen Dichtung. Daher rührte auch das Bedürfnis, Eindrücke von Begegnungen mit Anna Achmatowa niederzuschreiben, sich Gespräche mit ihr ins Gedächtnis zu rufen, ihre Äußerungen über Literatur, über Zeitgenossen, über sich selbst zu fixieren, bevor die Erinnerungen sich verflüchtigten. Diesen Drang verspürten sehr viele Menschen, und etwas Ähnliches empfand zweifellos auch Nadeschda Mandelstam.
Als Jekaterina Liwschiz, genannt Tata, die Witwe des Dichters Benedikt Liwschiz, im Januar 1967 nach Moskau kam, las Nadeschda ihr den Anfang des Achmatowa gewidmeten Buches vor. Doch schon im Herbst, unter dem Eindruck der Erbstreitigkeiten, verwarf sie den Text und begann ihr „Zweites Buch“. Während in den verworfenen Erinnerungen an Achmatowa eine große Güte, Dankbarkeit und Verehrung für die verstorbene Freundin und die gemeinsamen Freunde zum Ausdruck kommt, mit denen sie so viel durchlitten hatte, hält das „Zweite Buch“ Gericht über die Epoche – eine Abrechnung mit der Zeit und mit Dutzenden von Zeitgenossen. Die Geschichte von Tata Liwschiz etwa, mit der sie ihre Aufzeichnungen beginnt (siehe oben Seite 9f.), musste im Kontext des „Zweiten Buchs“ deplaziert wirken, ein unnötiger und unerlaubter Gefühlsüberschwang. Auch viele Episoden, in denen Achmatowa selbst im Zentrum steht, fielen den Änderungen zum Opfer – im Konzept des „Zweiten Buches“ war kein Platz mehr dafür. Vielleicht wollte Nadeschda Mandelstam auch vermeiden, dass ihre Abhängigkeit von Achmatowas Autorität, gegen die sie immer wieder ankämpfte, im Buch allzu stark zu spüren war. Die Ereignisse um Achmatowas Archiv trugen ebenfalls zu diesem „Wechsel der Vorzeichen“ bei.
Doch am wichtigsten war etwas anderes. „Wenn ich an A. A. denke, kehre ich aus irgendwelchen Gründen zu meinem eigenen Leben zurück, an das ich überhaupt nicht gedacht habe, als ich über O. M. schrieb“, resümierte Nadeschda Mandelstam. Dieser Gedanke verdrängte mit der Zeit alle anderen und führte zu einem veränderten Ansatz. Im „Zweiten Buch“ tritt Nadeschda Jakowlewna selbst in den Vordergrund, die Autorin reflektiert das eigene Leben, die eigene tragische Verstrickung in die Epoche. Entsprechend veränderte sich der Fokus auf die Zeitgenossen, Freunde wie Fernstehende.
„Vielleicht war es uns dreien wirklich vorherbestimmt, gemeinsam allen Stürmen zu trotzen und das zu tun, was jeder von uns tat“, schrieb sie. Ihre Rolle in diesem Dreieck, das es Achmatowas Meinung nach nie gegeben hat, beschäftigte sie zunehmend. Ossip Mandelstam verband die beiden Frauen, er war der Fixstern in ihrem gemeinsamen Leben, der Mittelpunkt ihrer Freundschaft, während „Nadinka“ für Achmatowa zweifellos ein Teil von Ossip war, ein nicht wegzudenkender, organischer Bestandteil, aber eben doch ein Anhängsel, keine eigenständige Gestalt und schon gar nicht die Seite eines Dreiecks.
Nadeschda Mandelstam sah das völlig anders. Sie hatte nicht nur einen Platz in dem imaginären Dreieck eingenommen, sie sah sich in der Rolle der Obersten Zuhörerin und Leserin, mit dem Recht, wenn nicht gar mit der Pflicht, Noten für Gedichte zu verteilen.
Doch in ihren Erinnerungen an Anna Achmatowa ist Nadeschda Mandelstam noch anders, gramgebeugt über den Tod der Freundin und von liebendem Gedenken an sie erfüllt. Dieser Schmerz, diese Aufrichtigkeit und Zurückhaltung machen das Buch zu einem Werk von eigenem Anspruch und eigener Tiefe.

Pawel Nerler, Mai 2011, Nachwort

 

Editorische Notiz

Fragmente des Textes Ob Achmatovoj (Erinnerungen an Anna Achmatowa) hat der Herausgeber erstmals 1989 in der Zeitschrift Literaturstudium veröffentlicht. 2006 erschien Nadeschda Mandelstams Tret’ja Kniga („Drittes Buch“), herausgegeben von Juri Frejdin, bei Agraf, Moskau. Es enthält alle ihre Texte außer Vospominanija (Das Jahrhundert der Wölfe) und Vtoraja Kniga (Generation ohne Tränen), darunter auch den Text der hier vorliegenden Ausgabe unter dem Titel: „Nachdenken über A. A.“ (Urfassung des „Zweiten Buches“). Textgrundlage war das Typoskript, das Natalja Stempel seinerzeit Pawel Nerler geschenkt hatte. Diesen Text hat der Herausgeber kritisch durchgesehen und 2007 als Band 13 der „Schriften der Mandelstam-Gesellschaft“ bei Novoe izdatel’stvo veröffentlicht. Der reichhaltig kommentierte Band enthält ferner den Briefwechsel zwischen Nadeschda Mandelstam und Anna Achmatowa, Jekaterina Liwschiz, Nikolai Chardschijew und Natalja Stempel.
Für die deutsche Ausgabe wurde auf die umfangreiche Einleitung von Pawel Nerler verzichtet; die Kommentierung wurde behutsam reduziert.

 

Inhalt

Nadeschda Mandelstam (1899–1980), die ihren Mann, den Dichter Ossip Mandelstam, um viele Jahre überlebte, hat sich im Alter mit ihren Memoiren Das Jahrhundert der Wölfe und Generation ohne Tränen international einen Namen gemacht. Erst vor wenigen Jahren wurden in ihrem Nachlass Erinnerungen an Anna Achmatowa (1889–1966) entdeckt – ein bewegendes Dokument der Freundschaft in schwierigsten Zeiten.
Achmatowa, die charismatische, unbeugsame Dichterin, bangt um ihren Sohn, der in den stalinistischen Gefängnissen inhaftiert ist, während die Freundin die Gedichte ihres 1938 im Lager umgekommenen Mannes rettet – indem sie jede Zeile seiner verbotenen Texte im Gedächtnis bewahrt.
Dieses reiche Buch ist Dichterporträt und Zeitzeugnis zugleich – ein vierzig Jahre währendes Gespräch über Angst und Niedertracht, über die Macht und Ohnmacht von Liebe, Eros und Literatur.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Freundschaft in Zeiten des Terrors

Zwar ist der russischen Lyrikerin Anna Achmatowa (1889–1966) die höchste literarische Würdigung, der Nobelpreis, versagt geblieben, doch die Verehrung, die sie zu Lebzeiten genoss, wie auch ihr stetig wachsender Nachruhm machen sie gleichwohl zu einer Lichtgestalt der europäischen Moderne – kaum ein anderer Autor des vergangenen Jahrhunderts ist in Malerei, Skulptur oder Fotografie so oft dargestellt worden wie sie, kaum ein anderes lyrisches Werk hat man so extensiv übersetzt, ausgedeutet, vertont und illustriert wie das ihre, und kaum jemand sonst hat in Briefen, Tagebüchern oder Erinnerungsschriften zeitgenössischer Sympathisanten so viel Präsenz gewonnen. Die umfangreichen biografischen Aufzeichnungen von Lidija Tschukowskaja, Emma Gerstein, Michail Ardow und manch andern Wegbegleitern verhalfen der Dichterin zu einem überlebensgrossen, geradezu heroischen Image, das von ihrem Schaffen nicht mehr zu trennen ist.
Anna Achmatowa hat dieses Image durch konsequente Selbststilisierung und Selbstinszenierung gleichsam ins Mythische überhöht. Als eine neuzeitliche Kassandra klagte, mahnte, zürnte sie. Das Leben sah sie bestimmt durch die Allgegenwart von Gewalt, Verrat und Tod. Selbst die Liebe mochte sie in aller Regel erst nach vollzogener Trennung besingen. Ihr erster Mann war als angeblicher Konterrevolutionär hingerichtet worden; ihr Sohn befand sich aus politischen Gründen mehrfach im Arbeitslager; ihr zweiter Ehemann wurde in der Haft umgebracht; zahlreiche Freunde und Kollegen fielen den sogenannten Säuberungen zum Opfer.
Derweil stand sie unter Publikationsverbot, musste sich mit dem Existenzminimum begnügen, hauste zumeist in fremden Wohnungen, Asylen, Notunterkünften. Das Werk, das sie ihrem Lebens- und Liebeselend in extremis abzugewinnen vermochte, ist ein einziges, höchst variantenreich instrumentiertes Requiem. Dass die Dichterin in der stalinistischen Nachkriegszeit offiziell und öffentlich als „halb Nutte, halb Nonne“ beschimpft wurde, hat sicherlich mit dem erhabenen Image zu tun, von dem sie auratisch umgeben war und das – weil es für den sowjetischen Literaturbetrieb eine unerträgliche Provokation darstellte – mit allen Mitteln zunichtegemacht werden sollte.
Zu denen, die Anna Achmatowa durch das Jahrhundert der Wölfe begleitet haben und ihr unverbrüchliches Vertrauen genossen, gehörte Nadeschda Mandelstam. Die um zehn Jahre jüngere Freundin – Frau und Biografin des Dichters Ossip Mandelstam – hat mit der Achmatowa Willkür, Verfolgung, Entbehrung, Evakuation und auch die Querelen einer ménage à trois durchgestanden. Gelernt hat sie dabei, dass angesichts des Äussersten nur der zu überdauern vermag, der sich nicht zum Sklaven der Angst machen lässt. Wer indes die Angst – als Sorge um sich selbst – bezwungen hat, wird gegenüber dem Massenterror seine individuelle Würde und Freiheit wahren, wird siegreich bleiben, auch wenn er der Unterdrückung zum Opfer fällt.
Diese Einsicht hat sich Nadeschda Mandelstam aus gemeinsamer Lebenserfahrung mit Anna Achmatowa zu eigen gemacht, und beides, Erfahrung wie Einsicht, hält sie aufs Eindrücklichste präsent in einem grossen Erinnerungstext, der in ihren späten Jahren entstanden ist, jedoch erst postum – nach der Wende von 1989 – im Druck erscheinen konnte. Die nun seit kurzem auch in deutscher Sprache vorliegenden Erinnerungen an Anna Achmatowa erweisen sich als ein rückhaltlos voreingenommener Nachruf, der die Dichterin hochleben lässt als künstlerische, moralische und intellektuelle Führungskraft einer Epoche des Horrors.
Die leidenschaftliche Verehrung, die der Grande Dame zuteil wird, schliesst freilich kritische Töne nicht aus. Anna Achmatowas geradezu furchterregende Intelligenz und Geistesgegenwart, ihre Unbestechlichkeit wie auch ihr ausgeprägtes auktoriales Selbstbewusstsein werden immer wieder konterkariert durch Eitelkeit, Arroganz, Eifersucht, nicht zuletzt durch ihre Neigung zu Tratsch und zu Pauschalurteilen. Doch all dies – und noch viel mehr – lässt Nadeschda Mandelstam ihrer bewunderten Gefährtin anstandslos durchgehen, nur um deren Nimbus als Ikone des inneren Widerstands nicht zu trüben.
Zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, einen Bürgerkrieg, mehrere Terror- und Säuberungswellen sowie einen beispiellosen Kulturvernichtungsprozess haben die beiden Frauen gleichsam Schulter an Schulter durchgestanden. Dass sie diese „Pestzeit“ – im Unterschied zu so vielen ihrer Verwandten und Bekannten – nicht nur überlebten, sondern sie auch immer wieder, zumindest punktuell, als „Festzeit“ verbuchen konnten, führt Nadeschda Mandelstam auf die Kraft des Eros und der Kunst, vorab der Poesie zurück. Bei jeder neuen Welle staatlicher Gewaltanwendung sei es in der Sowjetbevölkerung massenhaft zu Sexaffären, Ehescheidungen, Neuverheiratungen gekommen, der Terror habe so etwas wie ein erotisches Paradies als Gegenwelt hervorgetrieben, ein letztes Refugium, wo man noch die eigene Phantasie und Entscheidung habe walten lassen können.
Naturgemäss schützte erotischer Eskapismus nicht vor staatlicher Repression, und wenn in der Folge einer jener ephemeren Liebeshelden willkürlich festgenommen und verschickt wurde, traf es wegen der damals herrschenden „Sippenhaftung“ stets auch die beiden Frauen, die frühere ebenso wie die aktuelle. Nadeschda Mandelstam berichtet von zahlreichen tragikomischen Ungeheuerlichkeiten dieser Art, gibt den Vorrang jedoch dem individuellen geistigen Widerstand, der es ihr und ihresgleichen tatsächlich erlaubte, inmitten der Zwangsgesellschaft einen angstfreien Raum für sich allein besetzt zu halten, uneinholbar und uneinsehbar trotz ständiger Überwachung. In diesem Raum gewann die Möglichkeitswelt der Poesie wenigstens momentweise einen eigenen Realitätsstatus, wurde zur bergenden Absteige auf dem mörderischen Parcours in die „lichte Zukunft“ des Sowjetkommunismus.
Die Erinnerungen an Anna Achmatowa bieten in Übrigen weit mehr als bloss ein literarisches Porträt. Der rasant hingeschriebene, weder die Erzähllogik noch die Chronologie respektierende Text ist darüber hinaus ein epochales Zeitzeugnis von unmittelbar anrührender Authentizität – subjektiv, eigensinnig, provokant, ungemein klug und souverän, dabei völlig illusionslos, bisweilen auch ausgesprochen zynisch.
An Zynismus grenzt hier etwa die radikale Neubewertung der russischen literarischen Moderne. Diese sieht die Autorin dominiert von Ossip Mandelstam, dem angeblich einzig die Achmatowa und Pasternak das Wasser reichen können, während die kanonisierten Autoren des Symbolismus und Futurismus – von Alexander Blok bis hin zu Chlebnikow und Majakowski – lediglich als Komparsen der Literaturgeschichte in Erscheinung treten oder explizit als Kriecher, Schönredner, gar als „Kretins“ abgefertigt werden… Insgesamt liesse sich Nadeschda Mandelstams Erinnerungsschrift als eine Art „Poethik“ lesen, als eine interdisziplinäre Vorschule der Dichtkunst und der Lebenskunst in dürftiger Zeit – zum einen wie zum andern ist daraus beliebig viel zu lernen.

Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 3.1.2012

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Daniel Henseler: Eine Freundschaft im Jahrhundert der Wölfe
literaturkritik.de, April 2012

Ingrid Isermann: Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa
literaturundkunst.net, 01/2012

Gregor Ziolkowski: Innenleben einer Dreiecksbeziehung
Deutschlandfunk Kultur, 13.1.2012

Karla Hielscher: Klapper des Aussätzigen singt in ihrer Hand
Deutschlandfunk, 18.5.2012

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nadeschda Mandelstam

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

 

Das Jahrhundert umgibt mich mit Feuer. Osip Mandelstam. Dokumentarfilm von Franka Diamand mit einem Videointerview mit Nadeschda Mandelstam am 1.5.1973.

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag von Anna Achmatowa:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag von Anna Achmatowa:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

Fakten und Vermutungen zu Anna Achmatowa + Instagram + KLfG +
dekoderKalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Anna Achmatowa Begräbnis.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00