Nadja Küchenmeister: Unter dem Wacholder

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Nadja Küchenmeister: Unter dem Wacholder

Küchenmeister-Unter dem Wacholder

REISE ZUM MOND

wir fahren weg. vergessen einfach, was gewesen ist.
auch das polierte klingelschild? auch das. wir pumpen
uns die lungen voll mit sauerstoff. wir lassen uns

vom hellen gleißen einer maisonne verschlingen…
wir gehen schwimmen, nackt. wir essen wenig,
aaaaasprechen
nicht, und was uns aus den wipfeln der kastanie
aaaaaanrauscht

erreicht uns unterhalb des kinns. wir gleiten in den lauen
frühlingsabend, der seine wärme nicht entlassen will. wir
träumen wachsam und wir bleiben wach, wenn unsre träume

in den kehlkopf ziehen. die sterne zittern nach in ihrer fassung.
wir sehen auf dem mond das sonnenlicht. wir werden blind. wir
wissen nicht, ob wir gestorben oder nur unermesslich traurig sind.

 

 

 

„Steh auf und iss!“, sagt der Engel

zum Propheten Elia, als dieser sich in der Wüste unter einen Wacholder legt, um zu sterben. In den neuen Gedichten von Nadja Küchenmeister, die an den Kern einer tief verborgenen Traurigkeit rühren und zugleich von einer Sehnsucht nach dem Hellen getrieben sind, lebt diese Mahnung fort. Und so macht sich die Schriftstellerin erneut auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Jede Nacht birgt einen Abgrund, jeder Morgen ist ein Versprechen.
Mit sicherem Gespür für das treffende und klare Bild gelingen Nadja Küchenmeister kurze Momentaufnahmen des Glücks ebenso wie weite erzählerische Bögen. Mit wunderbarer Detailgenauigkeit, mal innig und zart, dann wieder herb und lakonisch, geht sie den Spuren ihrer Herkunft nach, schreibt die Geschichte der Liebe fort und beleuchtet fremde Schicksale. Ihre einprägsame, melodische Sprache lockt abgesunkene Bilder und Töne hervor und verwebt sie zu einem furiosen Gesang über Leben und Tod.

Schöffling Verlag, Ankündigung

 

Komm auf die totgesagte Datsche und schau

– Erinnerung sprich: Nadja Küchenmeister wandelt in ihrem neuen Band auf den Traumpfaden Stefan Georges. –

Es gibt eine wunderbare Platte von Peter Licht. Ihren Titel Melancholie und Gesellschaft hat der Kölner Popsänger dem Kulturgeschichtsklassiker von Wolf Lepenies entnommen. Die Melancholie ist hier ein produktiver Zustand gesteigerter Reflexion. In Lichts „Heimkehrerlied“ heißt es:

Und zu Haus da winkt ein Depp
Aus deinem Haus heraus
Winkt genau mit deinem Winken
Trägt deine Hemden, deine Hosen
Schnibbelt hilflos an den Rosen

Vergangenheit und Gegenwart werden bis zur Selbstauflösung überblendet; der kleine Junge und ein alter Mann, ein Vater oder Großvater, spiegeln sich ineinander. Das innerlich zutiefst Vertraute des Heimatortes bringt zugleich die unüberwindbare Distanz zwischen Einst und Jetzt zu Bewusstsein.
In vielem hat die Popmusik heute die Funktion übernommen, die einst Gedichte hatten (deren Vertonungen als Kunstlied so etwas wie die Popmusik des 19. Jahrhunderts waren). Nadja Küchenmeister nimmt in ihren Gedichten beides auf: lyrics und Lyrik. Stefan George und Rainer Maria Rilke dienen ebenso selbstverständlich (und selbstbewusst) als Bezugspunkte wie Terry Jacks’ Welthit „Seasons in the Sun“, der – eine Adaption von Jacques Brels „Le Moribond“ – die Abschiedsworte eines Sterbenden wiedergibt: „Goodbye Papa, it’s hard to die…“
Gleich am Anfang des neuen Gedichtbands der 1981 geborenen Berlinerin steht der Jahreszeitenzyklus „der tod im traum“, der Terry Jacks’ Verse zum Motto nimmt. Im strengen Rhythmus und mit georgianischer Kleinschreibung verbinden sich Kindheitserinnerungen mit Szenen aus einem Kranken-, ja, so darf man annehmen, Sterbelager:

(…) wadenwickel. kalte lappen. die väterliche hand
auf deinem haar. meine gedanken sind nicht sehr gesund.

keine besuche in den nächsten tagen. es buckelt sich der herbst
in deinen schlaf. zugeweht ist jetzt der park, der mund.

Man kennt die verwirrend-gemischten Gefühle bei der Rückkehr in ein Milieu, das einem bis in alle Gerüche urvertraut ist und dem man gerade deswegen entfremdet gegenübersteht:

am zaun erkennt

man schon die heimat: die rosen und das sonnenra…
dahinter heizen sie die kohlen an. sirup flirrt über den
wäschestangen, grillgeruch und grelle farben, vornehmlich
trainingshosenblau

Doch diese Anflüge von Grillparty-Impressionismus werden gleich ins Surreale verwandelt:

wir dreschen weiter unsere rommé

karten und schlagen weiter nach dem mückenschwarm und
starren in die rote glut, bis alle kohlen weiße asche werden.
der abend löst sich auf in rauch. ein neuer morgen dämmert
über den gehöften. schwarze vögel stürzen im traum.

Der Traum ist ein Grundmotiv der Gedichte. Im Traum kehren die Toten zurück, ebenso wie in der Literatur, die auch etwas von Geistergespräch hat. „wenn jetzt noch einmal alle wiederkämen und mich umkreisten wie kälte bei nacht“, heißt es in „unter den sternen“. Ihre vier „Abendlieder“ spielen auf Matthias Claudius an, und wo es dort heißt „der Wald steht schwarz und schweiget“, stehen und schweigen bei Küchenmeister die „wände“ einer schlaflos gebliebenen Nacht:

er fegt die asche von der tagesdecke. in einer stunde ist die nacht vorbei

Der Abend und die Nacht, jede Art von Finsternis überhaupt, wenn die Konturen verschwimmen – das sind die Phasen, in denen das Jenseits näher erscheint. „nach und nach / siehst du die dunkelheit in voller blüte stehen“, das ist auch ein Bild für den poetischen Zustand, in dem aus den Schatten und Schemen Verse werden.
Daraus folgt aber auch die Mühsal des dichterischen Zustands, der von einer schweren Depression kaum zu unterscheiden ist. Im „eigenreich der worte“ sind die Fenster verhangen, der Raum ungelüftet und nur die Bücher können hier ausreichend atmen. Dem Ich bleibt die Erinnerung:

wo spielte sich ein sommerabend ab. wo flog
ein falter über den zaun. es gibt keinen trost und keine heilung

vom glück. streuobstwiesen senden noch signale und niemand
niemand funkt zurück

Die Herbststimmung liegt hier über jeder Jahreszeit. Die „Juli-Schwermut“ aus Georges „Liedern von Traum und Tod“, in der man sogar „der blumen müd“ ist, wird in einem eigenen Gedicht variiert.
Gänzlich hoffnungslos und verschattet sind diese Gedichte aber nicht. „Das amerikanische licht“ ist so ein Hoffnungsschimmer, der einst utopisch in die DDR-Kindheit der Autorin fiel. Als Subtext spielt die Wende eine zentrale Rolle – als Barriere, die das Ich von der untergegangenen Welt seiner Kindheit trennt. Die grundlegende Verlusterfahrung der „Zonenkinder“ erklärt einiges von der Grundstimmung dieses Bandes und stellt Küchenmeister in eine Reihe mit ostdeutschen Prosa-Autorinnen wie Julia Schoch oder Antje Rávic Strubel. Auch das amerikanische Licht von einst war womöglich nur „ein trick der sonne“. Kann eine solche Nacht je zu Ende gehen?

Wenn etwas heilen, wirklich
heilen kann, dann ist das morgenlicht bestimmt ein teil davon.

Richard Kämmerlings, Die Welt, 27.12.2014

Im Sprachlicht

Nadja Küchenmeister, 1981 in Ostberlin geboren, gehört zu den überraschendsten Stimmen der neuen Lyrik. Mit ihrem ersten Gedichtband Alle Lichter (2010) stieg die Autorin – sie hatte Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie Kreatives Schreiben am Literaturinstitut Leipzig studiert – kometenhaft am Firmament der jungen Literatur auf. Die Kritik begrüsste ihre Verse einhellig; sie wurden mit mehreren Preisen bedacht. Und mancher Leser, Lesungsbesucher, wird sich bei den Gesichtszügen der jungen blonden Frau, dem existenziellen Ton ihrer Zeilen mit einem leisen Schauder an Sylvia Plath erinnert gefühlt haben. Hier schrieb jemand, um Raum zu öffnen, weit entfernt von den Spielchen des Literaturdesigns.
Wie Alle Lichter ist ihr zweiter Lyrikband Unter dem Wacholder wieder in Kleinschreibung gedruckt (vielleicht inspiriert vom mehrfach zitierten Stefan George), bei sparsamster Verwendung der Satzzeichen, gerade so, als sollten die einzelnen Wörter möglichst ungebunden, gleichberechtigt und vielstrahlig beieinanderstehen. Programmatisch eröffnet „die sonne scheint mir“ die Sammlung. Es ist zunächst, als hebe ein Kind, aufzählend, zu einer Inventur seiner Freude an:

die sonne scheint mir aus der luft
und aus der regenrinne, sie scheint mir
aus der wiese, aus dem frischen schnee.

Doch mit den Zeilen verwandelt sich dieses Licht, es wird dunkler und verlässt die geschaute Naturwirklichkeit.
Leuchtete es zunächst noch aus einem Schatten der Kastanie auf der Häuserwand oder aus den „schleierwolken“, so „scheint“ – das Wort wird in fünfzehn Zeilen zehnmal wiederholt – die Sonne nun „aus einer hand, die zigaretten dreht“ und, unabhängig von Tageszeit oder Gestirn, aus „dem morgen / und dem abendstern“. Bis es am Ende heisst: „sie scheint mir aus // dem mond und aus dem mund. die sonne scheint mir und sie meint mich wieder.“ Doch von dieser Strophe der Erfüllung kehrt das Gedicht zur anfänglichen Sonne zurück und findet ein leises und fast heimliches Bild für den Tod: „die sonne scheint und wärmt nicht mehr.“ So geben die Verse eine Antwort auf das menschliche Leben in der Spanne eines kinderleichten, dem Ich zugewandten und eines mit dem ersten Bewusstsein unvermeidlich gefährdeten Glücks: Da zu sein.
Der Tod grundiert alles. In ihrer Dankesrede für den Ulla-Hahn-Preis erzählte Nadja Küchenmeister, wie sie, gerade 16-jährig (es war das Jahr, in dem die Mauer fiel), sich an einem Brot verschluckte und in eine „bis dahin nie gekannte Panik“ geriet. Von einem Augenblick auf den anderen hatte „jede Zelle meines Körpers begriffen, dass sie einmal würde sterben müssen“. Die Erkenntnis der Endlichkeit ist der Sündenfall der Pubertät. Bei Nadja Küchenmeister verdankt sich ihm die Gnade einer intensiven Welterfassung. Dieses Ich lebt sinnenwach in der Bereitschaft, „mit allem angesteckt“ zu werden:

dem heulen einer hollywoodschaukel, geruch
von frischem teer und frischem lack. die flecken auf dem unterhemd:
abgepauste lebensgeister

Das paradiesische Hintergrundrauschen der Kindheit ist der verlorene Garten der Grosseltern, die Sommerfrische der „ahnen“ damals (auch der Name der Gegend fällt: Zinnowitz an der Ostsee), der als ein frühes Versprechen im Gedicht immer wieder erglänzt.
Das Gedicht bleibt Sang, im Klang ein Trost. Die Autorin flirtet mit Terzinen und Bennschem Parlando, gestaltet Rondobögen, Zeilen kehren wieder und erhalten im Echo einen spielerisch neuen Sinn. Es sind sprachfromme, dinggläubige Gebete, „briefe nach hause“ in eine verlorene Vergangenheit, die ewig aufleuchten soll. Nirgends wird Welt sein wie damals. Rilke also, T.S. Eliot, W.G. Sebald, Jandl, Benn und Baudelaire, Tom Waits und die Beach Boys. Und Dante. Schreiben heisst hineinschreiben in den Weltinnenraum-Sound des 21. Jahrhunderts und den eigenen Ton im hohen Summen finden.
In diesen Versen von Nadja Küchenmeister kommt ein grosses, letztlich romantisches Vertrauen (an das Lied, das Schlafendes weckt) zusammen mit einem grossen Ausgesetztsein. Sorgfältig federt sie die Andacht ab durch einen schnoddrigen Ton, der Frische gibt: „der morgen war übel, richtig übel“, bevor das Liebesgedicht in der melancholischen Coda ausklingt:

wenn etwas heilen, wirklich
heilen kann, dann ist das morgenlicht bestimmt ein teil davon.

Und der Leser begreift, es ist das Sprachlicht, die Sonne ihres Tons („aus dem mond und aus dem mund“), die sie noch über das „waste land“ eines ehemaligen Truppenübungsplatzes im österreichischen Waldviertel legt oder auf ein Bahnhofareal in Mecklenburg, wo nicht das Reisen, sondern das Entgleisen des Lebens durch den Glanz der Aufmerksamkeit seine Würde erhält.
Der Titel des Bandes verdankt sich einer Bibelstelle. Elia legt sich unter den Wacholder, um zu sterben, da kommt ein Engel und sagt: Steh auf und iss! Aber eigentlich hat er doch gesagt: Schreib!

Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 3.10.2014

Im Schnelldurchlauf gescheitert

– Nadja Küchenmeister hadert in Unter dem Wacholder mit dem Hier und Jetzt / Heute erhält sie den Förderpreis des Bremer Literaturpreises. –

Unter einem Busch im Schatten liegen, im See schwimmen oder stundenlang im Garten toben: Idyllischer geht‘s kaum noch. Erinnerungen an schönere Zeiten, fest umklammert und ins Gedächtnis eingebrannt. Und doch bleiben sie ein Trugbild, eines, in dem nur die schönen Momente Platz finden, alles andere verschwindet im nebulösen Grau.
Idylle und Harmonie als Rettungsanker in einer Welt, die nichts Einladendes mehr an sich hat. Wo der Mensch mehr hoffnungslose Kreatur denn lebensfroher Entdecker ist.
Keine Gedichte für graue depressive Wintertage sind es, die Nadja Küchenmeister in ihrem neuen Buch Unter dem Wacholder veröffentlicht hat. Nach ihrem vielfach ausgezeichneten Debüt Alles Licht verspricht auch dieser Band, für den sie sich von Rainer Maria Rilke, Tom Waits, und der Bibel inspirieren ließ, Leser und Jurys der Republik gleichermaßen zu überzeugen. In Bremen hat das zumindest schon mal geklappt, heute Abend erhält Küchenmeister den mit 6.000 Euro dotieren Förderpreis des Bremer Literaturpreises. Eine Entscheidung, die ohne jeden Zweifel berechtigt ist.
Obwohl sich Wehmut und manchmal überbordene Trauer zu einem melancholischen Geflecht verdichten, beeinträchtigt das nicht die Schönheit der Gedichte. Sprachlich prägnant, ungeheuer melodisch und mitunter überraschenden Drehungen navigiert sich die Berlinerin durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Genaugenommen sind es mehr die Tiefen, die sich in Form von Tod, Erschöpfung und Traum in den Versen wiederspiegeln. So hadert das Lyrische Ich beständig mit dem Hier und Jetzt, sehnt sich nach einer längst vergangenen Zeit zurück, die irgendwie besser war. Damals, als die Temperaturen noch wärmer, die Sonne öfter zu sehen und die Freunde niemals fern waren. Ganz im Gegensatz zu heute, wo irgendwie immer alles dunkel ist – abgesehen von einem hellen Licht, das für einen kurzen Moment Hoffnung versprüht, aber eigentlich doch nur ein Trick der Sonne ist.
Die eigene Vergangenheit, wie ein Fixpunkt taucht sie immer wieder in den Werken der Berliner Autorin auf, zum Beispiel in „der tod im traum“. Ein vierteiliges Werk, unterteilt in die Jahrezeiten des Lebens, durchdrungen von Erinnerungsfetzen und düsteren Ahnungen. Ein harter, klarer Schnelldurchlauf durch ein exemplarisch anmutendes Leben, der manchmal fast schon schmerzhaft intensiv daherkommt und jeglichen Hauch von Unbeschwertheit verloren hat.
Ein Gefühl, das es zumindest irgendwann einmal gegeben haben muss, wie „das amerikanische licht“ suggeriert. Hier beschreibt Küchenmeister eine Gruppe Kinder mit Dreck auf den Hosen und in den Haaren, versunken in ihrer eigenen Welt, während am Horizont schon die Zeichen der Veränderung leuchten. Der Lauf mehrerer Jahre findet sich auf vier Seiten wieder und zeichnet das Bild einer Kindheit im totalitären Staat. Abgeschottet und zugleich behütet, die Gedanken drehen sich um das Lieblingsspiel – nichts wird infrage gestellt, erst recht nicht das System. Doch mit dem Alter gewinnt auch das amerikanische Licht an Bedeutung, und mit ihm der Wunsch nach Veränderung. Allerdings bleibt er unausgesprochen, findet nur in Pfützen oder im Schatten verharrend seinen Platz. Trotz Aufbruchstimmung und Euphorie am Küchentisch mischen sich erste Zweifel in den immer lauter werdenden Abgesang auf die alte Welt. Und Angst, Angst vor dem Abschied von der Kindheit und der ungewissen neuen Zeit. Während in den Straßen das strahlende Leuchten unaufhaltsam näherkommt, und vom sicheren Netz nicht mehr als ein schmerzender Fetzen übrig bleibt.
Mit Unter dem Wacholder ist Nadja Küchenmeister ein stilles und zugleich schonungsloses Werk gelungen, das von einer tiefen Traurigkeit durchdrungen ist und zugleich eine starke Botschaft in sich trägt: Steh auf und mach weiter. Und wenn es nur in Erinnerung an das tobende Kind ist.

Mareike Bannasch, kreiszeitung.de, 26.1.2015

Nadja ­Küchenmeister

– Die Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister schreibt zugängliche Gedichte über Sommerschwermut und amerikanisches Licht. Nebenbei zitiert sie sich smart durch den klassischen Kanon und die Popmusik. –

Sie liebt es, wenn das Flugzeug startet. Mehr noch als Tischtennis. Das ist der „Point of no Return“, sagt Nadja Küchenmeister. Klingt wie in ihrem Lieblingsfilm, dem Weltraum-Thriller Gravity. „Still und erhaben“ fühle sich das Fliegen für sie an. Den Zustand braucht sie auch am Schreibtisch. Eins ihrer beiden Netbooks hat deshalb kein Internet. Nur so kann sie Gedichte schreiben. Kein Smartphone darf sie ablenken. Das alte Klapphandy leuchtet wie ihr roter Lippenstift.
Nadja Küchenmeister, 34, ist eine der angesagtesten Lyrikerinnen zurzeit – nicht nur beim Deutschen Buchpreisträger Lutz Seiler, der in seiner Frankfurter Rede von ihren Texten schwärmte. Und waschechte Berlinerin ist sie: In Pankow geboren, hat sie in Treptow gelebt und richtig lang in Hellersdorf. „Dann ist man zwar aus Berlin, aber zugleich aus einem anderen Land“, sagt sie. Seit 15 Jahren wohnt sie im Prenzlauer Berg, aktuell im Bötzowkiez. Man sollte es nicht meinen. Denn an der Oberfläche kommt Berlin in ihren Texten kaum zur Sprache. Dafür viel Natur.

Ich bin mit Berlin im Reinen. Deshalb muss ich mich im Schreiben nicht mehr daran abarbeiten.

Sie trinkt einen Schluck Johannisbeerschorle.
Mit einem Motto von Rilke beginnt ihr zweiter Lyrikband Unter dem Wacholder – wie tollkühn kann man sein? „Ich hätte es aber auch gewählt, wenn es von Friedrich Liechtenstein wäre“, erwidert sie lässig. Überhaupt haben allerhand Fremdzitate den Weg in ihr Buch gefunden. Beach Boys und Baudelaire, Tom Waits und Stefan George. Von dem hat sie sich nicht bloß den Gedichttitel „juli-schwermut“ geliehen, sondern gleich noch vier Verse aus dem gleichnamigen Text. Doch sie gibt acht:

Wenn der Vers, den du aufnimmst, der stärkste ist, hast du ein Problem: Dann hast du ein Gedicht um diesen Vers herumgeschrieben.

Einfluss passiere automatisch, wenn man viel liest und Musik hört. Auf ihrem iPod schlummern die alten Songs von Van Morrison, alle Platten der Bright Eyes, viel Klassik (am liebsten Mahler), Townes Van Zandt, Bonnie Prince Billy.
Aber sie treibt auch ihren liebevollen Schabernack mit geliebten Gedichten – wie im abgedruckten „nur damit du bescheid weißt“. Das spielt auf William Carlos Williams’ „this is just to say“ an. Aber dessen Pflaumen aus der Eisbox ersetzt sie durchs Handtuch aus dem Bad. Lyrisches Ich, lyrisches Du. Innere Spannung. Die Basiszutaten ihrer Liebesgedichte. Auch den schweren Sujets setzt sie mit Klang einen schönen Kontrapunkt. Solange etwas noch nicht stimme, wenn sich Bild und Form behinderten, spüre sie das:

Das pocht dann wie ein Zahnschmerz.

Bei aller Strenge mit sich und der Form ihrer Gedichte bleibt sie überraschend offen für fremde Interpretation: Einmal hat sie ein Todesgedicht geschrieben. Jemand fand, das sei ein astreines Liebesgedicht. „Dann ist es wohl auch das“, sagt sie. Sie habe sich für das Gedicht gefreut, dass es auch ein Liebesgedicht sein darf.
Beim Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, wo sie im Sommersemester wieder unterrichtet, hat sie irgendwann trotzdem gerade die Texte, die ihr besonders wichtig waren, nicht mehr vorgestellt:

Ich wollte nicht mehr gestört werden durch Zweifel, die andere haben. Du verlierst dann, wenn du Pech hast, dein Gedicht.

Heute trägt sie ihre Gedichte gerne selbst vor. Sie hat die kristallklare Stimme dazu. Die meisten Schauspieler seien dabei unerträglich:

Die spielen die Gedichte.

Dass Lyriker damit nicht den Weg zum Millionenpublikum finden, geht für sie voll in Ordnung:

Man sollte anstreben, nicht in Stadien zu lesen. Wenn es so weit ist, stimmt doch was nicht.

Stefan Hochgesand, tip Berlin, 10.3.2015

Außergewöhnlich

Dieser Gedichtband liest sich wie eine Steigerung von Alle Lichter. Die Atmosphäre in den Gedichten ist teilweise konzentrierter, manchmal noch dunkler und nahezu depressiv; auch hier wieder große Trauer über den Verlust der Kindheit. Interessanterweise ist für mich kein einziges Gedicht „rund“ in dem Sinne, dass ich es auswendig lernen möchte. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass der Dichterin nichts Besseres eingefallen ist, wenn sie den ersten Gedichtteil im zweiten einfach wiederholt, bloß die Worte umstellt. Doch diese Technik erzeugt zusammen mit den geglückten, „frischen“ Gedichten eine authentische Vanitas-Stimmung, die mich sofort in ihren Bann zieht.

westwind, amazon.de, 15.8.2015

Stille, genaue Präzision

Ich nehme diese Lyrik gerne mit, wenn ich tagsüber mit den Hunden hinaus gehe und lasse sie irgendwo auf einer Bank mit Sicht auf den Bodensee wirken, weil sich Türen und Fenster nach innen und aussen öffnen. Die Bilder der schlichten, aber äusserst dichten Verse lese ich auch gerne spätabends und lasse sie in meine Träume kommen. – Und wer unter dem Wachholder sitzt, wie jener Profet in der hebräischen Bibel wird erst recht nicht leer ausgehen, sondern aufstehen und weitergehen können.

mozart-factory, amazon.de, 18.3.2015

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jürgen Brôcan: Vom versehrten Verlangen
fixpoetry.com, 15.9.2014

Björn Hayer: In Melancholie verwahrt
neues deutschland, 28.8.2014

 

 

 

DAS TRABENDE GRAS

Es stimmt, auch ich
war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob meine Großeltern mir so ersparten,
Schrecken zu sehen,
vielleicht für ein Jahr.

Es war der Sommer,
als ich oben in den Bäumen las.
Ich kletterte in die Wipfel, fühlte mich frei,
und wenn es leuchtete, im trabenden Gras,
mein Lieblingsgesicht,
war mir alles einerlei. 

Für Nadja Küchenmeister

Mirko Bonné

 

 

Roman Bucheli – Laudatio auf Nadja Küchenmeister zum Förderpreis des Bremer Literaturpreises 2015

Nadja Küchenmeister – Dankrede zum Förderpreis des Bremer Literaturpreises 2015

Ariane von Graffenried: „es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür“, Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

 

Das Gedicht in seinem Jahrzehnt, Nadja Küchenmeister und Marcel Beyer stellen im Haus für Poesie am 31.3.2021 prägende Gedichte vor.

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Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Nadja Küchenmeister liest  im Rahmen des Festes von 25 Jahre prolit in Salzburg am 27.9.2013.

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