Nelly Sachs: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nelly Sachs: Gedichte

Sachs/Nagel-Gedichte

WER ZULETZT
hier stirbt
wird das Samenkorn der Sonne
zwischen seinen Lippen tragen
wird die Nacht gewittern
in der Verwesung Todeskampf.

Alle vom Blut
entzündeten Träume
werden im Zickzack-Blitz
aus seinen Schultern fahren
stigmatisieren die himmlische Haut
mit dem Geheimnis der Qual.

Weil Noahs Arche abwärts fuhr
die Sternenbilderstraßen
wird
wer zuletzt hier stirbt
den Schuh mit Wasser angefüllt
am Fuße haben

darin ein Fisch
mit seiner Rückenflosse Heimwehsegel
die schwarz vertropfte Zeit
in ihren Gottesacker zieht.

 

 

 

Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises

an Nelly Sachs

Nelly Sachs, die deutsche Dichterin, die 1940 schwedische Staatsbürgerin wurde, muß den Nobelpreis des Jahres 1966 mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon teilen, ihrem Glaubensgenossen in der mosaischen Religion. Sie erhielt die Hälfte des Preises – 150.000 schwedische Kronen – „für ihre außerordentliche lyrische und dramatische Schöpfung, die das Schicksal Israels mit packender Kraft repräsentiert“. So lautet die kurze Darstellung der von der Schwedischen Akademie angegebenen Gründe. Der Preis war ein besonders willkommenes Geburtstagsgeschenk für die Dichterin, denn das Datum seines Empfangs – der 10. Dezember – fiel mit ihrem 75. Geburtstag zusammen, und bis dahin lebte sie dürftig in einem Vorort von Stockholm von den mageren Honoraren, die ihr ihre literarischen Arbeiten eintrugen. Allerdings hatte sie während der Jahre, die dieser hohen Auszeichnung ihres Werkes vorangingen, mehrere literarische Preise verschiedener Bedeutsamkeit erhalten, die aus ihrem alten Vaterland stammten, dessen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sie 1965 persönlich entgegennahm. Es war das erste Mal nach einer erzwungenen Abwesenheit von einem Vierteljahrhundert, daß sie den Fuß wieder auf deutschen Boden setzte, wo man endlich auf diesen neuen Stern am Dichterhimmel aufmerksam geworden war.
Im Jahr 1891 als Kind vermögender Eltern geboren, die in einem vornehmen Stadtteil der deutschen Hauptstadt wohnten, glaubte sich Nelly Sachs keineswegs zum Wortführer des Martyriums ihrer Rasse ausersehen – eine Rolle, die ihr zufiel, als sie in reiferen Jahren dieses Martyrium, wenn nicht am eigenen Leibe, so doch um so grausamer am Schicksal ihrer Angehörigen kennenlernen sollte. Ihre ersten, in den zwanziger Jahren veröffentlichten Dichtungen zeigten eine zarte Sensibilität der Herzensregungen eines wohlerzogenen jungen Mädchens, das mit den Klassikern seines Landes aufwuchs, doch drückten sie keine besondere Hinneigung zum jüdischen Glauben aus. Das Naturkind wußte noch nichts von den Problemen, die sich angesichts des Herannahens der Nazi-Gefahr für ihre Glaubensgenossen auftürmten. Ihr Vater, ein Großindustrieller, der sich nicht mit Politik beschäftigte, war vor der Machtergreifung Hitlers und seiner Bande gestorben. Die neuen Herren des Landes zögerten nicht, sich der Güter der Familie zu bemächtigen, die sie nach und nach unter verschiedenen Vorwänden konfiszierten. Die Witwe und ihre einzige Tochter lebten in ständigem Schrecken, jeden Tag erwarteten sie – wie Nellys Bräutigam und ihre mehr oder weniger nahen Verwandten −, in ein Lager des langsamen Todes, genannt Arbeitslager, deportiert zu werden.
Eine tolle Idee keimte und reifte in dem Kopf der künftigen Nobelpreisträgerin. Seit ihrer Jugend hatte sie ziemlich regelmäßig mit Selma Lagerlöf korrespondiert, deren Bücher sie zu ihren ersten Arbeiten weitgehend inspiriert hatten. Durch Vermittlung einer Freundin, die sich im Sommer 1939 zufällig in Schweden aufhielt, gelang es ihr, die alte Schriftstellerin aktiv an ihrem Schicksal zu interessieren. Diese, bereits ernstlich krank, starb dann im Frühling folgenden Jahres. Damit Nelly Sachs und ihre Mutter die Erlaubnis erhielten, nach Schweden zu emigrieren, waren noch die Intervention des Prinzen Eugen notwendig, des jüngeren Bruders König Gustavs V., eines bekannten Malers, sowie ein bescheidener Unkostenbeitrag für die Flugreise. Ein in der Wohnung Sachs einquartierter Beamter der Gestapo hatte sie wohlmeinend davor gewarnt, mit der Eisenbahn zu fahren, da die Gefahr bestand, daß sie an der Grenze zurückgewiesen werden würden.
Dänemark und Norwegen waren besetzt, und in Frankreich tobte der Krieg, als endlich die Stunde der Rettung schlug. Am späten Nachmittag des 16. Mai 1940 saßen Nelly Sachs und ihre Mutter auf einer Bank am Kai von Nybroviken vor dem damals noch in der Stadtmitte gelegenen Flughafen von Stockholm. Sie saßen da mit ihrem geringen Gepäck und den fünf Goldmark in der Tasche, welche die Nazibehördenn den emigrierenden Juden mitzunehmen gestatteten, wenn sie das Land verließen. Geduldig warteten sie auf die Ankunft des Empfangskomitees, das den Auftrag hatte, sich der jüdischen Emigranten anzunehmen, damit jede der beiden Damen ein Bett bekam – Kinderbetten, doch groß genug für sie, die beide von kleiner Statur waren – in einem Waisenhaus, bis sie etwas bequemer untergebracht werden konnten.
In Schweden hatte sich Nelly Sachs mit der Zeit in der kleinen Welt der Literatur eine ziemlich feste Position geschaffen, nicht nur durch ihre eigenen Arbeiten, die zunächst in Ostberlin, dann in Westdeutschland erschienen, sondern auch und besonders durch ihre meisterhaften Übersetzungen einiger hervorragender schwedischer Dichter, wie Erik Lindgren, Gunnar Ekelöf und Johannes Edfelt. Alle drei waren gegenwärtige oder zukünftige Mitglieder der Schwedischen Akademie, und sie entledigten sich anhänglich ihrer moralischen Schuld, indem sie ihrerseits zahlreiche Gedichte von ihr übersetzten, die schließlich dank der Bemühungen der Schwedischen Akademie veröffentlicht wurden. Olof Lagercrantz, der literarische Leiter der größten Zeitung des Landes, Dagens Nyheter, widmete ihrem Werk eine ganze Folge von Artikeln, die unter dem Titel Das unermüdliche Schaffen in einem Band gesammelt wurden, der, im richtigen Augenblick vorgelegt, den Boden für die höchste Ehrung bereitete.
Doch erst 1963 wird die Kandidatur für den Nobelpreis von Nelly Sachs ernsthaft erwogen. Den obligatorischen Bericht darüber verfaßt ihr großer Freund, Dr. Johannes Edfelt, der – selbst Lyriker, Übersetzer und auf die deutsche Literatur spezialisierter Essayist – nunmehr Präsident des schwedischen Pen-Klubs ist. Er sieht davon ab, sich für die Form einer ausdrücklichen Empfehlung zu entscheiden, doch ist sein ganzer Bericht von rückhaltloser Bewunderung erfüllt. Einleitend stellt er fest, Nelly Sachs, die entwurzelte Emigrantin, habe ihre Reife und Autorität als lyrische und dramatische Dichterin auf schwedischem Boden erlangt und kommt dann zu folgendem Schluß:

Im freien Rhythmus ihrer Verse erneuert sie eine deutsche dichterische Ahnenreihe, die durch die großen Namen von Hölderlin, Novalis und Rilke gekennzeichnet ist, doch mehr als bei jenen wird ihre poetische Sprache von den Propheten und Psalmisten des Alten Testaments inspiriert. Die Propheten und jüdischen Sänger haben in erster Linie ihre Weltanschauung, ihre apokalyptischen Visionen, ihre religiöse Mystik bestimmt. Trotz dieser Bindungen hat sie ihre persönliche Sprache behalten, für ihre ungewöhnlich geläuterte, weibliche Sensibilität hat sie originale Ausdrücke gefunden; dadurch ist sie imstande gewesen, die Tragödie des jüdischen Volkes zu ihrer eigenen zu machen und sie in ihrer menschlichen Verfassung als Emigrantin so tief zu durchdringen.

Offenbar von den Darlegungen eines künftigen Kollegen noch nicht ganz überzeugt, hat die Schwedische Akademie auch die Ansicht von zwei deutschen Literaturhistorikern, den Professoren Walter A. Berendsohn von der Universität Hamburg, der seit langem in Stockholm Iebt, und Walter Jens von der Universität Tübingen, eingeholt. Nach der Erklärung des ersteren besteht kein Zweifel, daß Nelly Sachs „eine der bedeutendsten Gestalten in der Literatur der heutigen Zeit ist und daß mit der Zuerkennung des Nobelpreises durch die Schwedische Akademie an sie zugleich das so schwer geprüfte und noch immer in seiner Existenz bedrohte jüdische Volk eine gerechte Ehrung erfahren würde“. Der andere Professor geht noch darüber hinaus: „Unter den heute lebenden Schriftstellern weiß ich niemand, der, alles in allem, des Nobelpreises so würdig wäre wie Nelly Sachs, diese Jüdin, die, in ihrem zweiten Vaterland auf deutsch schreibend, der Sprache ihrer Verfolger ihren Kredit gezollt hat.“
In seiner Rundfunkansprache am Tage der Zuerkennung des zwischen Samuel Joseph Agnon und Nelly Sachs geteilten Nobelpreises am 20. Oktober 1966 rühmt Dr. Anders Österling, der Präsident des Nobelkomitees für Literatur, die Verdienste der letzteren folgendermaßen: „In der deutschen Welt begrüßt man in ihr seit einigen Jahren eine Dichterin von überzeugender Echtheit ihrer leidenschaftlich empfundenen Berufung. Mit ihrer inneren Anteilnahme, ihrer packenden geistigen Durchdringung hat sie die tragische Stellung des israelischen Volkes in der Welt gedeutet und sie bald in lyrischen Klageliedern von schmerzhafter Schönheit ausgedrückt, bald in Legenden für die Bühne, dramatischen Mysterienspielen, deren symbolische Sprache von modernistischer Kühnheit sie mit dem schöpferischen Schwung des Widerhalls einer biblischen, überlieferten Poesie verbindet. Ungeschmälert hat sie die Gegebenheiten des Glaubens ihres Volkes und seine rituelle Mystik übernommen, um ein Universum an Bildern zu beschwören, das keine Wahrheit scheut, so furchtbar sie hinsichtlich der Todesfabriken und der Lager auch sein möge – eine Wahrheit, die aber zugleich von allem Haß gegen ihre Verfolger frei und nichts ist als die Bezeugung des reinen Schmerzes, den Menschen herabgewürdigt zu sehen… In der Dichtung der Nelly Sachs“, so schließt der Redner, „hat die Reaktion des jüdischen Geistes auf das Leiden den intensivsten Ausdruck unserer Zeit gefunden, und zugleich kann man von diesem Gesichtspunkt aus sagen, daß sie der hohen Absicht weitgehend entspricht, die das Testament Alfred Nobels beseelt.“
Ein wenig erschrocken über die Menge der Freunde und Journalisten, die seit der Nachricht ihrer Auszeichnung das einzige Zimmer ihres Appartements überschwemmt hatten, um ihr zu gratulieren und sich nach ihren Eindrücken zu erkundigen, erklärte Nelly Sachs, sie werde nun endlich den Traum ihres Lebens verwirklichen und nach Israel reisen. Auf die Frage, ob sie keine anderen Pläne habe, erwiderte die Preisträgerin, sie freue sich ganz besonders, einer sehr lieben Freundin, die es ihr ermöglicht hatte, in Schweden Asyl zu finden, und die heute in Dresden, in Ostdeutschland, ein schweres Leben führe, mit ihrem Preis eine wesentliche Hilfe bringen zu können.
Tapfer, aber offensichtlich kaum gewohnt an solche Art von Manifestationen hielt Nelly Sachs den Fotografen stand. Ihr Lächeln drückte eine eigentümliche Mischung von Glück und Traurigkeit aus. Vor ihrem Fenster, das auf einen der zahllosen Wasserwege von Stockholm ging, umriß sie kurz mit Anmut und rührender Bescheidenheit ihr Selbstporträt: „Ich fühle mich nur und ausschließlich als Mensch. Wenn man soviel Schreckliches erlebt hat, kann man sich nicht zu irgendeiner Nation gehörig fühlen. Gewiß, ich bin schwedische Staatsbürgerin, aber meine Sprache ist die deutsche Sprache, die mich menschlich mit anderen verbindet.“ Von ihrem Besuch in Deutschland im vergangenen Jahr sprechend, fuhr sie fort: „Zunächst fiel es mir schwer, dorthin zurückzukehren, aber ich habe junge Schriftsteller getroffen, die mir ganz anders vorkamen als frühere Generationen.“
Erinnern wir uns, daß sie nach Deutschland gefahren war, um den Friedenspreis des deutschen Buchhandels in Empfang zu nehmen. „Die Feier fand in Frankfurt während der Buchmesse statt, wobei zur selben Zeit in einem Nebengebäude“ – so schreibt Eckart Kleßmann in der Tageszeitung Die Welt – „der Auschwitz-Prozeß gegen die letzte Gruppe von Henkern begonnen hatte, denen man sie hatte ausliefern wollen und mit denen sie im allgemeinen nur eines verband: die Sprache, die die deutsche hieß.“ Derselbe Kritiker nennt das Werk der Nelly Sachs „die Totenklage für ein Volk, aber“ – bemerkt er – „es gibt keinen leidenschaftlichen Haßausbruch, keine unversöhnliche Rache: nirgends Verwünschungen gegen Rohlinge und Henker, nirgends gegen ein Volk, das, ohne etwas zu sagen, das Blutbad duldete. Millionen von Namenlosen und Stummen, deren man sich zumeist nur in Gestalt einer unerbittlichen, siebenstelligen Zahl erinnert, hat Nelly Sachs Mund und Stimme geliehen.“ Auf das Zeugnis von Hans Magnus Enzensberger hin – des bekannten Lyrikers und Essayisten, der ihr in einem seiner Bücher eine biographische Notiz gewidmet hatte – nannte das bedeutende katholische Blatt Echo der Zeit sie „den größten Dichter, der heute auf deutsch schreibt“.
In Frankreich, wie auch in der angelsächsischen Welt, war Nelly Sachs bis zu dem Tag, an dem sie den Nobelpreis erhielt, ganz unbekannt. Ihr Ruf schien kaum über die Grenzen ihres Zufluchtlandes Schweden und ihres Geburtslandes Deutschland hinausgedrungen zu sein. Nur einige ins Französische übertragene Gedichte hatten in einer Sondernummer der wenig gelesenen Wochenzeitung Lettres Nouvelles gestanden, die im Dezember 1965 den „Deutschen Schriftstellern von heute“ gewidmet war. Dennoch wurde ihre Auszeichnung von den großen Zeitungen von Weltruf, wie Le Monde und Le Figaro, von der Londoner Times und der New York Times, mit dem Respekt begrüßt, der dem Interpreten einer menschlichen Tragödie ohnegleichen zukommt; doch hätten diese Zeitungen Universitäts- oder rabbinische Spezialisten heranziehen müssen, um ein gerechtes Urteil über ihr Werk abgeben zu können. In Le Figaro Littéraire fand Arnold Mandel glücklich gewählte Worte, um den eigentlichen Sinn der Geste der Schwedischen Akademie in diesem Jahr 1966 herauszustellen: „Obwohl es nicht das erste Mal ist, daß der Nobelpreis für Literatur einem Schriftsteller jüdischer Rasse zuerkannt wurde, hat man eine solche offizielle Bestätigung eines literarischen Werkes, das dem Inhalt und der Resonanz nach wesentlich jüdisch ist, noch nicht erlebt… Die zweifache Weihe von Agnon und Nelly Sachs – der eine ein hebräischer Schriftsteller des Judentums, die andere deutsche Dichterin mit einer schmerzensreichen und unverrückbaren Bewußtheit des ewigen Judentums ist sozusagen eine öffentliche Anerkennung des jüdischen Humanismus an sich wie auch der jüdischen Kultur. Es ist, als habe der Aeropag von Stockholm die Losung des Tages ausgegeben: das Judentum, meine Herren!“
Auf dem traditionellen Bankett, das in dem schönen Goldenen Saal des Stadthauses zu Stockholm der feierlichen Überreichung der Nobelpreise folgte, führte König Gustav VI. Adolf selbst die in ein langes Gewand aus nachtblauem Samt gekleidete Nelly Sachs zu Tisch und bot ihr den Ehrenplatz zu seiner Rechten. Es ist nicht verwunderlich, daß sie ein wirkliches Märchen zu erleben glaubte, um einen berühmten Satz von Selma Lagerlöf zu wiederholen, als diese in einer ähnlichen Lage das Wort ergriffen hatte. Nach Agnons langer Rede auf hebräisch machte die kurze Ansprache von Nelly Sachs, die sie mit schwacher, vor Bewegung zitternder, aber deutlich hörbarer Stimme auf deutsch hielt, den Eindruck einer frischen, der Wüste entspringenden Quelle. Ihrer großen Gönnerin, der sie nie hatte begegnen dürfen, aber die sie durch ihre Werke gelehrt hatte, ihr neues Vaterland zu lieben, brachte sie in einigen einfachen Worten eine letzte Huldigung dar und vergaß auch nicht den Prinzen des Königlichen Hauses, der sich in einem Augenblick, als alle Hoffnung erschöpft zu sein schien, dafür eingesetzt hatte, sie und ihre Mutter zu retten. Auf folgende Weise schilderte sie ihren Seelenzustand, als sie in Schweden ankamen: „Ohne die Sprache zu verstehen, ohne ein einziges menschliches Wesen zu kennen, atmeten wir endlich die Luft der Freiheit.“ Zum Schluß erzählte sie eine Erinnerung an ihren Vater, der sie an jedem 10. Dezember scherzhaft daran erinnert hatte, daß an diesem Tage in Stockholm das Nobelfest gefeiert werde. Jetzt stand sie inmitten dieses Festes: der Traum war Wirklichkeit geworden.

Kjell Strömberg

Verleihungsrede

anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Nelly Sachs

Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

der Nobelpreis für Literatur ist in diesem Jahr zwei erstrangigen jüdischen Schriftstellern verliehen worden, von denen jeder die Botschaft Israels für unsere Zeit symbolisiert – Samuel Joseph Agnon und Nelly Sachs; ersterer hat seinen Wohnsitz in Jerusalem, und Nelly Sachs, die seit 1940 in Schweden lebt, ist nunmehr schwedische Staatsbürgerin. Die gleichzeitige Herausstellung dieser beiden Schriftsteller hat den Zweck, dem individuellen Werk eines jeden von ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; der Preis wurde geteilt, um zwei, Autoren zu ehren, die, obwohl sie in verschiedenen Sprachen schreiben, in geistiger Verwandtschaft miteinander verbunden sind und sich in dem großartigen Streben ergänzen, das kulturelle Erbe des jüdischen Volkes schriftstellerisch zu bewahren. Beide schöpfen aus einer gemeinsamen Quelle der Inspiration, die in ihrer Deutung eine lebendige Kraft besitzt.
Gleich vielen anderen deutsch-jüdischen Schriftstellern hat Nelly Sachs das Leben im Exil ertragen müssen. Dank der schwedischen Intervention ist sie vor dem Schicksal der Verfolgung, vor der Gefahr der Deportation bewahrt geblieben und in unser Land gelangt. Die vom Sturm Gejagte hat seitdem in Frieden als Emigrantin auf schwedischem Boden gearbeitet und sich die Reife und Autorität angeeignet, die der Nobelpreis heute bestätigt, In den letzten Jahren ist sie in der germanischen Welt als ein Schriftsteller von aufsehenerregenden Werten und einer unverrückbaren Aufrichtigkeit bekannt geworden. In lyrischen Klageliedern von schmerzensreicher Schönheit und in dramatischen Legenden, deren Symbolsprache den Widerhall der alten, biblischen Poesie mit einer modernistischen Kühnheit verbindet, hat sie mit ergreifender Gefühlsstärke die weltweite Tragödie der jüdischen Rasse auszusagen verstanden, Sie hat sich völlig mit dem Geschick und der Mystik ihres Volkes identifiziert und ihm eine Welt von Gleichnissen entnommen, wobei sie sich der furchtbaren Wahrheit der Konzentrationslager und der Todesfabriken nicht entziehen konnte; zugleich aber hat sie sich über jeden Haß auf die Verfolger erhoben und nur aufrichtige Trauer über die Herabwürdigung des Menschen gezeigt. Ihr rein lyrisches Werk ist jetzt in einer Sammlung mit dem Titel Fahrt ins Staublose herausgekommen, die sechs sich gegenseitig durchdringende Werke enthält, Sie wurden während einer Schaffensperiode von zwanzig Jahren voll zunehmender Konzentration geschrieben. Außerdem schenkt sie uns eine Reihe von dramatischen Dichtungen, die in ihrer Art ebenso bemerkenswert sind und den Titel Zeichen im Sand tragen; Themen, die dem Schatz chassidischer Mystik entlehnt sein könnten, hier jedoch zu einer neuen Kraft und vitalen Bedeutung gelangen. Es möge hier nur das Mysterium „Eli“ zitiert werden, die Geschichte von dem achtjährigen Jungen, der von einem deutschen Soldaten in Polen erschlagen wird, als er auf seiner Hirtenflöte bläst, um die Hilfe des Himmels für seine Eltern zu erflehen, die gerade abgeführt werden. Dem visionären Schuhmacher Michael gelingt es, die Spur des Schuldigen im Nachbardorf aufzuspüren. Der Soldat, von Gewissensangst ergriffen, bricht während der Begegnung im Wald zusammen, ohne daß Michael seine Hand gegen ihn erheben mußte. Dieses Ende unterstreicht eine göttliche Gerechtigkeit, die nichts mit irdischer Rache zu tun hat.
Das Werk von Nelly Sachs ist der intensivste künstlerische Ausdruck der Reaktion des jüdischen Geistes auf die Leiden unserer Zeit, und von diesem Gesichtspunkt aus kann man in der Tat sagen, daß sie den von Alfred Nobel beabsichtigten, humanen Zweck erreicht hat.

Frau Nelly Sachs!
Sie leben schon seit langem in unserem Land, zunächst als unbekannte Frau und jetzt als ein geehrter Gast. Heute wünscht die Schwedische Akademie Ihrer „hervorragenden lyrischen und dramatischen Schöpfung“ zu huldigen, „die das Schicksal Israels mit packender Kraft vertritt“. Bei dieser Gelegenheit ist es angebracht, an das unschätzbare lnteresse zu erinnern, das Sie unserer schwedischen Literatur erwiesen haben, ein Freundschaftspfand, das übrigens seine Antwort in dem Wunsch unserer Schriftsteller gefunden hat, Ihr Werk zu übersetzen. Indem ich Ihnen die Glückwünsche der Schwedischen Akademie übermittle, bitte ich Sie jetzt, den Nobelpreis für Literatur dieses Jahres aus der Hand Seiner Majestät des Königs zu empfangen.

Anders Österling, 10.12.1966

Laudatio auf Nelly Sachs

Kein Wort hat die deutschen Schriftsteller – und nicht nur sie – so sehr bewegt wie Theodor Adornos Diktum „Nach Auschwitz kann man nicht dichten“. Ein bitteres, ein abschließendes Wort, ein Wort der Resignation – kein Wunder, daß gerade die besten Autoren es auszulöschen suchten… aber als sie das taten, war der Satz längst durchgestrichen, war widerlegt schon, als er ausgesprochen wurde, widerlegt von Nelly Sachs, der es zu danken ist, daß die Nacht der Nächte, die Henkerszeit, erhellt, aber nicht beschönigt, gedeutet, aber nicht zum handlichen Symbol erniedrigt worden ist.
Sie, die wir feiern, die große Autorin deutscher Zunge, hat den Opfern Sprache gegeben und dafür gesorgt, daß nicht der Mord, sondern die Klage, nicht der Henkersdienst, sondern das Martyrium, und nicht das Gift, sondern die Speise die Gedanken der nach uns Kommenden bestimmt. Nelli Sachs hat eine Welt beschrieben, in der sich das Oberste nach unten gekehrt hat, eine Welt, in der aus schwarz weiß geworden ist – eine Gegenzeit, in der die schrecklichen Wärterinnen an die Stelle der Mütter getreten sind, Frauen, die den falschen Tod in die Handmuskeln spannten und damit jene Praktiken übernahmen, auf die sich Kain als erster verstand. (Die Nomenklatur von Nelly Sachs ist luzide, ihre poetischen Chiffren verweisen auf ein festes Wertsystem. Die Vokabel „Handmuskel“ entlarvt den Brudermörder so gut wie die Foltermägde vom Geblüt der Ilse Koch.)
Was in der Sophokleischen „Antigone“ anklingt – „Du hast aus Tag Nacht und aus Nacht Tag gemacht“, sagt der Priester Teiresias zum Tyrannen Kreon −, das Motiv der großen Vertauschung, wird von Nelly Sachs übernommen. Hände, die bestimmt sind, darzureichen, reißen weg, aus Geben wird Nehmen. Wie erschütternd, daß selbst ein Begriff wie „Schritte“ – zeigend: hier ist ein Nachbar, ein Mitmensch, Du bist nicht allein – wie bewegend, daß auch dieser Begriff negative Akzente erhält: „Schritte“ – das heißt in der Henkerszeit: sie sind dir auf der Spur, sie kommen schon, deine Häscher stehen vor der Tür. (Ich erinnere daran, daß Günter Eich mit Hilfe des Motivs der Schritte sein Hörspiel Die Mädchen aus Viterbo akzentuiert hat: die eingeschlossenen Mädchen ersehnen die Schritte, die Juden haben Grund, sie zu fürchten.)
Nelly Sachs klagt nicht vorschnell an, sie richtet nicht. In der Haltung des Staunens verharrend, gleichsam weltenweit entfernt, wie von einem anderen Planeten aus, schaut sie zu. Nicht der beschwörende Ausruf, sondern die entsetzte Frage – ich kann nicht dran glauben, ist es denn wirklich? steht am Beginn ihrer Dichtung:

Hände,
Was tatet ihr,
Als ihr die Hände von kleinen Kindern waret?
Hieltet ihr eine Mundharmonika, die Mähne
Eines Schaukelpferdes, faßtet der Mutter Rock im Dunkel,
Zeigtet auf ein Wort im Kinderlesebuch −
War es Gott vielleicht, oder Mensch?

Das Gegenbild erst, im staunenden Fragen beschworen, Mundharmonika und Lesebuch, gibt dem Schrecken seine Kontur. Bevor Nelly Sachs das Treiben der Vertauscher zeigt, demonstriert sie die Reinheit des Urbilds. Wie heiter, zeigt sie, kann die Pantomime sein – und wie grauenvoll nimmt sich, von solcher Folie abgehoben, der Marionettenspieler aus, der Golem Tod, der Meister aus Deutschland, wie Paul Celan ihn nannte, der Tod, der seine Finger tanzen läßt, mechanisch und wohl kalkuliert; wie leuchtend ist das Grüne dieser Erde, aber Kain trägt es zum Abladeplatz (er, der das Amen nicht mit dem Mund, sondern mit der Würgehand formuliert, er, das Urbild jener Durcheinanderwirbler, die bei Nelly Sachs die Sterne schwärzen, die Sonne verstauben lassen und selbst die Wiegenkamille in ein Treibhausungeheuer verwandeln. Räuber sind sie, Diebe, die alten Leuten den letzten Atemzug stehlen, den Kindern die Schlaftiere nehmen, den Ruf der Taube und das Wiegenlied stocken lassen…).
Wiederum erinnert es an die Klagegesänge der griechischen Tragödie, an Elektras und Antigones Hilferufe, ein Flehen auf Beistand, wenn Nelly Sachs, mit solchem Schrecken, solcher All-Verkehrung konfrontiert, in einem Augenblick, da sie selbst nur noch zu weinen vermag, die Tiere, die Vögel vor allem, die Nachtigallen bittet, dort Worte zu finden, wo die letzte, die endgültige Verwandlung, die Verwandlung von Rede in Schweigen und von Sprache in Verstummen sich zu vollziehen droht.
Wie Rilke in den Duineser Elegien, behutsam aber mit großer Zielstrebigkeit, befragt Nelly Sachs die Natur, fordert, in einem Gegenentwurf, die stumme Kreatur in die Schranken, bittet, da die Henker die Münder der Menschen verstopfen, die Steine zu reden, beschwört die Gestirne, daß „sie ein Echo der Schreie bewahren, verwandelt zu Sphärenmusik“, und macht – so das Weltall zum Spiegel: „Welches Gestirn“, heißt es in Eli, „sah deinen Tod? / War es der Mond, die Sonne, oder die Nacht; / mit Sternen, ohne Sterne?“
So betrachtet sind diese Gedichte Notizen einer Überlebenden, die im Traum an die Mordstätte kommt und den Sand und die Steine, die Wasserlachen und den Krug, der dabei war, als eine alte Frau zum letzten Mal das Augenlid rührte, die die Gürtelschnalle des Feindes und den Vogel befragt, all jene Elemente, die, Echo und Spiegel, als redliche Zeugen Auskünfte geben, weil sie den Blick der Getrennten so gut wie die Atemzüge der Gefolterten bewahrten.
Ich bitte Sie zu verstehen, daß ich hier vor allem der frühen Gedichte, der Verse der Verjagten, gedenke. In einem Augenblick, da in dem Lande, aus dem ich komme, eine NPD und eine Nationalzeitung ihre Stimme lauter denn je zu erheben wagen, erschiene mir eine Interpretation der späten Gedichte, die ich sonst gern vorgetragen hätte, an diesem Tage als unverbindliches Ästhetisieren.)
Bedenken wir – bei Nelly Sachs gibt es nicht nur die Klage über die Opfer, sondern auch das poetische Gesetzbuch, dessen Chiffren klar und eindeutig sind: böse die Finger, – die Schwellen leger, die Töterfinger −, gut die Schuhe, gut der Sand der Wandernden, böse das Messer, das Abschiedsmesser; gut die Füße, die so weit – und niemals schnell genug? – gelaufen sind. Böse die Sekunde, der Hahnenschrei, der Verrat von Augenblick zu Augenblick, gut die Geschichte, die Lang-Zeit, die den Sand in den Schuhen der Juden, den Wandersand und den Sand von Sinai sein läßt,… den Sand in den Schuhen, auf denen zuerst der Blick der Fragenden ruht, derer, die hören will, was hier geschah – den Sand in den Kalbshautschuhen, die, schon mit Tod gefüllt, den letzten Ein-Druck, die letzte Spur prägten – und diese Spur bleibt. Sie ist der einzige Besitz der Flüchtigen, die sich – im Exil – eine Verfolgte, der Vergewisserung not tut, der Toten erinnert, und die zu erkennen beginnt, daß ihre Lage (die sie ähnlich wie die anderen skandinavischen Flüchtlinge Brecht und Tucholsky beschreibt – ähnlich auch wie der Kriegsgefangene Günter Eich in einem berühmten Gedicht), die zu erkennen beginnt, daß ihre Lage nur Symbol für jenen großen Aufbruch ist, der alle Menschen erfaßt hat, alle Länder – ja, Gott selbst: er „der reisefertig ist und kommen wird.“
„Einer wird kommen“, heißt es bei Nelly Sachs in einem Gedicht, in dem der Ton der 4. Ekloge, der Messias-Ekloge, Vergils anklingt, einem Gedicht, das für viele steht, weil es wortwörtlich zeit-los ist: mühelos, ganz sanft und leicht, mit jener Kraft, die den Schwachen eigen ist, überspringt Nelly Sachs die Grenzen zwischen Präsens und Perfekt, Zukunft und Gegenwart – ein einziges Bild, eine einzige Assoziation genügt, um hinter den Schritten der Mörder von Auschwitz die „Urzeitspiele der Henker“, den ewigen Reigen von den Verfolgten und Verfolgern, den Jägern und Gejagten sichtbar zu machen und der Sekunde Schatten zu geben, Tiefenschärfe dem kairos, – um (und dies vor allem in den späten Gedichten) abzuspringen in den Raum der Geschichte und hinter den Mord-Lagern die Zeichen des mondversiegelten Ur, hinter dem letzten Seufzer der Greise den Todesruf Christi sichtbar zu machen… auch er, wie die schrillen Schreie der Juden, aufbewahrt von der Natur:

und das
Licht
im schwarzumrätselten Laub
der einsamsten Stunde
wurde ein Auge
und sah.

In einer großen Synopse, die das Getrennteste zusammenfügt, macht Nelly Sachs aus dem Nacheinander der Zeit ein Zugleich: „O Israel, / Erstling im Morgengrauenkampf, / … O das spitze Messer des Hahnenschreis / der Menschheit ins Herz gestochen“ – das ist ein Satz, der vom Alten Testament (Morgengrauenkampf) über das Neue Testament (Hahnenschrei) bis zum 20. Jahrhundert (Menschheit) führt. Hebräische Metaphern verbinden sich mit christlichen Bildern – wie ergreifend, wenn neben Saul, David und Abraham plötzlich die Figur des geschundenen Heilands auftaucht und das Leidenswort „genug“ neben das Feierabendwort „es ist vollbracht“ tritt, wenn Rembrandt sich zu den Psalmensängern gesellt – David vor Saul, Gesang beschwichtigt die Melancholie – und wenn der Baalschem mit dem heiligen Franz spricht: der Rebbe und der Freund der Vögel und des Lichts… welche Aspekte werden hier sichtbar!
Unter solchen Zeichen ist – mit Franz Kafka zu reden – Schreiben auch für Nelly Sachs eine Form des Gebets, in der sich Hoffnung und Gedenken vereinen. Wie der griechische Mensch im Augenblick der Entscheidung in den bergenden Schatten des Mythos zurücktaucht, um das Singuläre, den ungeheuren Schrecken, als exemplarisch, als Wiederholung eines schon einmal Geschehenen erscheinen zu lassen und ihn damit zu bewältigen, erinnert sich Nelly Sachs auf dem Höhepunkt der Leidensgeschichte ihres Volkes und fügt zugleich den Votivtafeln, den vielen Toten-Tafeln, neue Grabschriften hinzu. Die Kontinuität soll nicht enden, die Kommenden müssen Brücken haben, Auschwitz darf kein Ende sein: deshalb werden die Opfer von heute in der gleichen Weise beschrieben wie die biblischen Figuren.
Schreiben bedeutet: Beten, Sich-Vergewissern, Zeugnis-Ablegen. Schreiben ist die Aufgabe der Geretteten, all jener, die ihre Angst nicht verläßt, jener, die von den Toten verfolgt werden wie die Bäckerin in Eli:

Kam zurück, doch ohne Schritte!
Da begannen die Schritte im Ohr!…
Die wohnen im Ohr mir;
sie wandern zur Tagzeit,
sie wandern zur Nachtzeit,
ob du sprichst, ob ich spreche,
ich höre sie immer.

Schreiben bedeutet: dafür zu sorgen, daß die Nachfahren eine Gedächtnisstütze besitzen, um sich einstellen zu können und gewappnet zu sein für den Fall, daß ein zweites Mal die Zeichen der Gegenzeit am Himmel erscheinen. Dann wird es für sie wichtig werden, die Körbe der Erinnerung, wie Nelly Sachs sagt, im Hause zu haben. Aber das Gedächtnis zu hüten – bis zur Selbstvernichtung und bis zum Äußersten bedeutet, da es ja um einen Akt der Verständigung mit den Nachfahren geht, auch ein Reden in vielerlei Zungen (denn nicht jeder versteht jegliche Sprache); es bedeutet, genau zu sein und doch Verweise zu schaffen, bedeutet den Realismus und die mythische Rede miteinander zu einen… und in dieser Unität von Transparenz und Exaktheit, von polyvalenter Chiffre und von Einsinnigkeit, von zupackender Benennung und mythischer Vieldeutigkeit, liegt die Eigenart dieser Dichtung. Hier Gürtelschnalle, Messer, Essenkehrer, Horizontenkämpfer, der terminus technicus also, und dort die Metapher: die Mondtrompete des Kindes, die Tür als Messer, das die Welt zerteilt, die Sonne der Angst, die Lachkeime der Möwe: kühne Tropen, Allegorien und Metonymien. Hier wieder der Ton der Brecht’schen Ballade – im Lied vom pfeifenden Eli – geprägt durch Anaphern, Wiederholungen und Parallelismen, die Chronik-Diktion:

War der Michael im Bethaus,
im brennenden Bethaus,
hat die Flammen gebunden,
hat den Jossele gerettet,
den Dajan gerettet,
den Jakob gerettet,
aber der Eli ist tot

Hier der Volksliedton der schlichten Frömmigkeit – im Song von der Zwiebel, in den rhythmischen Sentenzen („es rühren sich die Messer in der Lade, / es knirscht die große Schneiderschere“) und dort die Märchensprache der Rebbe, die Weise des Baalschem („Wenn ich den Hut umdrehe“, sagt der Bettler in Eli, „so ist’s ein Grab für das Geld, / setze ich ihn auf, / so ist’s / etwas, / was mit Fliegen zu tun hat“), dort die Sohar-Weissagung, Arabesken der Prophetie, mystische Begriffe, Jakob-Böhme-Bilder, Vergleiche mit Hilfe von Buber- und von Scholem-Worten. Hier endlich, wir wollen auch das nicht vergessen, Grazie und Witz – „noch einen Korn“, auch das sagt man bei Nelly Sachs, – Anmut und Zärtlichkeit, ein wenig Zirkus-Akrobatik dabei, und andererseits die Exaktheit in der Beschreibung des Schreckens:

Mein Finger hatte zum Spezialgebiet das Würgen,
das Eindrücken des Kehlkopfs
mit einer kleinen Wendung nach rechts.

Genug der Zitate des „hier“ und „dort“. Was gezeigt werden sollte, hat sich ergeben: die riesige Spannweite einer poetischen Sprache wird sichtbar, die beinahe mühelos alle Räume und Zeiten, das Kleine und Große, den Schrecken und die Frömmigkeit umfaßt und sich, wie ich meine, doch in einer Form am mächtigsten entfaltet: in der Priamel, dann, wenn der langen Vorbereitung, einer beschwörenden Darlegung vielfacher Voraussetzung die Auflösung folgt… klar und unwiderlegbar, wie ein Schofarklang: „O du aus dem mondversiegelten Ur, o du, o du, o du, o du, o du… o Abraham, die Uhren aller Zeiten… hast du auf Ewigkeit gestellt –“ (Ich erinnere auch an das Gedicht „Wenn die Propheten einbrächen“, dessen vierfache Wiederholung die Spannung bis zum Unerträglichen steigert, ehe dann, auf dem Höhepunkt, in gegenrhythmischer Bewegung die entscheidende Frage gestellt wird: „Ohr der Menschheit, / … Würdest du hören?“) Nelly Sachs… das ist die Stimme Elis, Gegenstimme in der Welt des Schreckens, die Stimme einer Schwester Hiobs, der einzigen vielleicht, die seinem schrecklichen Warum nicht Antwort, aber ein Ziel des Fragens zu zeigen vermöchte.
Was Nelly Sachs von Israel sagte: „Im Chore der anderen / hast du gesungen / einen Ton höher / oder einen Ton tiefer“ das heißt: unüberhörbar, ausgezeichnet unter allen; was sie von David sagte: er habe die Nachtherberge der Psalmen für die Wegwunden gebaut; was sie von Ruth sagte, die ein zweites Mal, in Armut, die Lese hält… dies alles gilt auch für sie, gilt für ihre frühen so gut wie für ihre späten Gedichte, wenn ich denn doch ein Wort über sie sagen darf, gilt für Flucht und Verwandlung, Fahrt ins Staublose, Noch feiert Tod das Leben und die Glühenden Rätsel, deren erster Teil von einer Melancholie und schwarzen Schwermut zeugt, einer Einsamkeit inmitten der elenden Schwestern, der vergitterten Kranken, über denen die dunklen Vögel kreisen, wie sie bedrohlicher seit Trakls späten Gedichten nicht mehr beschrieben worden ist, deren zweiter und dritter Teil die Möglichkeiten der Rettung anzeigen: langsam weitet sich wieder der Blick, die Mauern beginnen zu schrumpfen, feste Formen stellen sich ein, mythische Namen gewinnen Kontur, neue Fixpunkte, nun schon am anderen Ufer, zeichnen sich ab:

Als Tsong Khapa seinen Meister verließ
wandte er sich nicht nach ihm um.

Rätselhaft sind diese späten Gedichte, in denen die alten Motive, die Themen vom Großen Aufbruch und vom Reisefertigen Gott, mit Hilfe sehr kühner Figuren, der von einer Enallage bestimmten Genitivmetapher zum Beispiel, verwandelt werden, in der das regierende Wort ein Abstraktum und das regierte ein Konkretum ist: „mit der Vögel blindfliegender Geometrie“.
Neben Spruchartig-Dunklem stehen, dem Alterswerk angemessen, in dem sich Frühes mit Spätem verschwistert, Verse von der Simplizität und Anmut der frühen Gedichte; die knappsten Konzentrate, „Landvermesser Krieg“, „der Würmer Pentagramma“, werden als Signale in den großen interpunktionslosen Fugen verwandt – als zeichengebende Leuchttafeln von der Art der kurzen Schlußzeilen: „wir sind nun wir“. Mühelos fügt sich hier Heterogenes zur lange verborgenen, plötzlich entschleierten Einheit – so wie auch Sprachpartikel getrennter Bereiche, „stigmatisieren“, „gläserne Auslagen“, „Meeresstern“ und „Hypnose“ sich im Sinn einer Geheimabsprache, der Übereinkunft jenseits der vertrauten Semantik, zu einer Botschaft des Friedens vereinen: auf künftige Ordnung verweisend sind diese Verse wie Bojen in der Nacht und wie Signale inmitten des Schweigens. Verse, geschrieben in deutscher Sprache – ist ein Geschenk für unser Land auszudenken, das größer – und unverdienter wäre als dies?
Erst nach langen Jahren wird sich zeigen, ob wir, die Angehörigen meiner und der nächsten Generation, dieses Geschenks würdig waren und im Angesicht von Gedichten wie den Gebeten für den toten Bräutigam bestehen können oder nicht. Eines aber ist schon jetzt gewiß: keine Ehrung und kein Ansehen in der Gesellschaft werden uns helfen können, wenn wir vor diesen Versen versagen. Sie bestimmen, auch im Alltäglichen, auch in der Auseinandersetzung mit den Mördern von gestern oder ihren Verteidigern von heute und in der Auseinandersetzung mit den großen und den kleinen Globkes, sie bestimmen unseren Weg, und vor ihnen werden wir uns verantworten müssen.
Ich danke Ihnen, Nelly Sachs, und ich danke der schwedischen Akademie. Sie, hat mit ihrer Ehrung die Blicke wieder auf jene Symbiose gerichtet, die deutsch-jüdische Verschwisterung im Geist, der die WeIt so viel verdankt. Sie begann, als ein Mann namens Moses Mendelssohn Einlaß bittend an die Tore Berlins pochte – dafür, daß sie nicht endet, bürgen diese Gedichte, die dazu beitrugen, mit den Opfern auch die deutsche Sprache zu bewahren und sie, die Goethes Sprache, aber nicht die Sprache Hitlers ist, vor der Finsternis des Verstummens zu retten.

Walter Jens, aus: Bengt Holmqvist: Das Buch der Nelly Sachs, Suhrkamp Verlag, 1977. Vortrag gehalten bei der Nelly-Sachs-Ehrung der Deutschen Botschaft in Stockholm am 14.12.1966.

 

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.
 

Nelly Sachs – Lesung und Interview aus dem Jahr 1965.

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