Interviewsequenzen und historische O-Töne verbinden sich zu einem akustischen Portrait von Leben und Werk der Schriftstellerin Nelly Sachs. Zu hören sind Originaltöne von Nelly Sachs und Paul Celan, Kommentare von Aris Fioretos und Hans Magnus Enzensberger. Die Schauspielerin Katharina Marie Schubert interpretiert Texte von Nelly Sachs.
speak low, Klappentext, 2010
Nelly Sachs⎪ Schriftstellerin ⎪ Berlin/Stockholm; die Form des Titels entspricht der Form des Features: Es ist eine nüchterne Aneinanderreihung von Hördokumenten. Abwechselnd hören wir die Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, wie sie mit pathetischer Stimme ihre düsteren Verse rezitiert, dann ihren Freund, den Publizisten und Dichter Hans-Magnus Enzensberger, der die Biographie der jüdischen Schriftstellerin zu beleuchten sucht, und hin und wieder Aris Fioretos, der Aufschluss über Bedeutung und Entwicklung des Lebenswerks Nelly Sachs geben soll. Die Schauspielerin Katharina Marie Schubert interpretiert Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Verse von Nelly Sachs.
Angesichts der Tatsache, dass Nelly Sachs erst 1940, kurz vor ihrer geplanten Deportation, aus Deutschland fliehen kann und diese 7 Jahre unter dem Nationalsozialismus ihre Bildsprache nachhaltig geprägt haben, ist der Verzicht auf musikalische oder sonstige akustische Begleitung sicherlich angebracht. Was dann allerdings bleibt, ist eine unangenehme Atmosphäre der Bedrückung, die vor allem der Originaltöne Nelly Sachs geschuldet ist. Ihre Stimme ist die Manifestation des Schmerzes und des Leids, das sie mit ihrer Poesie illustriert; dadurch wird sie zwar zur Metapher für ihr literarisches Schaffen, aber gleichzeitig unerträglich. Diese konstant stärker werdende Entwicklung der Bedrückung und Verzweiflung lässt das Feature zu schwerer Kost werden. Ein innovativer Umgang mit dem immernoch allgegenwärtigen Thema ist nach fast 70 Jahren nicht zu erkennen. Hier hätte sich manch einer ein künstlerisches Mittel der Produzenten gewünscht, das die Brust des Hörers entschnürt.
Wer die Werke von Leonie alias Nelly Sachs bereits kennt, diese sicherlich zu Recht nobelpreisprämierten Verse schätzt und an einem journalistischen Zugang zur Biographie Nelly Sachs interessiert ist, kommt hier auf seine Kosten. Wer Nelly Sachs kaum oder noch gar nicht kennt, läuft Gefahr, verschreckt zu werden und diese Dichterin und ihre Poesie in Zukunft zu meiden. Wer sich dieses Feature kaufen will, sollte wissen, dass es den Produzenten nicht darum ging, ein Hörvergnügen zu inszenieren, sondern einen Einblick in die tragische Lebenswelt der Schriftstellerin anzubieten. Das ist zweifelsfrei gelungen.
Das Booklet unterstreicht den dokumentarischen Charakter. Wir finden dort eine umfangreiche Biographie zwischen Originalhandschriften, Fotos von Nelly Sachs aus verschiedenen Abschnitten in ihrem Leben, die sie einmal als Frau mittleren Alters in Berlin, dann als gealterte Frau im Exil zeigen sowie Stillleben aus der Exilwohnung in Stockholm. Das Booklet ist eine sinnvolle Ergänzung des Höreindrucks, da es dem Hörer gleichzeitig ein greifbares Bild dessen vermittelt, was das Wort Exil im Allgemeinen bedeutet und er an ihrem Gesicht die lange Zeit ablesen und verinnerlichen kann, die sie von ihrem Geburtsland getrennt wurde.
18,90 Euro für eine einzige CD erscheint ob der minimalistischen Komposition und Produktion etwas viel.
Harald Hartung: Leben schmeckt wie Abschied
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 6. 2010
Dichtung als Dasein: dieser von Wilhelm Lehmann aphoristisch formulierte Begriff ist nicht nur zu einem Schlüsselwort, sondern auch zu einem Kriterium der Dichtung geworden. „Jeder von uns“, sagt Lehmann, „sucht seine Wirklichkeit und die seines Gegenstandes. Sie zu finden, dazu verhilft uns die Dichtung, sie, die kein Nebenbei, kein zufälliger Schmuck ist und die Bemühung eines ganzen Lebens braucht, um wirklich zu werden. Dichtung erzeugt, wenn nicht Leben, so Dasein.“
Erschütterung ging stets, darüber läßt sich auch unsere Zeit nicht hinwegtäuschen, von einer Dichtung aus, die einem inneren Zwang zufolge entstand, die ebenso die Existenz des Schreibenden wie die Welt des Seienden enthielt und ausdrückte. Man ist gerade heute, wo das Wort von der „intellektuellen Machbarkeit des Gedichts“ bereits zu einer abgegriffenen Münze wurde, für eine solche Lyrik hellhörig geworden. In hohem Alter, in Einsamkeit und Verzweiflung, hat Else Lasker-Schüler geäußert, daß sie zerbrechen müßte, könnte sie keine Gedichte mehr schreiben. Und Gertrud Kolmar, eine der größten und (immer noch) unbekanntesten Dichterinnen deutscher Sprache, hat ein Jahrzehnt lang ihre Existenz im Gedicht, im vor der Welt verheimlichten Gedicht gefunden. Zu Lebzeiten hatte sie nur weniges veröffentlicht, und dieses Wenige war fast ohne Echo geblieben. 1943 wurde sie in ein Arbeitslager im Osten deportiert; seitdem ist sie verschollen.
Eine dritte jüdische Dichterin, Nelly Sachs, hat ebenfalls die Schrecken und Höllen jener Zeit, an denen die beiden anderen zugrunde gegangen sind, erlebt – sie hat sie überlebt. Auch sie hat ihre Existenz im Gedicht gefunden, ihre Heimat in der deutschen Sprache. Und in einem Augenblick, da SS-Leute Juden in die Gettos und Gaskammern trieben, hat sie in einer kleinen Mietwohnung in Stockholm in eben dieser Sprache das Denkmal für die Opfer geschrieben: die Grabschriften „In den Wohnungen des Todes“. Nennen wir noch Elisabeth Langgässer, die als Jüdin zum Katholizismus konvertiert war. Sie blieb in den schwierigen Kriegsjahren in Berlin, mit Schreib- und Publikationsverbot belegt, ständig bedroht von den Deportationen. Aber die Sprache konnte man ihr nicht nehmen, die deutsche Sprache, in der sie mit Der Laubmann und die Rose vielleicht ihre schönsten, ihre vollendetsten Gedichte geschrieben hat.
Man muß sich das vergegenwärtigen: Als das Jahrhundert sich der Mitte nähert, wird die deutsche Lyrik (wenn wir von Brecht absehen) von diesen vier Frauen repräsentiert. In einer Zeit, da man sie aus der deutschen Sprache vertreiben wollte, haben sie gerade dieser Sprache einige ihrer schönsten Zeugnisse abgerungen. Und sie haben nicht nur eine würdige und große Tradition, von der Droste über Ricarda Huch, fortgesetzt, sondern auch einen Höhepunkt in der deutschen Lyrik geschaffen, der bis in unsere Gegenwart nachwirkt. Sie, die in die äußere Emigration der Fremde oder in die innere des Arbeitslagers getrieben wurden, haben, neben manchen biographischen Verwandtschaften, vor allem eines gemeinsam: die dichterische Sprache als Refugium, als unzerstörbares Gefäß ihrer Gedanken und Gefühle, als Ausdruck ihrer Hinwendung zum Glauben. (Daher die Anrufung der biblischen Gestalten bei Lasker-Schüler, Sachs und Kolmar, die Beschwörung der rosa mystica Maria bei der konvertierten Halbjüdin Langgässer.) Wohin sie das Schicksal auch getrieben hat, die Sprache ist ihre Heimat geblieben.
Sprache als Heimat. Sprache als Verwandlung der Welt. Nelly Sachs hat das in zwei programmatischen Verszeilen ausgedrückt, die ihrem Gedichtband Flucht und Verwandlung als Motto vorangestellt sind:
An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlung der Welt.
Dieses Motto könnte richtungweisend über dem ganzen Werk der Nelly Sachs stehen. Ein Werk, das von den Themen der Verfolgung, der Flucht und der Suche nach Heimat geprägt ist bis in die jüngste Gegenwart hinein. Angefangen von den Grabschriften in die Luft geschrieben bis zur Fahrt ins Staublose hat sie diese Themen immer wieder eingekreist. Sie hat dabei nicht nur den Leidensweg eines gequälten Volkes in ihren Versen festgehalten, sondern ist, wie schon Walter Berendsohn feststellte, „die Dichterin jüdischen Schicksals“ geworden. Wenn man in später Zeit fragen wird, wer den Schmerz dieser Jahrhundertmitte artikuliert hat, dann wird man auf Nelly Sachs verweisen müssen. „Das Schreiben war mein stummer Schrei“, bekannte sie einmal. So hat sie Worte und Bilder gefunden für ein Geschehen, das man nicht in Worte oder Bilder setzen zu können glaubte. Aus der Zeit ist sie ins Zeitlose hinausgetreten, aus dem Einzelfall ins Allgemeine, aus der Beschreibung in die Metapher.
Nelly Sachs, 1891 in Berlin geboren, wuchs in einem großbürgerlichen Hause auf. Ihr Vater als ein musischer Mensch, der vor allem der Musik zugeneigt war, besaß eine große Bibliothek, in der die Tochter mit den Weisheitsbüchern des Ostens, mit den Sagen und Märchen aller Zeiten und Völker und mit den Werken der Romantiker in Berührung kam, Einflüsse, die in ihren ersten Arbeiten deutlich zu spüren waren. Der Freund Walter Berendsohn, und ihr erster Biograph, hat die häusliche Umwelt, in der Nelly erzogen wurde, so beschrieben:
Im Sachsschen Hause gab es keine ausgesprochen jüdisch-religiöse, eher eine freigeistige Atmosphäre. Aber ihre Dichtung ist von Anbeginn von inniger Religiosität durchtränkt. In manchen Gedichten finden sich christliche Symbole. Die jüdische Mystik wurde Nelly Sachs erst spät durch christliche Freunde zugetragen, wirkte dann aber sehr stark und nachhaltig auf sie als etwas im Grunde zutiefst Verwandtes… Mit siebzehn Jahren schrieb sie die ersten Gedichte, seither ist ihre Produktion nie versiegt…
Ihr erstes Buch war 1921 erschienen, ein schmaler Band mit Legenden und Erzählungen. Später entstanden Märchenspiele für Puppen- und Marionetten-Theater. Nach 1933 wurden von ihr Beiträge nur noch in jüdischen Zeitungen gedruckt.
Ihren Band Legenden und Erzählungen hatte sie an Selma Lagerlöf geschickt mit der Widmung:
Dieses Buch… ist geschrieben von einer jungen Deutschen, die in der großen schwedischen Dichterin ihr leuchtendes Vorbild verehrt.
Damit begann zwischen Selma Lagerlöf, die schon 1909 den Nobelpreis erhalten hatte und hoch berühmt war, und der jungen Anfängerin eine Freundschaft, die über Jahrzehnte hinweg währen sollte. Selma Lagerlöf hat Nelly Sachs buchstäblich vor den drohenden Gasöfen gerettet: durch ihre Fürsprache und die des Prinzen Eugen von Schweden erreichte sie, daß Nelly Sachs zusammen mit ihrer alten Mutter, in einem Augenblick, da bereits die ersten Deportationen der Juden nach dem Osten gingen, die Ausreise erhielt. Seit dieser Zeit lebt sie in Stockholm, in einem Miethaus am Bergsundstrand, direkt gegenüber dem Mälarsee. Jetzt, wo sie alt geworden ist, will sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren.
Nelly Sachs war schon 1940 eine Schriftstellerin von ausgeprägter Individualität. Ihr ,gültiges‘ Werk aber beginnt, nach ihren eigenen Worten, erst in den „furchtbaren Jahren des Schmerzes, dem Tod schon anverwandt, ihm aber noch nicht ausgeliefert“. Als 1946 ihr erster Gedichtband erschien, In den Wohnungen des Todes, im Aufbau-Verlag in Berlin, da spürte man sofort: hier war die Stimme einer Dichterin, die in der Flut der damals erscheinenden Bekenntnis- und Erlebnislyrik alle anderen weit überragte. Kein Vers, keine Zeile hat bis heute an Substanz verloren. „Dein Leib im Rauch durch die Luft“, heißt ein Zyklus, ein anderer „Chöre nach Mitternacht“, ein dritter „Grabschriften in die Luft geschrieben“, Epitaphe für ihre toten Brüder und Schwestern, die in den Vernichtungslagern umgekommen sind und, wie Celan sagt, „ein Grab in den Lüften“ bekommen haben. Aber sie will nicht noch einmal Namen beschwören, Namen sind Zeugnis, sind Demonstration, sind aufbrechende, blutende Erinnerung. Aus der persönlichen Vertrautheit heraustreten, eine allgemeine Formel für ihre Existenz finden, das will sie. So heißen die Gedichte: „Die Markthändlerin“, „Die Tänzerin“, „Der Spinozaforscher“, „Der Hausierer“, Und dahinter sind die Anfangsbuchstaben gesetzt, ganz unpersönlich, ganz lapidar, G. F. oder D. H. oder H. H. Um einer zeitlosen Wahrheit willen faßt sie deren Leben in eine Chiffre.
Die Titel der Gedichtbände skizzieren schon äußerlich die Entwicklung der Lyrikerin. Den Wohnungen des Todes, unmittelbar unter dem Eindruck der Verfolgungen entstanden, folgte als nachhallende Erinnerung Sternverdunkelung (1949), dann jene resignierende, hilflose Geste des Niemand weiß weiter (1957) bis hin zu Flucht und Verwandlung (1959), das schon die Überwindung des Schmerzes zeigt und hinweist auf die Hoffnung, die aufrührerisch ist, auf das große elementare Erlebnis der Flucht, die zugleich Verwandlung, Umwandlung, Metamorphose bedeutet. Von dort geht die Fahrt ins Staublose (1961), in der jener schwarze, tragische Dithyrambus aufklingt: „Noch feiert Tod das Leben“. Inmitten der „allmächtigen Gegenwart des Todes“ der demonstrative Hinweis auf das Leben! Der Tod, der kommt, um das, was lebt, zum Verstummen zu bringen, muß das Leben feiern, muß es noch feiern…
Dazwischen liegt ein reiches Übersetzungswerk aus dem Schwedischen ins Deutsche („als Dank an mein Gastland“) und die Arbeit an zwei szenischen Werken Eli und Simson fällt durch Jahrtausende, die sich in kein Genre einfügen lassen. Sie sind Gedicht, Mysterienspiel, Vision und Beschwörung zugleich, auf der Bühne kaum darstellbar; bisher haben sie ihre Realisierung nur im Hörspiel gefunden.
Unverwechselbar ist ihre Sprache, die übrigens gleich mit dem ersten Gedichtband in ihrer ganzen Ausdruckskraft und Intensität da war. Sie ist von den Büchern der Propheten und den Psalmen ebenso beeinflußt wie von der Thora und den Legenden der Chassidim; aufgenommen hat sie auch die Bilderwelt des Surrealismus und die moderne Formensprache der schwedischen Lyrik. Ihre Wurzel aber ist im deutschen Expressionismus zu suchen, von dort bezieht sie das Ekstatische wie das Visionäre, das so spezifisch für Nelly Sachs wurde und ihre Gedichte zu ,Anrufungen‘ macht. Sie hat, eine Generation später, noch einmal den Sprachkanon des Expressionismus aufgenommen, ihn verändert und erneuert. Und sie hat sich, ohne epigonal zu werden, den Däublerschen ,Kosmischen Sternenklang‘ anverwandelt, ein Ton, der bei ihr einen deutlich religiösen Akzent bekommen hat. Dazu gehört eine Vorliebe für Wörter wie Sand, Staub, Gestirn, Sterne, Meer, Leib, Schmerz, Tod, Nacht, Schatten, Licht, Samenkorn, Schlaf, Minute, Sekunde, Stunde – und typisch für sie sind solche Wortkonklusionen wie Wandersand; brennender Sinaisand; Dünensand; der mit den Flügeln des Schmetterlings vermischte (Sand). Metaphern für das Flüchtige, das Vorübergehende, das Ephemere. Bilder für die verrinnende, die tödliche Zeit: „Licht wird aus Sand“, oder: „Sand leerte sich aus einem Kinderschuh“. Sand als unerbittlicher Ablauf von Zeit (Sanduhr), Sand als Bild der Gewesenheit, als etwas nicht mehr Verwandelbares, als verwehende Erinnerung:
Der Sand in meinem löchrigen Schuh
das warst du – du – du
Male ich Sand der einmal Fleisch war
Oder Goldhaar – oder Schwarzhaar –
Oder die Küsse und deine schmeichelnde Hand
Sand male ich, Sand – Sand – Sand
(aus: „Die Malerin“)
Nelly Sachs, die an die Verwandlung der Welt glaubt, an die Metamorphose als Wiederkehr, im Sand ist alle Hoffnung für sie erloschen. Das Samenkorn hingegen bedeutet Auferstehung. Samenkorn und Sandkorn werden so zum Synonym für Leben und Tod, für Werden im Untergang, für das Wachsen im Schwinden: das Ewigkeitszeichen:
Nur zu wiegen sich
in Lichtmusik aus Ebbe und Flut
nur zu wiegen sich
im Rhythmus des unverwundeten
Ewigkeitszeichen:
Leben – Tod –
(aus: „Fahrt ins Staublose“)
Das ist bei ihr weit über das Metaphorische hinaus ein brennendes Zeichen geworden. Immer wieder sucht sie für diesen Vorgang neue Variationen zu finden. Es ist ihr eigenes Erleben, das sich motorisch in Poesie umgesetzt hat. Jenes Bewußtwerden des Todes – und im Tode die Wiedergeburt, die Rettung; nach der Flucht die Verwandlung, die Auferstehung; das neue Leben in einer anderen Welt, in einem anderen Haus, unter einem anderen Dach.
Schon in den ersten Gedichten heißt es:
Und ihr werdet hören
durch den Schlaf hindurch
werdet ihr hören
wie im Tod das Leben beginnt.
Und später nennt sie Tod und Geburt „den Gott vererbten Zwillingsschmuck“. Und dann wieder:
Wenn sich das Samenkorn im Tode des Lebens erinnert.
Immer die Paarung, die Verbindung des Gegensatzes, ihr demonstrativer Versuch, im Tod nicht das Ende zu sehen, sondern zugleich den Anfang, im Beginn bereits die Vollendung:
O keine Ankunft ohne Tod
Daher ihre fast quälende Beschwörung, ihre magische Benennung immer des gleichen Zustands:
Er aber
hört das Samenkorn flüstern im Tod –
Und dann, im alttestamentarischen Heilsglauben :
Wer zuletzt
hier stirbt
wird das Samenkorn der Sonne
zwischen seinen Lippen tragen.
Im Samenkorn ist das Geheimnis, ist das Mysterium verschlossen. Es kann jede Stunde aufbrechen. Man weiß, daß das Ungeheure kommen wird. Ist es der Tod? Ist es der Messias? Ist es der Retter? Das Samenkorn gibt sein Geheimnis nicht preis. Erst im Tode. Der Tod gebiert das Leben.
In den Gedichten der Nelly Sachs stoßen wir auf das Wort vom ,durchschmerzen‘. In diesem Sinne hat sie ihre Gedichte ,durchschmerzt‘ und erfahren, ohne im Erlebnis und in der Beschreibung steckengeblieben zu sein. Die Zeit der Mörder, die Zeit der Verfolgung ist durch ,Flucht und Verwandlung‘ überwunden. Im Mysterium des Samenkorns und des Sandkorns findet sie das Synonym für Leben und Tod, und in der Anrufung der Gestalten aus dem Alten Testament die mythenbildende Kraft, die bis in unsere Zeit reicht. In diesen Bezirken hat Nelly Sachs ihre neue Heimat aufgeschlagen. Sprache als Heimat. Sprache als Verwandlung der Welt.
Horst Bienek, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.11.1965
– Über Nelly Sachs. –
Von Karl Kraus stammt der Satz:
Künstler sollten Rätsel schaffen, nicht Lösungen.
Bei Nelly Sachs heißt der Satz anders und wird auch anders betont:
Künstler sollen Rätsel schaffen, nicht Verbrecher.
Sie nimmt mit ihrem einfachen und geheimnisvollen Werk den Mördern das Recht, uns etwas Schwerverständliches zu hinterlassen, und erobert dieses Recht denen zurück, denen es zusteht. Nur der, der ein Recht hat, verstanden zu werden, darf sich schwerverständlich ausdrücken. Nelly Sachs ist nicht die Vertreterin von etwas, was an sich zu kompliziert wäre, um gehört zu werden, sondern die Anwältin dessen, was die Welt gerettet hätte, wenn es gehört worden wäre.
Als ich vierzehn Jahre alt war, sollte ich in meiner Schule Gedichte von Nelly Sachs vortragen. Damals las ich Franz Rosenzweig, und beider Namen, beider Werk verband, verflocht, durchdrang sich vor mir, wurde ein Paar, ein mystisches selbstverständlich, und sein Aufruf, die Menschendinge bis dorthin zu treiben, wo „Gott beginnt“ – ich wußte nicht mehr zu sagen, von welchem der beiden er gedacht, gedichtet worden war, weiß es bis heute nicht – „Ein Vogelzeichen durch die Luft“.
Den meisten jüdischen Autoren, die die Shoah überlebt hatten, war es schwergefallen, vielen war es unmöglich gewesen, wieder in Deutschland zu veröffentlichen. Sie fürchteten die geistige Nachbarschaft des Nationalsozialismus und auch eine personelle Kontinuität in deutschen Verlagen. Ihre Furcht war begründet. Um so wichtiger waren die neuen Verlage und Zeitschriften. Nelly Sachs’ Band In den Wohnungen des Todes erschien 1947 im zwei Jahre zuvor gegründeten Aufbau Verlag in Ost-Berlin, Sternverdunklung 1949 bei Peter Suhrkamp in West-Berlin. Die Geschichte von Nelly Sachs’ Veröffentlichungen im Nachkriegsdeutschland beginnt mit Skepsis, Verstörungen, Mißverständnissen – „Verse des Mitleids“ war der Titel des ersten Abdrucks nach 1945 – und ist doch die Geschichte einer Annäherung.
Heute wird die Ausstellung über die „Schriftstellerin Berlin/Stockholm“ eröffnet, und zugleich erscheint die kommentierte Ausgabe ihrer Werke. Ihre Gedichte, die szenischen Dichtungen, ihre Prosastücke und Übersetzungen werden in vier Bänden zusammengeführt. Der Kommentar erschließt ihre geistige Welt und zeigt die Lebensbedingungen, unter denen diese Texte entstanden. „Lange haben wir das Lauschen verlernt!“, heißt eines der Gedichte aus In den Wohnungen des Todes. Dank des Kommentars verstehen wir die Textur, buchstäblich das Gewebe des Gedichts neu. „Einmal, in der Zeit der tiefsten Angst“, schreibt Nelly Sachs 1947 in einem Brief, „gab mir eine deutsche Freundin ein kleines Buch in die Hand. Es war die Buber-Rosenzweig-Übertragung des Jesaja. Als ich es sah und las und las, wußte ich, wohin mein Weg gehen muß. Denn diese Übertragung hatte nichts mit der lutherischen gemeinsam. Es war keine ,Verdeutschung‘, sondern ihr Erdreich war mitgerissen wie die blutigen Fetzen einer Geburt.“ Und die Neuschöpfung und -setzung von Buber und Rosenzweig – „wohlan, ich tue ein Neues, jetzt wächst es auf, erkennt ihrs nicht“ – geht aufs Gedicht über, Wort für Wort, Bild für Bild. Zugleich aber erfahren wir etwas über „die Zeit der tiefsten Angst“, die Jahre der Bedrohung im Nationalsozialismus, die tauben Ohren der Mitlebenden, die die Bedrohung, Entrechtung, die den Mord, den millionenfachen, nicht wahrnehmen wollten. „Mein ganzes Lebenswerk“, schreibt sie am 24. März 1959, eben heute vor 51 Jahren, an Johannes Edfelt, „ist aus der Quelle entstanden, da unter den 7 Jahren unter Hitler [von 1933 bis 1940] ein geliebtester Mensch zu Tode gemartert wurde und ich doch nicht den Glauben verlor: es sei unsere Mission auf Erden, diesen Staub zu durchschmerzen, zu durchleuchten, unser dunkel Vollbrachtes wird in einem unsichtbaren Universum eingetragen, ob gut, ob böse. Was wissen wir – wandern alle in Geheimnissen.“ Das Geheimnis wird zu einem Schlüsselbegriff. „Geheimnis brach aus dem Geheimnis“, heißt es im Schöpfungskapitel des Sohar. „Da schrieb der Schreiber des Sohar / und öffnete der Worte Adernetz / und führte Blut von den Gestirnen ein“, heißt es bei Nelly Sachs. Gedichte gehen nicht auf, immer lebt mehr in den Worten, als der Schreibende weiß und der Lesende erkennt.
In der Werkausgabe wie in dieser Ausstellung finden wir die Bibliothek von Nelly Sachs wieder, eine schmale, erlesene Bibliothek mit den Werken von Gershom Scholem und Martin Buber, den Gedichtbänden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Nelly Sachs hat sich nach 1950 mit der jüdischen Mystik befaßt, vielleicht darf ich so weit gehen zu sagen, sie hat die Shoah mit Erkenntnissen der jüdischen Mystik zu deuten versucht. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, Mystik sei etwas Ungefähres. Im Gegenteil: Die jüdische wie die christliche Mystik kennen die Mathematik als Königsdisziplin und suchen in ihren Bildern und Erklärungen Präzision. Man muß Nelly Sachs’ Gedichte genau lesen, um ihre Genauigkeit zu ergründen. Und Martin Bubers Grundsatz vom Mysterium der Person, seine Wendung gegen die „Entgeheimnisung“ des anderen, die wir bei Nelly Sachs wiederfinden, haben nichts Nebulöses an sich. Mit der Neuherausgabe ihres Werks wird man die Modernität, die Radikalität dieser Dichterin entdecken: die harten Fügungen, die kühne Bilderwelt, das bedingungslose Ernstnehmen von Gefühlen und das Außerachtlassen sich aufdrängender Normen, die wir Wirklichkeit nennen. Anselm Kiefer, der Seher unter den Malern, der Dichterseher im vedischen Sinn, bezieht sich in seinen Bildern wie in seinen Schriften auf Nelly Sachs, zuletzt in seiner großen Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2008.
Die Dichterin und ihr Werk sind durch Hans Magnus Enzensberger eng mit der Geschichte unseres Verlags verbunden. Er ist nicht allein Dichter seines eigenen großen Werks, er ist auch der Vermittler der Werke anderer Großer. Der junge Enzensberger, der genau in dem Augenblick, in dem Nelly Sachs ihren Einzug bei uns hielt, selber mit seinem Wörtersturm daherkam, mit der Verteidigung der Wölfe nämlich, wurde ihr Freund, ihr Fürsprecher. Und so schreibt sie 1960 an ihn:
ja, von Herzen gebe ich dir alles für deinen Suhrkamp Verlag.
Siegfried Unseld hat Nelly Sachs 1965 in Frankfurt begleitet, als sie in der Paulskirche den Friedenspreis in Empfang nahm, er war 1966 in Stockholm, als sie den Literaturnobelpreis erhielt, beide tauschten Briefe zwischen Schweden und Deutschland, Briefe zuweilen aus dem Krankenhaus, als Nelly Sachs’ Angst wiederkehrte. Der Briefwechsel zeugt von einer einzigartigen Verbindung zwischen Autorin und Verleger. Im Mai 1970 fährt Siegfried Unseld zu ihrem Begräbnis und berichtet später auf mehreren Seiten vom Abschied auf dem Jüdischen Friedhof in Stockholm. „Nachzutragen bleibt noch“, so heißt es in seinem Reisebericht, „daß es ein sehr kleiner Sarg war. Und in der Tat erinnerte dieser Sarg daran, daß Nelly Sachs, die ja von sehr kleiner Gestalt war, ihre ersten Nächte in Stockholm in einem Kinderbett geschlafen hat, weil sie und ihre Mutter provisorisch in einem verlassenen jüdischen Kinderheim untergebracht waren. Und noch ein zweites: auf einem Tisch in der Wohnung von Nelly Sachs war eine merkwürdige Holzmaserung, die wie ein Auge aussah. Darüber hat sie ein Gedicht geschrieben, das noch nicht veröffentlicht ist. [Es steht heute im zweiten Band der neuen Werkausgabe.] Ihr Sarg war aus hellem rohem Holz, und an der Stirnseite befand sich eine Maserung, die wie ein Auge aussah. Da hatte ich plötzlich den Eindruck, als ob Nelly Sachs noch einmal schauen würde, wer von den Freunden ihr diesen letzten Dienst erwiesen hat.“ Und Siegfried Unseld legt das Gedicht von Nelly Sachs bei:
Was siehst du Auge
in meinem Tisch
im Holz eingegraben –
haben wir die gleiche Sprache des Blicks
bist du in der Untiefe Nacht
näher dem Licht verwandt
ich grüße dich
geheimnisbeladenes Geschwister –
Ulla Unseld Berkéwicz, Sinn und Form, Heft 4, Juli/August 2010
SIE SCHRIEB IM DUNKEL
Für Ryszard Krynicki
aaaaaaaaaaaaaaaWährend sie in Stockholm wohnte, schrieb
aaaaaaaaaaaaaaaNelly Sachs nachts ohne Licht, um die
aaaaaaaaaaaaaaakranke Mutter nicht zu wecken.
Sie schrieb im Dunkel.
Die Verzweiflung diktierte ihr Worte,
die schwer waren wie ein Kometenzopf.
Sie schrieb im Dunkel,
in der Stille, die nur die Seufzer
der Wanduhr unterbrachen.
Selbst die Buchstaben waren schläfrig,
ihr Kopf fiel auf das Papier.
Die Dunkelheit schrieb,
indem sie diese nicht junge Frau
wie eine Füllfeder festhielt.
Die Nacht hatte etwas Mitleid mit ihr,
über der Stadt wuchs
das graue Gefängnis des Morgens,
die rosenfingrige Morgenröte.
Wenn sie einschlief,
erwachten die Amseln,
und es gab kein Ende
der Trauer und des Gesangs.
Adam Zagajewski
Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966
Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“
Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner
„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs
Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966
Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000
Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016
Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016
Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020
Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020
Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020
Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021
Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.
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