ABER VIELLEICHT
haben wir
vor Irrtum Rauchende
doch ein wanderndes Weltall geschaffen
mit der Sprache des Atems?
Immer wieder die Fanfare
des Anfangs geblasen
das Sandkorn in Windeseile geprägt
bevor es wieder Licht ward
über der Geburtenknospe
des Embryos?
Und sind immer wieder
eingekreist
in deinen Bezirken
auch wenn wir nicht der Nacht gedenken
und der Tiefe des Meeres
mit Zähnen abbeißen
der Worte Sterngeäder.
Und bestellen doch deinen Acker
hinter dem Rücken des Todes.
Diese Ausgabe der späten Gedichte ist absolut empfehlenswert. Enthalten sind darin die Bände Flucht und Verwandlung, Fahrt ins Staublose, Noch feiert Tod das Leben, und eine umfassendere Zusammenstellung der Glühenden Rätsel, als sie in dem von Enzensberger herausgegebenen Taschenbuch mit den „Gesamten Gedichten“ vorkommt. Wer mit diesem Buch einer großen jüdischen Dichterin begegnen will, ist an der richtigen Stelle und er oder sie wird feststellen, dass sie, wie Celan, auch andere Themen als die Shoah hat.
Nelly Sachs ist die Meisterin der verträumt leisen Poesie, die doch kräftig und punktgenau sagt, was sie zu sagen hat. Das ist eine ambivalente Mischung, die den Reiz ihrer Lyrik ausmacht. Mal scheinen ihre Worte nur zu wispern, dann wieder brüllen sie uns schmettern einem die Gefühle um die Ohren. Und trotzdem fühlt man sich in jedem Wort geborgen und Zuhause. Die große Kunst einer großen Lyrikerin, die sich ihren Weg in den Klassikerhimmel erkämpfen wird.
Das dichterische Werk von Nelly Sachs, der in diesem Jahr in Frankfurt der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zuerkannt wurde (vgl. Die Tat vom 5.3.1965), war nach dem Kriege in verschiedenen kleinen Verlagen erschienen, bis der Suhrkamp Verlag 1961, zum 70. Geburtstag der Dichterin, ihr lyrisches Werk in dem Band Fahrt ins Staublose sammelte. Diesem Buch folgte ein Jahr später eine Sammlung szenischer Dichtungen unter dem Titel: Zeichen im Sand. Neben diesen beiden umfangreichen Bänden sind inzwischen auch einige Taschenbuchausgaben erschienen, die das Werk der Dichterin auch dem Kreis weniger zahlungskräftiger, also vor allem junger Leser, zugänglich machen: Ausgewählte Gedichte (edition suhrkamp, Nr. 18), Das Leiden Israels (edition suhrkamp, Nr. 51), und Glühende Rätsel (Insel-Bücherei Nr. 825). Hinzu kommt nun der Band Späte Gedichte in der Bibliothek Suhrkamp. Er enthält die Texte der letzten Gedichtsammlungen Fahrt ins Staublose und Noch feiert Tod das Leben, ausserdem den Zyklus „Glühende Rätsel“, dessen Teile I und II schon 1963 und 1964 gedruckt worden waren, dessen dritter Teil aber erstmals in diesem Buch vorgelegt wird.
Karl Krolow: Nelly Sachs. Späte Gedichte
Universitas, Heft 11, 1965
Walter A. Berendsohn: Der Mensch im Kraftfeld des unsichtbaren Universums
Nelly Sachs zu Ehren II
Johann Siering:
Neue Deutsche Hefte, Heft 108, 1965
Als ich am 10. Dezember 1966 im Fernsehen die feierliche Zeremonie der Überreichung des Nobelpreises an die verschiedenen Preisträger abrollen sah, hatte ich in der Tat den Eindruck, einen Festtag zu erleben, aber zugleich erinnerte ich mich an die fünf Worte, die Pasternak zu seiner Zeit an die Schwedische Akademie telegraphierte, als er sich für den ihm 1958 zuerkannten Preis bedankte, den anzunehmen ihm unmöglich war – fünf Worte von ergreifender Aufrichtigkeit und Einfachheit:
Dankbar, gerührt, stolz, erstaunt, verwirrt…
Und in diesem Augenblick sah ich die gleichen Gefühle auf den Gesichtern der neuen Preisträger. Indessen, als Agnon in den Saal geschritten war und die Dichterin Nelly Sachs neben ihm Platz genommen hatte, sah ich auf ihrem Gesicht weder Freude noch Stolz. Das Gesicht von Nelly Sachs schien tatsächlich einer anderen Welt anzugehören, es trug nicht nur die Züge des Alters und der persönlichen Sorgen, sondern auch die der Furcht und des Leidens eines ganzen Volkes, eines ausgerotteten, ermordeten Volkes. Da entsann ich mich der Verse des „Chors der Geretteten“:
Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich −
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sein, es könnte sein,
Daß wir in Staub zerfallen −
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Nelly Sachs ist zugleich mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon geehrt worden. Wie sollten wir uns nicht freuen, wir Juden der ganzen Welt, diese hohe, internationale Auszeichnung zum erstenmal einem der Unseren verliehen zu sehen, und wie werden wir nicht berechtigten Stolz darüber empfinden, daß die Schwedische Akademie auf diese Weise die Zugehörigkeit der beiden Preisträger zur jüdischen Rasse betont hat? Zwar ist einer vom anderen entfernt durch die Themen, die beide behandeln, und auch durch die Sprachen, in denen sie sich ausdrücken – Agnon auf hebräisch, Nelly Sachs auf deutsch −, dennoch stehen sie nah beieinander, denn beide schöpfen aus derselben jüdischen Quelle.
Haben die Gedichte von Nelly Sachs die gleiche Resonanz wie jene der Autoren, Dichter und Dramatiker, die bereits einen Nobelpreis empfingen? Wir hoffen sehnlich, daß es so ist. Aber wie auch die lyrische und dramatische Intensität derjenigen sein mag, die zuvor von der Schwedischen Akademie geehrt wurden, immer gehören sie zu dem, was man große Literatur nennt. Nelly Sachs indes hat nie „Literatur“ gemacht. Die Quelle ihrer Inspiration, aus der ihre Gedichte strömen, hat kein anderer Schriftsteller je gekannt. Nelly Sachs erscheint uns wie auf den Ruinen sitzend, den Ruinen, welche die großen Prüfungen des jüdischen Volkes übriggelassen haben. Daher kommt es, daß ihr dichterisches Werk kein lyrisches Werk im gewöhnlichen Sinn des Worts ist, ihr dramatisches Werk kein vergleichbares unter denen der anderen Dramatiker hat. Ihr ganzes Werk ist nur ein einziger Schrei, ein erstickter Schrei, ein Hilferuf, ein Gebet, das den Himmel anruft und das der Himmel nicht erhört… Darum mischt sich, wenn wir den Namen dieser weinenden Frau aussprechen, stets ein Gefühl tiefer Trauer in unseren Stolz, wie es in „Selihah“ von Troyes geschrieben steht:
Getrübt ist unsere Fröhlichkeit, getrübt ist unsere Freude.
Nelly Sachs wurde am 10. Dezember 1891 in Berlin von jüdischen Eltern geboren. Sehr früh begann sie – wie sie es auch in der Folge tat – auf deutsch Gedichte und Erzählungen zu schreiben. Jeder mit der Linguistik nicht vertraute Leser wird erstaunt sein, die jüdische Seele in dieser germanischen Sprache ausgedrückt zu finden, und die Juden selbst sind überrascht, daß eine Dichterin sich in dieser Sprache zu ihrem Wortführer gemacht hat. Stellen wir hier nur fest, was jene bestätigen werden, denen die Entscheidung der Schwedischen Akademie mißfallen hat: die Juden sind seit Jahrtausenden ein vielsprachiges Volk.
Ein seltsames Volk übrigens, das in der Tatsache, keine eigene Sprache zu besitzen, in der es seine Gefühle, seine Erinnerungen und Gedanken ausdrücken könnte, keinem anderen gleicht. Dagegen hat es sich im Laufe seiner langen Irrfahrten dem Volk, in dessen Mitte es leben mußte, anzupassen und sich seine Sprache anzueignen verstanden. So war sein Volksschicksal ein dauerndes Exil. Kann man sagen, daß es durch diese Art Mimikry seine jüdische Besonderheit verloren hat? Doch das ist eine andere Sache… Uns interessieren hier nur die Werke, die – obwohl in verschiedenen Sprachen geschrieben – nicht den Ursprung der Quelle verleugnen, aus der sie geschöpft haben, und auf diese Weise spezifisch jüdisch geblieben sind. PhiIon von Alexandrien war ein jüdischer Philosoph, obwohl er auf griechisch schrieb, damit die damals in Ägypten lebenden Juden die Version seiner „Septante“, die für sie geschrieben war, verstehen konnten. Flavius Josephus, Kollaborateur der Römer, ist in seinen auf griechisch geschriebenen Werken zutiefst Jude. Moses Maimonides schrieb seine Hauptwerke auf arabisch, sie wurden – unter dem Titel Mouh Nevukim ins Hebräische übersetzt – in der Folge der Leitfaden mehrerer jüdischer Generationen. Und wieviel andere jüdische, jüdisch-spanische und jüdisch-provençalische Werke gibt es? Ist die „Selihah“ von Troyes nicht jiddisch, weil sie im Altfranzösischen geschrieben wurde?
André Spire, Edmond Fleg und vor kurzem Elie Wiesel haben es verstanden, in ihren französischen Werken – wie auch Israel Zangwill in seinen englischen – zutiefst Juden zu bleiben. Man könnte übrigens auch von Süßkind von Trimberg sprechen, der in rheinischem Mittelhochdeutsch schrieb, von Meir Ahron Goldschmiedt, dem Verfasser eines dänischen jüdischen Romans, von Heinrich Heine, dem berühmten deutschen Dichter, von der Dichterin Else Lasker-Schüler, dem Dichter Karl Wolfskehl… Alle sind Juden, denn in der Sprache, die sie benutzten, weil sie darin aufgewachsen waren, dachten sie jüdisch. Und Martin Buber! Gewiß hätten viele jüdische Leser seine Werke lieber auf hebräisch gelesen, aber hat er nicht auf diese Weise die jüdische Bewegung von der übrigen Welt entdecken lassen?
Jedenfalls ist es historisch erwiesen, daß alle sogenannten „fremden“ Sprachen, Griechisch oder Latein, Arabisch oder Französisch, Englisch oder Deutsch, assimiliert und jüdisch geworden sind von dem Augenblick an, in dem die echten Juden ihnen etwas vom jüdischen Denken eingeflößt haben. So sind zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Philosophen, Historiker der jüdischen Tradition treu geblieben. Es spielt keine Rolle, ob sie mehrsprachig geworden sind, wie es bei der großen Dichterin Nelly Sachs der Fall ist, von der man sagen kann, daß sie durch und durch jüdisch ist, gerade weil sie es verstanden hat, in der deutschen Sprache die Worte für das von einem unmenschlichen deutschen Regime auferlegte Leiden zu finden.
Schon in ihrer frühesten Jugend hat Nelly Sachs auf deutsch zu schreiben begonnen und auch weiterhin diese Sprache stets benutzt. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie Erzählungen und Märchen verfaßt, die unbekannt geblieben sind. Vielleicht hätten sie für uns keinen besonderen Wert gehabt; Nelly Sachs indes legte ihnen eine große Bedeutung bei und pflegte sie Selma Lagerlöf (der ersten weiblichen Nobelpreisträgerin im Jahr 1909) zu schicken, die sie schätzte. Die beiden Frauen setzten lange ihre schriftliche Verbindung fort.
Während und nach dem Ersten Weltkrieg fuhr Nelly Sachs zu schreiben fort, doch schienen die Ereignisse dieser Zeit ihr Schaffen nicht beeinflußt zu haben, nicht mehr, als es bereits der bestimmte Charakter der jüdischen Rasse getan hatte. Sie, die in ihrem „Eli“ zum erstenmal folgenden Satz geschrieben hat: „Die Juden sind überhaupt ein ahnendes Volk“, hatte um diese Zeit noch nicht geahnt, was andere jüdische Schriftsteller bereits voraussahen, die ihren Werken bezeichnende Titel gaben wie: Die Menschheitsdämmerung (Kurt Pintus), Untergang der Welt durch schwarze Magie, Weltgericht, Die letzten Tage der Menschheit (Karl Kraus). Steht die Welt wirklich vor ihrem Untergang? Youra Sofer, ein in Buchenwald gestorbener jüdischer Dichter, hat auf deutsch geschrieben: „Gott! nimm nicht den Ton in deine Hände, um den Menschen zu formen.“
Nelly Sachs hat das alles noch nicht empfunden. Von 1933 an beginnt eine Zeit, in der „die Worte im Munde zerspringen“, und sie wird stumm. Ein anderer Dichter schreibt:
Hättet ihr auch Millionen von Worten zu eurer Verfügung, das einzige ist das Wort Tod.
Seit dem Auftreten der Hitler-Welt sind andere Worte aufgetaucht: Auslese, Gas… mit anderen Worten Mord, Vernichtung. Seitdem hört Nelly Sachs ein Geräusch von marschierenden und singenden Kolonnen:
Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, ja, dann geht’s noch mal so gut…
Erst da erwacht sie aus ihrem Schlaf wie später – zu spät – der französische Historiker Jules Isaac und der deutsche Dichter Karl Wolfskehl. Alle drei fragten sich:
Warum, warum diese Antwort voll Haß auf deine Existenz, Israel?
Erst jetzt wird ihnen die Katastrophe bewußt. Nelly Sachs hat keine Möglichkeit, dieser Hölle zu entfliehen, doch als der Engel des Todes schon über ihr schwebt, geschieht das Wunder. Dank der Intervention Selma Lagerlöfs bei dem schwedischen „Malerprinzen“ Eugen, dem Bruder Gustavs V., kann sie Berlin im Jahr 1940 verlassen und nach Stockholm emigrieren.
Noch schreibt sie nicht. Elend lebt sie mit ihrer Mutter in einem kleinen Zimmer; Selma Lagerlöf war zur Zeit ihrer Ankunft gestorben. Aber sie hört, was in den „Wohnungen des Todes“ vor sich geht; von da an weiß sie, daß „die Sterne sich verdunkelt haben“, und leidet unter dem jüdischen Leid. Sie beginnt die heiligen Bücher der Juden zu lesen. Natürlich kennt sie bereits die Bibel in ihrer deutschen Übersetzung und die Geschichte des jüdischen Volkes, jetzt wendet sie sich dem Baal Shem und Sassover zu und vertieft sich in den Charme jüdischer Volkslieder in der schönen deutschen Übersetzung von Ludwig Strauß. Und alles das fügt sie in ihre späteren Gesänge ein, denn die Stunde ist nah, da sie ein erschreckendes Werk schreiben wird, das Werk, in dem sie selbst lebt und uns die Qualen, das Erhängen und Erdrosseln ihrer Brüder und Schwestern miterleben läßt. Im Laufe des Winters 1943 erfährt sie, daß ihr bester Freund, das Martyrium für die „Heiligung des Namens“ erduldend, dort unten umgekommen ist. Krank, verzweifelt, völlig mittellos, schreibt sie in drei Nächten „Eli“, eine Art Mysterienspiel, das die Leiden und Martern Israels beschwört und siebzehn Szenen auf weniger als sechzig Seiten enthält.
„Eli“ ist kein Theaterstück im gewöhnlichen Sinne. Die aufeinander folgenden Bilder schildern in ihrer furchtbaren Wirklichkeit die Szenen des Grauens, die sich in einem zerstörten polnischen Dorf nach der Besetzung durch die Nazis ereignen. Alle Personen sind anonym, außer dem Schuhmacher Michael, der sich in seiner Seele und seinem Gewissen berufen fühlt, den jungen Soldaten aufzufinden, der den Hirtenknaben Eli mit einem Kolbenschlag niederstreckte, in dem Augenblick, als seine Eltern abgeholt wurden, um ermordet zu werden. Einige symbolische Gestalten ziehen im Laufe des Dramas vorüber: ein Bauer, ein Maurer, ein Bettler, ein Gärtner, ein Scherenschleifer, eine Wäscherin und Kinder, die jiddische Volkslieder singen. Eins dieser Lieder beginnt folgendermaßen:
Es war einmal eine Märe, die Märe ist gar nicht fröhlich…
Sie spielen und wissen nicht, daß ihre unschuldigen Worte den Vorfall auslösen werden. Man sieht ermattete Flüchtlinge stumm, taub und blind werden, Mütter ihre toten Kinder zudecken und überall Tote, Tote, Tote! Man hört die Flüche der Mörder, das Knacken von Fingern, die erwürgt haben, von Fingern der Routiniers, die eine neue Methode der Vernichtung entdeckt haben, von Fingern der Kapellmeister, die die Begleitmusik des Todes dirigieren. Auch die Stimme eines Baumes, der als Galgen dient, hört man und die Stimme der Schornsteine, aus denen der Rauch des Feuers aufsteigt, das Menschen in Asche verwandelt hat.
Eli erschien 1951, ihm folgten Gedichtsammlungen: In den Wohnungen des Todes, Die Sternverdunkelung usw. … Die literarische Kritik in Deutschland empfand ihre Werke als einen Schock und machte viel Aufhebens um die „letzte große, auf deutsch schreibende Dichterin“. Eli wurde in Frankfurt aufgeführt, und Nelly Sachs erhielt nacheinander mehrere literarische Preise, unter ihnen 1965 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Auch wurde ein Nelly-Sachs-Preis gestiftet. Die Kritik suchte sie zu klassifizieren, indem sie bei ihr eine literarische Verwandtschaft entdeckte, man fand eine Ähnlichkeit mit Hölderlin heraus und erklärte, die Struktur ihres Stückes gemahne an die expressionistische Schule. So wurde Nelly Sachs, noch ehe sie den Nobelpreis erhielt, in die „große Literatur“ aufgenommen. Enzyklopädien, literarische Lexika sprechen von ihr und ihrem Werk, ihr zu Ehren werden Anthologien herausgegeben. Unter anderen Lobeshymnen heißt es, sie repräsentiere „das verlorene und wiedergefundene Alphabet des Kosmos“, sie sei das „transzendentale Ich“, die „Vergeistigung“, durch die sich das göttliche Licht offenbare.
Dennoch sollte man so nicht reden, wenn man Eli, „Die Chöre nach Mitternacht“ oder „Grabschriften, in die Luft geschrieben“ gelesen und ihren Schrei gehört hat:
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft!
Wenn man die strangulierenden Hände sieht und die Finger, welche die Begleitmusik für jene dirigieren, die zum Tode gehen, wenn in jedem ihrer Gedichte, jedem ihrer Verse der Gesang des De profundis, die Schreie der Furcht und der Angst von Millionen von Juden widerhallen, dann scheint es, als sei man mit Nelly Sachs in all den Lagern des Todes zugegen – in Treblinka, Maidaneck, Dachau, Bergen-Belsen, Auschwitz, Buchenwald, Mauthausen −, an all den Sammelplätzen des Todes, all den Zentren der Selektion und der Gaskammern… Wie also könnte man vom rein ästhetischen Standpunkt aus eine gültige Würdigung eines solchen Werkes geben?
Schon wenn man den Namen Nelly Sachs hört, sieht man vor sich eine alte Frau, die nicht einmal mehr weinen kann, so restlos sind ihre Tränendrüsen seitdem ausgetrocknet, eine Frau, die nun wie versteinert sitzt, wie Jeremias sagt.
Sie sitzt in sich versunken, und nur Michelangelo könnte das Bild dieser trauernden Mutter wiedergeben, denn sie hat gesehen, was Jeremias schildert:
Ich schaute das Land an, siehe, das war wüst und öde,
Und den Himmel, und er war finster.
Ich sah, und siehe, da war kein Mensch,
Und alle Vögel unter dem Himmel waren weggeflogen.
und weiter:
Mein Herz! Mein Herz!
Ich leide im tiefsten Herzen!
Mein Herz ist unruhig: Ich kann nicht schweigen!
Auch Nelly Sachs kann nicht schweigen. Eine unbesiegbare Kraft zwingt sie, vor der ganzen Welt zu bezeugen, zu sagen, was sie gesehen, gehört und empfunden hat, mit anderen Worten, alles, was die Opfer selbst empfunden haben. Und wie alles geschehen ist in Gegenwart von Zeugen, vor Tribunalen, welche die Zeit Luthers heraufbeschwören, auch sie kann ihre Sätze nicht vollenden, die Worte zerspringen ihr auf den Lippen… und ihr Schweigen trägt weiter und lauter als ein Schrei. So hören wir zum Beispiel die Stimme aus dem Schornstein:
Wir Steine sind die Letzten, die Israels Leib berührten,
Jeremias Leib im Rauch,
Hiobs Leib im Rauch,
die Klagelieder im Rauch,
der kleinen Kinder Wehklagen im Rauch,
der Mütter Wiegenlieder im Rauch –
Israels Freiheitsweg im Rauch −
Und hier spricht ein Baum:
Blut drang an meine Wurzeln −
Alle Vögel, die in meiner Krone nisteten,
hatten blutige Nester.
Jeden Abend blutete ich von neuem −
Meine Wurzel steigt aus ihrem Grabe −
Und jetzt hören wir die Stimme der Nacht:
Hier sind ihre letzten Seufzer;
ich bewahrte sie für dich,
fühle sie!
Ihre Wohnungen sind in den nie alternden Lüften −
in den Atemzügen Kommender,
unbegreiflich in der Trauer der Nacht −
Wir lesen in Sternverdunkelung:
Nacht, Nacht,
daß du nicht in Scherben zerspringst,
nun, wo die Zeit mit den reißenden Sonnen
des Martyriums
in deiner meergedeckten Tiefe untergeht −
die Monde des Todes
das stürzende Erdendach
in deines Schweigens geronnenes Blut ziehn −
Nacht, Nacht,
jetzt bist du der Friedhof
für eines Sternes schrecklichen Schiffbruch geworden −
sprachlos taucht die Zeit in dir unter
mit ihren Zeichen:
der stürzende Stein
und die Fahne aus Rauch!
Und nun zeigt uns Nelly Sachs die Hände der Mörder:
Hände
Der Todesgärtner,
Die ihr aus der Wiegenkamille Tod,
Die auf den harten Triften gedeiht
Oder am Abhang,
Das Treibhausungeheuer eures Gewerbes gezüchtet habt.
Hände,
Was tatet ihr,
Als ihr die Hände von kleinen Kindern waret?
Hieltet ihr eine Mundharmonika, die Mähne
Eines Schaukelpferdes, faßtet der Mutter Rock im Dunkel…
Ihr würgenden Hände,
War eure Mutter tot,
Eure Frau, euer Kind?
Daß ihr nur noch den Tod in den Händen hieltet,
In den würgenden Händen?
Genügt das? Hören wir noch:
Schon vom Arm des himmlischen Trostes umfangen,
Steht die wahnsinnige Mutter…
Mit den Zundern ihres verbrannten Verstandes
Ihr totes Kind einsargend…
Ihre Hände zu Krügen biegend,
Aus der Luft füllend mit dem Leib ihres Kindes,
Aus der Luft füllend mit seinen Augen, seinen Haaren
Und seinem flatternden Herzen −
Dann küßt sie das Luftgeborene
Und stirbt!
Schließlich die Erzählung der Wäscherin in Eli von dem Tod des Hirtenknaben:
Ist der Eli im Nachthemd seinen Eltern nachgelaufen,
In der Hand die Pfeife,
mit der er gepfiffen hat auf der Weide,
den Lämmern, den Kälbern – …
Und als der Eli sah,
mit seinen achtjährigen Augen sah,
wie sie antrieben seine Eltern…
hat er die Pfeife an den Mund gesetzt und hat gepfiffen…
den Kopf hat er geworfen nach hinten,
wie die Hirsche, wie die Rehe,
bevor sie trinken an der Quelle,
Zum Himmel hat er die Pfeife gerichtet,
zu Gott hat er gepfiffen, der Eli ..
Ging ein Soldat mit im Zuge,
sieht sich um nach dem Eli,
wie der pfeift, hoch zum Himmel −
schlägt ihn tot mit dem Kolben seines Gewehres.
War der Soldat noch ein junger, sehr Junger…
Hier einige Verse, die gewiß zum Verständnis einer Dichterin verhelfen, die gesehen hat,
wie man die Welt geteilt hat in zwei Teile,
wie man einen Apfel zerschneidet.
In zwei Teile: heute und morgen.
Und wie kann man sie trösten, sie, die gesehen hat, wie
man hat ihnen befohlen, eine Grube zu graben,
und hat sie ihre eigenen Toten berühren lassen,
man hat ihre Leiber erschlagen
und, was übrig blieb, in die Grube geworfen…
Doch können wir sie trösten, sie und auch wir entsinnen uns der Worte Jeremias:
Du wirst noch Weinberge pflanzen
Auf den Bergen von Samaria.
Wann? Vielleicht, wenn der Ruf ertönt:
Völker der Erde,
Zerstöret nicht das Weltall der Worte,
Zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
Den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.
Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt −
Und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht…
Weil Nelly Sachs sich davor gehütet hat, sich in ihren Mysterienspielen und ihren Gedichten gekünstelter und „schöner“ Worte zu bedienen, sondern weil sie einfache Worte benutzt hat, die „aus dem Klang heraus“ geboren wurden, kommt ihr ein Platz unter den großen Dichtern zu.
Josef Bernfeld, aus: Nelly Sachs: Gedichte, Coron-Verlag
DAS ALPHABET
Nelly Sachs gewidmet
Wo der Schmerz ist
hat nichts anderes Platz
Er ist alles:
es gibt keine Uhrzeiger mehr
keine Münzen
keine Gewehre
keine Gebete
Wind und Baum sind nicht mehr
keine Farben keine Bilder
nicht mehr Formeln
nicht mehr Koordinaten
keine Schlupfwinkel
keine Zitate
keine Feinde
Es gibt nur noch ein Alphabet:
den Schmerz
Horst Bienek
Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966
Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“
Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner
„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs
Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966
Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000
Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016
Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016
Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020
Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020
Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020
Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021
Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.
Nelly Sachs – Lesung und Interview aus dem Jahr 1965.
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