Nelly Sachs: Und Niemand weiss weiter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nelly Sachs: Und Niemand weiss weiter

Sachs-Und Niemand weiss weiter

NUR im Schlaf haben Sterne Herzen
und Münder.
Ebbe- und Flut-Atem
üben mit den Seelen
die letzte Vorbereitung.
Und die Felsen, die aus dem Nassen steigen,
die schweren Albgesichter,
sind doch
vom Stemmeisen der Sehnsucht durchbohrte
brennende Walfische −
Wie aber wird Liebe sein
am Ende der Nächte,
bei den durchsichtig gewordenen Gestirnen?
Denn Erz kann nicht mehr Erz sein,
wo Selige sind −

 

 

 

Beiträge zu diesem Buch:

Moses Pergament: Nelly Sachs
Stockholm-Tidningen, 31.1.1958

Walter A. Berendsohn: Magie seltsamer Bilder
Weser-Kurier, 13.11.1957

 

Das geschriebene Schweigen der Opfer

– Zum Werk der Nelly Sachs. –

Die Deutschen haben ein irritierendes und irritiertes Verhältnis zu einer ihrer größten Lyrikerinnen: Sie wird als Gesinnungsbollwerk bei Feiern und Kongressen hinter immergrünem Gesträuch, das in einer geschundenen Sprache „Saalbegrünung“ heißt, und mit Orchesterassistenz ausgebeutet zum Vorzeigen als Bewältigungsvehikel. Sie hat als Ornament mehr als zweifelhafter Wiedergutmachungsrituale eine Art von Paulskirchenreife, die ihr 1965 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels auch offiziell attestiert worden ist – dem „Preis“ eines „Handels“, in dessen Regalen ihr Werk so wenig präsent ist, daß man immer wieder auf das Sortimenter-Orakel „vergriffen“ stößt. Eine vergriffene Autorin ist begehrt als Sühnealibi und als Zeugin eines Leidens, das die Deutschen am liebsten von den Opfern selbst formulieren lassen. Man vergreift sich an ihr als herbeizitierter Verdrängungshelferin und Gewissensdekorateurin, aber sie wird wenig gelesen, auch an den Schulen und Universitäten kaum wahrgenommen. Wie man von Paul Celan in der Regel nur die „Todesfuge“ kennt und zitiert, so von Nelly Sachs am ehesten noch „O die Schornsteine“. Solche Gestalten scheinen uns über den Vorzeigenutzen hinaus lästig zu sein, und so bleiben sie auch als exilierte Tote in der Verbannung in Schweden oder Frankreich. Man wird auch von ihrem Werk nicht sagen wollen, daß es heimgekehrt sei, so wie Celan und Nelly Sachs leibhaftig nicht heimkehren wollten – was hätte ihnen „heim“ sein sollen? Und sie waren zudem keine eilfertigen Selbsteinordner in die Geschichte der Poesie, die sich und ihr Werk als Teil literarhistorischer Zusammenhänge sehen.
Nach einhelligem Zeugnis hat die 1891 geborene Berlinerin Nelly Sachs, speziell in ihren fünf Lebensjahrzehnten vor der Emigration nach Stockholm 1940, sich nicht auffallend um die literarische Landschaft und Szenerie gekümmert und bemüht, in der sie lebte und schrieb. Dennoch sehen wir mit wachsendem zeitlichen Abstand immer markanter und profilierter, daß sie in der Reihe der großen jüdischen Lyrikerinnen und Lyriker der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts einen zentralen Platz hat zwischen Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar und Paul Celan. Sie ist auch Teil des Netzes der Tradition, das sich zwischen diesen Positionen spannt. Sie ist Gertrud Kolmar in Berlin bei Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes wohl begegnet, war mit Paul Celan in einer Art Freundschaft über räumliche und später auch psychische Distanz verbunden. Dennoch hat sie wohl kaum sich auf die Seiten einer Literaturgeschichte plazieren wollen, die diesen Zusammenhang darstellt und kartiert.
Sie war freilich alles andere als traditions- und kontextlos. Das zeigen Ihre drei schwedischen Jahrzehnte von 1940 bis zu ihrem Tod 1970, in denen sie mit wachsender künstlerischer Sicherheit und auch Bekanntheit sich in den literarischen Konnex ihres Zufluchtslandes hineinlebte, mit schwedischen Intellektuellen und Schriftstellern Lebens- und Literaturbezüge aufbaute und deren Werke ins Deutsche übersetzte. Es sieht so aus, als ob Nelly Sachs den literarischen Kontext vor allem in und mit Schweden wahrnahm, ihn später erst mit wachsendem Ruhm auch mit jüngeren deutschen Autoren wie Hans Magnus Enzensberger und Peter Hamm fand. Sie stellte sich nicht in Zusammenhänge, aber sie steht in solchen, in denen sie heute auch zu lesen ist: in deutschen, in schwedischen, übergreifend in jüdischen, besonders denen der jüdischen und auch christlichen Mystik, und in historischen Kontexten der Geschichte deutschsprachiger Literatur, auf die besonders Gisela Bezzel-Dischner wiederholt hingewiesen hat: Nelly Sachs ist immer deutlicher wahrzunehmen in einer von Klopstock und besonders von Hölderlin über Trakl und den späten Rilke bis zu ihr und Celan verlaufenden Tradition des hymnischen und elegischen Preisens und Klagens, des Tanzens mit Worten, Rhythmen und Versen. Sie gehört zu den großen hieratischen und verkündenden Autoren unserer Literatur, die in einer Art stellvertretendem Priestertum oder in der Not übernommener, jedenfalls nicht herrisch angemaßter Zeugenschaft die wesentlichen Erfahrungen, Leiden, Schmerzen und auch Utopien der Gemeinschaft vorsingen und sagbar machen, auf jeden Fall erinnernd aufbewahren: Ihre Werke haben jeweils eine Tendenz zum Status heiliger Schriften, wobei diese Würde in der Regel von solchen Autoren eher verfehlt wird, die sie ausdrücklich prätendieren, wie das an manchen Gedichten Stefan Georges und auch schon Klopstocks zu studieren ist, in denen der herrische Anspruch ins Stolzieren gerät. Das ist den Texten der Nelly Sachs nicht widerfahren, die höchstens an wenigen Stellen die Grenze zur Sentimentalität streifen.
Natürlich sind Leidenserfahrungen und Schicksale einer deutschen Berliner Jüdin immer wieder an den ausdrücklichen Gehalten und Motiven ihrer Gedichte und dramatischen Szenen wie an historischen oder auch biografischen Dokumenten abgelesen worden, wobei es an jenen verfänglichen Stilisierungen der Nelly Sachs zur gesellschaftlich beauftragten Bewältigungs- und Entlastungsexpertin nie gemangelt hat, der man als einer Art lyrischer Sühneverweserin all die versäumte Buße zur Buchhaltung übergab. Viel eher als die inhaltlichen und thematischen Zuschreibungen werden die ästhetischen und formalen Eigenheiten ihrer Texte sprechend. Die Lebenserfahrungen einer Wandernden und unter Gefahren in allerletztem Augenblick Emigrierenden werden in ihren Gedichten sozusagen auf der Textfläche für den Lesenden anschaubar in einer beherrschenden Eigenart, die man in terminologischer Not Territorialisierung oder Kontinentalisierung nennen müßte: Ihre Gedichte werden zu Räumen, zur „Landschaft aus Musik“, zur „Landschaft aus Schreien“, zu Textflächen und -kontinenten auf der Druckseite, die mit allen Sinnen vom Lesenden in den verschiedensten Richtungen zu durchwandern sind, beileibe nicht nur in der bei uns üblichen Leserichtung, die ja im Hebräischen, Arabischen und in anderen Kulturschriften ohnehin von der unseren völlig unterschieden ist. Das Gedicht „Wieviele Meere im Sande verlaufen“ etwa – eine im Text kopfstehende Topfpflanze – verlangt geradezu danach, grafisch herumgedreht und auf die Füße gestellt zu werden, womit dann der Wurzelballen des entscheidenden Wortes „Du“ unten wäre und jenes kostbare Wort als zu schützende Pflanze oben.
Nelly Sachs’ Texte werden zu Schrifttafeln, nicht unähnlich den mosaischen oder auch den steinernen Schriftzeugnissen aus den uralten Kulturräumen des Orients. Eine Geografisierung und Geologisierung des räumlich Gesagten vollzieht die besonders auch jüdische Erfahrung nach, daß das Volk des alttestamentarischen Gottes ein Kollektiv der durch die Räume und durch die Geschichte Wandernden und Zerstreuten ist, daß die Erfahrung der zwangsweise zu verlassenden Orte und der im Leiden zu durchmessenden Räume das Schicksal dieses Volkes ist. Die Ortlosigkeit, das, was eine andere deutsche Autorin unserer Zeit als „Kein Ort. Nirgends“ bezeichnete, wird zum Überall der in die Zerstreuung Vertrieben. Die Länder selbst werden zu Wandernden:

Bereit sind alle Länder aufzustehn
von der Landkarte. Abzuschütteln ihre Sternenhaut
die blauen Bündel ihrer Meere
auf dem Rücken zu knüpfen
ihre Berge mit den Feuerwurzeln
als Mützen auf die rauchenden Haare zu setzen.

Bereit das letzte Schwermutgewicht
im Koffer zu tragen, diese Schmetterlingspuppe,
auf deren Flügeln sie die Reise einmal
beenden werden.

Die emigrierenden Länder werden zur Schrift, zum Raum-Ereignis der Textseite – die Konvergenz zwischen Raum und Text, zwischen Geografie und Schrift vollzieht sich allenthalben. Die Buchseite wird zur Geografie eines Kontinents und mehr noch zu seiner Geologie, in deren Schichtenfolge sich die Erinnerung ablagert.
Kontinentalisierung und Geologisierung als Wahrnehmungs- und Darstellungsformen sind so beherrschend, daß die Sprechende sich selbst als Erdteil erfährt und ausspricht:

Haar, mein Haar,
ausschlagend in knisternden Funken –
einer Wüste Ginsterstrauch,
erinnerungsentzündet.

Haar, mein Haar,
welcher Sonnenglutball
ist in deine Nacht
zur Ruhe gelegt worden?

Schriftlandschaft wird der Körper der Sprechenden. Der Text verkörpert sich, der Körper wird Text, der Text wird Kontinent – ein Universum der Schrift, hinter dem die Schriftmagie der jüdischen, speziell kabbalistisch-mystischen Tradition lesbar wird. Auch Gedichte der Gertrud Kolmar („Die Unerschlossene“: „Ich bin ein Kontinent, der eines Tages stumm im Meere versinkt“) entwerfen den Körper der Sprechenden als Erdteil, in das die Rinnsale der Qualen und Leiden, die Wasserstürze der Ekstase eingeschrieben sind als geomorphologische Berg-und-Tal-Modellierung – das Gedicht als Kontinuum und Kontinent historischer Erfahrung, die Buchseite als Atlaskarte, auch als Karte jenes Atlas, der die Erd- und Himmelslasten trägt, so wie die Sprechende unter den Leidgebirgen seufzt.
Die Texte der Kolmar und der Sachs haben die Tendenz, sich zum Universum zu weiten, selbst zu diesem Universum zu werden – eine hybride Bewegung ohne Hochmut: das Universum ist, auch nach jüdischer Überlieferung, der Schöpfungstext, der ihn nachschreibende poetische Text ist auf dem Weg zur Verwandlung ins Universum.
Vermutlich partizipieren diese Gedichte noch an dem, was F.W. Fischer zur Genese der abstrakten Kunst in der klassischen Moderne herausgefunden zu haben meint: daß die kühne Abstraktheit der Moderne etwa bei Kandinski Teil hat an gnostischen, theosophischen und anthroposophischen Konstellationen und geheimwissenschaftlichen und hermetischen Lehren, denen Abstrahierung und Entmaterialisierung Wege der nach oben und außen ins Kosmische und Universale gerichteten Erlösung sind.
Wahrscheinlich arbeitet auch die Berliner Bürgerstochter Nelly Sachs noch mit an diesem Idealisierungsapparat, in dem im wilhelminischen Bürgertum die esoterischen und hermetischen Überlieferungen sich umsetzten in eine Art gnostischen Läuterungsidealismus, der beschwor, daß es nach oben, per aspera ad astra gehe, aus der dunklen Materie des Staubes zum erlösenden Licht der Sterne. Diese Entmaterialisierungsideologie war einerseits die des ökonomisch, sozial und kulturell sich von unten nach oben arbeitenden Bürgertums, andererseits in ihrer nicht direkt auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg gerichteten Ausdeutung die der neuen Kunst der Abstrakten. Die Ausweitung ins All und Universum in den Gedichten der Berlinerin Nelly Sachs wird auch diesen Epochenhintergrund haben. Die luftigen Texte sind porös zum Kosmos hin:

Die gekrümmte Linie des Leidens
nachtastend die göttlich entzündete Geometrie
des Weltalls

Daß die Leidenslinie, die der göttlich entzündeten Geometrie des Weltalls folgt, gekrümmt ist, macht solche Gedichte zu „Realisationen“, zu Harmonien parallel zur Natur, im Sinne Cézannes, wobei das Leiden die in Einsteins Relativitätstheorie berechnete Krümmung des Lichts nachzutasten scheint. Der bürgerliche Hintergrund des ins Universum gerichteten Läuterungsidealismus macht es zugleich denkbar, daß Nelly Sachs hier die Tradition der kosmischen Dichtung der Jahrhundertwende fortschreibt, wie Beda Allemann vermutet.
Die gekrümmte kosmische Leidenslinie durchs Universum ist eine Figur der „Sternenschrift“, die lesbar ist „bis zu Seinem Thron hinauf“, und sie verweist zugleich auf die Kerbung der Erdrinde. Modellierung der Kontinente durch Witterung und die Figuration des Universums sind in vielen Texten der Nelly Sachs Zeichen jener Schrift, die zu buchstabieren unser Lebensschicksal deutet und entscheidet. Vom frühen bis zum späten Werk führen die deutlichen Spuren dieses universalen Modells, nach denen in Zeichen, Buchstaben und Hieroglyphen die kosmische Schrift einer universalen Schöpfung niedergelegt ist, die sich in literarischen Texten spiegelt. Der Schriftsteller ist demnach einer, der die göttliche Schöpfungsschrift stellt, sie auf dem Kontinent des Textblattes spiegelnd nach- und wiederherstellt, so daß die Textseite zur Schöpfungslandschaft werden muß. Gisela Dischner hat in Heft 23 der Zeitschrift Text + Kritik auf die Entsprechungen zur Kabbala hingewiesen, wo das Alphabet als „göttlich-kosmisches Chiffre-System“ gedeutet wird, der Schöpfergott also als der Urschriftsteller verehrt wird. Alle Texte schreiben ihm und ihn nach. Die „,taubstumme Schrift“ ist in den kosmischen Elementen des Universums genauso angelegt wie im „Sternbild der Worte“. Alles was ist, ist Text – Text ist alles, was ist. Die Entsprechungen dieses Konzepts zu dem Jacques Derridas werden noch beziehungsreicher auf der Folie dessen, daß beide in sefardisch jüdischer Familientradition stehen, wie auch Elias Canetti, der einem vergleichbaren Schrift-Universum auf der Spur ist.
Urschrift des Universums, Konstellation der Worte zum Sternbild auf dem Blatt und geomorphologische Linien der Erd- und Textoberfläche verschlingen sich in Schriftkurven zu einer bei Nelly Sachs auffallend oft wiederkehrenden Wendung, der vom „Schreiben im Sand“, die Text und Erdoberfläche in einer biblischen Formel direkt zusammenbindet.
Sand und Schrift haben eine alte Relation, die in den biblischen Texten aufbewahrt ist. In der christlichen Überlieferung des Neuen Testaments ist am bekanntesten jener Auftritt mit der verklagten Ehebrecherin, eine Szene, in der Jesus zweimal in den Sand schreibt, ohne daß preisgegeben wird, welchen Text er schreibt.
Rudolf Schnackenburg im „Kommentar zum Johannesevangelium“ vermutet als Deutungsmöglichkeit, daß der schreibende Jesus dort an eine Stelle im 17. Kapitel bei Jeremia erinnert. Dort heißt es im Vers 13:

Denn, Herr, du bist die Hoffnung Israels. Alle, die dich verlassen, müssen zuschanden werden, und die Abtrünnigen müssen auf die Erde geschrieben werden; denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers.

Das würde sich in erster Linie auf diejenigen beziehen, die die junge Frau des Ehebruchs bezichtigen, erst in zweiter Linie auf die so Angeklagte. Bei Nelly Sachs weisen vergleichbar die „Diagramme im Sand“ auf eine gefallene abtrünnige Welt, in der Menschen andere jagen und von anderen gejagt und zur Flucht getrieben werden, wie wir es wenige Jahre vor der Jahrtausendwende in gesteigertem Maß erleben. Die Schrift im Sand ist die des Unheils, des Entferntseins vom Heil, ist das Urteil, das das Verderben anzeigt. Die Zeichen im Sand – so der Titel des Bandes mit den szenischen Dichtungen – sind ein Stück der Weltschrift, die buchstabiert sein will, aber nicht entzifferbar ist.
Die Schöpfung als Schrift bleibt uns unverständlich, trotz aller Entzifferungsversuche, die identisch sind mit den Anstrengungen aller Künste, auch der Poesie, auch mit unserem Leben, das ein permanentes Interpretieren- und Verstehenwollen ist „in dieser stotternden Welt / in der wir nicht verstehend zu Grunde gehen“. Das logozentrische Deuten und Verstehen, das phonozentrische Sprechen und Perorieren von Bedeutung, die behauptete Vernunftgeordnetheit der Realität – das alles ist nichts in dieser Schrift-Welt, die nach Derrida nicht nach logischen Prinzipien zu enträtseln ist, weil sie nach grammatischen, nichtvernünftigen strukturiert ist und im Sinne unserer Logik „stottert“. Die Schöpfungsschrift ist das Unverständliche, zugleich das Stumme, „diese stumme Tiefseeformel“, wie es in derselben Szene heißt. Schöpfung ist jener stumme Zeichenkonnex, den wir leidend und nicht verstehend erfahren, an dem Poesie mitschreibt, freilich nicht im Sinne der Enträtselung, sondern der Fortschreibung.
Daß die Schrift im Sand das Urteil des Verderbens schreibt, hängt mit der Konnotation von „Sand“ bei Nelly Sachs zusammen, wie sie z.B. unter den früheren Texten das Gedicht „Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen“ artikuliert. Es endet mit dem strophischen Abschnitt:

O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus den Totenschuhen leertet,
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

Gertrud Kolmars Gedicht „Die Fahrende“ endet:

Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.

Die wörtliche Parallele kann kein Zufall sein. Das Gedicht der Gertrud Kolmar wird das zeitlich frühere sein. Nelly Sachs, die Gertrud Kolmar kannte, wird auch dieses Gedicht haben kennen können. Was nach Plagiat in der einen oder anderen Richtung aussehen könnte, braucht keines zu sein. Ein gesamtjüdischer Kontext des metaphorischen Redens mag am ehesten als gemeinsame Folie dahinterstehen. Das alt- und auch neutestamentliche Reden vom Volk Israel, das „wie Sand am Meer“ ist – am deutlichsten bei Jesaja 10,22 – gibt den kollektiven Zusammenhang: „Sand in den Schuhen Kommender“ meint die Generationenfolge im Volk Israel. Gerade diese Metapher, die den Konnex der Gemeinschaft betont, könnte schlecht als Plagiatsargument dienen.
Stutzig wird man freilich doch bei Bengt Holmqvists Argumentation:

Wenn neue Wortverknüpfungen auftreten, sollte man nicht unnötigerweise tiefe Geheimnisse suchen. Z.B. „das Stundentuch mit allen vier Weltzipfeln“, welches am Ende des ersten Zyklus (der Glühenden Rätsel; K. J.) erscheint, ist einfach ein Fernsehschirm. Das Kosmische spielt sich im Alltäglichen ab.

Die zweite Strophe wiederum des Kolmar-Gedichts „Die Fahrende“ lautet:

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,
Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
Drin die Erdenkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Obwohl auf der einen Seite Holmqvists Argumentation vom Wortlaut des Sachsschen Gedichts her schlüssig ist, kann man sich im Zusammenhang mit der anderen Passage vom „Sand in den Schuhen Kommender“ fragen, ob eine intensive Kolmar-Lektüre bei Nelly Sachs nicht doch mehr Spuren eingegraben hat, als ihr selbst bewußt war. Das Tuch mit den vier Weltzipfeln ist spezifischer, als es von gemeinsamer jüdischer Tradition verbürgt werden könnte. Wiederum, das charakteristisch „Sachsische“ ist im gesamten Text derart markant und dominant, daß man um die Eigenständigkeit dieses Werks keine Sorge zu tragen braucht.
Zurück zum „Sand“, der im Werk der Nelly Sachs im metaphorischen Gebrauch oft konvergiert mit „Staub“. Die Position beider Zeichen wird klarer im Zusammenhang mit dem ersten, dem titelgebenden Gedicht des Zyklus „Fahrt ins Staublose“, der wiederum dem gesamten Sammelband der „Gedichte“ bei Suhrkamp den Titel gegeben hat, zu Recht, denn diese Formel ist sozusagen klassisch im Hinblick auf das Werk der Nelly Sachs, weil er im dominanten Motiv der Reise aufwärts aus den Niederungen wiederum das räumliche, kontinentale und kosmische Motiv der Bewegung ins Höhere evident macht. Jenes erste Gedicht vollzieht die Reise:

Wer
von der Erde kommt
Mond zu berühren

durch sternige Stationen reisend
auf der Fahrt ins Staublose

Diese kosmische Reise ist abermals eine im Sinne des gnostizistischen Läuterungsidealismus in der klassischen Richtung: aus den dunklen Tiefen des Materiellen empor zu den lichten Höhen des entmaterialisierten Ideals. Sand und Staub fungieren im Kosmos der Nelly Sachs als jenes dunkel Materielle, aus dem man sich hinauszuschwingen hat ins „Staublose“ in einer kathartischen Bewegung der Läuterung und der Reinigung. Jenes deutsch-berlinisch- bürgerliche Element einer charakteristischen Sozialisation in der guten Gesellschaft des preußischen Wilhelminismus liegt unter der stetig kühner werdenden Metaphorik der Sachsschen Texte, sie ist ihr Substrat, geht als Fundament durch sie hindurch. Es ist noch unterhalb der kühnen Sachsschen Poetisierung, die zu einem Teil zeitgebundene Schrift der Epoche und ihres Prozesses der Zivilisation.
Zu dieser Epochenschrift gehört als bezeichnende Figur der Tanz. Was er als Zentralmetapher in nahezu allen Künsten um die Jahrhundertwende bedeutet, hat Wolfdietrich Rasch entfaltet als Signatur der Lebensbewegung, der fließenden Gebärde, die die atmenden Bewegungen des Lebensstromes und des Wachsens zum Licht hin nachzieht in den typischen Jugendstilschlingen. Nelly Sachs als Tochter eines gutbürgerlichen Berliner Hauses hatte epochengerecht Tänzerin werden wollen – ihr nichtrealisierter Wunsch hat sich ihren Texten, wie zum Beispiel dem Gedicht „Haar mein Haar“, in Spiralbewegungen eingeformt, vielleicht am charakteristischsten in dem Gedicht „Tänzerin“:

TÄNZERIN
bräutlich
aus Blindenraum
empfängst du
ferner Schöpfungstage sprießende Sehnsucht –

Mit deines Leibes Musikstraßen
weidest du die Luft ab
dort
wo der Erdball
neuen Eingang sucht
zur Geburt.

Durch
Nachtlava
wie leise sich lösende
Augenlider
blinzelt der Schöpfungsvulkane
Erstlingsschrei

Im Gezweige deiner Glieder
bauen die Ahnungen
ihre zwitschernden Nester.

Wie eine Melkerin
in der Dämmerung
ziehen deine Fingerspitzen
an den verborgenen Quellen
des Lichtes
bis du durchstochen von der
Marter des Abends
dem Mond deine Augen
zur Nachtwache auslieferst.

Tänzerin
kreißende Wöchnerin
du allein

trägst an verborgener Nabelschnur
an deinem Leib
den Gott vererbten Zwillingsschmuck
von Tod und Geburt.

Der Textverlauf ist Drehbewegung. Die Schrift windet sich ums imaginäre Zentrum, ist – man möchte fast zitieren – Tanz von Kraft um eine Mitte, den Ausdruckstanz der klassischen Moderne unseres Jahrhunderts nachvollziehend. Was Staub und Rauch in ihrer den Naturgesetzen gehorchenden Aufwärtsbewegung ins Kosmische sozusagen zwangsweise und leidend, alternativlos vollziehen, wird im Tanz der Tänzerin oder des Tänzers zum lustvoll gestalteten und erlebten Ausdruck: das Sichlösen von der Schwere der dunklen erdgebundenen Materie und das Hinaufwirbeln in die Höhen des Lichts und der Erlösung. Im Opfergestus passives Leiden und Erleiden beim gewirbelten Rauch – geformte und aktive Expression dieses Leidens und auch der Erlösung durch den Tanz. Der Tanz schreibt die Schrift dieses Weges; die Schrift des Gedichttextes schreibt die Bewegung des Tanzes und der Tänzerin auf die Textseite: die typografische Erscheinung vollführt mit den Gliedern der Tanzenden die erlösenden Drehungen bis hin zu jenem „Zwillingsschmuck von Tod und Geburt“, auf den Textfigur und Tanzfigur sich zudrehen, zu dem sie sich hinschlingen. Es ist eines der nicht häufigen helleren Gedichte des Sachsschen Werkes, ein Text, in dem wie in Kleists „Marionettentheater“ der Tanz und das Gebären des Neuen sich ineinander verschlingen, der Tanz, der als Darstellung des Schwangerseins, als Erkenntnis- und Erlösungsweg nicht nur als Schrift gezeichnet, sondern in der Textfigur auch praktiziert wird. Der Tanz führt sich auf als geschriebene Lebensfigur, die vom unteren Dunklen in die Helle nach oben führt. Die Tänzerinnen des Alten und des Neuen Testaments, die Braut des Hohenliedes und sogar noch die Herodestochter Salome, tanzen ihn mit. Mit dem Kult dieser Metapher erweist sich Nelly Sachs zugleich als die Epochenschwester Rilkes, Georges, der Lasker-Schüler und der Kolmar – sie alle den Tanz zelebrierend in eigener Schrift. „Der Akt des Transzendierens“ jener Grenze zwischen Leben und Tod wird in den Bewegungen des Tanzes gefeiert und auch zeremonialisiert und zelebriert.
Wo so dem Ausdruck hingegeben getanzt wird, dort wird – in der Regel – nicht gesprochen. Es ist eines der markantesten Paradoxa der Literatur, allenfalls bei den größten Autoren anvisiert, daß das Stellen der Schrift und das Setzen der Worte dem Schweigen in die Arme läuft und entgegenarbeitet, sich mit dem Verstummen verschränkt. Welch eine Paradoxie, daß man das Schweigen artikuliert mit Worten, die die Tendenz haben, sich selbst aufzuheben, ihre Rückseite preiszugeben, mit der sie an das stoßen, was weder Wort noch Laut noch Ton ist. Das Wort als Rand des Stummseins, das Schweigen als Rand der Wörter; bei Kafka und bei Kleist ist dieses Äußerste, der letzte Laut auf dem Terrain des Lebens, gerade noch artikuliert. Bei Nelly Sachs hat dieses Paradox seine Notwendigkeit in ihrer Mission: daß sie dem in Qualen und durch Quälen Verstummten und zum Verstummen Gebrachten noch eben Stimme zu geben die Kraft haben will, die stumme Wehrlosigkeit des geschundenen Opfers mit letzter Anstrengung zur Sprache bringen möchte.
Zeichen der Stummheit der Opfer ist ihr immer wieder der Fisch, ein griechisches Akrostichon und Symbol der frühen Christen für den rettenden und dabei sich opfernden Gottessohn, das die in beiden Büchern der Bibel, in kabbalistischen und chassidischen Schriften und in den Werken Jakob Böhmes bewanderte Jüdin immer wieder aufruft: der stumme geopferte, an den Kiemen blutende Fisch, das Zeichen für die Stummheit der Opfer, so wie der angeklagte Jesus bei seinen Verhören stumm blieb.
Meer und vor allem das Salz sind mit dem Fischsymbol in den Texten der Nelly Sachs immer wieder eng beisammen. Das Salz der Tränen, die sich zum Meer sammeln, geweint um die Qual der gepeinigten Schwestern und Brüder Geschöpfe, gehört zum Bildkomplex des Leidens:

Ihr meine Toten
Eure Träume sind Waisen geworden
Nacht hat die Bilder verdeckt
Fliegend in Chiffren eure Sprache singt

Die Flüchtlingsschar der Gedanken
eure wandernde Hinterlassenschaft
bettelt an meinem Strand

Unruhig bin ich
sehr erschrocken
den Schatz zu fassen mit kleinem Leben

Selbst Inhaber von Augenblicken
Herzklopfen Abschieden
Todeswunden
wo ist mein Erbe

Salz ist meine Erbe

Fisch – Meer – Strand – Sand – Salz – Wüste markieren bei Nelly Sachs das Leidensterrain, auf das die Redende der Gedichte durch Tränenströme schaut. Olof Lagercrantz gab einen entscheidenden Hinweis im Zusammenhang mit Nelly Sachs’ „Bewußtsein ihrer Flüchtlingssituation (…). Es liegt nahe, ihr Leben und ihre Lyrik in Verbindung mit zwei großen biblischen Situationen zu sehen. Israels Volk zieht fort aus Ägypten mit den Erinnerungen an die Plagen unter Pharao im verängstigten Herzen. Lot und seine Familie verlassen Sodom und erhalten den Befehl des Engels, sich nicht umzuwenden; Lots Frau verstößt gegen das Gebot und wird in eine Salzsäule verwandelt. Hinter Nelly Sachs liegt ein ganzes Leben, als sie aufbricht.“ Das in Nelly Sachs’ Gedichten anwesende Salz ist unter anderem das jener Salzsäule, in die Lots Frau beim Rückblick auf die hinter ihr liegenden Schrecken verwandelt wird. Nelly Sachs ist in ihren Gedichten die unter Lebensgefahr Zurückschauende, die sich mit vollem Bewußtsein der drohenden Versteinerung und Strafe aussetzt; sie will und muß Zeugin sein, muß zurückschauen, um berichten zu können. Buße und Strafe hat die Autorin in der Tat erbringen müssen mit ihren Zusammenbrüchen und Klinikaufenthalten. Man schaut nicht ungestraft und unverwundet in den Schrecken zurück. Als Zeugen des Mordens und der Vernichtung haben die Dichter dieses Frau-Lot-Opfer zu bringen: sich selbst der Todeserstarrung bewußt auszusetzen um den Preis, Zeugnis geben zu können: Das schien einer nach Schweden Geretteten das Mindeste zu sein, was sie für diejenigen tun konnte, die sich aus dem von den Nazis betriebenen Untergang Sodoms und der Epoche nicht mehr retten konnten: Zur tönenden Salzsäule werden aus Leidensnähe zu den Opfern, aus Stockholm zurückzuschauen auf jenes schreckliche Reich der Mörder, aus dem sie und ihre Mutter mit einem der letzten Flugzeuge hatten fliehen können. Daß der Autor die Strafe auf sich nehmen, zur Salzsäule werden muß, ist seine stellvertretende Passion. Und es ist die Grenze zum Verstummen.
Es ist zugleich die höchste Kunst der redenden und tönenden Künste: dem Schweigen gerade noch eben Laut zu geben, so daß Reden und Schweigen an ihren Grenzen und Rändern sich aneinander artikulieren und mit den letzterreichbaren Zeichen zu erkennen geben.
Was der Artikulation sich entziehen will, artikuliert Nelly Sachs’ Gedicht „Grabschrift“:

Wieder hat einer in der Marter
den weißen Eingang gefunden

Schweigen – Schweigen – Schweigen

Die innere Sprache erlöst
welch ein Sieg –

Wir pflanzen hier Demut

Die an asiatische Versenkungsriten gemahnende Dreierformel und Beschwörung des Schweigens durch Worte wiederholt sich im lyrischen Spätwerk der Nelly Sachs an einigen Stellen:


Geheimnis an der Grenze des Todes
„Lege den Finger an den Mund:
Schweigen Schweigen Schweigen“ –

Und:

Vor den Wänden der Worte – Schweigen –
Hinter den Wänden der Worte – Schweigen –

Zunächst ist erstaunlich, daß Nelly Sachs hier nicht nur an die Grenze des Sagbaren vorstößt, sondern auch bis an die Grenzen der konkreten Poesie. Denkbar nahe liegt hier Eugen Gomringers bekannte, ungefähr zeitgleiche Konstellation

schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen                      schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen

Die gesetzten und gereihten Wortquader werden zur Mauer zwischen Schweigen und Reden, wobei die Textlücke in der Mitte bei Gomringer die absolute Stille tonlos sichtbar macht und konkret werden läßt; für Nelly Sachs wäre diese leere Mitte der „weiße Eingang“. Warum um 1960 das Schweigen eine derart auffallende Konjunktur in Worten hat, dazu bleiben nur Vermutungen, Es ist möglich, daß so etwas wie die erste Krise des Wirtschaftswunders im Protest gegen das nicht innehaltende Quatschen des Marketings und des redseligen industriellen Fortschritts und der expandierenden Medien und der geschwätzigen Politik des kalten Krieges sich in protestierender Stummheit artikuliert und Tafeln gegen die merkantile und ideologische Inflation der Wörter und des Geredes aufrichtet.

Für Nelly Sachs ist das Gedicht „Grabschrift“ sozusagen die eherne Tafel ihrer Ästhetik in nahezu epigrammatischer Kürze. Die Sprache hat einen Doppelwert: ihr gehört, mit Rilke zu sprechen, das letzte Gehöft im Gebiet der Worte; sie markiert die Grenze und den weißen Eingang zum absolut anderen, das die Zone des Redens und der Worte umgibt. Der Übertritt über die Sprachgrenze, vom Eben-noch-Sagen ins Stummsein, ist Erlösung, ist „Sieg“, vor dem die vorläufig: Zurückbleibenden „Demut pflanzen“. Wenn irgendwo eine poetologische Parallele zwischen Texten von Nelly Sachs und Paul Celan einen Sinn hat, dann hier an der Artikulations- und Schweigegrenze. Die bei Celan bis 1970 immer weiter getriebene Reduktion des Sprechens, die Neigung, die Wörter wie Hohlformen im sich ausbreitenden Schweigen erscheinen zu lassen, als immer sparsamere Grenzmarken – so wie zeitgenössische Skulpturen mit reduziertem Material den Raum, in den sie hineingreifen, als Leere strukturieren und als Lehre –, dieser Gang auf die Grenze zu ist gleichermaßen der späte Weg der Nelly Sachs. Immer zugeschärfter wird das Paradox – wie bei Kleist und bei Kafka –, daß die Worte dort ihr äußerstes Gewicht haben, wo sie aufhören und allseits von dem umgeben sind, was nicht Wort ist. Dort „erlöst“ sich „die innere Sprache“, wo die Wortgrenze genau vom Schweigen gezogen und konturiert wird. Es ist wie beim letzten „Ach“ der Alkmene in Kleists Amphitryon; dieses finale und fast letale Geradenochwort an der Sprach- und Sprechgrenze vor dem unabsehbaren Verstummen formuliert als fast schon verlorener Grenzposten das Äußerste; es ist das letzte Signal der Grenzüberschreitung. Das wahre Reden geschieht auf dieser alleräußersten Paßhöhe: es ist identisch mit „Grabschrift“, mit dem, was Gewohnheit „die letzten Worte“ nennt. Von der anderen Paßseite her wird man nicht mehr verstanden. Nelly Sachs’ Werk ist mit Stetigkeit auf dem Weg zu dieser Paßhöhe und erreicht sie mit den späten Gedichten der sechziger Jahre.

Klaus Jeziorkowski, neue deutsche literatur, Heft 493, Januar/Februar 1994

Schreien in allen Sprachen

– Die Dichterin Nelly Sachs. –

Daß es an Publikationen über das Werk der Nelly Sachs nicht mangelt – hervorgehoben sei hier nur Ehrhard Bahrs Autorenbuch aus dem C.H. Beck Verlag –, wohl aber an Darstellungen ihres Lebens, ist kein Zufall. Wie kaum eine andere Autorin des zwanzigsten Jahrhunderts hat Nelly Sachs mit allen Mitteln versucht, die ersten fünfzig Lebensjahre, die Jahre bis zu ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten, die ihr übrigens von Selma Lagerlöf ermöglicht wurde, der Öffentlichkeit zu verbergen. Pünktlich zum hundertsten Geburtstag der Dichterin erschien 1991 die ausführliche Biographie der dänischen Literaturwissenschaftlerin Ruth Dinesen, und nun hat Gabriele Fritsch-Vivié eine rororo Monographie vorgelegt, die sich insbesondere für eben diese ersten fünf Jahrzehnte als Quelle auf Dinesen stützt; die Verfasserin macht daraus keinen Hehl. Denn bemerkenswerter als ihre Ergebnisse aus den Mühen der Recherche ist der Ansatz, mit dem sie dem Mangel an äußeren Daten zu begegnen sucht, ein Ansatz, zu dem Nelly Sachs selbst letztlich ermuntert hat, wenn sie, befragt nach Namen und Daten, stets abwehrte: „Alles, was ich zu sagen habe, steht im Werk“, andererseits aber mit geheimnisvollen Andeutungen über einen „geliebten Menschen“ und ein „tieftragisches Schicksal daheim“ die Neugier immer wieder anstachelte.
So beschreitet Fritsch-Vivié, der Not gehorchend, den gefährlichen Weg der biographischen Dechiffrierung der Texte. Glücklicherweise vermeidet sie dabei eine, besonders von amerikanischen Biographen häufig praktizierte Technik, die Werk und Leben ihres Opfers so hemmungslos vermengt, daß seriöse Forschung zugunsten von Sensationsgier auf der Strecke bleibt. Es ist auch weniger der äußere Lebensweg, der aus der Lektüre der Dichtung, aus den über viertausend Briefen und aus Berichten von Freunden ergänzt wird, als vielmehr die psychische Entwicklung der Dichterin, die eine tiefere und umfassendere Deutung erfährt. Diese Deutung stützt sich auf heute allgemein anerkannte Erkenntnisse frühkindlicher Entwicklung, vor allem auf die Erklärungsmuster der amerikanischen Psychotherapeutin Alice Miller, mit der die Autorin zur Vorbereitung dieses Buches eigens ein Gespräch führte.
Auf diesem Weg wird Nelly Sachs von der Bürde der Stellvertreterin jüdischen Schicksals im Dritten Reich entlastet, eine Bürde, die bis heute eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit ihrem Werk erschwert hatte. Nun rückt ihr individuelles Geschick in den Mittelpunkt, ohne daß dadurch die Besonderheiten, die ihre Zugehörigkeit zum Judentum mit sich brachten, geleugnet würden. Breiten Raum nimmt die Beziehung zu den Eltern ein, denn, so die Verfasserin:

Die Wurzeln des Lebens – und bei Künstlern auch des Werkes – reichen bis weit in die Kindheit zurück.

Solche Wurzeln bloßzulegen, kann penetrant werden, bei Fritsch-Vivié jedoch trägt das Verfahren zur Erhellung des Werks bei. Die immer wieder formulierten Gefühle der Angst, der Einsamkeit, des Verlassenwerdens, des Fremdseins quälen Nelly Sachs schon lange vor den tragischen äußeren Ereignissen der Verfolgung, der Flucht, des Verlustes geliebter Menschen. Schon als gutbehütete Tochter einer großbürgerlichen Familie, der es äußerlich an nichts fehlte, lernt Nelly Sachs, daß Schreiben ihr Luft verschafft, „wenn das Atmen zu schwer wurde“, Nelly Sachs, so die Verfasserin, merkt früh, daß Gefühle wie Angst, Ohnmacht, aber auch Zorn und Aggression von den Erwachsenen nicht gern gesehen sind, Anpassung hingegen deren „Liebe“ garantiert. Sich selbst machte Nelly Sachs ihre traumatische Abhängigkeit von Mutter und Vater, die von Fritsch-Vivié behutsam und überzeugend aufgezeigt wird, zu keinem Zeitpunkt klar. Psychoanalytische Gespräche lehnte sie ab, obwohl sie mehrfach wegen Verfolgungswahn in Kliniken behandelt werden mußte.
Nicht nur Außenstehenden hat Nelly Sachs ihr Leben lang jede Ein-Sicht verweigert, sondern auch sich selbst. Zum Wohle der Dichtung? Es läßt sich nicht leugnen, daß sie bedeutende Teile ihrer Dichtung gerade während ihrer Krankheitsphasen geschaffen hat oder doch, um eine aufkommende psychische Bedrohung abzuwehren. Die These, daß Kunst nichts anderes sei als gescheiterte soziale Anpassung, scheint sich ein weiteres Mal zu bewahrheiten. Die äußeren unglücklichen Umstände im Exil ermöglichten es Nelly Sachs dann, ihren persönlichen Schmerz zuzulassen, ihn unmittelbar in Bildern allgemeinen Leids auszudrücken. Ihre großen Gedichte schreibt sie nach der Emigration, in Schweden, und nachdem sie sich mit der kabbalistischen Mystik und den chassidischen Legenden, mit Jakob Böhme, Franz von Assisi und den Frühromantikern beschäftigt hat. Durch Übersetzungen schwedischer Gedichte ins Deutsche findet sie nicht nur zu den bedeutendsten Lyrikern ihres Gastlandes Kontakt, auch die dichterischen Mittel der Moderne lernt sie auf diesem Umweg kennen. Leider kommt diese Einbettung des Werks in literaturhistorische Zusammenhänge zu kurz.
So weltfern und tragisch die Dichterin in ihrem Werk erscheint, Nelly Sachs war – und das verschweigt die Biographin durchaus nicht – alles andere als eine unpraktische Natur. Als junge Frau übernimmt sie die Haushaltsführung und die Krankenpflege des Vaters bis zu dessen Tod, anschließend, als einziges Kind, auch die geschäftlichen Angelegenheiten. Sie organisiert die Auswanderung nach Schweden, sorgt dort für ihre alte Mutter, bis diese 1950 stirbt, und erweist in Fragen der Wiedergutmachung nach dem Krieg durchaus ihren Sinn für Alltagsangelegenheiten. Unterstützt wurde sie dabei zu allen Zeiten von Freunden und vor allem Freundinnen, die sich für die Dichterin einsetzten. Wobei, auch das wird nicht verschwiegen, die Ichbezogenheit der Dichterin immer wieder zu Mißverständnissen und Zerwürfnissen führte.
Nicht zuletzt dadurch, daß bei aller Bewunderung für das Werk der Dichterin auch die Verletzungen und Schwächen der Person erkennbar werden, rückt Nelly Sachs aus der verklärten Ferne einer Dichterin mit Wiedergutmachungsbonus dem Leser endlich nahe als große Lyrikerin des zwanzigsten Jahrhunderts.
Hans Magnus Enzensberger hat in Deutschland als erster ihre Bedeutung erkannt und sie in seinem 1959 erschienenen Aufsatz „Die Steine der Freiheit“ als „größte Dichterin, die heute in deutscher Sprache schreibt“ bezeichnet. „Ihr, wie den alten heiligen Schriften“, so Enzensberger, „ist Israel stellvertretend für die Heils- und Unheilsgeschichte der ganzen Schöpfung. Staub, Rauch, Asche sind nicht ,Vergangenheit‘, die sich abfertigen ließe, sondern stets gegenwärtig.“ Doch Nelly Sachs’ Dichtung ist nicht allein ein Gedenkmal für die ermordeten Juden. Beda Allemann hat vor allem den „elementarischen Aspekt“ ihrer Lyrik hervorgehoben und ihre Dichtung „im Rahmen der Nachkriegszeit als die Wiederaufnahme der kosmischen Dichtung mit modernen Mitteln“ begriffen.
Das Gedicht „Völker der Erde“ schrieb Nelly Sachs 1948/49; es befaßt sich scheinbar ausschließlich mit der Sorge um die Sprache, doch die Sprache ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Wer das „Weltall der Worte“ zerstört, zerstört am Ende das Leben der Menschen.

VÖLKER DER ERDE

Völker der Erde,
ihr, die ihr euch mit der Kraft der unbekannten
Gestirne umwickelt wie Garnrollen,

die ihr näht und wieder auftrennt das Genähte,
die ihr in die Sprachverwirrung steigt
wie in Bienenkörbe,
um im Süßen zu stechen
und gestochen zu werden –

Völker der Erde,
zerstört nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt –
Und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht –

Völker der Erde,
lasset die Worte an ihrer Quelle,
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können
und mit ihrer abgewandten Seite
wie eine Maske dahinter die Nacht gähnt
die Sterne gebären helfen –

Ulla Hahn, 1993, Ulla Hahn: Dichter in der Welt, Deutsche Verlags-Anstalt, 2006

In den Wohnungen des Todes

Nelly Sachs (geb. 10.12.1891 – gest. 12.5.1970)

Das gesamte Werk der Nelly Sachs ist bestimmt von der Erfahrung ihres jüdischen Exils in Schweden, von der Erinnerung an den Holocaust des jüdischen Volkes, von der Schuld des Überlebens und von der Mahnung an die kommenden Generationen, dass Auschwitz sich nicht wiederholen dürfe.
Das spiegelt sich in ihren Gedichten, die sie in der Zeit von 1949 bis zu ihrem Lebensende 1970 veröffentlicht. Das Gedicht „Lange haben wir das Lauschen verlernt!“ stammt aus ihrem ersten Gedichtband In den Wohnungen des Todes. In ihm spricht sie die Oberflächlichkeit und Vergesslichkeit des Alltags an, in der wir unseren gleichgültigen Geschäften nachgehen und uns nicht um die Anderen kümmern. Sie mahnt, das Ohr, die Aufmerksamkeit für die Zerstörungen der menschlichen Kultur nicht zu „verkaufen“ und verweist am Ende zugleich auf die Hoffnung der Geburt, darauf, dass „im Tod das Leben beginnt“:

Lange haben wir das Lauschen verlernt!
Hatte Er uns gepflanzt einst zu lauschen
Wie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer,
Wollten wir wachsen auf feisten Triften,
Wie Salat im Hausgarten stehn.

Wenn wir auch Geschäfte haben.
Die weit fort führen
Von seinem Licht,
Wenn wir auch das Wasser aus Röhren trinken,
Und es erst sterbend naht
Unserem ewig dürstenden Mund –
Wenn wir auch auf einer Straße schreiten,
Darunter die Erde zum Schweigen gebracht wurde
Von einem Pflaster,
Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr,
O, nicht unser Ohr dürfen wir verkaufen.
Auch auf dem Markte,
Im Errechnen des Staubes,
Tat manch einer schnell einen Sprung
Auf der Sehnsucht Seil,
Weil er etwas hörte,
Aus dem Staube heraus tat er den Sprung
Und sättigte sein Ohr.
Preßt, o preßt an der Zerstörung Tag
An die Erde das lauschende Ohr,
Und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurch
Werdet ihr hören
Wie im Tod
Das Leben beginnt.1

Entscheidend für die lyrische Sprache von Nelly Sachs sind die Metaphern, die Bilder, die sie durch ihr ganzes Werk gleich bleibend verwendet. Hier u.a.

– das Meer als Bild für die Ewigkeit,

– das Licht als das Göttliche, Schöpferische,

– die Erde, als der Bereich, aus dem wir stammen, in dem wir verwurzelt sind, als Heimat, als das Natürliche, Naturgegebene,

– das Wasser als das Leben spendende Element,

– der Staub, häufig auch der Sand, als das Vergängliche, das Nichtige, zu Vernachlässigende,

– der Schlaf als Bild dafür, Träume, Visionen haben zu können, aber zugleich auch Schlaf als der Bruder des Todes.

Nelly Sachs wird 1891 in Berlin in eine kultivierte, assimilierte bürgerliche Fabrikantenfamilie hineingeboren und wächst in einer äußerlich ausgesprochen behüteten Umgebung auf. Allerdings scheint sie durch die Beschränkung der Eltern auf eine formale Zuneigung ohne wirkliche Herzensgüte schon als Kind sich in ihrer Entwicklung beeinträchtigt zu fühlen und verdrängt dies in verstärktem und vorauseilendem Gehorsam, der zugleich Einsamkeitsgefühle auslöst. Häufig ist sie krank, was eine geordnete schulische Laufbahn verhindert. Mit 14 beginnt sie einen Briefwechsel mit Selma Lagerlöf, der bis an deren Tod anhält. Sie schreibt erste expressionistische Natur-Gedichte, die sie aber später nicht in ihre Bücher aufnimmt. Mit 17 verliebt sich in einen unbekannt bleibenden geschiedenen Mann, was von ihrem Vater unterbunden wird und ihr Leben entscheidend prägen wird. In den 20er Jahren lebt sie mit ihren Eltern zurückgezogen und nimmt am gesellschaftlichen Berliner Leben kaum teil. Nach dem Tod des Vaters 1930 zieht sie sich noch mehr zurück, wird aber mehrmals von der Gestapo verhört, was eine nachhaltige psychische Störung auslöst. Erst 1940 entschließt sie sich, buchstäblich mit dem letzten Flugzeug mit ihrer Mutter nach Stockholm zu emigrieren, wo sie bis zu ihrem Tod weiterlebt. Seit 1942 entstehen ihre ersten Gedichte, die nun die Nachrichten vom Holocaust aufnehmen und zu großen Klagegesängen werden, die gleichwohl meistens in einen hoffnungsvollen Ausblick münden.
1947 und 1949 erscheinen auf Betreiben von Johannes R. Becher in Ost-Berlin die ersten beiden Gedichtbände In den Wohnungen des Todes und Sternverdunkelung. Da ist Nelly Sachs bereits 58 Jahre alt. 1957 und 1959 erscheinen dann die Bände Und niemand weiß weiter und Flucht und Verwandlung in Westdeutschland, sie wird von den jungen Nachkriegsautoren, von Hans Magnus Enzensberger, Paul Celan, Alfred Andersch, Peter Huchel und anderen entdeckt und gefördert. 1960 reist sie zum ersten Mal wieder nach Deutschland, um den Meersburger Droste-Preis für Dichterinnen entgegen zu nehmen. Obwohl sie dort mit überschäumender Freundlichkeit empfangen wird, erträgt sie den Aufenthalt im Land der Mörder nicht und kehrt schwer erkrankt und psychisch angeschlagen nach Stockholm zurück. Sie verbringt drei Jahre in einer Nervenheilanstalt, was den Bruch einiger entscheidender Freundschaften zur Folge hat, darunter auch den der besonders innigen zu Paul Celan. 1961 verleiht die Stadt Dortmund ihr den neu gestifteten Nelly-Sachs-Preis als Namengeberin und 1965 erhält sie als erste Frau den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. An ihrem 75. Geburtstag 1966 schließlich erhält sie den Literaturnobelpreis, das Preisgeld verschenkt sie an Bedürftige und zieht sich wieder aus der Öffentlichkeit zurück. Am 12. Mai 1970 stirbt sie am Tag der Beerdigung ihres Freundes Paul Celan: einsam, wie sie ihr ganzes Leben lang war, aber in der Hoffnung, ihn „dort“ wieder zu sehen.
In ihrem ersten Gedichtband In den Wohnungen des Todes findet sich ein Gedichtzyklus mit dem Titel „Chöre nach der Mitternacht“, in dem vor allem zum Ausdruck kommt, dass das Überleben der Shoah nicht als Glück, sondern als Schuld wahrgenommen wird. Gerettet-Sein bedeutet nicht automatisch ins Leben Zurückkehren, denn nur der Abschied von den zu Staub gewordenen Ermordeten hält die Überlebenden zusammen. Die Bäume, Bild für die Verwurzelung in der Erde, für Natur und Heimat, zeigen den „Gejagten auf der Welt“ „ein Geheimnis, das mit der Nacht beginnt“, d.h. mit der Nacht der Shoah. Und die blumenlos gewordenen Gärtner finden ,kein Heilkraut“, das die Diskrepanz „zwischen Gestern und Morgen“ heilen könnte. Vielmehr muss „Gestern und Morgen“ auseinander gehalten werden „wie die Ränder einer Wunde, die offen bleiben soll, die noch nicht heilen darf.“ „Wer von uns darf trösten“, fragt der Chor der Tröster.

CHOR DER GERETTETEN

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der schon seinen Bogen strich –
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft –
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.

Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen –

Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen –
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
[…]2

*

CHOR DER BÄUME

O ihr Gejagten alle auf der Welt!
Unsere Sprache ist gemischt aus Quellen und Sternen
Wie die eure.
Eure Buchstaben sind aus unserem Fleisch.
Wir sind die steigend Wandernden
Wir erkennen euch –
O ihr Gejagten auf der Welt!

O ihr Gejagten alle auf der Welt!
Wir zeigen in ein Geheimnis
Das mit der Nacht beginnt.
3

Eng verbunden mit dem Thema der Überlebenden ist das Thema der Gejagten, der Flüchtlinge. Hier erweitert sich der Blick von den „Todentrissenen“ der Shoah auf das allgemeine Schicksal von Flüchtlingen. Und es erweitert sich der Blick auf das Elend der Flüchtlinge zum Aufscheinen von Hoffnung: „Wer heimatlos ist, dem welken alle Wege wie Schnittblumen hin“. Und doch finden sie Trost in der Abendsonne. Sie sind wund, dass sie zu sterben glauben. Und doch lächeln die Engel „im Traum eines Kindes“. Ihr Stern fällt aus dem sicheren Verhaftet- bzw. Beheimatetsein an der Schwelle eines Hauses, eines Herdes und der täglichen Nahrung. Und doch stößt die Erde ins Freie vor und gewährt dem stockenden Atem „die Demut der Luft“. Das sind Beklagungen des Flüchtlingsschicksals und Beschwörungen von seiner Linderung, die für die unzähligen Flüchtlinge heute genauso gelten wie für die flüchtigen Überlebenden der Shoah.

Welt, frage nicht nach den Todentrissenen
wohin sie gehen,
sie gehen immer ihrem Grabe zu.
Das Pflaster der fremden Stadt
war nicht für die Musik von Flüchtlingsschritten gelegt worden –
Die Fenster der Häuser, die eine Erdenzeit spiegeln
mit den wandernden Gabentischen der Bilderbuchhimmel –
wurden nicht für Augen geschliffen
die den Schrecken an seiner Qual tranken.
Welt, die Falte ihres Lächelns hat ihnen ein starkes Eisen ausgebrannt;
sie möchten so gerne zu dir kommen
um deiner Schönheit wegen,
aber wer heimatlos ist, dem welken alle Wege
wie Schnittblumen hin –
Aber, es ist uns in der Fremde
eine Freundin geworden: die Abendsonne.
Eingesegnet von ihrem Marterlicht
sind wir geladen zu ihr zu kommen mit unserer Trauer,
die neben uns geht: Ein Psalm der Nacht
.
4

*

Wir sind so wund,
daß wir zu sterben glauben
wenn die Gasse uns ein böses Wort nachwirft.
Die Gasse weiß es nicht,
aber sie erträgt nicht eine solche Belastung;
nicht gewöhnt ist sie einen Vesuv der Schmerzen
auf ihr ausbrechen zu sehn.
Die Erinnerungen an Urzeiten sind ausgetilgt bei ihr,
seitdem das Licht künstlich wurde
und die Engel nur noch mit Vögeln und Blumen spielen
oder im Traum eines Kindes lächeln
5

Hoffnung setzt Nelly Sachs vor allem auf Israel. Sie warnt die Erbauer des Staates Israel davor, die Toten in ihr neues Leben einzubeziehen und sie erkennt, dass die Finger der Täter, die den Sand aus den Schuhen der Opfer leerten, morgen schon „Staub in den Schuhen Kommender“ sein werden:

AN EUCH, DIE DAS NEUE HAUS BAUEN

Wenn du dir deine Wände neu aufrichtest –
Deinen Herd, Schlafstatt, Tisch und Stuhl –
Hänge nicht deine Tränen um sie, die dahingegangen,
Die nicht mehr mit dir wohnen werden
An den Stein
Nicht an das Holz –
Es weint sonst in deinen Schlaf hinein
Den kurzen, den du noch tun mußt.

Seufze nicht, wenn du dein Laken bettest,
Es mischen sich sonst deine Träume
Mit dem Schweiß der Toten.

Baue, wenn die Stundenuhr rieselt,
Aber weine nicht die Minuten fort
Mit dem Staub zusammen,
Der das Licht verdeckt.6

*

Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen,
Als ihr zum Sterben aufstehen mußtet?
Den Sand, den Israel heimholte.
Seinen Wandersand?
Brennenden Sinaisand,
Mit den Kehlen von Nachtigallen vermischt,
Mit den Flügeln des Schmetterlings vermischt.
Mit den Sehnsuchtsstaub der Schlangen vermischt,
Mit allem was abfiel von der Weisheit Salomos vermischt.
Mit dem Bitteren aus des Wermuts Geheimnis vermischt –

O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet.
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

Sie sieht eine „neue Ruth“ „am Scheidewege ihrer Wanderschaft“. Das alttestamentliche Buch Ruth handelt von der Nichtjüdin Ruth im nichtjüdischen Ausland Moab, deren jüdischer Ehemann gestorben ist. Sie steht nun vor der Entscheidung, ob sie in Moab bleiben will oder mit ihrer Schwiegermutter nach Israel zurückkehrt, wo sie als Nichtjüdin mit Verachtung und Verfolgung rechnen muss. Sie entscheidet sich dennoch für Israel mit den bekannten Worten: „Wo du hin gehst, da gehe auch ich hin. Und wo du bleibst, da bleibe auch ich.“ Wenn Nelly Sachs bei der Gründung Israels diese Ruth an ihrem Scheideweg stehen sieht, dann spricht sie damit bereits die Fremden- bzw. Palästinenserpolitik Israels an und bringt den Wunsch zum Ausdruck, dass Juden und Palästinenser in einem Staat gemeinsam friedlich leben möchten:

[…]

Land Israel,
nun wo dein vom Sterben angebranntes Volk
einzieht in deine Täler
und alle Echos den Erzvätersegen rufen
für die Rückkehrer,
ihnen kündend, wo im schattenlosen Licht
Elia mit dem Landmanne ging zusammen am Pfluge,
der Ysop im Garten wuchs

Land Israel,
nun wo dein Volk
aus den Weltenecken verweint heimkommt
um die Psalmen Davids neu zu schreiben in deinen Sand
und das Feierabendwort
Vollbracht
am Abend seiner Ernte singt –

steht vielleicht schon eine neue Ruth
in Armut ihre Lese haltend
am Scheidewege ihrer Wanderschaft.
7

Sie beruft sich auf den Stammvater Israels Abraham, um eine hoffnungsvolle Entwicklungsgeschichte des Staates Israel von der alten bis zur jungen Generation zu entwerfen, an deren Ende die Juden dort wieder von Heimat sprechen können:

Nun hat Abraham die Wurzel der Winde gefasst
denn heimkehren wird Israel aus der Zerstreuung.

Eingesammelt hat es Wunden und Martern
auf den Höfen der Welt,
abgeweint alle verschlossenen Türen.

Seine Alten, den Erdenkleidern fast entwachsen
und wie Meerpflanzen die Glieder streckend,

einbalsamiert im Salze der Verzweiflung
und die Klagemauer Nacht im Arm –
werden noch einen kleinen Schlaf tun –

Aber die Jungen haben die Sehnsuchtsfahne entfaltet,
denn ein Acker will von ihnen geliebt werden
und eine Wüste getränkt

und nach der Sonnenseite Gott
sollen die Häuser gebaut werden

und der Abend hat wieder das veilchenscheue Wort,
das nur in der Heimat so blau bereitet wird:
Gute Nacht!8

Mit der Inanspruchnahme des alttestamentlichen Visionärs Daniel verweist die Dichterin auf die Heilsgeschichte Israels und ihre Gefährdung: Während der babylonischen Gefangenschaft des Volkes deutet Daniel dem König Belsazar die Schrift, die bei seiner Schändung des Tempels von Jerusalem an der Wand erschien: Dein Reich ist zu Ende. Du bist gewogen und zu leicht befunden. Am Ende aller Reiche siegt das Reich Gottes. Daniel, zwischen Anfang und Ende stehend, hat das „verweinte Labyrinth zwischen Henker und Opfer durchwandert“ und „hebt seinen Finger“ warnend, dass Israel nicht am Ende diese Verheißung verfehle:

Daniel mit der Sternenzeichnung
erhob sich aus den Steinen in Israel.
Dort wo die Zeit heimisch wurde im Tod
Erhob sich Daniel,
der hohen Engel Scherbeneinsammler,
Aufbewahrer des Abgerissenen,
verlorene Mitte zwischen Anfang und Ende

Daniel, der Belsazar Blut lesen lehrte,
diese Schrift verlorener Wundränder,
die in Brand gerieten.

Daniel, der das verweinte Labyrinth zwischen
Henker und Opfer durchwandert hat,

Daniel hebt seinen Finger
aus der Abendröte
in Israel.
9

Wie diese von Ängsten und Warnungen umstellte Hoffnung auf den israelische Staat, so durchzieht das Werk von Nelly Sachs auch die ganz individuelle Trauer um den Geliebten, die zugleich immer die Trauer über die Inhumanität der Welt ist und in der als Trost höchstens die Hoffnung auf die Geburt eines „neuen Menschen“ aufscheint.

Auch dir, du mein Geliebter,
Haben zwei Hände, zum Darreichen geboren,
Die Schuhe abgerissen,
Bevor sie dich töteten.
Zwei Hände, die sich darreichen müssen
Wenn sie zu Staub zerfallen.
[…]
Während der kurzen Trennung
Zwischen deinem Blut und der Erde
Haben sie Sand hineingespart wie eine Stundenuhr
Die jeden Augenblick Tod füllt.
Deine Füße!
Die Gedanken eilten ihnen voraus.
Die so schnell bei Gott waren,
So wurden deine Füße müde,
Wurden wund um dein Herz einzuholen.10

*

Im Morgengrauen,
Wenn ein Vogel das Erwachen übt –
Beginnt die Sehnsuchtsstunde allen Staubes
Den der Tod verließ.

O Stunde der Geburten,
Kreißend in Qualen, darin sich die erste Rippe
Eines neuen Menschen bildet.

Geliebter, die Sehnsucht deines Staubes
Zieht brausend durch mein Herz
.
11

*

Abgewandt
warte ich auf dich
weit fort von den Lebenden weilst du
oder nahe.

Abgewandt
warte ich auf dich
denn nicht dürfen Freigelassene
mit Schlingen der Sehnsucht
eingefangen werden
noch gekrönt
mit der Krone aus Planetenstaub –

die Liebe ist eine Sandpflanze
die im Feuer dient
und nicht verzehrt wird –

Abgewandt
Wartet sie auf dich
12

Die Geburtsmetapher ist eines der zentralen Bilder von Nelly Sachs. In ihr verbinden sich die jüdischen Hoffnungen auf einen Messias mit dem christlichen Glauben an die Geburt Christi. Denn beide sind orientiert an der Hoffnung auf eine neue, friedliche und gerechte Welt. In diesem Sinne ist auch eines der bekanntesten Gedichte verstehen:

Einer
wird den Ball
aus der Hand der furchtbar
Spielenden nehmen.

Sterne
haben ihr eigenes Feuergesetz
und ihre Fruchtbarkeit
ist das Licht
und Schnitter und Ernteleute
sind nicht von hier.

Weit draußen
sind ihre Speicher gelagert
auch Stroh
hat einen Augenblick Leuchtkraft
bemalt Einsamkeit.

Einer wird kommen
und ihnen das Grün der Frühlingsknospe
an den Gebetsmantel nähen
und als Zeichen gesetzt
an die Stirn des Jahrhunderts
die Seidenlocke des Kindes.

Hier ist
Amen zu sagen
diese Krönung der Worte die
ins Verborgene zieht
und
Frieden
du großes Augenlid
das alle Unruhe verschließt
mit deinem himmlischen Wimpemkranz

Du leiseste aller Geburten.13

Wolfgang Popp, aus Bernhard Nolz, Wolfgang Popp (Hrsg.): Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung, LIT Verlag, 2013

 

BRUDER DES UNGEHEUERS ZEIT
Für Nelly Sachs

Trommeldonner in der Luftdichte,
im blitzgezähnten Gewölbe,
zur Sekunde geronnen als sei
er ein Bruder des Ungeheuers Zeit.

Wir aber sind Nebelwesen
nahe der Unsichtbarkeit und bitten
um Zeitsehen,

wenn das Aufblitzen uns rücklings erfaßt
und der Grashalm am Rande des Abgrunds
in rasende Verzückung gerät,
wenn die tanzende Biene vom Honig
des Nichts kostet und das im Schrecken
erzitternde Blatt ein letztes Wörtchen graviert
in den saphirleuchtenden Wind.

Anita Riede

 

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

Fakten und Vermutungen zur Autorin + InstagramKLGIMDb +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.

 

Nelly Sachs – Lesung und Interview aus dem Jahr 1965.

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