ICH ERZÄHLE DIR EINE GESCHICHTE
Ich erzähle dir eine Geschichte
von einem Himmel
der Himmel hat keine Bäume
der Himmel hat keine Vögel
der Himmel ist auch kein Erdbeerfeld
der Himmel ist ein Kleid
das der Erde zu weit ist
der Himmel hat morgens und abends
ein Dach
da wollen wir bleiben
der Himmel ist nicht so wie du denkst
der Himmel ist blau
Elisabeth Borchers
− Zu einem Motiv in der Lyrik von Nelly Sachs. −
Rabbi Pinchas sprach: Wer sagt, die Worte
der Lehre seien eine Sache für sich und
die Worte der Welt seien eine Sache für sich,
wird ein Gottesleugner genannt.
„Ich werde nicht ablassen, dem Feuer- und Sternenweg unseres Volkes Schritt für Schritt zu folgen und mit meinem armen Wesen Zeugnis abzulegen“, schrieb Nelly Sachs einmal in einem Brief. Alle Interpreten, die sich bisher zur Dichtung von Nelly Sachs geäußert haben, sind sich darin einig, daß Nelly Sachs „die große Dichterin jüdischen Schicksals“ (Walter A. Berendsohn) ist, der wie den alten heiligen Schriften – „Israel stellvertretend für die Heils- und Unheilsgeschichte der ganzen Schöpfung“ (Hans Magnus Enzensberger) steht. Enzensberger schrieb:
Nelly Sachs ist die letzte Dichterin des Judentums in deutscher Sprache, und ihr Werk ist ohne diese königliche Herkunft nirgends zu begreifen.
Daß dies keine bloß allgemeine Behauptung ist, sondern eine zutreffende Feststellung, läßt sich ganz zweifelsfrei nachweisen. Es gibt kaum ein Gedicht von Nelly Sachs, dessen Sprache nicht von den alten heiligen Schriften geprägt, dessen Bilder und Vorstellungen nicht von der jahrtausendealten Glaubensüberlieferung des Judentums gespeist oder zumindest angeregt wäre. Bei aller Freiheit der Gestaltung und bei aller künstlerischen Originalität – die Gedichte der Nelly Sachs haben einen durchaus eigenen, unverwechselbaren Klang – bleibt diese Dichtung doch immer (um es mit den Worten des Baalschem zu sagen) „an ihre obere Wurzel gebunden“.
Das heißt nun allerdings nicht, daß sich zu jedem dieser Gedichte eine entsprechende Bibelstelle auffinden ließe oder daß, wo dies möglich ist, ein solches auf einen alten Text zurückverweisende Gedicht Exegese dieses Textes wäre. Es heißt aber, daß die Vorstellungen, die selbst hinter den neugeschaffenen Bildern und Metaphern der Nelly Sachs stehen, in den heiligen Schriften Israels und in der jüdischen GIaubenstradition verwurzelt, von ihnen inspiriert sind.
Eine umfassende Untersuchung könnte dies detailliert nachweisen. Wir wollen uns an dieser Stelle nur auf ein einziges Bild, ein Motiv im lyrischen Werk von Nelly Sachs beschränken und einige thematisch-inhaltliche Beobachtungen mitteilen, die als Verständnishilfe dienen und zu einem gründlicheren Begreifen dieser Dichtungen beitragen könnten. Es ist nur ein sehr schmaler Ausschnitt, der hier herausgegriffen wird; ähnliche und umfassendere, weiterführende Untersuchungen müssen noch zu sehr vielen anderen Motiven angestellt werden, ehe es möglich ist, das Werk der Nelly Sachs recht zu verstehen: als eine individuelle Poesie, die jedoch selbst noch in ihrer persönlichsten Eigenart verbunden bleibt mit dem Wurzelgrund einer lebendigen Tradition.
Wenn in den Gedichten der Nelly Sachs vom Engel die Rede ist, dann ist dieses Wort nicht, wie bei vielen anderen Dichtern, metaphorische Umschreibung, nicht autonome poetische Setzung. Wo Nelly Sachs von Engeln spricht, da meint sie dieselben Wesen, von denen die heiligen Schriften Israels berichten – und selbst dort noch, wo sich ein direkter Bezug zu diesen Schriften nicht nachweisen läßt und sich das dichterische Wort verselbständigt, bleibt die Rückbeziehung auf die vorgegebene Tradition erhalten, ohne deren Kenntnis vieles dunkel bleiben müßte.
An einigen Stellen in den Gedichten der Nelly Sachs, in denen der Engel genannt wird, ist die Beziehung zu bestimmten, genau zu fixierenden biblischen Schriften ganz offenkundig. Von ihnen soll zunächst gesprochen werden.
In dem Gedicht „Chor der Steine“ – wo im Folgenden lediglich Seitenzahlen ohne Titelangabe genannt werden, ist stets der Band Fahrt ins Staublose von 1961 gemeint, der die gesammelten Gedichte von Nelly Sachs enthält – sagen die Steine:
Ihr Jakobshäupter,
Die Wurzeln der Träume halten wir versteckt für euch,
Lassen die luftigen Engelsleitern
Wie Ranken eines Windenbeetes sprießen.
Die angeredeten Jakobshäupter sind die Kinder Israels, die Nachkommen Jakobs, dessen anderer Name nach 1. Mose 32, 29 Israel ist; für sie sind die Steine, die zum tödlichen Wurf aufgehoben werden, Engelsleitern, die durch den Tod den Weg zu Gott freigeben. Das Bild bezieht sich auf 1. Mose 28, 10-17, wo berichtet wird, wie Jakob von einer Himmelsleiter träumt, an der die Engel Gottes auf und nieder steigen und an deren oberster Sprosse Gott steht, der seinen Segen über Jakob und seine Nachkommen spricht.
In dem Gedicht „Jakob“ (90/91) wird Jakob als „Erstling im Morgengrauenkampf“ bezeichnet, und als Sprecherin seiner Nachkommen sagt die Dichterin vom Volk Israel, es sei
vom schweren Engel über uns
zu Gott verrenkt
wie du!
Hier wird verwiesen auf 1. Mose 32, 22-33; dort wird vom nächtlichen Kampf Jakobs mit einem Manne erzählt, der Jakobs Hüfte verrenkt, ihm nach dem Kampf den Namen Israel („Gotteskämpfer“) verleiht und ihn segnet. „Und Jakob hieß die Stätt Pniel (Angesicht Gottes); denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen“ (Vers 31). Demnach wäre also Gott der Mann, mit dem Jakob gekämpft hat. Nach einer anderen Deutung, der auch Nelly Sachs sich anschließt, war der Kämpfer aber nicht Gott selbst, sondern ein Engel; Hosea 12, 5 heißt es von Jakob: „Er kämpfte mit dem Engel und siegte“ – im Vers zuvor wird allerdings gesagt: „in seiner Kraft hat er mit Gott gekämpft.“ Dieses Zitat gibt Anlaß zu der Feststellung, daß Gott und Engel in den heiligen Schriften bisweilen als ein und dieselbe Person gesehen werden. In der nachsinaitischen Wüstenwanderung Israels sendet Gott (Jahwe) den „Engel Gottes“ (Malach Jahwe), der das Volk führen soll. Von diesem Engel und seiner Funktion in der Geschichte gibt es verschiedene Auffassungen in den einzelnen Quellenschriften; die meisten stimmen jedoch darin überein, daß der Engel Jahwes Stellvertreter, Jahwes persongewordene Hilfe für Israel ist. In einigen Erzählungen wird dabei zwischen Jahwe und seinem Engel nicht scharf getrennt; hier ist der Engel nicht lediglich Beauftragter und Bote (− dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Malach −), sondern eine Erscheinungsform Jahwes selbst, der in menschlicher Gestalt seinem Volk erscheint. In der Mehrzahl der biblischen Schriften jedoch sind Engel die Boten und Diener Gottes, deren Aufgabe der Lobpreis Gottes und die Ausführung seiner Befehle ist.
Auf die erwähnte Erzählung in 1. Mose 32, 22-33, den Kampf Jakobs mit dem Engel, wird noch einmal angespielt, wenn es von dem heutigen, ins alte Land heimgekehrte Israel heißt:
Dein Sand wieder,
deiner Wüste Goldmaske
vor der Engelskämpfe
heruntergebogenem Himmel.
In dem Gedicht über die Brunnen, die Israels Tagebücher seien, heißt es:
Gesicht des Engels
über Hagars Schulter geneigt
wie eine Nebelhaut
ihren Tod fortblasend.
Damit wird verwiesen auf 1. Mose 21, 9-21, wo von der Austreibung der Magd Hagar und ihres Sohnes Ismael erzählt wird, die der Engel Gottes in der Wüste vor dem Verdursten bewahrt. Der Engel wird in diesem Gedicht genannt als Erretter vom Tode – genannt zum Trost für das heutige Israel.
Eine weitere Beziehung zu einem biblischen Text enthält das Gedicht über die Tiere und ihre von den Menschen unbegriffenen Leiden, das mit den Worten schließt:
Nicht der sterndeutende Bileam
wußte von eurem Geheimnis,
als seine Eselin
den Engel im Auge behielt!
Hier wird Bezug genommen auf 4. Mose 22, 21-41: nicht der heidnische Prophet Bileam, sondern seine Eselin sieht den Engel, der – wie die beiden Cherubim, die Gott als Wächter vor den Garten Eden gestellt hatte (1. Mose 3, 24) – ein „bloßes Schwert“ in der Hand hält.
Zusammen mit Christus wird der Prophet Elia von Nelly Sachs zu den „großen Verzweiflern“ gerechnet, die so geliebt haben,
daß der Nacht Granit aufsprang
vor ihres Blitzes weißschneidendem Geweih.
Von Elia wird gesagt, er habe
immer den Engelfinger
wie einen Müdigkeit ansaugenden Mondstrahl
an seine Schwere geheftet.
Diese Verse verweisen auf 1. Könige 19, die Erzählung von dem ermüdeten und verzweifelten Propheten Elia, der vor seinen Verfolgern in die Wüste flieht und Gott bittet, seine Seele von ihm zu nehmen; doch ein Engel rührt ihn an und ernährt ihn.
Erwähnt seien noch zwei weitere Gedichte, in denen von Engeln die Rede ist und die sich auf bestimmte Bibelstellen beziehen. So wird Daniel, der Traumdeuter, der dem König Belsazer das „Mene, mene, tekel, u-pharsin“ (Daniel 5) ausdeutete, „der hohen Engel Scherbeneinsammler“ genannt. Damit wird Daniel als einer gesehen, der einsammelt, zusammensetzt und damit deutet, was die Engel im Namen Gottes ankündigen. Und in dem großen Gedicht „Die Stunde von Endor“ – Endor ist nach 1. Samuel 28 der Ort, an dem Saul in der Nacht vor seinem Untergang durch eine Totenbeschwörerin den verstorbenen Samuel zu sich rufen ließ spricht die Dichterin in einem poetischen Bild von den „Cherubim im zerfetzten Schwarzgefieder / diamantenbrennend“. −
In den Gedichten von Nelly Sachs ist – ganz wie in den heiligen Schriften – der Engel als Bote Gottes Vertreter einer anderen, außerirdischen Welt; er stammt aus „einem früheren Weltall / ohne Zeit“ und verkörpert die Welt Gottes vor dem Sündenfall („vorweltlich ohne Apfelbiß“). Doch in unserer Welt, in der „die Erinnerungen an Urzeiten“ ausgetilgt sind, haben sich die Engel vor den Schrecken der Zeit zu den sanften Geschöpfen zurückgezogen, so daß – im Gegensatz zur Urzeit – heute
die Engel nur noch mit Vögeln und Blumen spielen
oder im Traume eines Kindes lächeln.
Von einer Welt, in der auf das Dasein Israels, des Volkes Gottes, nur „die schwarze Antwort des Hasses“ zu hören ist, heißt es, daß
alle helfenden Engel
mit blutenden Schwingen
zerrissen im Stacheldraht
der Zeit hingen.
Das Leid, der Tod ist übermächtig geworden: selbst die Engel, die Gott seinem Volk zuhilfe gesandt hat, können nicht mehr helfen. Rettung kann erst später kommen, ist
nur mit Himmelskunde möglich
wenn die magischen Einschiffungen
am Flügel der Cherubim aus den verwilderten Augengewässern gezogen werden.
Heute ist es der „Staub“ – eine zentrale Chiffre im Werk von Nelly Sachs, die Tod und Vergänglichkeit impliziert –
der sein Wesen auffahren läßt,
Wesen, das sich einmischt in die Rede
der Engel und Liebenden.
Engel und Liebende werden hier in eins gesehen, sie stehen für die andere, göttliche Welt, in die sich jetzt der Staub einmischt.
Engel sind es auch, die hinter dem Tode die Gestorbenen, Getöteten erwarten. Hiervon sprechen besonders häufig die Gedichte des ersten, 1946 erschienenen Gedichtbandes In den Wohnungen des Todes, der „Meinen toten Brüdern und Schwestern“ gewidmet ist. In der Grabschrift für den ermordeten Hausierer heißt es, er hatte
einen weiten Weg zu gehn
Von Nadeln und Zwirn bis zu den Engeln,
von seinem Erdenalltag bis zur Welt Gottes, deren Repräsentanten die Engel sind und zu denen hin nur der Tod führt: die Sehnsucht muß erst „Martermeilen“ durcheilen, um zum Segensraum der „Engel auf den Urgefilden“ zu gelangen. Der „Engel mit den Körben / Für die unsichtbaren Dinge“ pflückt für die Ewigkeit das Unsichtbare der Gemordeten („die Blicke der auseinandergerissenen Liebenden“). „Die Nacht gehört den Engeln“ in einem Krankenzimmer, in dem ein Sterbender mit dem Tode ringt, und die Kranken „kämpfen mit dem Erzengel / der niemals seine Unsichtbarkeit verläßt“ und der die Gestorbenen die „Wege ins Freie“ führen wird. In all diesen Bildern sind die Engel Todesengel; nicht im Sinne todbringender Boten – in dieser Bedeutung finden sie sich in den Gedichten von Nelly Sachs an keiner Stelle −, sondern als Wesen, die hinter dem Tode warten und über ihn hinweg gleiten als
die sanften Rutengänger
Ruhe-Engel, die den verborgnen Quell
uns angerührt, der von der Müdigkeit
zum Sterben rinnt.
In der Tiefe des Hohlwegs
Zwischen Gestern und Morgen
Steht der Cherub
Mahlt mit seinen Flügeln die Blitze der Trauer
Seine Hände aber halten die Felsen auseinander
Von Gestern und Morgen
Wie die Ränder einer Wunde
Die offenbleiben soll
Die noch nicht heilen darf.
So heißt es im „Chor der Tröster“, die nicht mehr trösten können: der Cherub, der Engel, verhindert den vorschnellen Trost für die Schrecken und Leiden, die Israel erfahren hat. Trost ist noch nicht möglich, wo noch alle Wunden frisch sind. Doch mit dieser Feststellung wird nicht Unversöhnlichkeit oder gar Rache gefordert. Im Gegenteil: der „Engel der Bittenden“ wird „nun, wo das Feuer wie ein reißendes Abendrot“ (− in Fahrt ins Staublose findet sich hier der Druckfehler „Abendbrot“, die richtige Lesart ist in der 1949 erschienenen Ausgabe von Sternverdunkelung enthalten −) / „alles Bewohnte verbrannte zu Nacht“ gebeten:
segne den Sand,
laß ihn die Sprache der Sehnsucht verstehn,
daraus ein Neues wachsen will aus Kinderhand,
immer ein Neues!
Nicht Rache also, nicht Unversöhnlichkeit wird gepredigt, sondern es wird um den Weg zu einem neuen Anfang gebeten. Dieser Zug ist kennzeichnend für das gesamte Werk von Nelly Sachs, in dem nirgends der Ruf nach Vergeltung für das unvorstellbare Leid laut wird, das ihrem Volk angetan worden ist. Sie weiß, wie leicht die Erde sein wird,
wenn schwarzgeheizte Rache
vom Todesengel magnetisch
angezogen
an seinem Schneerock
kalt und still verendet.
Nicht ein rächender Todesbote ist hier der Todesengel: vielmehr löscht er die Rache aus und macht dem Menschen damit die Erde leicht. Den Mördern, die den schon todnahen Greisen die letzten Atemzüge geraubt haben, wird gesagt, daß ein Engel das, was die Mörder fortgeworfen haben, einsammeln wird, und
Aus der Greise verfrühter Mitternacht
Wird sich ein Wind der letzten Atemzüge auftun,
Der diesen losgerissenen Stern
In seines Herrn Hände jagen wird.
Auch hier ist der Engel nicht Rächer, sondern Bote Gottes, der die letzten Atemzüge, die Leiden seines Volkes sammelt zu einem Wind, der die Erde Gott in die Hände treibt. Die gesammelten Leiden Israels also tragen dazu bei, daß die Erde zu Gott zurückkehrt; hinter diesen Versen steht vermutlich die alte Vorstellung vom stellvertretenden Leiden Israels für die Welt.
Die Hände der Töter, an denen „wie Pilze wachsen die kleinen Tode“, schließen „die Wächteraugen der Cherubim“: die Träger von Gottes Gewalt und Herrlichkeit werden überwunden von den Mördern seines Volkes und können keine Hilfe mehr bringen,
und die Engel, die Tränenverspäteten, die Goldgräber
in den Schmerzgebirgen,
die Blumen aus dem Blätterwerk Mensch,
haben sie wieder tief unter den Grabsteinen
der Tiergötter vergraben.
Engel als „Blumen aus dem Blätterwerk Mensch“: dieses Bild deutet auf die bei Nelly Sachs häufiger anzutreffende Vorstellung hin, daß Tote zu Engeln Gottes werden.
Verfallene mit dem Gesicht im Staub
verspüren schon den Schulternschmerz der Flügel,
die sie, nach dem Tode zu Engeln gewandelt, tragen werden.
Viele Engel sind euch gegeben
Aber ihr seht sie nicht
sagt der „Chor der Wolken“ zu den Lebenden; im „Chor der Waisen“ sprechen die getöteten Eltern zu den verwaisten Kindern:
unsere Augen sind Engelaugen geworden
Und sehen euch an
und der „Chor der Sterne“ sagt von der Erde, der erblindeten Schwester: „Die im Staube begann ihr Werk: Engel zu bilden“. In dem Gedicht „David“ heißt es zum Abschluß, nach dem Hinweis auf die Verworfenheit des Königs vor seinem Tode:
von Gestalt zu Gestalt
weint sich der Engel im Menschen
tiefer in das Licht.
Dieses Bild ist vermutlich geprägt von dem Gedanken, daß im Menschen der Engel verborgen ist, der durch den Tod zum Licht befreit wird.
Die Grabschrift für eine Ertrunkene schließt: „Fische, die Engel der Tiefe, leuchten im Licht deiner Wunde“. Hier werden die Fische, von denen die Tote umgeben ist, zum Bild für die Engel, die sich der Toten annehmen. Dieses Bild begegnet mehrfach, so, wenn gefragt wird,
ob es im Meer schluchzt
voll von Engeln der Tiefe
die zittern den heiligen Schreck aus
in die Luft gezogen zu werden,
oder wenn ein Gedicht beginnt:
Eine Windschleppe
mit den Atemzügen der Toten.
Der Angler zieht den Silberfisch hoch
durch die wirkliche Engelgesellschaft.
Die Fische, die „Engel der Tiefe“ geraten, wenn sie in die Luft gezogen werden und sterben müssen, in die „wirkliche Engelgesellschaft“, d.h. unter die zu Engeln gewordenen Toten, die in der Luft, in den Wolken verborgen sind. In einer Grabschrift wird von der Händlerin gesagt, die Tiere auf dem Markt verkauft hatte:
Umstrahlt von heimkehrenden Fischen im Tränengloriengewand
Versteckten Füßen der Tauben die geschrieben für Engel im Sand
hier sind die Spuren der getöteten Tauben Schriftzeichen für den Engel, der hinter dem Tod wartet. −
Wo in der Dichtung von Nelly Sachs von den Cherubim gesprochen ist, da wird die Assoziation zu den gleichnamigen Engelwesen hergestellt, von denen in den biblischen Schriften die Rede ist. Über der Bundeslade, die im Allerheiligsten der Stiftshütte Israels stand, in der die beiden Gesetzestafeln aufbewahrt wurden, erhoben sich zwei Cherubimgestalten aus Gold (2. Mose 25, 17-22); der Platz zwischen diesen beiden Cherubim war der Ort, an dem Gott mit Mose reden wollte. Auch der später von Salomo erbaute Tempel in Jerusalem war mit mehreren Cherubim-Gestalten geschmückt (1. Könige 6, 23-35). Ein Cherub ist in der Darstellung der alten Schriften ein Engel, der die göttliche Herrlichkeit zu tragen und über sie zu wachen hat.
Von diesen Cherubim heißt es in einer Grabschrift bei Nelly Sachs, daß sie für eine ermordete Schwachsinnige stritten, die ohne Hilfe auf dem Weg zu Gott ist. Das heißt, daß die Träger der Größe und Macht Gottes sich für den verachtetsten und geringsten Menschen einsetzen, der auf dem Weg zu ihm ist. Aber auch diese Wächter Gottes können nicht verhindern, daß Tod und Vernichtung sein Volk heimsucht:
Am Bette des Waisenkindes
stehen die vier Cherubim
mit vorgeschlagenen Flügeln,
angesichtsverhüllt
die als Wächter bestellten Cherubim, die das Morden nicht verhindern können, verhüllen in Trauer um die Schrecken ringsum ihr Angesicht.
In einem ihrer Gedichte spricht Nelly Sachs
von stirngeäugten Cherubim,
die der Sternflocken magische Formen aussäen
in einen düsteren Anfang
und Geburt und Sterben
im Wolkenspiel üben
und Vorahnung und lautloses Echo
in Träumen verbergen
und heilige Sehnsucht
in einem Stotternden verstecken.
Das Bild von den sterngeäugten Cherubim ist von der Dichterin geschaffen, doch die Gesamtvision geht auf die jüdische Mystik zurück, von der viele Gedichte der Nelly Sachs geprägt sind und ohne deren Kenntnis manches in ihnen unklar oder mißverständlich sein könnte.
So stammt etwa „METATRON, der höchste aller Engel“ aus der jüdischen Mystik, und das Bild vom einsamen Menschen, der sucht, „Mit den Kindergesichtern der Cherubim zu verwelken / am Abend“, findet seine Erklärung im Buch Sohar, einem kabbalistischen Kommentar zum Pentateuch, der für Nelly Sachs von großer Bedeutung wurde und der ihre Bilder- und Gedankenwelt beeinflußt hat. Die Erklärung zu dem Bild von den Kindergesichtern der Cherubim gibt Nelly Sachs selbst, wenn sie in den Anmerkungen zu der szenischen Dichtung Beryll sieht in der Nacht schreibt:
Die Cherubim sind nach dem Sohar die mit Kindergesichtern ausgestatteten Opfer der Sünden der Väter. Sie gehen unter in Flammen, erheben sich wieder aus der Asche. Vergänglichkeit und Auferstehung ist in ihnen personifiziert.
Auch die Kenntnis der Mystik des Chassidismus ist für das volle Verständnis der Dichtung von Nelly Sachs von Wichtigkeit. „Abraham der Engel“ heißt eins ihrer Gedichte; man könnte vielleicht annehmen, daß hier der Erzvater Abraham als Engel bezeichnet wird, wie beispielsweise auch in der Bibel Menschen gelegentlich Engel genannt werden: etwa der Priester, der „ein Engel des Herrn“ heißt (Maleachi 2, 7) oder der Prophet Haggai, dem der gleiche Ehrentitel beigelegt wird (Haggai 1, 13). Doch diese Annahme wäre falsch. „Abraham der Engel“, auf den sich das ganze Gedicht bezieht, war ein Chassid, ein Sohn des großen Maggids von Mesritsch, des Rabbi Dow Bär. Rabbi Abraham der Engel (gestorben 1776) gehörte zur zweiten Generation der Chassidim; er lehrte asketische Abgeschiedenheit als den rechten Weg zu Gott. Von ihm ist in den von Martin Buber vorgelegten Erzählungen der Chassidim zu lesen:
Die Erscheinung Rabbi Abrahams war zuweilen so furchtbar erhaben, daß die Menschen sie nicht ertragen konnten… Die Enkel des Baalschem, die Jünglinge Baruch und Efraim, redeten einst miteinander: „Warum wohl die Leute den Sohn des Maggids einen Engel nennen? Wir wollen ihn uns ansehen.“ Kaum aber hatten sie von der Straße aus das Antlitz Rabbi Abrahams im Fenster erblickt, flohen sie in solcher Hast, daß Efraim das Psalmenbuch entfiel.
Vieles in den Dichtungen von Nelly Sachs ist – nach ihrer eigenen Aussage – angeregt durch das Werk „Die jüdische Mystik“ von Gershom Scholem. Sie habe, als sie lange Jahre im Krankenhaus verbringen mußte, einen tiefen Sinn und Trost in den Büchern der jüdischen Mystik gefunden, aber auch bei anderen Mystikern, etwa Jakob Böhme. Doch hat sie die Vorstellungen der Mystiker nicht einfach Übernommen, sondern ist, auch in den Sohar-Gedichten, einen eigenen Weg gegangen und hat versucht, ihr „eigenes inneres Universum zu bilden“.
Wir haben hier nur ein einziges unter vielen anderen Motiven in der Lyrik von Nelly Sachs betrachtet und dazu einige Beobachtungen mitgeteilt, die in einer größeren und umfassenderen Untersuchung sicherlich noch verdeutlicht und vielleicht auch anders akzentuiert werden könnten. Eine solche detaillierte Untersuchung aller Themen und Motive wäre notwendig, um zum genaueren Verstehen dieser Dichtung hinzuführen. Sicher hatte Hans Magnus Enzensberger recht, wenn er sagte, die Gedichte der Nelly Sachs lösten sich nicht „in der Lauge der Deutungen“ auf und seien Rätsel, „die in ihrer Lösung nicht aufgehen, sondern einen Rest behalten – und auf diesen Rest kommt es an.“ Aber derartige Untersuchungen müssen das Rätsel ja nicht zerreden, sondern können zu ihrem Kern führen, indem sie Verständnisschwierigkeiten aus dem Wege räumen. Wo in der Breite so wenig Kenntnis des Judentums und seiner Geistesgeschichte vorhanden ist wie bei uns, ist es nötig, die für uns verschüttete Tradition wieder aufzudecken, die in der Dichtung von Nelly Sachs weiterlebt. Ihr Werk ist unserer vollen Aufmerksamkeit wert.
Jürgen P. Wallmann
– Zur Einweihung eines Gedenkzimmers in der Königlichen Bibliothek in Stockholm. –
Im Mai 1940, als Hitlers Truppen auf Paris marschierten und in Deutschland die Vernichtung der Juden Europas planvoll vorbereitet wurde, konnte als eine der letzten eine deutsche Jüdin nach Schweden fliehen, die zwar schon vor 1933 in einigen Zeitungen Gedichte publiziert hatte, die aber so gut wie unbekannt geblieben war. Sechsundzwanzig Jahre später, an ihrem 75. Geburtstag, als sie zusammen mit dem Israeli Samuel J. Agnon den Nobelpreis für Literatur in Empfang nahm, wurde ihr Name in aller Welt bekannt: Nelly Sachs, die „letzte Dichterin des Judentums in deutscher Sprache“, wie Hans Magnus Enzensberger sagte.
Dass Nelly Sachs die Schreckenszeit überleben konnte, dass sie wieder zu schreiben begann und dass ihr Werk bekannt wurde, hat sie in erster Linie ihren schwedischen Freunden zu verdanken, die sich schon früh um die Verjagte und Verstörte kümmerten. „Gerettet aus dem Rachen der Wölfe nahmst Du Zuflucht zum Winterland“, schrieb später Johannes Edfelt, der sich ihrer als einer der ersten annahm. Schwedische Dichter ermutigten sie, sorgten für materielle Hilfe, standen ihr bei in den vielen Jahren, die sie, seelisch und körperlich tief verwundet, in Anstalten und Spitälern verbringen musste. In einem Brief, der, wie so viele, aus dem Krankenhaus kam, schrieb sie mir 1961:
Ich bekomme wieder viel Mut in dem dunklen Schicksal, in dem ich stehe. Hier empfange ich so viel Güte und Liebe, dass ich nur Grund habe dankbar zu sein.
Am 12. Mai 1970 ist Nelly Sachs in Stockholm gestorben, 78 Jahre alt. Zu ihrem 80. Geburtstag wurde ihr eine posthume Ehrung zuteil, wie sie noch keinem deutschsprachigen Dichter erwiesen wurde: Am 10. Dezember, dem Tag der Nobelpreisübergabe, wurde in der Königlichen Bibliothek in Stockholm ein Gedenkzimmer für die Dichterin der Oeffentlichkeit übergeben; ähnliche Räume gab es in dieser Bibliothek bislang nur für Dag Hammarskjöld und für Selma Lagerlöf. Dieser Gedenkraum enthält ausser den von Nelly Sachs hinterlassenen Büchern das Archiv mit Handschriften und Briefen sowie einen Teil der Einrichtung aus der bescheidenen Wohnung vom Bergsundsstrand 23, in der Nelly Sachs während ihres Stockholmer Exils gelebt hatte. Das Material wurde von Bengt und Margaretha Holmqvist zur Verfügung gestellt, denen Nelly Sachs ihren Nachlass anvertraut hatte. In seiner Begrüssungsansprache hiess Reichsbibliothekar Uno Willer, der ehemalige Sekretär der Schwedischen Akademie, besonders die Gäste aus der Bundesrepublik und der DDR willkommen. Die beiden Fahnen vor dem Portal der Bibliothek – die Flaggen von Berlin und Stockholm – symbolisieren, nach den Worten von Willers, die beiden Pole im Leben der Nelly Sachs, die, in Berlin geboren, in Schweden ihre Heimat gefunden habe. Uebrigens hatte der Regierende Bürgermeister der Stadt Berlin, deren Ehrenbürgerin die Dichterin 1967 geworden war, einen Blumengruss nach Stockholm gesandt.
Einen besonderen Akzent erhielt die Feierstunde durch die Rede des schwedischen Ministerpräsidenten Olaf Palme, der zunächst davon sprach, dass viele der Emigranten, die während des Krieges nach Stockholm gekommen seien, zur kulturellen Vermittlung zwischen den Völkern beigetragen hätten – so auch Nelly Sachs, die eine Reihe von schwedischen Dichtern (u.a. Edfelt, Ekelöf, Lindegren, Vennberg ) ins Deutsche übertrug. Nicht ohne Grund hatte Alfred Andersch schon vor Jahren geschrieben, die Uebersetzungsarbeit der Nelly Sachs stelle „heute das stärkste Verbindungsglied zwischen der schwedischen Dichtung und Deutschland dar, und diese Arbeit wird ohne jedes Aufsehen und ohne alle Unterstützung geleistet“.
Ministerpräsident Palme, der in seiner in Schwedisch gehaltenen Rede aus deutschen Gedichten von Nelly Sachs zitierte, verwies darauf, dass diese Dichtung in der deutschen Sprache verwurzelt sei. Aber man sei stolz darauf, dass das Werk einer der grössten Dichterinnen unserer Zeit in Schweden entstanden sei. Er dankte den Freunden der Nelly Sachs, welche die Einrichtung des Gedenkzimmers ermöglicht hätten; dieser Gedenkraum stehe von nun an nicht nur den Forschern, sondern allen Interessierten zur Verfügung.
Unter den Büchern, die Im Gedenkraum aufbewahrt werden, fallen zunächst einige alte, zerlesene Bände auf: Die wenigen Bücher, die Nelly Sachs mitnahm, als sie 1940 „landsflüchtig / mit dem schweren Gepäck der Liebe“ in Stockholm eintraf: Goethe, Heine, Conrad Ferdinand Meyer etwa. Sodann die Bücher, die ihr schwedische und deutsche Freunde in den beiden letzten Jahrzehnten geschickt und gewidmet hatten.
Immerhin waren es junge Deutsche, die das Werk von Nelly Sachs zunächst für sich entdeckt und dann in Deutschland publik gemacht hatten. Dafür war die Dichterin stets dankbar. In einem Brief vom 24. Juni 1966 heisst es:
Es ist für mich immer wieder ein Erlebnis, dass ich nach so vielen Jahren äusserster Einsamkeit nun die neue Jugend gewinnen durfte.
Und 1965, als sie in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Empfang nahm, hatte sie gesagt:
Viele Begegnungen mit einzelnen deutschen Menschen sind mir unvergesslich geworden und zeigten mir, wie auf einer Sternenkarte, das Entstehen eines neuen Zeichens, daraus Hoffnung und Frieden sich wieder entwickeln können.
Enttäuschend war freilich, dass jetzt kaum einer der deutschen Autoren den Weg nach Stockholm gefunden hatte, dass – zum besonderen Befremden der Schweden – auch der Frankfurter Verleger von Nelly Sachs nicht anwesend war; Siegfried Unseld hatte die Einladung der Königlichen Bibliothek nicht einmal beantwortet. Eine Wand des Gedenkzimmers zeigt ein grosses Photo mit dem Blick aus dem 3. Stock des Hauses Bergsundsstrand 23; es ist ein Blick auf Hafen- und Industrieanlagen. In einer Nische steht das kleine Bett der zierlichen und gebrechlichen Dichterin – unwillkürlich drängt sich dem Betrachter die Anfangszeile von „Kann keine Trauer sein“ auf, einem der letzten Gedichte Gottfried Benns:
In jenem kleinen Bett, fast Kinderbett, starb die Droste…
Nelly Sachs, die in ihrem Werk die Erwähltheit Israels als eine Erwählung zum stellvertretenden Leiden interpretierte, hat über das Land, das sie vertrieb, nie ein Wort des Hasses gesprochen. Ihre Dichtung galt dem Frieden und der Versöhnung, damit, wie sie sagte, „die Verfolgten nicht Verfolger würden“: damit endlich aufhöre das „Urzeitspiel von Henker und Opfer, Verfolger und Verfolgten“.
Ihre Dichtung, prophetisch und eigenes Erleben zu kosmischen Visionen gestaltend, steht fremd und ungewohnt in unserer zeitgenössischen deutschen Literatur. Respekt und Achtung sind ihr gewiss – aber wird sie Zukunft haben. Auf diese skeptische Frage, die in Deutschland gestellt worden ist, mag einer der schwedischen Freunde antworten, die als erste die Bedeutung der Nelly Sachs erkannt haben. Olof Lagercrantz, Chefredakteur der grössten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, schrieb:
Sie war eine heroische Natur und gelangte in menschliche Zonen, die nur selten betreten werden. Die jüdische Katastrophe ist wahrscheinlich nur eine von vielen im Atomzeitalter. Der Massentod wird zum ständigen Begleiter unseres Geschlechts. Unter Schmerzen zu altern und zu zerschellen an einem Uebermass an Leid, wird eine Erfahrung für immer mehr Menschen. Das bedeutet, dass Nelly Sachs zu den Dichtern gehört, die wir in Zukunft am allermeisten brauchen.
Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966
Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“
Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner
„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs
Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966
Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016
Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016
Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020
Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020
Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020
Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021
Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.
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