DICHTEN
Ein Gedicht schreiben
Ist eine verzeihliche Torheit
(Es gibt immer einen Entschuldigungsgrund)
Es abtippen
Ist eine verdächtige Torheit,
Aber es drucken lassen:
Dafür gibt es keine Worte.
Nicanor Parra wurde 1914 in der Nähe von Chillán, einer Stadt in Mittelchile, die durch ihre Erdbeben bekannt wurde, geboren. Sein Vater war Volksschullehrer mit einer Neigung zum Bohemien; er spielte Gitarre und kam oft tagelang weder nach Hause noch zur Arbeit. Die Mutter stammte aus einer Kleinbauernfamilie und erscheint in Parras Dichtung stets als Mittelpunkt der Familie.
Während der Kindheit des Dichters wechselte seine Familie häufig den Wohnort. Sie zog zwischen Mittel- und Südchile, zwei klimatisch und kulturell sehr verschiedenen Gegenden, mehrmals um. Der für Parras Leben und Dichtung bestimmende Landesteil ist jedoch Mittelchile. Das Haus, das seine Familie in Chillán bewohnte, stand auf halbem Weg zwischen Schlachthof und Friedhof. Manchmal, erinnert sich der Dichter, begegneten einander auf dieser Straße Schlachtvieh und Leichenzüge.
Parra studierte Physik und Mathematik an der Universität Santiago. Seine ersten Gedichte (1935–1943) waren eine Entgegnung auf die Poesie der damaligen Avantgarde, der er und andere junge Dichter Unklarheit und Hermetismus vorwarfen. Sie kritisierten ihre „Subjektivität“, durch die sie auf einen engen Leserkreis beschränkt blieb. Es braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu beschäftigen, daß sie keine Differenzierung machten zwischen Subjektivität – die durchaus zur menschlichen Realität gehört – und entfremdeter Subjektivität. Entscheidend ist, daß sie als Antwort auf Werke wie Aufenthalt auf Erden von Pablo Neruda (1933) und Altazor von Vicente Huidobro (1931) eine Dichtung forderten, die Bilder der „sozialen Objektivität“ enthalten und deren Sprache allen gesellschaftlichen Schichten verständlich sein sollte. Aus diesem Grund nannten sie sich selbst „Dichter der Klarheit“. Ihre künstlerischen Absichten kann man als eine Art Neorealismus bezeichnen. Das Interesse dieser jungen Dichter galt vor allem der gesellschaftlichen Funktion, die die Dichtung zu erfüllen hatte. Dazu machten sie Anleihen bei den Ausdrucksmitteln der literarischen Tradition vor dem „Vanguardismo“. Zweifellos waren sie der Täuschung erlegen, die Formeln und Bilder der vorhergegangenen bürgerlichen Literatur seien geistiges Eigentum des Volkes geworden. Der Einfluß García Lorcas war groß, aber blieb an der Oberfläche. Tatsächlich ersetzten die „Dichter der Klarheit“ (einschließlich Parras) im allgemeinen bloß die intensive Auseinandersetzung Nerudas und seiner Generation mit der Einsamkeit und Selbstentfremdung des Menschen durch ein System von Schablonen der herrschenden Ideologie, vor allem in bezug auf das Leben auf dem Land, das als Schauplatz „idyllischer“ zwischenmenschlicher Beziehungen verklärt wird. Aus dieser Periode stammt Parras erstes Buch, Cancionero sin nombre, das 1937 erschien.
In der weiteren Entwicklung seines literarischen Schaffens kam Parra jedoch zu der Erkenntnis, daß dieses Weltbild falsch war. Auf dem Lande wie in der Stadt herrschten dieselben Verhältnisse der Abhängigkeit und sozialen Ausbeutung. Im Gegensatz zu seinen frühen Gedichten – in denen gleichwohl schon immer eine gewisse Ironie zu spüren war – sind seine späteren Werke voll aggressiver und vorbehaltloser Kritik an den offiziell verkündeten Werten. Aus der ersten Zeit gibt es ein Gedicht, in dem ein „trauriges, nachdenkliches Mädchen… tausendfach unbefleckte Rose“ besungen und mit einer Taube verglichen wird. Jetzt dagegen stellt der Dichter die Tauben als heuchlerische und bösartige Vögel dar: In der „Ode an ein paar Tauben“ werden diese Tiere nicht, wie in einer Ode zu erwarten, gepriesen, sondern geschmäht, wodurch ein wirkungsvoller Gegensatz zwischen dem herkömmlichen Bild, der Einstellung des Autors und dem Inhalt entsteht. Ein anderes Beispiel für Parras Entmythologisierung des Landes als Stätte der Geborgenheit und des Glücks ist „Der Tunnel“. (Später wird die Beschreibung des chilenischen Landes zu einer dantesken Reise durch die Hölle, die mit „schrecklichem Gelächter“ und „tiefen Seufzern“ endet.) Freilich nahm diese Entwicklung einige Jahre in Anspruch. Inzwischen reiste der Dichter mit Stipendien in die USA (1943–1945) und nach England (1949), um sein naturwissenschaftliches Studium fortzusetzen. In diesen Ländern vertiefte er seine Beziehung zur angelsächsischen Dichtung, vor allem zu Robert Browning und T.S. Eliot (der eine in Parra schlummernde Ironie zur Entfaltung brachte). Ein Teil der Verse, die Parra in diesen Jahren schrieb, ist in seinem zweiten Buch, Poemas y antipoemas (1954), vertreten.
Die Bedeutung dieses Werks innerhalb der chilenischen Dichtung ist außerordentlich groß und nur mit der von Aufenthalt auf Erden zu vergleichen. Sein Einflußbereich vergrößerte sich schrittweise und umfaßte schließlich (zwischen 1962 und 1970) nahezu die gesamte lateinamerikanische Dichtung. Die Antigedichte haben auch schon früh in den USA Widerhall gefunden, wo sie von Dichtern wie William Carlos Williams, Allen Ginsberg, Thomas Merton und Lawrence Ferlinghetti übersetzt wurden. Ferlinghetti verleugnet auch in seiner eigenen Dichtung den Einfluß der Antigedichte nicht. Alexander Coleman sagt: „It is an extraordinary experience reading these pieces and I can’t imagine anyone even vaguely interested in new poetry that won’t devour Emergency Poems“ (Titel einer in den USA erschienenen Auswahl von Parra-Gedichten).
Der Ursprung der Antipoesie ist äußerst komplex und kann nur innerhalb der Beziehung zwischen Dichtung und sozialer Wirklichkeit untersucht werden. Negativ gesehen, entsteht sie aus einer doppelten Enttäuschung: Die erste ist die Erfahrung, daß das Gesellschaftsbild, das die herrschende Klasse vorzeichnet und verbreitet – und dazu gehört auch die Funktion der Dichtung als Mittel der ästhetischen Sublimierung −, falsch ist. Die zweite Enttäuschung ergibt sich aus dem Mangel an Beziehung zur konkreten Wirklichkeit, den die jungen Dichter zwischen 1947 und 1954 in einem Teil der politischen Dichtung von Autoren wie Pablo Neruda feststellen. Im selben Jahr, in dem Poemas y antipoemas erscheint, veröffentlicht Neruda Die Trauben und der Wind, eines seiner umstrittensten und am wenigsten geschätzten Bücher. Darin werden die Völker und ihre Führer, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Sozialismus aufgebaut haben, besungen. Die jungen Dichter stellen nicht Nerudas Materialismus in Frage, sondern den Grad seines Erkennens der sozialen Wirklichkeit, das heißt seine Vermittlung der historischen Wahrheit.
Die begeisterte Aufnahme, die die Antigedichte mit ihrer düsteren Wahrheit bei den jungen Schriftstellern (und dann auch bei der anfangs überraschten großen Leserschaft) fanden, beweist, daß sie einem Bedürfnis entgegenkamen. Der Ton Nerudas im Großen Gesang oder in Die Trauben und der Wind ist erhaben und feierlich. Seine Mission ist es, zu singen, die weite Landschaft Lateinamerikas, die Kämpfe seiner Völker und Helden, seine leidvolle und ruhmreiche Geschichte Poesie werden zu lassen. In den Antigedichten hingegen ist der Sprecher ein einfacher Bürger, der sich an seinesgleichen wendet. Tatsächlich begründet die Antipoesie eine neue Verbindung von Inhalten und Formen dichterischer Kommunikation. Das wird am deutlichsten in der Sprache. Der Bruch der Antigedichte mit den etablierten dichterischen Normen ist vollständig. Es werden nicht bloß „unpoetische“ Wörter verwendet (das hatte es früher schon gegeben), sondern auch stehende Redewendungen und vor allem der Satzbau der Umgangssprache. Auch Ausdrucksformen der Massenmedien oder solche, die für bestimmte Berufe oder Situationen typisch sind, finden Verwendung: der Vortrag des Lehrers, die Leichenrede, die Reportage, die Beichte, die Predigt, die kommerzielle Werbung, etc. Sie alle werden umfunktioniert, erhalten unübliche und widersprüchliche Inhalte und werden zu Elementen der Antipoesie. Es steht außer Zweifel, daß die meisten Ausdrucksmittel des Antipoeten „aus zweiter Hand“ stammen. Wie besessen bastelt Parra seine Botschaft aus dem Schrott der Gesellschaft, die er anklagt und in der er sich ohne Hoffnung bewegt:
Ohne ein Seher, ein kreolischer Zarathustra oder ein Zauberlehrling zu sein, suche ich den Ausgang und den Eingang des Labyrinths, in dem wir uns befinden.
Ein auffälliger Widerspruch bei dieser Suche besteht zwischen der Klarheit des Ausdrucks und dem chaotischen Bild einer sinnlosen Existenz, das der Dichter zeichnet. Über diese Frage ist viel diskutiert worden. Für den Dichter Enrique Lihn ist die Antipoesie „gewundener als eine Ohrmuschel“. Tatsächlich kann man alles darin finden: Sprachliche Präzision, Schärfe der Bilder, eine seltsame Mischung von Abstraktem und Konkretem, von Banalem und gänzlich Unfaßbarem. Man könnte das Antigedicht deshalb als einen Text mit mehreren Ebenen bezeichnen und mit einem Palimpsest – einem mehrfach beschriebenen Pergament – vergleichen: Kratzt man daran, so können Schichten anderer Bedeutung oder Beziehung zum Vorschein kommen.
Die Antipoesie wird zum Mittel der Anklage gegen die Aggressivität und Ausbeutung der modernen Gesellschaft. Zwei Waffen setzt Parra dabei ein: die Ironie und die Parodie (oft den schwarzen Humor). Er wehrt sich gegen eine hemmungslos aggressive Welt seinerseits mit Aggression. Aber die Aggressivität ist nur eine Maske bzw. eine Schicht des Antipoeten. Im Kern seiner Dichtung stoßen wir auf eine grenzenlose, fast unerträgliche Hilflosigkeit. Was mit gelegentlichen Attacken gegen den Leser beginnt, mit der Warnung „Der Autor übernimmt keine Haftung für etwaige Beschwerden, die durch die Lektüre seiner Texte entstehen“, endet in einem Bild der Verlassenheit:
Aber ich bin ein Kind, das hinter den Felsen nach seiner Mutter ruft Ich bin ein Wanderer, der sich beim Gehen selbst mit Steinen bewirft Ein Baum, der danach schreit, daß man ihn mit Laub bekleide.
Der für die Antigedichte typische Topos ist die Stadt. Die Bierstuben, Pensionen, Kinos, Restaurants und Vergnügungsparks, die Fabriken, Maschinen und Autos treten in bedrückender Weise an die Stelle der von Neruda bevorzugten Schauplätze: der Weite des Ozeans, der einsamen Strände, der Wälder und der Urstoffe, der Gewitter über den Inseln und der flüchtig vom Blitz erhellten Meere, des Mondes und der Schiffbrüche. Nach der Großartigkeit der lateinamerikanischen Landschaft und der – manchmal etwas schablonenhaften – Darstellung der Kämpfe, die in ihr stattgefunden haben, kommt nun das Elend der Städte und die Trostlosigkeit ihres Lebens zu Wort. Natürlich hatte auch schon Neruda in Aufenthalt auf Erden dieses Thema anklingen lassen, aber sein Blickwinkel, sein Stil und seine Attitüde als Dichter waren ganz anders und – das Entscheidende – nur beschränkt mitteilbar.
In den Antigedichten ist es der Einzelne, der alles sieht, erlebt und mitteilt. Der Protagonist, der aus der Provinz kommt, findet sich plötzlich in einer unerwarteten und höchst ungemütlichen Arena, wo Hinterlist und Betrug zu den Spielregeln gehören. Er wird zum Spielball gegensätzlicher Kräfte, die ihn zur pathetischen oder tragikomischen Figur machen, zu einer Art Antiheld: In der Erwartung, daß der Leser seine Erfahrungen und Empfindungen teilt, überzeichnet Parra seine Figur ins Exzentrische und steigert das Geschehen bis zur Groteske, wodurch er die Sinnlosigkeit verdeutlicht, die er im Leben sieht.
Dennoch kann man nicht sagen, der Antipoet beschränke sich darauf, die Gesellschaft zu verdammen oder ihr den Rücken zu kehren. Im Gegenteil, er fühlt sich unweigerlich von ihren scheinbaren und wirklichen Reizen angezogen. So schwankt er zwischen einer rauschhaften Selbstaufgabe und einer verzweifelten Suche nach Gemeinschaft (die er nicht findet) oder nach einem Ausweg (den er auch nicht findet). Sich selbst, der Gesellschaft und der Natur entfremdet, schließt Parra seine Poemas y Antipoemas mit dem Vers:
Aber nein: das Leben hat keinen Sinn.
Dies ist zunächst ein Aspekt der Aussage des Buches: die Überordnung der existentialistischen Ideologie über die erlebte Erfahrung. Die Erfahrung läßt sich jedoch nicht in ein solches Konzept zwängen, sondern zeigt, daß die Unerträglichkeit der Situation nicht durch die Absurdität oder Sinnlosigkeit des Lebens zu erklären ist, sondern durch bestimmte historische Gründe. Nur sind die für den Antipoeten nicht erkennbar. Er hat seine Aufgabe erfüllt: die Aufdeckung der Widersprüche und Schrecken der modernen Welt. Ihm ist es nicht gegeben, Wege zu ihrer möglichen Überwindung zu zeigen. Wir können ihm daraus keinen Vorwurf machen, aber wir müssen nach den Gründen für seine Unfähigkeit fragen.
Parras weiteres Schaffen war eine der Alternativen, die der Entwicklung der Antipoesie offen lagen. Es handelt sich bei dieser Entwicklung gewissermaßen um das Ergebnis einer freiwilligen Wahl und nicht um das einer zwingenden Notwendigkeit. 1962 erschien Versos de salón. Dieses Buch überraschte die Leser von neuem. Es erschien ihnen nicht seriös. Der Antipoet gab sich darin als wahrer Hanswurst. Er trieb die Entweihung der Poesie so weit, daß er die Grenzen der Literatur zu überschreiten schien. Mehr als ein Kritiker widmete dem Buch einen Verriß. Der Dichter spricht in diesen Texten nicht mehr nur biografisch von sich selbst, sondern er verkörpert verschiedene Figuren bzw. Personen, die auch oft untereinander widersprüchlich gezeichnet sind. Aufgrund dieser Unterschiede spielt sich die Handlung auf den verschiedensten sozialen Schauplätzen ab, wo sie immer zu einer unerbittlichen, manchmal sympathischen Entmystifizierung führt. Die Gemütszustände lösen einander ab, werden aber durch eine groteske, harlekinische Überhandlung gedämpft, die den Leser daran hindert, sie allzu ernst zu nehmen oder einfach nur über sie zu lachen. Der Antipoet gibt sich spielerisch, scheinbar ohne sich zu engagieren.
Der Text der Versos de salón greift auf bestimmte traditionelle Versmaße zurück und legt größeren Wert auf die Komposition. Diese äußeren Merkmale stehen im Widerspruch zum ungewohnten parodistischen und ironischen Inhalt. Außerdem gewinnt der Vers dadurch, daß die syntaktische Einheit meist mit einer semantischen und poetischen Einheit übereinstimmt, an Selbständigkeit. Hier wird der Weg, der zu den Artefactos führt, erkennbar.
Schon in den Versos de salón werden die unerträglichen Spannungen, die wir in Poemas y antipoemas finden, durch die Parodie allzu stark relativiert. Ein radikaler (und vielleicht zu bequemer) Skeptizismus macht sich in Parras poetischem Werk breit. Er selbst nennt 1966 seine neue Haltung „gefälligen Nihilismus“.
Die Antipoesie erreichte um 1969 ihren größten Einfluß in der literarischen Welt Chiles und Lateinamerikas. Die Folge ihrer offiziellen Anerkennung war allerdings – wie es in solchen Fällen fast immer geschieht −, daß ihre kritischen Formen und Inhalte neutralisiert wurden: Die Antipoesie wurde zum Zier- und Stilmittel einer Oberschicht, die sich auf die repressive Toleranz verstand, zur rhetorischen Mode.
Von 1967 an erscheinen die Artefactos, eine neue Form in Parras poetischem Schaffen. Sie sind eine literarische Folge der in den Antigedichten enthaltenen Kritik an der Gesellschaft und an der Literatur. Die Artefactos entstehen aus dem Bersten, aus der Desintegration der Antigedichte. Sie sind äußerst knapp, fast immer nur lose Verse oder Sätze, denen die durch eine Versfolge entstehende poetische Spannung fehlt. Sie leben meist von einem Verfremdungs- oder Überraschungseffekt, der im ersten Moment zum Lachen reizt, doch weit darüber hinausgeht, wenn dem Leser – wie bei einem Artefacto aus der jüngsten Zeit – das Lachen auf den Lippen erstarrt:
Ich verstehe gar nicht warum
sich die Leute so aufregen
mir bekommt er
gut der Smog
Der Autor der Artefactos definiert seine Rolle neu:
Der Dichter ist ein einfacher Sprecher
für die schlechten Nachrichten ist er nicht verantwortlich
Wer aus den Artefactos spricht, ist nicht ein eigenständiges bewußtes Individuum, das vorgibt, eine psychische Einheit zu sein, oder das sie sucht. Der Dichter ist hier nur Vermittler, ein Sammler, der seine Materialien auf den Straßen, an den Latrinenwänden und in der Literatur selbst findet. Die Wirkung der Artefactos entsteht dadurch, daß bekannte Redewendungen, Zitate, Schlagworte, Werbesprüche entweder leicht verändert oder aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in einen anderen versetzt werden, so daß sie neue Bedeutung gewinnen.
In der Zeit der Hippie-Bewegung las der Antipoet an einer Häuserwand in New York: „Death has no future.“ Heute wird auch diese Zukunft akzeptiert: „Die Apokalypse hat schon begonnen“, verkünden die modernen Propheten. Die Situation, in der wir 1986 leben, bringt ein Artefacto der sechziger Jahre in Erinnerung und füllt es mit neuem kritischen Inhalt:
Der Tod ist eine kollektive Gewohnheit.
Viele Artefactos wurden in der Zeit der Unidad Popular und der Regierung Salvador Allende geschrieben und enthalten eine pittoreske, eher zufällige Kritik an der chilenischen Linken. Parra begriff damals nicht, was es für ein lateinamerikanisches Land bedeutet, wenn seine Regierung einen tiefgreifenden sozialen Wandel durchführen will, und spielte weiter seine Rolle als einzelgängerischer Heckenschütze.
Der Militärputsch 1973 und seine Folgen für das alltägliche Leben in Chile bewirkten allerdings einen entschiedenen Wandel im literarischen Schaffen von Parra, der die kritische Funktion der Antipoesie wieder aufnahm und sogar mit neuen Techniken der poetischen Kommunikation übertraf. Nach dem Putsch gab es einen Moment der Verwirrung und des Schweigens. Parra nahm – für kurze Zeit – einen Posten an der Universität an, die unter der Aufsicht der Militärs stand. Viele haben diese Tatsache vorschnell als Zeichen seiner Billigung des Regimes angesehen. Aber Parra hat nie ein Wort zugunsten Pinochets und der Militärjunta gesagt oder geschrieben. Vielleicht kann man im folgenden Text von 1982, einer Art Artefacto, eine Erklärung seiner politischen Haltung sehen:
− Ich bin von Parra enttäuscht
Ich dachte er gehört zu uns
− Kein Wunder Exzellenz
Ein Militärputsch bringt die Leute zur Vernunft
Etwas später sagt Parra in einem Gedicht:
Der Gipfel aber ist
wenn einer sich hinstellt und singt Verse wie ein Blinder
als ob in Chile nichts passierte
Parra hat sich nicht blind gestellt; er hat sich freilich eine abenteuerliche Verkleidung einfallen lassen müssen. In den Sermones y prédicas del Cristo de Elqui (1977) und Nuevos sermones y prédicas del Cristo de Elqui (1979) tritt der Dichter als der Wanderprediger Domingo Zarate Vega alias „Christus von Elqui“ auf, der Anfang der dreißiger Jahre in einem Tal Nordchiles wirkte. In einem Bericht von damals heißt es:
In ganz Chile hat die Nachricht großes Aufsehen erregt, Christus, gefolgt von den zwölf Aposteln und der Jungfrau Maria, sei in dem kleinen Dorf Hurtado im Elqui-Tal erschienen… Alle tragen Umhänge und Tunikas, und Christus hat einen langen, gespaltenen Bart und langes, gewelltes, fremdartiges Haar. In einer biblischen Landschaft predigt er vor Lehmmauern, unter üppigen Feigenbäumen, während ihm die ersten Gläubigen, voller Inbrunst und Naivität, gespannt zuhören und die Worte der Bergpredigt oder modernisierte Gleichnisse der Bibel als etwas gänzlich Neues aufnehmen.
Gewiß, die Gestalt des Christus von Elqui ist im Werk Nicanor Parras nicht ganz ohne Vorläufer. Schon in der „Warnung an den Leser“, einem Gedicht, das am Anfang der Antipoesie steht, ist ein Hinweis auf Sabelius, einen religiösen Agitator und heftigen Kritiker des institutionalisierten Christentums aus dem 3. Jahrhundert, dessen Beliebtheit bei den Gläubigen Roms und Nordafrikas der offiziellen Kirche Grund zu großer Besorgnis gab. Jetzt aber ist der Christus von Elqui nicht mehr eine im literarischen Text beschriebene Gestalt, sondern selbst Subjekt der (anti)poetischen Rede. Wie sein historisches Vorbild aus den dreißiger Jahren benutzt der literarische Christus von Elqui Ausdrucksformen der Volksdichtung, das heißt, Formen, die schon längst – und vollends seit La cueca larga von 1958 – zu Parras poetischem Handwerkszeug gehören.
Der Rückgriff auf die Volksdichtung und die Verwendung der Alltagssprache verhelfen dem Christus von Elqui zu einer intensiven Kommunikation mit dem Publikum und mit seinen Lesern. In seinen Predigten prangert er die Fehler und Sünden der modernen Gesellschaft an, wobei er seinen Anklagen oft anachronistische Werte zugrunde legt. Er genießt seinen Auftritt, und er beobachtet sich selbst dabei. Manchmal aber, wenn er sich in der Entwicklung seiner Predigt versteigt, verliert er die Kontrolle über sich, und die Maske fällt. Sowohl die Gestalt des Christus von Elqui als auch seine Predigten stecken voller Ungereimtheiten und Widersprüche und erlangen dadurch ein gut Teil ihrer Expressivität. Der Christus von Elqui stellt sich selbst zur Schau mit all seinen Schwächen; In seiner Rede klagt er die soziale Ungerechtigkeit an, nennt einige – nicht alle – ihrer Gründe, verurteilt die Unterdrückung in seinem Land und in der ganzen Welt und verkündet das Recht des Menschen auf ein besseres Leben. Seine Botschaft wird so exaltiert vorgetragen, daß man nicht weiß, ob sie von einem Verrückten kommt oder von einem, der nur den Verrückten spielt, von einem Propheten oder einem Scharlatan. Der Zuhörer bzw. der Leser wird als Mitglied einer betrogenen und ausgeplünderten Gemeinschaft angesprochen und zum aktiven Mitdenken dadurch veranlaßt, daß die Botschaft gegenüber dem, was er erwartet, oft eine überraschende Wendung nimmt.
Das letzte Buch des Antipoeten ist Hojas de Parra (1985); es enthält Gedichte aus verschiedenen Epochen nach 1969. Einer der wichtigsten Texte darin, „Der eingebildete Mann“, macht die Notwendigkeit der Liebe in einer Gesellschaft bewußt, in der solche menschliche Beziehung fast verloren gegangen ist. Schon bei der bloßen Vorstellung der Frau und der Beziehung, die er nicht hatte, spürt der Autor den Schmerz über das, was ihm fehlt. Wenn wir das Gedicht laut lesen, merken wir, daß es in einem volkstümlichen Versmaß geschrieben ist, im Rhythmus der Cueca, des traditionellen Tanzes in Mittelchile. Das weist auf die allgemeine Absicht des Buches hin: eine neue poetische Diktion zu entwickeln, die ausgeht vom überlieferten Wort, davon, wie einem in seinem Lebenskreis der Schnabel gewachsen ist.
In den letzten Jahren ist Parra im Erkennen der bevorstehenden ökologischen Katastrophe zu einem Kämpfer für die Erhaltung nicht allein unserer Umwelt, sondern der Welt überhaupt geworden. In einem Interview sagt er:
In mir ist ein Wandel vor sich gegangen. Früher war ich jemand, der alles kritisierte. Mit der Antipoesie habe ich versucht, die traditionellen Werte, die von der Bourgeoisie, von den Reichen erfunden wurden, über den Haufen zu werfen… Zu dem Wandel kam es bei mir angesichts der Zerstörung der Natur, angesichts des Schiffbruchs, auf den unser Planet zusteuert.
Parras Sorge um das Fortbestehen der Erde schlägt sich in seiner Ökopoesie nieder. In diesem jüngsten Zweig seines Schaffens begegnen wir einem Autor, der sich aus Angst vor der Katastrophe und aus Abscheu vor den politischen und wirtschaftlichen Systemen, die uns in die Katastrophe führen, mit sich selbst und mit der Gemeinschaft versöhnt hat. Er klagt die Unterdrückung in Chile an, aber er begreift sie als Teil eines weltweiten politischen Systems, das dabei ist, die Natur und die Menschheit zu zerstören:
Der Irrtum war zu glauben
daß die Erde unser ist
wo doch in Wirklichkeit
wir der Erde sind
Im Hintergrund melden sich weiter die Schrecken und Ängste von früher, doch die aktuelle Notlage zwingt den Dichter, die lyrische Aufarbeitung seiner alten Themen hintanzusetzen. Die Ökopoesie will ein Beitrag sein, das menschliche Leben in der Zukunft lebenswert zu erhalten – falls es in der Zukunft noch Menschen gibt.
Federico Schopf, Nachwort, im Mai 1986
„Es ist müßig, Nicanor Parra den größten lebenden Dichter Lateinamerikas zu nennen. Bevor wir über ihn reden können, müssen wir ihn erst einmal entdecken. Bei der Lektüre seiner Verse wird jeder etwas anderes finden, das ihn anzieht. Ich selbst liebe ihn vor allem wegen seines Humors und weil er an unseren Verstand appelliert. Das Geschäft des Antipoeten ist die Ent-täuschung. Immer wieder begegnen wir Parra deshalb als einem Aufklärer („Erinnerungen eines Sarges“) und Werber für mehr Toleranz („Cuba sí / Yankees gambién“). Aber neben Versen intellektueller Schärfe und beißender Ironie stehen solche, in denen der Autor seine Liebesfähigkeit, Verwundbarkeit und Hilflosigkeit verrät (ein Beispiel ist sein – eigentlich unübersetzbares – Liebesgedicht „El hombre imaginario“ mit den Schlüsselwörtern „muerte“, „dolor“ und „corazón“). Und all das wird nicht in lyrischen Geheimformeln dargeboten, sondern in Wörtern und Ausdrücken unseres Alltags, im Jargon der ,kleinen Leute‘, aus dem sich jede Sprache immer wieder erneuert.
Peter Schultze-Kraft
Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1986
ich selber lese aus den gedichten neben der volks- und alltagsverbundenheit nicht nur die zitierte intellektuelle schärfe, sondern neben allem dargestellten dichterleiden auch eine grosse portion selbstwertgefühl heraus.
ich möchte dieses kleine gedichtbuch nicht missen. empfehlenswert.
Ein halbes Jahrhundert
War die Poesie
Ein Paradies für feierliche Trottel.
Dann bin ich gekommen
Mit meiner Achterbahn.
Steigen Sie ein, wenn Sie Lust haben.
Allerdings: ich hafte nicht,
Wenn Sie am Ende bluten
Aus Nase und Mund.
Dieses Gedicht mit dem Titel „Achterbahn“, das Hans Magnus Enzensberger übertragen hat, stammt von dem chilenischen Lyriker Nicanor Parra, der – wie übrigens nicht wenige bedeutende Autoren Lateinamerikas – bei uns bisher kaum dem Namen nach bekannt war.
Sein erstes Buch in deutscher Sprache, ein Querschnitt durch sein dichterisches Werk von 1937 bis 1972, trägt den Titel Und Chile ist eine Wüste / Poesie und Antipoesie und wurde von Federico Schopf und Peter Schultze-Kraft im Peter Hammer Verlag herausgegeben. Als Übersetzer haben mitgearbeitet: Nicolas Born, Hans Magnus Enzensberger, Dieter Masuhr, Sergio Ramírez, Michael Rössner, Peter Schultze-Kraft und Michi Strausfeld. Federico Schopf, ehemals Dozent an der Universität von Santiago, der heute – nach dem Militärputsch von 1973 – als politischer Flüchtling in Deutschland lebt, gibt in seinem Nachwort wichtige Informationen, ohne die der Zugang zur Lyrik Parras für den deutschsprachigen Leser nicht ganz leicht wäre.
Nicanor Parra, 1914 in Mittelchile geboren, gehörte mit seinen ersten, um die Mitte der dreißiger Jahre geschriebenen Versen zur Gruppe der „Dichter der Klarheit“, die den Subjektivismus, die Exklusivität der damals vorherrschenden Poesie ablehnte. Später jedoch wandte sich Parra von dieser Art Neo-Realismus ab und entwickelte eine Lyrik voller Aggressivität und Kritik an den etablierten Wertvorstellungen. 1954 erschien sein Buch Gedichte und Antigedichte, dem innerhalb der chilenischen Dichtung eine ähnliche Bedeutung wie Nerudas Aufenthalt auf Erden zugesprochen wird. Diese „Antigedichte“ hatten Einfluß auf die gesamte lateinamerikanische Dichtung und wurden in den USA von Williams, Ginsberg und Ferlinghetti übersetzt.
Die Antipoesie bestreitet die Richtigkeit des von der herrschenden Klasse gezeichneten Gesellschaftsbildes, sie attackiert die traditionell der Dichtung zugeschriebene Funktion der ästhetischen Erbauung und wendet sich gegen eine politische Dichtung, der mangelnde Beziehung zur sozialen Wirklichkeit vorgeworfen wird – gemeint ist ein Dichter wie Pablo Neruda. Während Neruda in feierlich-erhabener Sprache singt von der reichen Landschaft Südamerikas, seinen Völkern, ihren Helden und Kämpfen, versteht sich der Autor der Antigedichte als einfacher Bürger der sich in einfacher Sprache an seinesgleichen wendet. In seinem Gedicht „Manifest“ sagt Parra:
Im Gegensatz zu unseren Vorfahren
– Und das sage ich mit allem Respekt –
Sind wir der Meinung
Daß der Dichter kein Alchimist ist
Der Dichter ist ein Mensch wie jeder andere
Ein Baumeister, der Mauern errichtet
Ein Zimmermann, der Fenster und Türen einsetzt
…
Gegen die Dichtung der Wolken
Stellen wir
die Dichtung der Erde
– Mit kühlem Kopf und heißem Herzen
Sind wir entschiedene Anhänger der Erde –
Gegen die Kaffeehausdichtung
Die Naturdichtung
Gegen die Salondichtung
Die Straßendichtung
Die Dichtung sozialen Protests.
Die Dichter sind vom Olymp herabgestiegen.
Mit Ironie und Parodie wehrt sich Parra gegen die Brutalität der modernen Gesellschaft. Stellte Neruda die Großartigkeit der Landschaft Südamerikas und die Heldenhaftigkeit seiner Völker dar, so zeichnet Parra das Elend der Städte und ihrer Bewohner in der Absicht, die Widersprüche und Schrecken der modernen Welt aufzuzeigen. Zunehmend machte sich in Parras Werk ein radikaler Skeptizismus und Nihilismus breit:
Was ist der Mensch
fragt mich Pascal:
Eine Potenz von der Basis Null.
Nichts
wenn man ihn mit dem All vergleicht
Alles
wenn man ihn mit dem Nichts vergleicht
Geburt mal Sterben:
Lärm mit Schweigen mulipliziert :
Arithmetisches Mittel zwischen All und Nichts.
Um 1970 war Parras Antipoesie anerkannt, und die Kritik fragte, ob man das späte Werk Parras wirklich noch als Anti-Poesie ansehen könne oder ob es nicht eine Kapitulation vor dem Feind, der etablierten Gesellschaft, sei.
Als 1970 die Unidad Popular die Macht in Chile übernahm, blieb Parra bei seinem kritischsch-skeptischen Nihilismus. Einige Jahre zuvor hatte er in seinem Gedicht „Rede des guten Schächers“ gesagt:
Denke an mich in deinem Königreiche
Ernenne mich zum Präsidenten des Senats
Ernenne Dich zum Schatzminister
…
Ich nehme jeden Posten an.
Tatsächlich nahm Nicanor Parra, nachdem die Militärs ihre Diktatur in Chile errichtet hatten, einen Posten an der Universität Santiago an. Während Tausende verfolgt und ermordet, Bücher verbrannt und zahllose Unschuldige ins Exil getrieben wurden, dient Parra einem Regime, dessen ganzes Wesen seinen eigenen Anliegen widersprechen muß. Wohl nicht zufällig haben die Herausgeber als eines der letzten Gedichte in diesem Band Nicanor Parras „Widerruf“ abgedruckt, der den Worten schließt:
Verzeih mir, Leser
Geneigter Leser
Daß ich dich zum Abschied nicht umarme
Sondern dir nur ein gequältes Lächeln schenke.
Vielleicht ist es sowieso nicht der Rede wert
Aber höre mein letztes Wort:
Ich widerrufe alles.
Mit der größten Bitterkeit der Welt
Widerrufe ich alles, was ich je gesagt habe.
Ich bin ein praktischer Mensch
Für mich gibt es nur eine Philosophie:
Die meines Chefs
Um bei meinen Vorgesetzten anzukommen
Stell ich mich glatt auf den Kopf.
Jürgen Wallmann, die horen, Heft 101, 1. Quartal 1976
(Rezension bezieht sich auf eine andere Ausgabe)
FÜR NICANOR PARRA
aufenthalt auf erden –
der friedhof der schlachthof
von mir aus gesehen
jeweils ein steinwurf
poesie kommt mir
auf der straße wenn
leichen und schlachtzüge
einander begegnen
vom friedhof wasser
vom schlachthof blut
ewiges schwindelgefühl
der aufenthalt auf erden.
Ingolf Brökel
ANRUF IN LAS CRUCES 2009 – NACHRUF 2018
Was sagt Don Nica, wenn man bei ihm anruft?
Nix, er geht nicht ran.
Was sagte Don Nica, wenn man bei ihm anrief?
Nix, er ging nicht selber ran.
Er schickte jemanden. Der sagte:
Lo siento, Don Nica está cagando.
Tut mir leid, Don Nica kackt gerade.
Und wenn er dann selbst ranging, sagte er:
Heil Hitler!
Als Beweis seiner Deutschkenntnisse.
Und: Alle Kultur nach Auschwitz ist Muhl.
Hitler-Adorno. Das kann man auch nur als Chilene.
Und als Antipoet, der fehlen wird.
Nils Bernstein (23.1.2018)
EIN SPAZIERGANG DURCH DIE LITERATUR
26. Ich träumte, ich sei fünfzehn und besuchte Nicanor Parra in seinem Haus, um mich zu verabschieden. Als ich ankam, stand er da, an eine schwarze Wand gelehnt. Wohin gehst du, Bolaño?, fragte er. Fort aus der südlichen Hemisphäre, antwortete ich.
Roberto Bolaño
Nils Bernstein: Das Innovationspotenzial der Antipoesie
fixpoetry.com, 4.10.2009
– Nicanor Parra zum 99. –
Man hört nie auf
geboren zu werden
daran hat sich Nicanor Parra scheinbar gehalten: Er wird heute 99 Jahre, wohl der zur Zeit Älteste unter den großen Dichtern der Welt.
Parra wurde am 5. September 1914 in der Nähe von Chillán, einer Stadt in Mittelchile, geboren, die für sein ganzes Leben und Wirken wichtig blieb.
Bekannt wurde Parra durch sein zweites Buch, den Gedichtband Poemas y antipoemas, der 1954 herauskam und die Antipoesie verkündete:
Alles ist Poesie
außer die Poesie
Die dort enthaltenen Gedichte brechen mit der erhobenen Sprache, mit den Konventionen der Lyrik, mit dem großem Gesang eines Pablo Neruda.
Achterbahn
Ein halbes Jahrhundert
War die Poesie
Ein Paradies für feierliche Trottel.
Dann bin ich gekommen
Mit meiner Achterbahn
Steigen Sie ein, wenn Sie Lust haben.
Allerdings: ich hafte nicht, wenn Sie am Ende
Aus Mund und Nase bluten.
So klingt das programmatische Antigedicht: Es hebt sich von der ursprünglichen Lyrik durch die Alltagssprache ab, eine lyrische Überhöhung findet nicht statt, man spricht, wie man spricht mit dem Nachbarn, nur: ironisch, radikal, illusionslos und provozierend. Dabei klingt immer ein Witz dicht neben dem Abgrund. Parra gelingt es in seinen Gedichten, allein durch seine „herunter genommene Sprache“, die Ambivalenz seiner Worte, durch Paarung von Wider-Spruch und Kontro-Verse überraschende Einsichten in die Wirklichkeit zu schaffen.
Den Antipoeten hat Parra nie abgelegt: die „Artefactos“, kleine Verse, Sprüche oder Satzgebilde, erscheinen Ende der sechziger Jahre als neue provokante lyrische Form. Redewendungen, Sprüche und Zitate von der Straße, von Häuserwänden, Parks und Klos, aus der Werbung, der Literatur sammelt Parra auf, verändert diese leicht und verdichtet sie epigrammatisch.
Revolution, Revolution
wie viele Konterrevolutionen
begeht man in deinem Namen?
Parra hatte Physik studiert und arbeitete u.a. als Physik-Professor an der Universität in Santiago de Chile. Seine klare und präzise Auswahl der Worte, ihren treffsicheren Einsatz im Bemühen, das Wesentliche zu sagen, erinnert daran, wie auch die „Antipoesie“ selbst. In den 80er Jahren wendet er sich angesichts der globalen Zerstörung der Natur der „Ökopoesie“ zu.
… Sozialisten und Kapitalisten
vereinigt euch
bevor es zu spät ist…
heißt es am Ende eines Gedichts.
Im Jahre 2011 bekam Nicanor Parra die höchste Literaturauszeichnung der spanisch sprechenden Welt, den Cervantes-Preis. Mehrfach wurde er von unterschiedlichen Universitäten für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen.
Als ich geboren wurde starb ich
zum Glück bin ich dann auferstanden.
Parra sei Dank –, sonst hätten wir nicht diesen ältesten lebenden Dichter, der am 5. September dieses Jahres in Las Cruses sein hundertstes Lebensjahr lächelnd mit einem Glas Rotwein vollendete.
Parra wurde 1914 in der Nähe von Chillan, einer Stadt in Mittelchile, geboren und wuchs in einer sehr musischen Familie auf, aus der auch die Sängerin Viola Parra hervorging.
Bekannt wurde Parra durch sein zweites Buch, den Gedichtband Poemas y antipoemas, der 1954 heraus kam und die Antipoesie verkündete:
Alles ist Poesie
außer die Poesie
Die Gedichte brechen mit der erhobenen Sprache, mit den Konventionen der Lyrik, mit dem großen Gesang etwa eines Pablo Neruda.
ACHTERBAHN
Ein halbes Jahrhundert
War die Poesie
Das Paradies für feierliche Narren
Bis ich kam
Mit meiner Achterbahn.
Steigen Sie nur ruhig ein
Ich halte den Kopf nicht hin wenn Sie danach
Aus Mund und Nase bluten.
So klingt das programmatische Antigedicht: es hebt sich von der ursprünglichen Lyrik durch die Alltagssprache ab, eine lyrische Überhöhung findet nicht statt, man spricht wie man spricht mit dem Nachbarn, nur: ironisch, radikal, illusionslos und provozierend. Dabei klingt immer ein Witz dicht neben dem Abgrund.
Parra hatte Physik studiert und lehrte, nach umfangreichen Studien und Lehrtätigkeiten in den USA und England, Theoretische Physik an der Universität in Santiago de Chile. Seine klare und präzise Auswahl der Worte, ihren treffsicheren Einsatz im Bemühen das Wesentliche zu sagen, erinnert schon daran, wie auch die Antipoesie selbst.
GEDANKEN
Was ist der Mensch
aaaaafragt sich Pascal:
Eine Potenz mit dem Exponenten Null.
Eins
aaaaaim Vergleich zu Allem
Eins
aaaaaim Vergleich zum Nichts:
Geburt plus Sterben:
Lärm mal Schweigen:
Mittelwert zwischen Allem und Nichts.
Den Antipoeten hat Parra nie abgelegt: die Artefactos, kleine Verse, Sprüche oder Satzgebilde, erscheinen Ende der sechziger Jahre als neue provokante lyrische Form. Redewendungen, Sprüche und Zitate von der Straße, von Häuserwänden, Parks und Klos, aus der Werbung, der Literatur sammelt Parra auf, verändert diese leicht und verdichtet sie epigrammatisch.
Neue Menschen
Neuer Hunger
death has no future
Revolution, Revolution
wie viele Konterrevolutionen
begeht man in deinem Namen?
Das Los Chiles mitteilsam und zugleich kunstvoll zu beschreiben, setzt einen unabhängigen Geist voraus.
Wo die Dichter singen und tanzen
misch dich nicht ein Allende
misch dich nicht ein.
Parra entscheidet sich gegen den politischen Auftritt und für das stille Wirken. In der Pinochet-Zeit bleibt er in Chile. Als Dichter ist er natürlich bemüht, eine andere Bewertung des Sehens und all der anderen Dinge zu verbreiten als die der öffentlichen Meinung, die schnell wechseln kann wie die verkehrten Männer an der Spitze.
Gut
und nun, wer befreit uns von unseren Befreiern.
Parra verschreibt sich, wie kaum ein Dichter, dem Land seiner Geburt.
Wenn er über Frauen und Männern schreibt, die Sehnsucht nach Liebe haben, sich auf Parkbänken herumdrücken, auf Friedhöfen, auf Bahnhöfen, im Stadtgerangel, über Gott und seine Stellvertreter, Leben und Tod, setzt er die Umgangssprache so gekonnt in Verse, dass diese authentisch bleibt. Ein wichtiges Gedicht ist sicher „El hombre imaginario“ („Der erdachte Mann“).
DER ERDACHTE MANN
Der Mann den ich mir erdacht
lebt in einem Landhaus das er sich erdacht
umgeben von Bäumen die er sich erdacht
am Ufer eines Flusses den er sich erdacht
an den Wänden die er sich erdacht
hängen alte Bilder die er sich erdacht
voller Risse und Kratzer die er sich erdacht
von Ereignissen die er sich erdacht
die geschahen in Welten die er sich erdacht
an Orten und zu Zeiten die er sich erdacht
jeden Tag Tage die er sich erdacht
steigt er Treppen hoch die er sich erdacht
tritt auf den Balkon den er sich erdacht
um die Landschaft zu betrachten die er sich erdacht
ein Tal das er sich erdacht
umgeben von Bergen die er sich erdacht
Schatten die er sich erdacht
kommen den Weg entlang den er sich erdacht
stimmen Lieder an die er sich erdacht
beim Tod der Sonne den er sich erdacht
und in den Mondnächten die er sich erdacht
träumt er von der Frau die er sich erdacht
die ihm ihre Liebe gab die er sich erdacht
verspürt er wieder den gleichen Schmerz
das gleiche Vergnügen das er sich erdacht
und wieder schlägt das Herz
des Mannes den ich mir erdacht.
Parras ständiger Kampf gegen die Mittelmäßigkeit und die Provinzialität ist eine der Ursachen für seine Antipoesie.
Antipoesie: Masken gegen Erstickungsgas.
Er sieht gerade „das Poetische“ als größte Gefahr für die Poesie.
Erwarten Sie nichts Konkretes von mir
ich bin nicht gekommen die Bibel lächerlich zu machen
noch der Mona Lisa einen Schnurrbart anzumalen
ein halbes Dutzend Knaller zur Explosion zu bringen
genügt mir.
Immer wieder sucht er neue Wege in der Poesie.
In den 80er Jahren wendet er sich angesichts der globalen Zerstörung der Natur der ,Ökopoesie‘ zu.
Gute Nachrichten:
Die Erde erholt sich
in 1000000 Jahren
Was verschwindet
sind wir.
Und am Ende des Gedichts „Der Christus von El Qui verteidigt sich mit Händen und Füßen“ heißt es:
… Sozialisten und Kapitalisten
vereinigt euch
bevor es zu spät ist…
Die Bedeutung von Parras Werk innerhalb der chilenischen, aber auch der süd-amerikanischen Dichtung ist außerordentlich groß. Auch in den USA sind schon die frühen Antigedichte von William Carlos Williams, Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti übersetzt worden. Hans Magnus Enzensberger und Nicolas Born u.a. übertrugen ihn ins Deutsche.
Im Jahre 2011 bekam Nicanor Parra die höchste Literaturauszeichnung der spanisch sprechenden Welt, den Cervantes-Preis. Mehrfach wurde er schon in der Vergangenheit von unterschiedlichen Universitäten für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen.
ARS POÈTIQUE
Du silence avant toute chose
et tout le reste es musique
moderniste
Ingolf Brökel, September 2014
Bem.:
Die Gedichte „Achterbahn“, „Gedanken“ und „Der erdachte Mann“ sowie die Artefactos sind Übertragungen von mir. Die Interlinearübersetzungen dazu besorgte Brigitte Klose.
– Der chilenische „Anti-Poet“ Nicanor Parra wird 100 Jahre alt. –
Literatur allein genügt nicht. Mathematik muss dazukommen und vielleicht auch Physik. Imagination und Logik. In Lateinamerika jedenfalls scheint darin eine Art Geheimformel zu liegen – für langes, sehr langes Leben. Der argentinische Schriftsteller Ernesto Sabato, zugleich Mathematiker und Physiker, hat 2011 seinen 100. Geburtstag nur um wenige Wochen verfehlt. Der chilenische Dichter Nicanor Parra aber, auch er Mathematiker und Physiker, hat die Formel nun tatsächlich gefunden: An diesem Freitag wird er 100. So bekannt wie Sabato ist Parra bei uns nie geworden. Aber die Lateinamerikaner verehren ihn als selbsternannten Anti-Poeten. Im Werk von Roberto Bolaño taucht er immer wieder auf, auch in Die wilden Detektive:
Nicanor Parra: Schwuchtel mit echt schwulen Zügen.
Poemas y antipoemas, 1954 erschienen, markiert einen Bruch in der lateinamerikanischen Lyrik. Der Band ist mit Phrasen, Spott und alltäglichem Geplapper durchsetzt, Gedichte wie von der Straße: Doch ganz wollte Parra vom hohen Ton nicht lassen, Gedichte halt und Anti-Gedichte, so wie der Mathematiker das Plus- ebenso wie das Minuszeichen braucht. In „La montaña rusa“ („Achterbahn“) gibt Parra offen den Anti-Poeten:
Ein halbes Jahrhundert
War die Poesie
Ein Paradies für feierliche Trottel.
Dann bin ich gekommen
Mit meiner Achterbahn.
Steigen Sie ein,
Wenn Sie Lust haben.
Allerdings: ich hafte nicht, wenn Sie am Ende
Aus Mund und Nase bluten.
Die Beatniks mochten ihn sofort, Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti übersetzten ihn ins Englische. Umgekehrt aber, wie unter guten Kumpels unüblich, hat Parra nichts für sie getan, sondern fürs Übersetzen lieber nach Shakespeare gegriffen. Mit Pablo Neruda muss ihn eine gespannte Freundschaft verbunden haben, er ließ sich von ihm einen Klappentext schenken, nur um diesen in weiteren Auflagen zu streichen. Wie Ohm oder Newton in der Physik als Maßeinheit dienten, sagte er, so diene Neruda als Maßeinheit für Poesie. Klar, Parra hatte keine Lust, seine Gedichte auf der Neruda-Skala messen zu lassen.
Artefactos hätten die Skala sowieso gesprengt. 1973 publizierte Parra kurze Sinnsprüche auf illustrierten Postkarten – zum Verschicken und an die Wand heften. Viel später wurde er dann von einer Boulevardzeitung um einen neuen, exklusiven Artefacto gebeten. Geantwortet hat er mit einer Kritzelei, darauf ein Journalist, der am Galgen baumelt. Kaum war das Militär unter Pinochet an der Macht, wurde die Sammlung Artefactos eingestampft.
Doch Nicanor Parra ging nicht, wie so viele andere Künstler, ins Exil. Er blieb in Chile und durfte seinen Job an der Universität behalten. Politisch ist er nicht so leicht einzuordnen, denn er schaut jeweils von Neuem hin, was er von den Dingen zu halten hat. Sind die Linke und die Rechte vereint, lächelt er einst zynisch, werden sie niemals besiegt sein. Es ist gut, das Parra vor drei Jahren 97 geworden ist, denn sonst hätte er den Cervantes-Preis niemals bekommen. Es ist auch gut, dass er jetzt 100 wird, denn so können sie ihn wieder, wie mehrmals geschehen, für den Literaturnobelpreis nominieren.
Ralph Hammerthaler, Süddeutsche Zeitung 5.9.2014
Nicanor Parra entflieht Ehrungen zum 100. Geburtstag
dpa, 5.9.2014
Arne Dettmann:Der alte Schelm lässt das Feixen nicht
Condor, 1.9.2017
Nicanor Parra – Dokumentarfilm Cachureos von Guillermo Cahn 1981, Teil 1/3.
Nicanor Parra – Dokumentarfilm Cachureos von Guillermo Cahn 1981, Teil 2/3.
Nicanor Parra – Dokumentarfilm Cachureos von Guillermo Cahn 1981, Teil 3/3.
…mit der Entropie nehmen natürlich auch die Fehler zu… im Gedicht aber, sollte man darauf aufmerksam machen: Im Beitrag von Jürgen Wallmann, die horen, Heft 101, ist so ein unverzeihlicher Fehler aufgetreten: Das Gedicht „Widerruf“ endet mit den beiden Zeilen. „…/Mit der größten Bitterkeit der Welt/Widerrufe ich alles, was ich je gesagt habe.“ Was im Beitrag danach kommt
„Ich bin ein praktischer Mensch…“ ist ein eigenständiger Artefacto, der im Gedicht nichts zu suchen hat!
Und nebenbei: H.M.E. hat auch Parra übertragen und auch verbreitet (u.a. in „Wasserzeichen der Poesie“, „Delirium“/Dichter-Spektakel), die Übertragung des Gedichtes „Achterbahn“ besorgte aber Peter Schultze-Kraft.
Grüße von Ingolf Brökel