Nico Bleutge: Den Wiederholungen folgen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nico Bleutge: Den Wiederholungen folgen

Bleutge-Den Wiederholungen folgen

I

Ein Booklet gibt es. Ein weißes Heftchen mit einem grasgrünen Flügel darauf gibt es. Und eine Stimme gibt es, eine wundersam eulenhaft klingende Stimme, die nur vier Wörter spricht: „abrikostræerne findes, abrikostrstærne findes“. Das erste „findes“ spricht die Stimme mit einem leicht nachgezogenen „s“ , das zweite „findes“ relativ gleichmäßig, dafür spricht sie das „abrikostræerne“ davor deutlich langsamer als beim ersten Mal und zieht ihm eine unerwartete Pause ein, so daß es sich anhört, als wären es zwei Wörter: „abrikos-træerne“.
Erste Begegnungen können magisch sein. Sie öffnen einen Raum voller Überraschungen. Neugier, die Lust, etwas zu entdecken, stößt im glücklichsten Fall auf die Begegnung mit dem Anderen, auf ein Erlebnis, in dem die eigenen Kategorien, die Arten, durch die Welt zu laufen, ja, überhaupt ,Welt‘ wahrzunehmen und zu denken, gelockert, vielleicht sogar aufgelöst werden. Ein Gefühl der Beglückung mag sich dann ausbreiten, als betrete man eine neue Welt, es kann aber auch der Eindruck einer Irritation entstehen, womöglich sogar eines Vor-den-Kopf-gestoßen-Seins.
Beim zweiten Mal sieht die Sache schon anders aus. Auf der imaginierten inneren Tabula rasa hinterläßt das Erlebnis der ersten Begegnung seine Spuren, auf die Denken und Wahrnehmen bei einer zweiten Begegnung mit demselben Phänomen zurückgreifen. Etwas ist gleichsam schon vorgebahnt, und auf diesen Trassen (ein Wort, in dem das französische Wort für „Spur“, „trace“, enthalten ist) braust die Vorstellungskraft – zugespitzt formuliert – mitten hinein in die Wiederholung von etwas schon Bekanntem.
Auf Inger Christensens alfabet / alphabet stieß ich, als ich zum ersten Mal in Joachim Sartorius’ Anthologie Atlas der neuen Poesie blätterte, 1995 oder 1996. Dort sind zwei Kapitel aus Christensens gewaltigem Langgedicht abgedruckt. Es ist eine Passage, die aus dem ersten Drittel des alphabets stammt. Das „eislicht“1 gibt es dort und den „pelz mit einer personennummer“, die „iris des regenbogens“2 und Dinge, „klein wie etwas pollen in torf“. Intensive Bilder, aber sie reichten nicht, um mir einen Eindruck davon zu vermitteln, was das Projekt eigentlich ist. So war es nur ein erstes, loses Lesen, ein Anlesen gewissermaßen, aber keine echte Begegnung.
Diese Begegnung fand knapp zwölf Jahre später statt. Die deutsche Übersetzung war zum damaligen Zeitpunkt vergriffen. Aber 2007 wurde eine CD-Edition von Inger Christensens Sonettenkranz Das Schmetterlingstal3 veröffentlicht. Dazu gehörte nicht nur eine Aufzeichnung der Sonette und des Prosastücks Wassertreppen, eingelesen von der Schauspielerin Hanna Schygulla, sondern auch eine eigene CD, auf der Inger Christensen selbst das alphabet in voller Länge liest, nebst einem Booklet, das in einer Schrift, klein wie etwas Pollen in Torf, den kompletten Text des alphabets enthält. Christensen – Schygulla – Sehmetterlingstal, ich wurde fast aufgesaugt von diesem Ensemble. Die Schmetterlinge des Planeten, die wie Farbenstaub über dem warmen Körper der Erde aufsteigen. Die Stimme der Schauspielerin, die Wörter wie „Bläuling“, „Flügelflimmern“ oder „Nachtfalterseite“ so klingen läßt, als seien sie selbst aus Farbenstaub gemacht. Und Inger Christensen, die dem Wort „abrikostræerne“ jene wundersam dehnende Pause einzieht. Dabei schienen die zahllosen Wiederholungen das Lese- und Hörerlebnis nicht abzunutzen oder gar zu schmälern, sondern, im Gegenteil, sie schienen es zu befeuern.

 

 

 

Zwiesprachen: Nico Bleutge über Inger Christensen. Am 5. November 2019 im Lyrik Kabinett, München

 

 

 

Über dieses Buch

„Erste Begegnungen können magisch sein. Sie öffnen einen Raum voller Überraschungen. Ein Gefühl der Beglückung mag sich dann ausbreiten, als beträte man eine neue Welt, es kann aber auch der Eindruck einer Irritation entstehen.
Als ich das Langgedicht alphabet von Inger Christensen zum ersten Mal las, durchlebte ich beide Bewegungen. Hier das Gefühl, in den endlos scheinenden Reihungen der Wörter fast unterzugehen, dort die Euphorie, einer Weltschöpfung beizuwohnen, die unsere gesamte Gegenwart umfasst, von der Aprikose bis zur Atombombe, von der Taube bis zum Tod. Von dieser zweifachen Begegnung möchte ich sprechen. Was es heißt, sich das Gedicht über das Hören zu erschließen. Was seine Struktur bedeutet, die äußerst streng ist und doch gerade so die größte Freiheit ermöglicht.“ So Nico Bleutge über die Dichterin, mit der er seine Zwiesprache hält.

Verlag Das Wunderhorn, Klappentext, 2022

 

Beiträge zu diesem Buch:

Jasmin Wieland: Die Spur der Weltformel suchend
signaturen-magazin.de

 

 

Mit Nico Bleutge One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek

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Nico Bleutge liest zum Tag der Poesie und Wein in Ptuj, August 2013.

 

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Nachrufe auf Inger Christensen: FAZ ✝ Die Zeit ✝ poetenladen.de ✝
Neue Zürcher Zeitung ✝ FR ✝ Die Welt ✝ cafebabel.com ✝ Tagesspiegel

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Inger Christensen

 

Inger Christensen spricht 2008 mit Paal-Helge Haugen.

 

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