heut nacht durchschritt ich einen wald im traum
es war kein rauschen, keine dunkelheit
mit schwerem atem, der den grund durchzieht
liefen die hunde stumm von baum zu baum
in einer haut aus dornen, moos und schlamm
lag halb ein see, halb war das wasser fort
dort schaute, fehl ich seh ich was ich seh
ein kind, vom licht entstellt, das ufer an
die schmalen augen gingen hin und her
ein schritt nur weiter, und der blickb war leer
er rührte sich, tief innen schicht um schicht
und kam zurück als blitz, als strahl im meer
in der sekunde, die vorüberstrich
sah das gesicht mich an: das kind war ich
Nico Bleutge liest aus verdecktes gelände.
Michael Braun stellt u.a. Nico Bleutge vor, der mitdiskutiert und aus seinem Gedichtband verdecktes gelände vorliest.
Dämmerung und Dunkelheit – Umrisse verschwimmen, Bilder überlagern sich, Orte und Szenen ändern ihre Form. Geräusche sind hier mitunter eindringlicher als Sichtbares, und der Rhythmus faltet Räume auf:
keller
die nachhallten, gänge, einfach überwölbt,
von feuchte durchzogen. sie zeigte sich vorne,
bewegte sich im hintergrund
In seinem dritten Gedichtband spürt Nico Bleutge den Übergängen zwischen Wach- und Traumzuständen nach. Und er nähert sich den beweglichen Orten an, wo Wahrnehmungen und Gedanken ineinandergleiten, findet Zwischenmomente, in die sich immer wieder Erinnerungen und Sprachsplitter schieben, aber auch geschichtliche Spuren, erdachte und projizierte Bilder. Im Areal von Gedicht und Erinnerung erkundet er die Atmosphären, die Landschaften und Städte annehmen können. So lassen sich wundersame Entdeckungen machen, die Sprache und Wahrnehmung schärfen, „meeresbeweglichkeit“ etwa, „gleisluft“ oder „ein ziehen der muskeln im sand“. Mit ihren wechselnden Rhythmen sind diese Gedichte aufregende Expeditionen ins Sprachgelände und in die Grenzzonen von Bewusstsein und Welt.
C.H. Beck Verlag, Ankündigung
– Poesie für die transparenten, egozentrischen Zeiten: In seinem kraftvollen Gedichtband verdecktes gelände thematisiert Nico Bleutge das Sehen an sich. –
Manchmal, wenn man Gemälde von Caspar David Friedrich betrachtet, gerät man an den Schwellenort zwischen Wirklichkeit und Traum. Haltlos erscheint einem der eigene Blick, haltlos auch die eigene Position als Schauender. Es sind zwar Konturen sichtbar, aber die Übergänge zwischen Wasser und Land, zwischen Lichtspiel und Dunkelheit sind nur ganz flüchtig. Man spürt eine gespenstische Geborgenheit in diesen Landschaften, man weiß nicht, welchen Standpunkt man als Betrachter eigentlich einnimmt und welche Perspektive die Szenerie greifbar machen könnte. Was wie Heimeligkeit erscheint, kippt wenig später in eine große Unheimlichkeit und Vagheit, in ein unsicheres Schwanken zwischen verschiedenen Befindlichkeiten, Orten, vielleicht sogar zwischen Jenseits und Diesseits. Man ist etwa umhüllt von Nacht, in die das Mondlicht Risse eingraviert. Das erzeugt einen Sog, eine Zwischenwelt, die präsent ist und zugleich unscharf, ins Dunkel gehüllt und zugleich aus sich heraus sprechend, erhaben und schwer zu fassen.
Ein ähnliches Gefühl überkommt einen bei der Lektüre mancher der Gedichte von Nico Bleutge: Geheimnisvolle Landschaften, die aus einzelnen Worten schon entstehen, dunstige Gebilde, in denen immer mehr Umrisse deutlich werden; wechselnde Temperaturen und Farbschattierungen, Licht und Schatten zeichnet der 1972 geborene Bleutge von einem nicht recht definierbaren Ort, von dem aus alles klar ersichtlich und im höchsten Maße diffus ist. Zugleich liegen diese Meer- und Moorlandschaften, alltäglichen Stätten und abgelegenen Gegenden doch bei aller Plastizität lediglich im Betrachter – als würden sie ihre objektive Realität nur dem Autor der Gedichte verdanken. Wahrnehmender und Wahrgenommenes gehen eine fiebrige Liaison ein.
„dämmerung. schwanken“ heißt die erste Abteilung des neuen Bandes verdecktes gelände, und das sind auch die ersten Worte des ersten Gedichts.
dämmerung. schwanken. lange schon wies der weg
durch die felder. zweige bewegten sich, regen
strich durch die stirn. das wasser schob sich quer
an den flanken der bäume entlang. lehm-
hufe. saugende töne. der weg schien vom gehen
tiefer zu wachsen. schatten, aufgerauht
an ihrer wurzelseite, schuppiges umsehen
das von den stämmen her kam. der wind
zog rücklings in die schritte, fuß über fuß
ein gewicht, auf dem sinkenden boden. hart
gingen zweige an hals, an gesicht, bestrichen
die arme, die schwankten, im spalt zwischen dort
und hier. dämmerung. laufen. die äste
zogen an. griffen fest in die knochen: so trocken
so schnell.
Die Natur – die gestaltete Natur – führt ein Eigenleben. Nicht die Arme streifen Zweige, sondern die Zweige bestreichen Hals oder Gesicht. Nähe und Fremdheit als natürliche Erfahrungen erzeugen einen Spalt „zwischen dort und hier“. Das ist keine Idylle. Es ist in diesen Naturgedichten – nennen wir sie einmal so – immer auch die Gefahr gegenwärtig, das Verlorensein, die Schwebe: „dämmerung. schwanken“ eben.
Nico Bleutges Lyrik führt einen nicht über festen Boden. Es ist zuweilen ein „rutschen durch pfützen“, ein „huschen“, „ein keuchen, harsch, über schlick / über wurzeln hinweg“. Die Geräusche sind fremd, zunächst nicht zu identifizieren. Ein Wagnis, sich in diese Sprachlandschaften hinein zu begeben. Ein Abenteuer.
Nico Bleutges Bände klare konturen und fallstreifen haben schon Bewunderung hervorgerufen. Gelobt wurde die reflektierte, rhythmisierte Sprache, die Sensibilität für Naturphänomene und die Fähigkeit, Geräusche erfahrbar zu machen, ein „Blick, der den Dingen ähnlich sein will“.
All das kann man auch für Bleutges neues Buch feststellen. Erneut spielt er mit Zitaten, verschiedene andere Dichter sprechen aus Bleutges gleichwohl eigenständigem Text heraus. „Wie die meisten Gedichte in diesem Band speist sich auch das Langgedicht ‚verdecktes gelände‘ aus fremden Stimmen“, schreibt Bleutge in einer Anmerkung. „Mal bleiben die Stimmen im Hintergrund, mal färben sie einzelne Verse, mal treten sie als Zitat hervor.“ Johann Peter Hebel oder Heiner Müller treten auf, Jürgen Becker und Inger Christensen, Robert Creeley oder T.S. Eliot.
Formen der Natur
„die dinge, klarer in ihrer verbindung“ – das ist das Grundmotiv in den Gedichten von Nico Bleutge, die fast ganz ohne lyrisches Ich auskommen, fast ganz ohne Thema. Ihr Thema ist das Sehen selbst, die Beweglichkeit des Blicks. Als Wechselbeziehung des „Wahrnehmenden, Sprechenden und Szenerie“ hat Bleutge das einmal bezeichnet. Dieser Weltzugang ist zugleich hochkomplex, aber durch die sprachliche Präzision und Reduktion zugleich auch von einer bestechenden Einfachheit.
Das Erinnern geschieht tastend. Übergänge werden erspürt, Formationen, Oberflächen, Bewegungen. Die Formen der Natur werden in den Zeilen von Nico Bleutge nachvollzogen, sie sind raumgreifend, entwickeln sich, greifen aus und ziehen sich auch zuweilen in einen kurzen Vers zurück. Das Ich dabei so stark herauszunehmen – zwar nicht aus dem Prozess des Schreibens, aber aus dem Gedicht selbst –, ist auch ein kraftvolles poetisches Statement in einer durch und durch transparenten und damit egozentrischen Zeit.
Die Gedichte sind dennoch ganz in der Welt, vielleicht weil sie sich nicht aufdringlich mit Phänomenen des urbanen Alltags auseinandersetzen, sich nicht durch das Aufrufen von Smartphones, Facebookseiten oder grellen Bildern ihrer Zeitgenossenschaft vergewissern müssen. Das lyrische Ich, hat Nico Bleutge einmal gesagt, sei mehr oder minder zurückgenommen in eine Wahrnehmungsinstanz, „die nur als ein Häutchen auf die Sprache aufgesetzt ist“. So fein diese Membran auch sein mag – sie erzeugt einen Sound, dem man sich schwer entziehen kann.
– Nico Bleutges musikalisches Meisterstück verdecktes gelände verwandelt Naturgeschichte in Poesie. –
In seinem berühmten Vortrag über „Probleme der Lyrik“ verglich Gottfried Benn den Zustand poetischer Wahrnehmungsempfindlichkeit einst mit den Sinnesorganen von winzigen Urtierchen. Er verwies dabei auf das Tastorgan von Kleinstlebewesen im Wasser, die „von Flimmerhaaren bedeckt“ seien. Auch den Dichter muss man sich in diesem Sinne als einen von Flimmerhaaren bedeckten Menschen vorstellen, der die Bewusstseinsreize wie auch die lyrischen Substantive und Chiffren ertastet und in eine zarte Textur einwebt.
Dieses Konzept einer Dichtung der subtilen Wahrnehmungsnuance, die sich mit den einzelnen Aggregatzuständen von Naturstoffen beschäftigt, mit Wind- und Wellenbewegungen, mit den kleinsten Veränderungen einer Landschaft, hat der 1972 in München geborene und heute in Berlin lebende Lyriker Nico Bleutge in mittlerweile drei Gedichtbänden immer weiter verfeinert.
Sein jüngster Band verdecktes gelände ist nun ein Meisterstück einer in Dichtung transformierten Naturgeschichte. Hier sind es die inneren Verschiebungen und Schwingungen der Materie selbst, die Metamorphosen von Naturphänomenen, die zum zentralen Gegenstand der Poesie werden.
Im ersten Kapitel geht es dabei um Expeditionen durch Dunkelzonen und verzweigte Gänge, deren Beschaffenheit sich durch Geräusche, Klänge, Luftströmungen, Bio-Organismen und unterschiedliche Stadien von Feuchtigkeit beständig verändert. Die folgenden Kapitel präsentieren Erkundungen von „rohflächen“ und „schotterschneisen“ an der Grenze von Stadtlandschaft und Peripherie oder Feineinstellungen auf „Meeresbeweglichkeit“ und fluide Prozesse unterschiedlichster Art.
In den fünf Abteilungen des Bandes kreist die Suchbewegung des Dichters immer wieder um visuelle und akustische Bewusstseinsreize, die er so filigran verknüpft, dass die einzelnen Dinge eine überraschende Kontur erhalten. Es geht hier nicht um eine „realistische“ Naturdichtung, sondern um eine hochmusikalische Sprachkunst, die sich an der Faszination bestimmter Naturvokabeln entzündet, die dann zu einem polyphonen Gewebe verflochten werden.
„fischhaare finden“ etwa sammelt maritime Flora und Fauna und komponiert aus Wasserbewegungen und den „Schwingungen“ der einzelnen Realien ein komplexes Naturbild, das aber nicht als fixiertes Stillleben, sondern als bewegliches Vexierbild gelesen werden will:
fischhaare finden, heller und trockener als gras
und fangspuren finden, kalk und gewebefalten
an schalen mit licht leitenden elementen, immer
im drehen, immer im streifen von bruchkanten, quer
zu den wellen, und den windungen folgen, fluchtnahen
körnern, drehen und finden von flurgras, kanälen
an stellen für wärme oder feuchte in lang schon
verlassenen schalen,…
Ganz dicht an den Konturen der Dinge entlang entfalten diese Gedichte eine detailversessene Phänomenologie der Naturstoffe, wobei die einzelnen Teile stets in eine Kreis- oder Drehbewegung versetzt werden. Im titelgebenden Zyklus „verdecktes gelände“ schließlich sind Gehen und Wahrnehmen unmittelbar verbunden. Der Dichter durchstreift eine winterliche Landschaft nahe Berlin, folgt den „feinen verwehungen“ im Gelände und legt die darin verborgenen Geschichtszeichen frei:
bilder von brandschutt und platten
von zündungsnestern, von sprengkammern
unter den böden, luftbilder, -karten, laminiert
von hallen, maschinen, von taktstrassen
in körniger auflösung.
Kritiker von Bleutges Lyrik haben gelegentlich eingewandt, dass sich der Dichter nur als Kollektor sinnlicher Eindrücke versteht, seine Subjektivität aber in auffälliger Weise hinter den beschriebenen Dingen versteckt. Richtig daran ist die Beobachtung, dass Bleutge mit dieser artifiziellen Form von Natur- und Wahrnehmungslyrik einen Endpunkt erreicht hat, an dem keine größere Detailgenauigkeit mehr erreicht werden kann. Bei einem Dichter von diesem Niveau darf man aber sicher sein, dass er sich demnächst neu erfinden wird.
– Wunderbare Wanderungen durch die Gegenwart: Nico Bleutges neuer Gedichtband verdecktes gelände. –
Im Halblicht beginnt der neue Gedichtband Nico Bleutges, in einem Moment des Zögerns. Doch die Landschaft weiß, wohin:
dämmerung. schwanken. lange schon wies der weg
durch die felder.
Hinaus, hinab, vorbei an Ufern, Halden, Hangars, Hängen führen diese Gedichte, und gern folgt der Leser ihrem Rhythmus, der den verschiedenen Atemgeschwindigkeiten eines Wanderers nachgebildet scheint. Hier ist meist Bewegung: „noch einmal die wand entlang“, „sich öffnen, luft wieder freigeben“, „geht nicht voraus, läßt sich nicht fassen“. Vor eine Landschaft im unverächtlich-konventionellen Sinn der Malerei führen diese Gedichte nicht, sie sind keine Wort-Veduten. Sie leben vom Rhythmus und einer Imagination, die sich von einzelnen Wörtern befeuern lässt, von „grind“, „grauwacke“, „hirschzunge“, von „torf“, „filz“, „schlacke“, von der Spannung zwischen Idylle und Großstadt.
Seit Bleutges erstem Gedichtband klare konturen (2006) schlägt man sein Werk der Landschaftslyrik zu. Auch sein drittes Buch – verdecktes gelände – hält es mit Farnen, Fischen, Seen, Erdreich, Luft und Wasser – doch Landschaftslyrik ist dies wohl nur, wenn man den Begriff so weit dehnt, dass er nichts Genaues mehr bezeichnet. „Geländelyrik“ bietet sich an, denn von Streifzügen im Gelände ist hier die Rede und von den Schwierigkeiten, seine Atmosphäre zu erfassen, etwas also, das sich entzieht, sobald man es zu benennen, zu begreifen versucht: Geländelyrik, Atmosphärendichtung statt Landschaft und Bild.
Im Gelände, in den Atmosphären sind organische und anorganische Natur, Gegebenes und Menschengemachtes unauflöslich miteinander vermischt. Manchmal scheint die Unterscheidung von Natürlichem und Nicht-Natürlichem hinfällig, die Wahrheit verdeckend:
am ufer ankommen, wach
unter dem schwelgeruch der flure. ruß-
wasser, wandernder austritt. der sog
lief langsam in sich selbst zurück. keller
die nachhallten, gänge, einfach überwölbt,
von feuchte durchzogen.
Fünf Abschnitte hat der Band: „dämmerung. schwanken“, „farnkraut“, „fischhaare finden“, „ringsum nacht“ und abschließend das Langgedicht „verdecktes gelände“, eine Berlin-Erkundung, für die man gern Dutzende Berlin-Beschwörungen drangäbe. Was Bleutges Lyrik immer ausgezeichnet hat, die Zurücknahme des Ich, um Welt und Wahrnehmung ungestört beobachten, mit der Strenge eines Phänomenologen beschreiben zu können, findet sich auch hier. Doch besticht das Buch durch seine Vielfalt, Variationen, die Wiederaufnahme von Motiven in anderen Tonlagen, durch Figurenrede, eine Entwicklung zum Freieren, Spielerischen hin. Manchmal nähert sich Bleutge dem verknappten, verkappten Erzählen:
die augen meiner mutter waren
hinter glas, so ähnlich hätte ich
es dir geschrieben,
wenn ich dir je
geschrieben hätte. nassau vielleicht
du kennst die bilder an der eingangs-
türe, doch ich wohne hier.
Gewiss ist es eine Verkürzung, das Gedicht vielfach auszulegen, doch liegt es nahe, in den innigen Versen „und manchmal nachts, da geht der atem leise“ die Erfahrung nächtlichen, keuschen Wachliegens neben einer, neben einem Geliebten erfasst zu finden:
und manchmal, nachts, da geht der atem leise
der körper wach, die augen eingerollt
das schauen mischt sich in die kreise
die noch der schlaf im innern zieht
und schleicht sich doch nach draußen, leise
zu einem stuhl, dem wäscheständer, staub.
(…) nur manchmal
rollt der eine atem sich hinüber, wenn
etwas aufhorcht, dunkel sich bewegt.
Wer mag, entdeckt in diesen Gedichten voller Traum, Dämmerung, Dunkelheit, Nacht und Hinab reichlich romantische Motive, doch drängen sie sich nicht auf, werden erst nach wiederholter Lektüre bewusst. Dieses Kunststück macht Bleutge, der in München geboren wurde und in Berlin lebt, derzeit kaum einer nach. Ihm gelingt die Erneuerung der romantischen Dichtersprache, er verleiht ihr vollkommene Gegenwärtigkeit. Diese erscheint in seinen Versen nicht wie so oft als modische Zutat oder forsche Behauptung. Seine Gedichte sind ganz gegenwärtig, weil sie den Leser einüben in interesselose Neugier, in Absichtslosigkeit.
Zeitgenosse sein, heißt dann nicht länger, ein Problem haben, sich für einzigartig halten, sondern mit gesunden, offenen Sinnen in der Welt zu stehen, zu riechen, zu hören, zu erinnern, zu wandern und selbst die Nacht zu erleben, als wäre sie soeben zum ersten Mal hereingebrochen.
Wie jeder lebt auch Nico Bleutge von den Worten anderer. Die fremden Stimmen, denen er sich anvertraut hat er in Anmerkungen verzeichnet, von Inger Christensen bis Ezra Pound. Zwei Gedichte jedoch sind buchstäblich Überschreibungen: einmal von Heiner Müllers „Traumwald“, einmal von Johan Peter Hebels Prosastück „Von den Schlangen“: eine erstaunliche Mimikry an den Naturforscher, der zum Dichter werden muss, will er das Getier verstehen:
und dann hinunter in die tiefe steigen, auf den
grund. den mund behutsam auf die steine legen, schild
an schild. und warten, auf den schlamm, geräusche.
auf die dämmerung. ob sie die schuppen aneinander reiben?
ob sie sich hören lassen, nachts,
in ihrem wellengang?
(…) nur wärmefäden
strahlen aus, von den steinen, und schließen
einen leeren raum wie eine insel zwischen sich ein
darin die schwere, langsam, sich verdichtet, schicht
über schicht. von oben bald, und bald von der seite
dringt es nach. wer könnte sagen, ob sie kommen,
schon dagewesen sind.
Gefragt, wie er schreibe, wie ihm die Worte, Ideen kommen, hat Nico Bleutge einmal von „konzentrierter Euphorie“ gesprochen, von einem Zustand also, über den man nicht gebieten kann, der nur durch beharrliche Übung, Versenkung, programmatische Langsamkeit herbeizuführen ist, ein Versuch in willkürlicher Unwillkürlichkeit. Glückt dieser wie in den Gedichten dieses Bandes, teilt sich das Hochgefühl des Bei-Sich und der Welt-Zugewandt-Seins zugleich auch dem Leser mit. So wandert man gern durch Gelände und Atmosphären der Gegenwart.
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 1./2.6.2013
Nico Bleutges Methode, „eine Landschaft zu finden“, sie zu verstehen, ihre verschwimmenden Konturen zu dechiffrieren, ist nur ganz selten die der „ferneinstellung aufs gelände“. Dieser genaue Beobachter unterscheidet „vermischte hüllen aus schatten und schilf“, fokussiert „bilder von kalkstaub, kamille, von feldwegen, feuchtem putz, von mauern und stümpfen, bröcklig, von sprengkammern unter den brücken“. Er nimmt Geräusche als ordnende Impulse auf, registriert ein jodfarbenes Licht, notiert und sortiert Fragmente der Wahrnehmung, arbeitet wie ein Naturwissenschaftler. Der geologische Befund einer von Flechten befallenen Sichtbetonstufe wird in der lyrischen Kartei unter dem Buchstaben f wie Flechte registriert:
wie einer flechte zu folgen, flockender
film, der versucht, in die maserung einzudringen.
ablagerungen, in placken, langsam fasernd
am stein
So entstehen im dreiteiligen langen Titelgedicht „verdecktes gelände“ Wortfelder und „übersichtskarten“ nicht nur der Natur, sondern auch „von brandschutt und platten / von zündungsnestern, von sprengkammern / unter den böden“. So wird das Gelände aufgedeckt und entdeckt. Die Stimmen von Jürgen Becker, Inger Christensen, Robert Creeley, Thomas Kling mischen sich ein. Natur und Gelände werden Wort und Wortklang, „sätze und bildtafeln“, Notate von Klangfolgen.
Auf solche Weise entsteht keine Naturlyrik, in der Sprache sich bildkräftig, berauscht auch, anschmiegt an die Natur. Das Verfahren kehrt sich um: Schicht für Schicht wird Natur in die Dichtung eingelagert. Ihre Beschädigungen sind Teil der Bestandsaufnahme. Ganz ohne Technik und verrottende Technik ist Natur nicht zu haben, auch nicht als bloße, sinnlich überwältigende Eindruckskunst. Der Dichter erst verleiht ihr den Ausdruck und auch die Kunst des Ausdrucks. Die Relikte der Technik geben der Natur eine historische Dimension. Leser dürfen darüber nachdenken, wer denn die Sprengkammern und Bunker, Tunnelschächte und die nun unbrauchbaren Gleisanlagen gebaut hat. Das führt dann aus der Naturkunde in die Zeitgeschichte. Eine friedliche Geschichte tut sich da nicht auf. Auch die in das Langgedicht „verdecktes gelände“ hinein zitierten und kursiv gesetzten Wörter wie „torf“, „filz“ oder „barackendienst“ deuten in diese Richtung.
Gleich schon am Anfang des Buches werden die Farbtöne „feldgrau“ und „zementgrau“ einer durchaus besiedelten, keineswegs zivilisationsfernen Landschaft „aufgesaugt“ in einer Tonfolge von au- bzw. a- und u-Lauten. So werden sinnliche Artefakte gestaltet, die nicht abbilden, sondern Bilder aufbauen, Bilder, die aus gesicherter Erkenntnis heraus konstruiert werden.
Seltene Vokabeln werden als bildnerische und tönende Konstruktionselemente herangezogen und erhalten ihren legitimen Platz. Es ist, als hätte die „grauwacke“, ein sandsteinähnliches Sedimentgestein, nur darauf gewartet, eine tragende Rolle im Gedicht einzunehmen. Oder der „feldspat“. Oder der „chlorit“. Sie sind die Verkörperungen des Grau, gewissermaßen seine Petrifikation. Auch der Guss, der Basalt und das Zinn gehören zum Ensemble. Ein mehr als rar gewordenes Verb darf hier mitspielen, um einen Alterungsprozess zu benennen. Von einem „schelfernden“ Grau ist die Rede, also wohl von einem abschuppenden Grau. Dieser Dichter betreibt keine Wortarchäologie. Es freut ihn, das richtige Wort zu finden. Und, wenn es um den Flug der Möwen geht, schlüpft er aus der Geologie in die Physik, spricht von „andruck“, „mitluft“ und „schubgeräuschen“.
Nico Bleutge, der 1972 in München geborene, offenbar durch ein solides Studium gegangene Berliner, der zuletzt 2012 den Erich Fried-Preis erhalten hat und von seinem rund zehn Jahre älteren Kollegen Lutz Seiler sorgfältig gepriesen wurde (Abdruck der Laudatio in Kolik 58, Februar 2013), hat seinen 2006 und 2008 erschienenen Gedichtbänden klare konturen und fallstreifen wiederum alle Ehre erwiesen. In verdecktes gelände enthüllt sich in klärenden Prozessen, wie Natur- und Umwelterfahrung heute in Sprachkunst umgesetzt werden kann. Der historische Abstand zu Erich Fried wird ganz deutlich, freilich der ideologische auch.
– Über Lyrisches stolpert Nico Bleutge ständig. Auf der Straße, an den Rändern der Stadt und im Keller des KiZ. Dort hat der Berliner Autor am Mittwochabend in der Reihe GartenLese aus seinem aktuellen Lyrikband vorgelesen. –
Derzeit ist der Seerosenteich von Peter Rösel im Keller des KiZ zu sehen. Für den Berliner Lyriker wie geschaffen als Einstieg in seine Lesung in der Reihe GartenLese. Denn die scheinbaren Seerosen sind seinen Gedichten sehr ähnlich. „Etwas wird aus seinem Zusammenhang genommen und verwandelt.“ Im KiZ sind es alte Polizeiuniformen, die durch eine Verwandlung die Form von Seerosen angenommen haben. In Bleutges Gedichten sind es Worte, die eine neue Bedeutung erhalten. So schreibt er in seinem aktuellen Band verdecktes gelände zum Beispiel von der „reinigungsfeuchten“ Luft, darüber, dass es nach Schlaf riecht oder über die „Glühgeräusche“.
Gleichwohl kommt ein lyrisches Ich kaum zum Vorschein, sagt Dr. Peter Reuter, der die Lesung moderiert. Er fragt: Verschwindet es? „Es weicht den Phänomenen. Hinter all den Wahrnehmungen ist es bloß eine Sprachhülse“, antwortet Bleutge. Deshalb bezeichnet er seine Lyrik als „Wahrnehmungsgedichte“, inspiriert von Wanderungen entlang der Ränder großer Städte. Wo Stadt und Landschaft sich durchdringen, wo die Berliner Mauer von Gras bewachsen ist, wo Ruinen sich in der Erde verbergen – „Phänomene, an denen sich meine Wahrnehmung entzündet.“ Im Schreibprozess entstehe dann („leider nur selten“) ein Zustand „konzentrierter Euphorie“ – der Moment, in dem das bestimmende Ich nicht mehr subjektiv wahrnimmt, sondern eine Symbiose mit der Umgebung eingeht: „Es ist ein Austausch, weniger ein Bestimmungsverhältnis.“ Gleichzeitig verschwimmt die Sprache, wird mehr als bloßes Kommunikationsmittel. „Eher ästhetische Ausdrucksform, Werkzeug zur Komposition.“ Und in ihrer Bedeutung austauschbar.
Der Moderator spricht den Lyriker auch darauf an, fragt nach den Komposita, die entstehen. „Weil Sie Sprache als Mangel empfinden?“ Bleutge antwortet, wie so oft an diesem Abend, mit einer unerwarteten Aussage: „Ich bin leidenschaftlicher Fachlexika-Leser. Sei es Biologie, Geologie oder Gesteinskunde.“ Dort finde er solche „Begriffsmonster wie Rhythmusfläche oder Hohlfläche – mit großem ästhetischen Potenzial, man muss sie nur aus ihrem Kontext lösen“.
Das Ergebnis ist ein „schwanken“ auf dem „sinkenden boden“, wo „schatten über schatten wandern“. Doch auch wenn die Bilder, die er erschafft, ungewohnt erscheinen, wirken sie vertraut, fasst eine Besucherin die Lesung zusammen. Sie dankt dem Lyriker dafür, dass er sie ins verdeckte gelände mitgenommen hat. Dann lächelt sie, überlegt kurz und fragt: „Also. Ich weiß, das ist unüblich bei Lesungen. Aber können Sie auf meine persönliche Bitte noch eine Zugabe geben?“ Zuspruch aus den Zuschauerreihen, Seitenblättern auf dem Podium, bevor Bleutge ein letztes Gedicht liest.
grauwacke. kaum mehr zu halten, kaum mehr zu haltendes grau
einer landschaft. grau, verhüllt von feldgrau, zementgrau, dichtes
in schichten gelagertes grau dieser gegend. feldspat, chlorit. und
die rauchgrauen wehen, ziehend, im schlaf.
von Herzen empfehlenden Kritiker fällt auf, dass er mit ihnen nicht auf vertrautem Fuß steht. Dafür sind sie ihm angenehmerweise dauerhaft zu fremd. Als Übungen in Präzision führen sie immer wieder ein Repertoire untereinander eng verwandter Gesten vor: Das scheinbar möglichst klare Beschreiben von Wahrnehmungen, die Suggestion des Verzichts auf Einmischung. Ein feines, schwingendes Sprechen, das sorgfältige Präsentieren jedes Details. Immer neue Momente und Ansätze zu Geschichten tun sich auf im dritten Gedichtband des 1972 geborenen Nico Bleutge, in die sich in sanfter Konsequenz immer wieder neue Wahrnehmungspartikel und Sprachfunde hineinschieben:
frühe, schnell aufziehende
dunkelheit. abdrücke, fast noch bewegt, fast schon
umschlossen, vom grau, das die wände einfärbt. die abstände
wechseln langsam. luft dehnt sich aus und zerfällt
zu dichten flocken. strohpolster, dämmernde schlafwehen
treiben tiefer am boden vorbei. vor dem fenster
der schattenriß eines vogels, der näherkommt
weiter und weiter entfernt
Thorsten Schulte: Atmosphären von Wahrnehmungszuständen
literaturkritik.de, Mai 2013
Beate Tröger: Vom Klang der Reptilien
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.8.2013
Ina Hartwig: Am Bahndamm ist ziemlich was los
Die Zeit, 8.8.2013
Hans-Dieter Fronz: Hiersein, um zu vergessen
Badische Zeitung, 11. 5. 2013
Andreas Wirthensohn: Poetische Funken in verdecktem Gelände
Wiener Zeitung, 25. 5. 2013
Jayne-Ann Igel: Wenn Schatten über Schatten wandern
signaturen-magazin.de, Januar 2014
Beate Tröger: Kühle Romantik – Über die Lyrik von Nico Bleutge
literaturblatt für Baden-Württemberg, November/Dezember 2014
– Laudatio auf Nico Bleutge, anlässlich der Verleihung des Christian Wagner-Preises (15.11.2014)
„Wohin geht das Gedicht?“, fragte vor einigen Jahren die Neue Zürcher Zeitung ein Dutzend internationaler Autoren, in der Hoffnung auf eine Ortsbestimmung. Das Gedicht, meine Damen und Herren, das Gedicht wartet am Eingang zur Unterwelt, es wartet geduldig auf Einlass, um dann, wenn alle Vorkehrungen getroffen sind, ins Dunkel einzutreten. Das Gedicht geht dann, mit seiner eigenen Schwerkraft, langsam von oben nach unten, in die dunkle Materie hinein, bis auf den Grund. Und nur die Augen „eilen hin und her“, die Augen des poetischen Erdforschers, der zugleich ein Hadeswanderer ist. Der Wanderer im Hades ist zunächst nur ein Betrachter, der seine Sinneswahrnehmungen aktiviert, ein Augenzeuge und Ohrenzeuge, einer, der tastet und hört und lauscht und das Sehen einübt, die Apperzeption. Und sein Gedicht geht langsam von oben nach unten.
„und dann“, heißt es in einem Gedicht Nico Bleutge, „und dann hinunter in die tiefe steigen, auf den / grund. den mund behutsam auf die steine legen, schild / an schild. und warten, auf den schlamm, geräusche. / auf die dämmerung.“ So ist das häufig in den Gedichten von Nico Bleutge: Da geht ein namenloses Subjekt mit allen Sinnen durch die Welt und tastet sich durch die Materie, durch Materialitäten, Stoffe, Substanzen. Es sind oft feinstoffliche Substanzen, zarte Naturphänomene, Blattformen, „wandernde teilchen“ „Wollflocken“ oder ein sanfter Windstoß, der durch Grashalme fährt. Mal sind es „Geländefalten“ oder Gesteinsformationen wie Schluff, Silt oder Muschelkalk, auf die sich die poetische Bewegung dieser Gedichte konzentriert. Dann wieder sind es maritime Phänomene, Strömungslinien, leuchtende Schiffe, Markierungstonnen, Bojen, Wellenbewegungen auf sich kräuselndem Wasser.
Nico Bleutge hat Wasser im Sinn, so darf ich den Anfang seines Gedichtzyklus „fischhaare finden“ paraphrasieren, Wasser und die Feuchte in den Substanzen. Seine Gedichte sind fluid, sein intensives Schauen bringt die Stoffe und die Verse in eine gleitende Bewegung, sie praktizieren das „gleiten im schauen“, wie es in seinem faszinierenden Gedicht über das Grau heißt.
Und auch in diesem lyrischen Versuch über das Grau finden wir jene Bewegung von oben nach unten, die seinen Gedichten eigen ist, das Gleiten in eine unergründliche Tiefe, wo es keine Haltepunkte mehr gibt und unsere gewohnten Wegmarkierungen versagen:
feuchte, innere graue flut, eisenfarbene
tiefe, näher dem boden, näher dem grundwogen zu.
Was ist es, was uns dort unten erwartet, in der eisenfarbenen Tiefe? Nach den Erzählungen des antiken Mythos ist ja der Besuch der Unterwelt durchaus mit einigen Mühen verbunden. Es gibt zwar keine Visumspflicht, um die Grenze von der Oberwelt in die Unterwelt überschreiten zu können, aber man ist entweder auf die Hilfe des einflussreichen Fährmanns Charon angewiesen, der einen über den eiskalten Totenfluss, den Styx, navigiert oder auf die Gunst des Höllenhundes Kerberos, der darauf achtet, dass kein Lebender die Unterwelt betritt. Aber der Hades ist seit je ein Reiseziel für die Dichtung, und nicht jeder versagt dort so gänzlich wie der Dichterkönig Orpheus, der sich ungeduldig nach seiner Geliebten Eurydike umdrehen musste und sie dadurch für immer verlor.
Nico Bleutge hat in immer neuen Anläufen den Weg in die Tiefe ausgelotet und führt uns mit der kunstvoll hergestellten Drift seiner Verse in eine Tiefe, die selber in Bewegung zu sein scheint, die nicht fest ist, sondern selber bodenlos, denn der „Boden“, so sagt es das Gedicht über das „Grau“, ist ja mit dem „Grundwogen“ verbunden, also einer schweren Wellenbewegung. Und auch in dem Gedicht, in dem Nico Bleutge in die Tiefe steigt, „auf den grund“, haben wir keineswegs einen sicheren Halt unter den Füßen.
Vielleicht darf ich im Blick auf Nico Bleutges Poesie – probehalber und ungeschützt – eine kleine ontologische Maxime der modernen Dichtung hier hinstellen. Es gehört, davon bin ich überzeugt, zum Produktionsgesetz eines Gedichts, dass es uns prinzipiell nicht erlaubt, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, sondern es wird uns dieser feste Boden immer wieder entzogen. Der Feind der Poesie ist immer das Feste, die Fixierung, die Stereotypie kommt ja nicht zufällig vom griechischen „stereos“, fest, hart.
Und auch die Tiefe Nico Bleutges ist selbst dann bodenlos, wenn sein lyrisches Subjekt im zitierten Gedicht auf dem Grund angekommen ist:
nichts
von einer schleierspur zu sehen. jedoch die steine,
welche in der tiefe ruhen, die steine, faßlich, fest.
als wär ein summen in den schichten, wärme,
die aus ihrem inneren dringt. ein schleichen?
oder gleiten sie?
Ja, sie gleiten, die Steine und Schichten, wie die Verse Nico Bleutges, der seine Gegenstände und Stoffe ganz akribisch konturiert, sie aber nicht fixiert. Seine Gedichte zeichnen „klare konturen“ der Dinge, sie folgen „wandernden teilchen“, sie entfalten punktuelle Perspektiven – aber die vom Gedicht eingekreisten Dinge sind nicht als klar definierte Objekte für uns instrumentalisierbar, sondern sie bleiben selbst als Dinge in Bewegung, sind präsent vor allem in ihrer vokabulären Morphologie, als Klänge und Schwingungen.
Dafür zwei Beispiele.
Nico Bleutge, sagte ich, hat Wasser im Sinn, er baut aus den Schichtungen der Steine und der Wörter seine „Meeresbeweglichkeit“. Ein neuer, erst teilveröffentlichter Zyklus heißt „nachts leuchten die schiffe“.
Aber bevor ich darauf eingehe, will ich mich kurz dem Leuchten der Wörter in seinem wohl rätselhaftesten Gedicht zuwenden, dem Gedicht „fischhaare finden“, das 2012 in einem Künstlerbuch mit Papierschnitten des Künstlers Max Marek erschienen ist, bevor es 2013 in den Band verdecktes gelände aufgenommen wurde. Im Gedicht „fischhaare finden“ kommen – nach meiner Lesart – die beiden zentralen Motivkreise und Passionen Nico Bleutges zusammen: das Maritime und das Geophysikalische, die Bildwelten des Wassers und der Wasserbewohner und die Vokabularien der Gesteinsformationen. Es ist ein Fest der Naturgeschichte, das hier in artistischer Vollkommenheit gefeiert wird. Es werden uns Bewegungsmuster vorgeführt, vorzugsweise Drehbewegungen – und es werden „leitende Elemente“ miteinander verbunden: helle, perlmuttfarbene Schalen und fluide Stoffe und Strömungsformen. Festes und Fluides in ständigem Wechselspiel, trockene und feuchte Stoffe in ständiger Verflechtung und Entflechtung. Das Fest der Naturgeschichte ist auch ein Fest der Wörter, die zum Leuchten gebracht werden. Wörter, die vom Konsonanten „F“ getragen werden: „fischhaare“, „fangspuren“, „flurgras“, „feuchte“ und „fischglanz“, „fjorde“, Wortbildungen mit maritimer Konnotation und botanischer Konnotation, Wasserkunde und Pflanzenkunde. Und all diese Vokabularien werden eingeflochten in ein poetisches Gewebe, und es wird ganz buchstäblich am Leuchten dieses Wörter-Gewebes gearbeitet, es wird die Helligkeit dieser Substanzen evoziert. Bereits in der dritten Zeile ist von „schalen mit licht leitenden elementen“ die Rede, später von einer Oberfläche „klar wie perlmutt oder fisch- / glanz“, schließlich von „schalen aus kalk und eis“. Das Gedicht orchestriert in seinem Wortmaterial ein beständiges Schimmern und Glänzen, das ganz aus Naturstoffen und organischen Systemen kommt.
fischhaare finden, heller und trockener als gras
und fangspuren finden, kalk und gewebefalten
an schalen mit licht leitenden elementen, immer
im drehen, immer im streifen von bruchkanten, quer
zu den wellen, und den windungen folgen, fluchtnahen
körnern, drehen und finden von flurgras, kanälen
an stellen für wärme oder feuchte in lang schon
verlassenen schalen, klar wie perlmutt oder fisch-
glanz, das helle darin, das höhlenartige
das fehlende, und das atemwasser filtern, dreh
über dreh, an den rippen, nah an der spindel, nah
an der eigenfrequenz, noch den schwingungen
folgen, den fjorden, den kalten gärten und streifen
von licht, die wie schneehalden leuchten, schnee
der hohlfalten bildet, innen, schalen aus kalk
und eis, die nicht weichen, immer noch wachsen,
wendig, verändert, sich im gewebe halten
Und hier, in diesen Zeilen, finden wir denn auch die zentralen Bausteine der Poetik, denen Nico Bleutges Gedichte folgen. Es wird ja von der „Eigenfrequenz“ der Dinge und von ihren „Schwingungen“ gesprochen. Es sind solche „Schwingungen“ und „Oszillationen“, es ist die Eigenfrequenz der biologischen und sprachlichen Organismen, die dieser Dichter hörbar und sichtbar machen will. Es sind die inneren Verschiebungen und Schwingungen der Materie selbst, die Metamorphosen von Naturphänomenen, die zum zentralen Gegenstand der Poesie werden. Es geht in der Dichtung von Nico Bleutge nicht um eine „realistische“ Naturdichtung, sondern um eine hochmusikalische Sprachkunst, die sich an der Faszination bestimmter Naturvokabeln und an den Klängen der Sprachmaterie entzündet, die dann zu einer polyphonen Textur verflochten werden.
Und hier liegen auch die markanten ästhetischen Differenzen zum Namensgeber dieses Preises. Wo Christian Wagner eine emphatische Naturfrömmigkeit mobilisiert und die Realien von Flora und Fauna ins Zentrum einer Lebens-Ethik rückt, da entfaltet Nico Bleutge ganz akribisch die sprachliche Morphologie der Phänomene. Beiden Autoren gemeinsam ist indes ihr leidenschaftliches Interesse an „Musik und Wohllaut der Sprache“, worin, wie Christian Wagner einmal beiläufig bemerkt hat, allein „der Zauber“ der Poesie begründet liegt.
„Das innerste Gewebe“, so darf man im Blick auf seine Gedichte sagen, ist der Ort von Nico Bleutges Poesie. Und ihre Bewegung, und hier darf ich an den Anfang meiner Rede zurückgehen, ist der Weg von oben nach unten, ins „Höhlenartige“, Hadesartige, Feuchte.
Letztlich ist es das Wort „Gewebe“ selbst, das zu einem Schwingungszentrum in den Gedichten wird. So auch in den letzten drei Zeilen von „fischhaare finden“:
… schalen aus kalk
und eis, die nicht weichen, immer noch wachsen,
wendig, verändert, sich im gewebe halten
Das Gewebe leuchtet auch in einem der jüngsten Gedichte Nico Bleutges, das im aktuellen Heft der Literaturzeitschrift Akzente zu lesen ist. Auch hier wird eine Abwärtsbewegung aufgerufen, die durch Sedimente und Flöze – nach Art des beständigen Grabens und Schaufelns – bis hin zum „innersten Gewebe“ der Erde führt. In einer Dankrede, die die Veröffentlichung der Gedichte in den Akzenten flankiert, verweist der Dichter auf die „Schwingung“ eines Gedichts, die sich der Wirkung von Klang und Rhythmus verdankt. Interessanterweise erweist Bleutge hier – wie an einigen anderen Stellen seiner Essays – dem schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf, einem großen Mystiker, der 1968 gestorben ist, seine Reverenz. Bleutge verweist auf Ekelöfs Diktum von der Strahlung des Gedichts, von den poetischen Kraftlinien, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen. So hänge alles ab von der „Fähigkeit des Dichters, die Wörter und Bedeutungen in ein solches Reibungs- und Nuancierungsverhältnis zueinander zu setzen“, dass letztlich „eine Art von magnetischem Gewebe aus unsichtbaren Fäden“ entsteht: „Ein magnetisches Gewebe also, ein magnetisches Gewebe, in dem die Kraft der Einzelheiten wirksam ist.“ Der „Textus“, so sagt es uns schon das lateinische Wort, der „textus“ ist ein Gewebe – und der Dichter Nico Bleutge lässt es durch beständiges Flechten der Wortsubstanzen und der Wortklänge entstehen. Und er geht mit seinen Gedichten immer mitten in die Materie hinein, ins Tellurische, in die geologischen Schichtungen der Erde. Die „Erdbewegung“ wird gleichsam nachgeschrieben – bis wir wieder vor dem Eingang zur Unterwelt stehen. Und mit seiner Stimme und seinen Sinnesorganen und seinen Sprachzeichen gräbt sich der Dichter erdunter, zu den rohen Stoffen und Sedimenten, zu Schluff und Silt und er betritt die dunklen Höhlengänge. Beispielhaft in diesem Gedicht:
als ob die stimme
abwärts ginge, richtung
schletten, richtung schluff.
komm, mach die raupe, mach
die haltegriffe und den schlaf,
sprich von den flözen,
dem geknebelten hund, er
wird noch schaben, wird
auf schädel stoßen, beine.
sprich lauter, sprich,
zeig mir die hungerlunge,
die kleinen eichen ohne furcht,
das schrappen und die rasche
erdbewegung aus der zeit
die du mit rißwerk, scharfen
kanten, hier nachgeschrieben
hast. so sprechen die fasern,
spricht die luft
in den adern. und du murmelst
noch vom gemenge,
schließt noch den leipziger
raum mit ein, komm in die gänge,
poller dich ein, ich will
das innerste gewebe sehn.
Wir sind, so scheint es zunächst, in einer Bergbaulandschaft, im Leipziger Tagebau, in Flözen, graben uns immer weiter hinein, und stoßen auf Gebeine und Totenschädel, wieder eine Unterwelt. Und die Passion des Dichters ist auch hier das „Digging“, das Graben in der Erde mit der Schreibfeder, das „Digging“, wie es einst auch der Dichter und spätere Nobelpreisträger Seamus Heaney zu seiner Maxime erhob. Aber halt – wir sollten die konjunktivische Markierung nicht übersehen, das „Als ob“, das uns davor bewahren soll, diese Bewegung erdunter zu wörtlich zu nehmen – und zu erkennen, dass ja nicht von Grabungsvorgängen die Rede ist, sondern von den Artikulationen einer Stimme, die zu uns spricht. Es wird ja das Sprechen und das Schreiben aufgerufen, nicht das Graben.
als ob die stimme
abwärts ginge, richtung
schletten, richtung schluff.
Und natürlich ist es auch bedeutsam zu wissen, dass dieses Gedicht ursprünglich an Volker Braun adressiert war und in einer Anthologie zum 75. Geburtstag des melancholischen Sozialisten erschienen ist. Ein Hinweis, den ich unserem Preisträger verdanke. So sind die tellurischen Zeichen des Gedichts scheinbar leichter zu verstehen, zumal Volker Braun selbst einige Jahre lang im Bergbau gearbeitet hat, im Kombinat Schwarze Pumpe und als Maschinist im Tagebau.
Aber wer näher hinschaut, erkennt auch die primäre Referenz des Gedichts.
Denn bei Nico Bleutge ist immer auch das Sprechen selbst ein Thema, die Schwingungen der Sprachzeichen, wenn der Artikulationsapparat des Dichters mobilisiert wird und das Gedicht entsteht, rein physiologisch, als in Vibration versetzte Atemluft. Und dennoch folgen wir unwillkürlich dem poetischen Appell, „in die Gänge zu kommen“, der als Redewendung zu verstehen ist, die davon handelt, langsam in Bewegung und Schwung zu kommen, aber auch als dieser Bewegungsvorgang selbst, der ins Dunkle führt. Und so wird uns nun auch Nico Bleutge selbst gleich in die Gänge führen, ins „Höhlenartige“, wo es keine Ausgänge gibt, nur das Schimmern und Leuchten der Wörter schenkt uns noch Licht. Für diese poetischen Erkundungsgänge durch dunkle Materie, hin ins „innerste Gewebe“, für die Verwandlung von Naturgeschichte in Dichtung verleihen wir Nico Bleutge heute den Christian-Wagner-Preis. Lieber Nico, ich gratuliere Dir im Namen der Jury ganz herzlich. Wir steigen mit Dir in die Tiefe – und verlassen uns darauf, dass wir danach heil in die Oberwelt zurückkehren können.
– Dankrede zum Christian-Wagner-Preis, gehalten am 15.11.2014 im Theater im Spitalhof in Leonberg. –
Im Jahr 1895 brach Christian Wagner zu seiner „ersten kleinen Reise nach Italien“ auf. Obwohl das Land, wo die Zitronen blühen, seine Unschuld schon längst an die vielen Reisenden verloren hatte, ließ er sich ganz vom Reisefieber packen. Die Lust, ja, die Sucht fast, dem engen schwäbischen Dunstkreis (und dem harten dörflichen Leben) zu entfliehen und endlich etwas von der Welt zu sehen, muß gewaltig gewesen sein. So schreibt er in seiner Autobiographie:
Aber es erging mir wie einem Landkind, das zum erstenmal in eine Großstadt kommt und schon in der ersten Straße an Schaufenster um Schaufenster stehen bleibt, all diese Wunderdinge anstaunend, den eigentlichen Zweck der Reise vergißt und dann plötzlich bemerkt, daß es schon Abend und zum Heimgehen höchste Zeit ist.
Wie stelle ich mir den Dichter auf seiner Reise durch Italien vor? Was ging ihm durch den Kopf, wie hat er sich gefühlt? Ich denke ihn mir als einen aufmerksamen, obgleich vorsichtigen Beobachter, der mit großer Neugier die fremde Landschaft durchwandert, der das Klima und die neuen Töne aufnimmt und doch im tiefsten Inneren enttäuscht ist, daß er, der Liebhaber der Lebewesen und der Sprache, die anderen Menschen nicht versteht. Aber nichts dergleichen ist der Fall. In einem Städtchen am Lago Maggiore streift der Dichter durch die Gassen. Und schreibt dazu später:
Herumschlendernd trat ich in eine ländliche Schenke. Die ganze Stube voll von Marktweibern, die ihre heutigen Erlebnisse erzählten. Welche Melodik der Sprache! Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Unvergeßlich ist mir’s, wie ich mich an der Musik dieser Worte erlabte. Unvergeßlich der Gedanke, der plötzlich in mir auftauchte: Wie gut, daß du die Sprache nicht verstehst, daß du den Klatsch nicht verstehst, der hier geschwatzt wird.
Es ist nicht nur der ironisch formulierte Seitenhieb auf das Geschwätz der Leute, der diesen Ausschnitt so sympathisch macht, der gut verpackte Unmut über die alltäglichen Klischees und schnellen Botschaften, die Christian Wagner aus seinem Lebensort Warmbronn bei Stuttgart nur zu genau kannte. Was diese Äußerung aus dem Gang der Erzählung heraushebt, ist eine bestimmte Vorstellung von Sprache. Und vielleicht erzählt uns die Episode etwas über Christian Wagners eigenes Schreiben, über die vielen Verse, die er im Laufe seines Lebens verfaßt hat, und über die ihnen eingesenkte Vorstellung vom Gedicht. Kurz bevor er seinen Streifzug durch das Städtchen am Lago Maggiore skizziert, spricht er von einer Erfahrung, die ihm der Klang der fremden Sprache ermöglicht habe, die „Erkenntnis“ nämlich, „daß nur der, der die Sprache gar nicht oder nur mangelhaft versteht, gerade deswegen des höchsten Genusses fähig wird“. Nur der also, der von ihrer Bedeutung und vom Verstehen absieht, kann die Sprache recht eigentlich erfahren. Auf daß die Wörter nichts anderes seien als reine Musik. Das ist eine durchaus überraschende Einsicht für jemanden, dem es doch ganz und gar um die Sprache und ihre feinsten Verästelungen geht, einen Dichter zumal, der keine Lautpoesie betreibt, sondern bei aller Kunstfertigkeit, von der seine Gedichte leben, immer auch etwas umkreist. Wie könnten wir Christian Wagner nun unsererseits verstehen? Es scheint sich um eine Vorstellung von Sprache zu handeln, die Wagner zwar den Marktfrauen von der Straße ablauscht, die sich in ihrem Kern aber gerade von jener Art unterscheidet, wie wir die Sprache im alltäglichen Umgang verwenden. Die Idee einer idealen Sprache gleichsam, die sich löst von dem Zwang, immer etwas mitzuteilen, einer Sprache womöglich, die tatsächlich aufgeht in Rhythmus und Klang. Und könnte nicht das Gedicht genau jene Möglichkeit sein, in der sich eine solche Vorstellung von Sprache am glücklichsten verwirklichen läßt?
„Da ist er, der Acker, und der sonnige Waldsaum, den ich einst an der Hand der seligen Mutter so oft überstürmte“, schreibt Wagner in seinen „Sonntagsgängen“, einer Mischung aus Gedichten und kleinen Lebensanweisungen, die mit ihren verschiedenen Tönen und Formen zum Wundersamsten gehören, das er sich ausgedacht hat. Und gestimmt von den Erinnerungen an die Welt der Kindheit und die verstorbene Mutter fragt er:
Sollte denn gar nichts von ihrem Wesen an dieser heiligen Stätte mehr vorhanden sein? Nicht wenigstens einige, wenn auch verschwindend kleine Atome, die mir mit irgendeinem Zeichen des Einverständnisses ihre bewußte Nähe kund täten?
Nur wenig später, in einem anderen Sonntagsgang, finden wir ein Gedicht, das wie eine verzögerte Antwort auf jene Frage klingt. Es heißt „Auf der Lichtung“:
AUF DER LICHTUNG
Sommermittag auf dem Hochwald brütet,
Aber auf der Lichtung treu behütet
Vom Geflechte dunkler Brombeertanken,
Wachen auf des Waldes Lichtgedanken.
Falter sind es, die so farbenprächtig,
Auf der Lichtung, sonnig halb und nächtig,
Diese Brombeerblüten still umbeben,
Purpurdisteln geistergleich umschweben.
Sagt mir an ihr stillen Geisterfalter
Auf der Lichtung: Wie viel Zeitenalter
Ihr im Banne laget bei den Toten,
Eh ihr wurdet solche Wunderboten?
Es scheint ein Sommerbild zu sein, eine jener kleinen Landschaftsskizzen, von denen Wagner auf seinen Wanderungen durch das Warmbronner Umland so viele angefertigt hat. Die Szenerie wirkt klar bestimmt: eine Mittagsstunde im Wald. Die Luft ist heiß. „brütend“ geradezu. Brombeersträucher und dünne Disteln vermitteln einen eher kargen Eindruck. Doch plötzlich entdeckt der Sprecher ein paar Falter, die um jene Pflanzen flattern. Und bestärkt vom Spiel der Farben verwandeln sich die Falter, werden zu Bildern einer anderen, vielleicht göttlichen Sphäre, die in dem geisterartigen Flug aufscheint. Eine Epiphanie im klassischen Sinne. Doch ist es wirklich nur das? Gewiß, hier zeigt sich etwas im „Geflechte“ der Landschaft, leuchtet geradezu auf – aber es ist viel mehr als nur die traditionelle Idee eines Gottes. Was in diesem Gedicht spürbar wird, ist Christian Wagners Vorstellung von einer Wiederkehr aller Momente. Eine eigentümliche Weltsicht, die er aus seinen christlichen Prägungen, indischen Weisheitslehren, einer Art Symbollehre und hier alchemistischen, dort naturwissenschaftlichen Vorstellungen gewonnen hat. Wagner denkt sich alle Erscheinungen als Sammlungen einer zwar sehr großen, aber offenbar endlichen Anzahl von winzigen Teilchen, von „Atomen“, wie er immer wieder schreibt, die sich über Zeit und Raum hinweg stets neu formieren.
Kannst Du wissen, ob von deinem Hauche
Nicht Atome sind am Rosenstrauche?
Ob die Wonnen die dahingezogen,
Nicht als Röslein wieder angeflogen?
Ob dein einstig Kindesatemholen
Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?
Doch nicht bloß die eigenen Lebensmomente können wiedererscheinen, sondern die aller Lebewesen, der Pflanzen und Tiere ebenso wie der anderen Menschen. Und nicht nur der Gegenwart, sondern jeder zeitlichen Schicht. So wie der Acker mit seinem sonnigen Waldsaum von der verstorbenen Mutter kündet, kann eine Silberblüte am Wegrand zum „Zeichen aus vergangnen Zeiten“ werden. Wagner denkt hier keineswegs ideell, vielmehr wirklich im Sinne einer atomistischen Stofflehre. Die Teilchen des einstigen Wesens, des Körpers, der Gedanken und Erinnerungen, werden in den Teilchen der Pflanzen erfahrbar, die sich zum Geruch formieren, oder in den Teilchen der Tiere, die zu Farbreflexen geworden sind. Atem wird zu Duft, „die metallenen Fäden der Seele“ werden zu Bewegung. Und nicht allein die schönen Pflanzen mit ihrem Duft oder die schwebenden Falter bilden eine Brücke in die Kindheit oder in vergangene Leben. Auch das „blaue Muschelkalkmeer“, wie es einmal heißt, kann seine Toten „wiedergeben“ und sie in Klee und Kartoffeln, in Hopfen und in Rüben aufblühen lassen.
An Stellen wie diesen wird deutlich, daß Wagner seine Ideen vor dem Hintergrund des eigenen, von Beginn an entbehrungsreichen Lebens entwickelt. 1835 wird er als einziges Kind eines Schreiners und Bauern geboren. Warmbronn ist zu jener Zeit ein Dorf, in dem es neben ein wenig Landwirtschaft kaum Verdienstmöglichkeiten gibt. Die dunklen Wälder ringsum, für Wagner „der Ort alles Geheimnisvollen und Wunderbaren“, sind den Bewohnern Überlebensquelle, kleinen Landwirten und Tagelöhnern zumeist, die vom Handel mit Holz und der sogenannten Weberkarde leben, einer Pflanze, die zum Aufrauhen von Stoffen dient. „Schulmeister wie der Großvater mütterlicherseits“ soll der begabte Junge eigentlich werden, aber die Not verlangt, daß er der Familie bei der Arbeit hilft. Eine harte Zukunft erwartet ihn auch nach dem Tod der Eltern, mit so wenig Verdienst, daß es im Winter manchmal kaum zum Heizen reicht, mit vier Kindern, die nicht einmal das erste Jahr überleben, dem frühen Tod der ersten, dann auch der zweiten Frau. Doch es bleiben ihm drei Töchter und ein Sohn. Und nach und nach finden auch seine Gedichte eine Leserschaft. Während an den Sonntagen elegant gekleidete Herrschaften zu dem vermeintlichen „Bauerndichter und Braminen“ nach Warmbronn pilgern, „oft ganze Trupps, Touristen, Albvereinler, Gesangvereinler, alle Gattungen von Menschen“, wie Wagner schreibt, wandert er selbst wochentags in die Stuttgarter Bibliotheken, um sich die Bücher auszuleihen, die er für seine Selbststudien braucht. Hermann Hesse, Gustav Landauer oder der Friedrichshagener Dichterkreis um Bruno Wille werden auf ihn aufmerksam, literarische Spenden und kleine Preise ermöglichen ihm erste Reisen. All diese Erfolge können freilich nicht vergessen machen, das zeigen die Briefe und Notizen ein ums andere Mal, wie sehr Wagner unter dem Unverständnis gelitten hat, das ihm in Warmbronn entgegenschlug, erst recht aber unter seiner Einsamkeit und dem Verlust der geliebten Menschen.
So mag es kaum verwundern, daß er seine Idee von der Wiederkehr der Lebensmomente in alle Richtungen ausstrahlen läßt. Das „Ewigkeitswandern“, wenn man den Sonntagsgängen folgt, reicht weit über die schwäbische Heimat hinaus, bis ins Reich der Inka und ins „Zauberland der Pyramiden“. Zeit in einem linearen Sinne gibt es in Wagners poetischer Weltsicht nicht. Eher finden wir dort die Idee eines Zyklus – oder genauer: einer „Spirale“, in der sich alles fortwährend formiert und wieder löst. Freilich bleibt seinen Vorstellungen eine Hierarchie eingezogen, jener alte Wertmaßstab, nach dem die höchste Verkörperung die menschliche sei. Aber Wagner filtert daraus die schöne Lehre, daß allem Lebendigen mit der gleichen Aufmerksamkeit, der gleichen Güte und der gleichen Liebe zu begegnen sei. Und ist es nicht ein wunderbares Bild für die Natur als das andere des Menschen, das er entwirft? „Natur“ meint hier keine abgetrennten, kleinen Idyllen, auch keinen geschichtsfernen Raum, in dem nichts als der Mythos waltet, wie sie spätere Dichter, so etwa Wilhelm Lehmann, gestalteten. In den Erscheinungen der Natur begegnet der Mensch sich selbst, die Gräser sind „Geschwister“ und die Tiere Lebewesen seiner Seele.
Diese Vorstellung von Natur umfaßt noch mehr. Keine Erscheinung steht für sich allein und bedeutet etwas klar Bestimmtes, sondern jede wird zugleich durchlässig für andere Momente, für andere Schichten der Wahrnehmung und der Sprache. Es bedarf nur eines aufmerksamen Geistes, der die Verbindungen sieht. Der Möglichkeitssinn, den Robert Musil beschwor, ist bei Christian Wagner ein Ähnlichkeitssinn. Und so gilt auch für das Gedicht: Kein Vers bildet einfach nur etwas ab, verweist auf ein bestimmtes Etwas außerhalb der Sprache. Vielmehr ist jeder Vers, jeder Satz, jedes Wort durchlässig für andere Nuancen der Bedeutung, des Klanges und des Rhythmus. Diese Bedeutungen changieren, bilden ein Gefüge von Verschiebungen und Verweisen, so daß die Sprache sich tatsächlich der Musik annähert.
Auf den ersten Blick wirken die Verse in „Auf der Lichtung“ äußerst harmonisch. Eine penible Aufteilung in drei gleichlange Strophen, ein durchgehaltenes Versmaß, dazu Reimpaare, die wie die Blüten in den Brombeerranken auf den Enden der Verse sitzen. All das ist eingelagert in ein scheinbar gleichmäßiges Spiel dunkler und heller, kurzer und langer Vokale, die zwei Atmosphären aufspannen, hier eine eher düstere, brütende Waldatmosphäre, dort das plötzliche Flattern und Flirren einer Sprache des Lichts und der Falter. Aber schon beim zweiten Lesen zeigen sich Wölbungen in diesem Gewebe. „Sommermittag auf dem Hochwald brütet. Aber auf der Lichtung treu behütet / (… Wachen auf des Waldes Lichtgedanken.“ „Auf dem Hochwald“ brütet hier die Mittagsstunde – ein Eindruck, den ich mir optisch nur als ein Übereinander zweier Sphären vorstellen kann, des Waldes und der Hitze, die auf ihm lastet. „Auf der Lichtung“, wie das Gedicht fortfährt, kitzelt mit seinem gleichartigen syntaktischen Bau mein sprachliches Harmoniegefühl, semantisch aber meint es kein Überlappen zweier wahrnehmbarer Schichten, wie die Formulierung „Auf dem Hochwald“, sondern eine einfache Ortsbestimmung. Eine ähnliche Spannung zeigt sich zwischen dem „umschweben“ der Falter und seinem Reimwort „umbeben“, einem Begriff, der so gar nichts Schwebendes, sondern etwas Wuchtiges an sich hat. Es sind solche kleinen Widerhaken und Verschiebungen, die Wagners Gedichte allgemein auszeichnen. Sei es, daß er kleine Klangflächen aufstaut, die mit dem, wovon das Gedicht vordergründig spricht, in Widerspruch treten, sei es, daß er einen unsauberen Reim ans Versende setzt – oder daß er kaum merkliche Brüche in den rhythmischen Lauf der Verse einbaut.
Aber lösen wir uns von der Struktur und kehren zurück zu den Bildern. Als ich Wagners Gedicht zum ersten Mal las, blieb ich gleich an den flatternden Wesen haften, die er durch die Zeilen schickt. Eine Handvoll Falter, die in der Mittagshitze ein Gebüsch umschweben, halb im Schatten, halb im Licht ihre prächtigen Farben zeigen und bald zu Wunderboten der Vergangenheit werden – das kam mir vertraut vor. Und während ich noch überlegte, fing es in mir an zu murmeln:
Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten,
wie Farbenstaub vom warmen Körper der Erde,
Zinnober, Ocker, Gold und Phosphorgelb,
ein Schwarm von chemischem Grundstoff
hochgehoben.
Als wären ihrerseits die Seelen der Wagnerschen Verse durch die Zeit und einmal quer durchs Land Richtung Norden geeilt, um ihre geistergleichen Kräfte in Inger Christensens „Schmetterlingstal“ zu entfalten: Auch dort, in diesem streng gebauten Zyklus von fünfzehn Sonetten, in der „mittagsheißen Luft des Brajčinotals“, werden die Wörter durchlässig für die Schichten der Vergangenheit:
Dieses Flügelflimmern – ist es nur eine Schar
von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung?
Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit,
zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?
Auch Inger Christensen treibt fortwährend ein Spiel mit Verwandlungen, in dem die Farbteilchen, der Duft, das Licht und das Flimmern der Flügel sich immer neu zusammensetzen, lösen und zurück in die Erinnerung führen. Dahinter leuchtet die alte Vorstellung auf, die Schmetterlinge seien die Seelen Verstorbener, jene Vorstellung, die Wagner in seine atomistische Idee von der Wiederverkörperung eingeschmolzen hat. Mit Inger Christensen teilt er die Liebe zu den Fachbegriffen der Pflanzenwelt, ohne im Botanischen zu verweilen. Die „Purpurdisteln“ werden zu „Purpurfarben“, und die „Brombeerblüten“ grüßen hinüber in eins von Inger Christensens anderen großen Gedichten, in ihr „Alfabet“, wo es die „brombeeren, brombeeren“ gibt. Wie Christensen versammelt er in seinen Versen verschiedene Schmetterlingsarten, den Kohlweißling mit seinen schwarzen Tupfen, das Pfauenauge, das mit den Flügeln sehen kann – oder den Trauermantel, der um „sumpfige Fahrgeleise“ flattert. Sie alle spiegeln Bild um Bild und zeigen uns eine „Zeichnung von der Flüchtigkeit aller Dinge“. Bei so viel Verwandlungskunst mag es kaum verwundern, daß seine Schwägerin Wagner einmal als Hexenmeister bezeichnete, weil er „solches Teufelszeug schreibe, den Hex-, Hex-“ – und sie meinte den Hexameter. Ist es da nicht eine wunderbare Laune dieser Flüchtigkeit namens Zufall, daß eben jene Hexen, wenn wir dem Grimmschen Wörterbuch folgen, einem alten Volksglauben nach die Gestalt von kleinen flatternden Wesen annehmen, um den Menschen ihre Vorräte an Milch und Butter zu verderben, die Gestalt von Schmetterlingen? Der Schmetten, der Schmand, wie der Milchrahm andernorts heißt: der Schmetterling, der Schmandlecker, die Butterfliege. Bei all diesen fliegenden Wesen und Metamorphosen darf aber nicht in Vergessenheit geraten, daß Christian Wagner seine Ideen keineswegs aus der Luft greift. Seine Verse ziehen ihr großes Erinnerungsreservoir aus einer sehr genauen Wahrnehmung der Gegenwart. Er ist ein Dichter, der seine Mitmenschen und ihr Verhalten beobachtet, sich hineindenkt, ihre Gefühle und Ansichten kennenlernen und verstehen will. Und trotzdem registriert, wie Tiere und Menschen in Dienst genommen werden, wie alles, so notiert er in den „Sonntagsgängen“, „rücksichtslos verbraucht“ wird. Der Widerstand gegen die restlose Verdinglichung dessen, was man so leichthin „Natur“ nennt, erscheint bisweilen wie der geheime Impuls, der Wagner zu seiner Idee von der Gleichbehandlung und Anerkennung allen Lebens treibt. Vor diesem Hintergrund erhalten die „Toten“, die er in seinem Gedicht „Auf der Lichtung“ besingt, noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Mit früher ökologischer Verschrobenheit hat das nichts zu tun, eher mit einem sehr wachen Gespür für die Schwingungen seiner Zeit.
Wagners Verse werden hier erneut durchlässig, zeigen Querverbindungen auch zu anderen Dichtern. Mitten in den „Sonntagsgängen“ schreibt er einmal:
Wann der blutgierige Menschenwolf genug der Lämmer verschlungen, wird ihn zuletzt ein Ungeheuer verschlingen: die Wolfsmutter Erde. Dann werden andere Kontinente und andere Meere sein. Andere Klimaverhältnisse.
Diese Diktion erinnert an einen vermeintlich weit entfernten und doch so nahen Klang, an Alfred Döblins Roman Berge Meere und Giganten, der 1924, sechs Jahre nach Wagners Tod, erschien. Döblin entwickelt in seinem Prosakoloß eine dynamische Sprache der Naturkräfte, des Klimas, der Tiere und des Meeres, die wie ein Antidot zum technisierten Denken der Moderne mit ihren Maschinen und Städten wirkt, ohne daß er diese beiden Pole je billig gegeneinander ausspielen würde. Eine ähnliche Ton- und Bildsprache, wenn auch verdünnt, in einem anderen Mischungsverhältnis, finden wir in vielen von Wagners Gedichten, fein eingelagert in Vergleiche und rhythmische Muster. Vom „Weltkreis“ schreibt er und von einem „Zukunftsreich“, vom „Sternenfluge“ und von einem „glänzenden Meteor“.
Und ehe wir uns versehen, sind wir noch einmal durch Zeit und Raum gewandert, noch einmal hoch in den Norden. Während Christian Wagner in Warmbronn die Erlebnisse seiner Italienreisen in „Gesänge“ verwandelt, sitzt in dem kleinen Ort Raivola auf der karelischen Landenge zwischen Rußland und Finnland die Dichterin Edith Södergran und träumt davon, mit dem Gedicht die Welt zu verändern. Ja, Södergran will mit ihren Versen nicht nur sich selbst neu schaffen, sie will die Vergangenheit stürzen und eine neue Zukunft errichten. Getragen von einem tiefen Erleben ihrer Welt, der Pflanzen und Tiere genauso wie der Sprachen, die sie umgeben, liest sie Nietzsche und saugt viele jener Vorstellungen auf, die man später mit Begriffen wie Expressionismus oder Futurismus fassen wird – destilliert daraus aber ihre ganz eigenen ästhetischen Ideen und vor allem: ihre Sprache. Sie inszeniert sich als Seherin oder Zauberin, als Trauervogel, Gottheit oder Adler und singt vom „Feuer“, von „Sternen“, vom „Licht“, von „Herzen“, vom „Himmel“, von der „Welt“ und ihren „Fetzen“ oder vom „wilden Blut der Zukunft“.
Irgendwo im Weltall häng mein Herz,
Funken strömen von ihm aus,
erschüttern die Luft,
hin zu anderen maßlosen Herzen.
Es ist faszinierend zu sehen, wie sich diese Semantik in Wagners Versen wiederfindet. Da ist vom „Weltraum“ und von „Feuerkugeln“ die Rede, von „Trümmern“, „Lichtern“ und den „Zeiten“, aber auch von „Zukunftsglanz“ und „Sternenflug“, von „Zukunftsmenschen“, „Adlern“ und den „Schmetterlingen der Zukunft“. Und es sind nicht nur solche Leitwörter, die Södergran und Wagner teilen. Beide arbeiten in ihren Gedichten stark mit Wiederholungen und Variationen, so daß die Gedichte mal wie Hymnen, mal wie Litaneien klingen und sich dem Rhythmus leicht öffnen. Die ersehnte Verbindung mit dem anderen, der Wunsch, mit den Versen für die Zukunft zu werben und die „geheimen Kräfte“ zu entfesseln, die im Inneren verborgen liegen, machen den Kern ihres Schreibens aus. Diese Momente tragen dazu bei, daß das Gedicht am Ende viel mehr ist als nur Sprache, die sich einfach „verstehen“ ließe. „Die Erdkugel gehört jenen, die in sich die höchste Musik tragen“ schreibt Edith Södergran, „ich wende mich an die seltenen Individuen und fordere sie auf, ihre innere Musik anzuheben.“
Diese innere Musik hat uns einmal quer durch Christian Wagners Gedichte geführt. Sie hat uns in eine Welt flüchtiger Wechsel und Verschiebungen versetzt, in der Sinn flüssig ist. Und sie hat uns sehen lassen, wie Wagner den Wörtern neuen Klang und Duft, einen neuen Platz im Bewußtsein des Lesers gibt. In ihren Echos weisen sie hinüber in die poetischen Sternwelten Edith Södergrans, gehen mit Alfred Döblin den phantastischen Weg durch Berge und Meere in andere klimatische Verhältnisse und leuchten noch einmal auf an den Schmetterlingsflügeln von Inger Christensens Sonetten.
Nico Bleutge, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 2015
Moderation: Marcel Beyer im LCB am 25.4.2013
Mit Nico Bleutge One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek
Nico Bleutge liest zum Tag der Poesie und Wein in Ptuj, August 2013.
wäre vielleicht noch unter weitere Beiträge zum Buch zu ergänzen:
https://www.signaturen-magazin.de/nico-bleutge–verdecktes-gelaende.html
wunderbar. schon verlinkt. danke.