− Zu Marcel Beyers Gedicht „Dunkle Augen“ aus dem Gedichtband Marcel Beyer: Falsches Futter. −
MARCEL BEYER
Dunkle Augen
In manchen Stunden werden meine Augen
dunkel, dann rase ich zurück in meine
Dunkelheit, bevor die ersten Worte
kamen: Am Gasthaustisch um drei Uhr
früh, dann rasselt etwas anderes im
Hals, dann liegt, im Gitterbett,
jemand, und seine dunklen Augen
starren an die Decke, weit zurück.
Und weiter noch, gegen halb Vier, die Augen
nachgedunkelt: Senf, der Grind in Fliegengittern,
Wiener, und stickig, über Land.
In manchen Stunden, Augenblick, Relikt: Das
Anstarren von Telefonen, nachts, im Sessel
abseits, eingehüllt, und Kabel stöpseln
sehen, warten, schwach, bevor
die ersten Worte kommen, dort,
zurück mit dunklen Augen.
Als ich Marcel Beyers Gedicht „Dunkle Augen“ zum ersten Mal las, war ich sofort angestochen. Oder genauer: Ich fühlte mich angefasst, gepackt, in einem Sinn, der weit über die Vermittlung von Wörtern hinausgeht. Etwas darin war mir zutiefst vertraut, ohne dass ich doch hätte sagen können, um was es sich eigentlich handelte. Etwas darin war mir zugleich fremd, tat geradezu weh, ließ mich völlig ratlos zurück. Erinnerungsreste wurden spürbar, aufscheinende Bilder und Empfindungsmomente aus der frühen Kindheit. Nächte, in denen ich krank war und nichts als der bei jedem Atemzug schmerzende hals. Nächte, in denen ich immer nur die Tür des Kleiderschranks anstarrte, weil ich wußte, mit einer an Klarheit grenzenden Sicherheit wußte, sie hatte sich bewegt.
Ich arbeitete damals gerade selber an Gedichten zur Erinnerung. Mich interessierten die Brüche des Erinnerns, die Splitter und Szenen, die im Hinterkopf anwesend sind, ohne sich je zu einem Ganzen zu fügen. Die ins Bewusstsein gespült werden, widersprüchlich, rissig, wieder verschwinden – und doch den Blick des Einzelnen auf die Welt und auf sich selbst bestimmen. Wie bewegt sich die Erinnerung? Woher zieht sie ihre Bilder und wann tauchen diese auf? Marcel Beyers Gedicht scheint davon zu sprechen. Ein Ich scheint davon zu sprechen. Ein Ich, das „spricht mit unveränderter Betonung“, wie es in einem anderen, viel späteren Gedicht Marcel Beyers heißt. Und so spricht dieses Ich davon, wie es immer wieder in Momente der Dunkelheit gezogen wird, wie es zurückfällt in eine Art Urerfahrung vor der Sprache. Es kann beim nächtlichen Sitzen im Gasthaus passieren oder wenn der Sprechende nicht schlafen kann: Die „dunklen Augen“ kommen plötzlich, unerwartet.
Doch so einfach ist es nicht. Dunkle Augen gehört in das Gefüge von Marcel Beyers Gedichtband Falsches Futter. Mit seiner genau getakteten Sprache dringt Beyer dort in die Wortschichten der dreißiger und vierziger Jahre vor. Zwischen Wien und Berlin laufen die Stimmen hin und her, Leni Riefenstahls Sprache wird genauso in die Sprechhülse namens „Ich“ eingeschleust wie die eines Josef Weinheber oder wie das Geschnarre vom Herrentisch nebenan. Dabei geht es Beyer nicht um eine historische Collage oder gar um die Einsenkung in fremde Figuren. Vielmehr fördert er Denkformen zutage, Wahrnehmungsmuster und ideologische Reste, Fetzen der Vergangenheit, die sich in der Sprache abgelagert haben und die noch immer untergründig in der gegenwärtigen Rede mitschwingen. Das Gedicht „Dunkle Augen“ nun eröffnet ein Kapitel, das sich eher den Erinnerungsresten des Schreibenden zuzuwenden scheint. Aber schon die „Wiener“ markieren, dass der vorherige Zusammenhang nicht fern ist. Nur lassen sich in „Dunkle Augen“, wenn man genauer hinsieht, gar keine Erinnerungsinhalte finden, weder Bilder noch Stimmen. Eher deuten die skizzierten Momente – das Sitzen am Gasthaustisch oder im Sessel, das Liegen im Gitterbett – Situationen an, in welchen die Erinnerung sich meldet, aber unkontrolliert, in welchen der Sprechende zurückrutscht in die Tiefen der Erinnerung. „Erinnerung, sprich“ könnte das Gedicht seinem Leser mit Vladimir Nabokov zurufen. Als wollte es den Vorgang des Erinnerns selbst zur Sprache bringen. Als wollte es das Hineingleiten in frühkindliche Erfahrungen mit dem Vorgang des Erinnerns überhaupt kurzschließen.
Ein Blick auf die Struktur des Gedichts scheint diese Vermutung zu stärken. In zwei Anläufen, die beide mit „In manchen Stunden“ beginnen, nähert sich der Text den Phänomenen an. Einmal spricht das Ich von einem Zurückfallen, von einem Zurückrasen in die Dunkelheit früher Erfahrungen, „bevor die ersten Worte kamen“. In einer zweiten Bewegung sitzt der Sprechende – „abseits“ nun, „eingehüllt“ – in einem Sessel und starrt das Telefon an, wartend vielleicht auf einen nächtlichen Anruf. „Bevor / die ersten Worten kommen“: Die kleine Verschiebung von „kamen“ zu „kommen“, vom Imperfekt zum Präsens, ist entscheidend, markiert sie doch den Unterschied zwischen der wortlosen frühkindlichen Erfahrung und der Erinnerung, die sich erst noch, vielleicht, melden wird.
Aber sind die Verhältnisse wirklich so klar? Schon ein zweiter Blick auf das Gedicht zeigt, wie sich hier allgemeine Feststellungen und konkrete Situationen vermischen. „In manchen Stunden“ beginnt es, ja, doch ohne sich zeitlich genauer festzulegen, um dann gleich in ein Beispiel zu kippen, das in seinem zeitlichen Ablauf verfolgt wird, erst „um drei Uhr“, dann „gegen halb Vier“. Diese Struktur wiederholt sich ab Zeile Zwölf, allerdings ist der Abstraktionsgrad in der allgemeinen Feststellung nun deutlich höher (statt dem Verlaufssatz „werden meine Augen dunkel“ sind es jetzt zwei lautlich gereihte Substantive, „Augenblick, Relikt“). Und die Ähnlichkeit, welche die Wiederholung suggeriert – steht sie im Widerspruch zu der Differenz zwischen Urerfahrung und Erinnerungsvorgang? Oder unterläuft sie diese Differenz ganz bewusst, um alle Unterscheidungen verschwimmen zu lassen? Je öfter ich das Gedicht lese, desto weniger kann ich es in klare Kategorien fassen. Auch die Sprecherposition wird nach und nach flüssig. Das scheinbar sichere Ich des Anfangs verwandelt sieh in einen unbestimmten „jemand“, um gegen Ende nur noch ein Wahrnehmungszustand zu sein, der aus „Anstarren“, „sehen“ und „warten“ besteht. Eine ähnliche Aufweichung passiert in der Sprache. Aus dem „rasen“ wird ein „rasseln“, das „starren“ wird zum „Anstarren“, das „weit“ zum mehrdeutigen „weiter“, und das „Gitterbett“ verwandelt sich in ein schmutziges „Fliegengitter“. Nicht zu reden von den „dunklen Augen“, die erst „dunkel werden“, als dunkle Augen „starren“, schließlich „nachdunkeln“, um in dem abstrakten „Augenblick“ zu enden. Ein Spiel mit Ähnlichkeiten und Verschiebungen, das seinesgleichen sucht.
Und was sind eigentlich „dunkle Augen“? In seiner Gedichtsammlung Diwan über den Fürsten von Emgion spricht der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf einmal von einem Blick, der sich wandelt, der nach innen geht „und aufhört zusein / gleichwohl aber bleibet“. Ekelöf spielt hier auf Traditionen der orientalischen Mystik an. In Paradoxien und Fragen umkreist er die Ideen von Sehen, Nichtsehen und Unsichtbarkeit, immer auf der Suche nach einem Weg, die eingeschränkten menschlichen Möglichkeiten der Wahrnehmung und der Erkenntnis zu überschreiten. Er findet ihn schließlich in der Anrufung einer Jungfrau oder auch Urmutter, Inbegriff eines Wesens, das jenseits der Sinne und Begriffe liegt. Wohlgemerkt, es ist ein Blinder, den Ekelöf sprechen lässt, ein Grenzfürst, der nach verlorener Schlacht geblendet wurde. Diesen Untergrund der Gewalt sollte man sich stets bewusst halten, ebenso, dass die Bewegung der Liebe hin zur Verschmelzung auch eine der mystischen Auslöschung ist, Die „Heimsuchung“ durch die Geliebte „labt“ des Fürsten „eiternde Augen / Augen die alles sahn / und sich jetzt nurmehr erinnern / an das was sie sahn“. Der nach innen gekehrte Blick ist der eigentliche, die von dort aufsteigenden Bilder sind die Erfüllung, Und so beginnt der Fürst für seine Geliebte zu singen, Märchen und Lieder – „so dass ich tief in mir / deine Augen dunkeln sehe“.
Marcel Beyers „Dunkle Augen“ könnten in diese Richtung einer mystischen Tradition weisen. Jedenfalls liegt eine Verbindung zu Ekelöf nahe, geht es doch auch in Dunkle Augen um wortlose Erfahrungen, um Augen, die nurmehr zurückfallen in Erinnerungen „an das was sie sahn“. Allerdings zielt die Idee einer mystischen unio auf eine Verschmelzung jenseits der Sprache, auf eine Seinsform, die all die Begrenzungen der Sinne und der Begriffe kennt und übersteigt, während „Dunkle Augen“ eher eine Art Einheit vor aller Sprache anklingen lässt. Und „anklingen“ ist durchaus wörtlich zu nehmen. Obwohl Marcel Beyer immer ein genaues Ohr für Metrum und Klang hat, wüsste ich nur wenige seiner Gedichte, die derart von den musikalischen Möglichkeiten der Sprache leben wie „Dunkle Augen“. So gleichmäßig laufen die jambischen Sätze hier zu Beginn über die Zeilen, so kunstvoll fügen sich Klänge und Anklänge über Lautreihen wie „Stunden“-„dunkel“, „früh“-„zurück“ oder den Dreiklang „Worte kommen, dort“, dass der Gedanke naheliegt, das Gedicht setze ganz auf Magie und Beschwörung. Aber auch hier nehmen die Widerstände mit jedem Lesen zu. Der jambische Verslauf wird durch Enjambements und Zäsuren immer wieder gebrochen. Dazu schneidet Beyer gerade in der zweiten Hälfte des Gedichts romantisches Vokabular und technische Begriffe gegeneinander. Ja, die vermeintliche Beschwörung geht in harten Wörtern wie „Fliegengittern“, „Relikt“ oder „stöpseln“ fast in ihr Gegenteil über, in etwas Brüchiges, durchweg Schartiges. Wenn überhaupt, dann ist es eine Gleichzeitigkeit von Zauberwort und Entzauberung.
Die eigentliche Reibungsenergie der Wörter zeigt sich aber auf einer anderen Ebene. Marcel Beyer dringt in seinen Gedichten immer auch in Sprachschichten vor. „Du schabst, sackst / ab“, heißt es einmal. Ein Wort, das vor allem im Bayerischen und Österreichischen verwendet wird und das mir, der ich in Bayern aufgewachsen bin, vertraut in den Ohren klingt, ist „Grind“. Und „grindig“ meint soviel wie „schmutzig“, aber „Grind“ kenne ich auch als „Sand“ oder „Kruste“. Und wenn ich nun weiter daran schabe, stoße ich mit dem Grimmschen Wörterbuch auf „Schorf“ und auf den „Kopfgneis“, auf die Kruste einer Wunde oder auf den Kopf selbst, auch auf die „knorrige, borkige Wucherung“ an der Rinde von Bäumen. Vor allem aber scheint „Grind“ den Kies zu meinen „oder auch sonstige kleine harte, scharf und rauh anzufühlende bzw. unter den Zähnen knirschende Körperchen.“ Ist es vielleicht dieses Knirschende, das unter der Oberfläche des Gedichts spürbar wird? Sind es die Bruchstücke der Erinnerung, die in dieses Sprachteilchen eingelagert sind?
Nicht weniger irritierend ist das Wort „stöpseln“. Der „Stöpsel“ ist umgangssprachlich auch ein kleines Kind, und „jemandem den Stöpsel ziehen“ heißt: ihn töten. „Stöpseln“ meint aber neben dem Einstöpseln auch ein Verstöpseln im Sinne von Verschließen. Wenn nun bei Marcel Beyer die Kabel „stöpseln“, ist es dann ein ironisches, abgedimmtes Bild für das, um was es geht: die Erinnerungsbewegung? Und wenn ja, ist denn eher ein Verbinden oder ein Verschließen gemeint, kann der Vorgang des Erinnerns gelingen – oder nicht? Und wenn immer mitzudenken ist, dass die Kabel hier offenbar selber „stöpseln“: Heißt das, die Erinnerung lässt sich vielleicht gar nicht steuern? Und weiter: Sind nicht die Bilder vom Erinnerungsvorgang ihrerseits Erinnerungen? Läuft das Gedicht am Ende nicht in sich selbst zurück, „zurück mit dunklen Augen“? Und hat es nicht gerade so die Brüche und Schleifen in sich aufgenommen, die unauflösbaren Widersprüche des Erinnerns?
„Gewiss ist“, schreibt Walter Benjamin einmal, „dass im Nachhall die Geräusche der ersten Telefongespräche mir anders in den Ohren liegen als die heutigen. Es waren Nachtgeräusche. Keine Muse vermeldet sie. Die Nacht, aus der sie kamen, war die gleiche, die jeder wahren Geburt vorhergeht.“ Diesen Nachtgeräuschen lauscht Marcel Beyers Gedicht nach. Diesen Stimmen, den Ur- und Irrstimmen der Erinnerung, leiht er die Windungen seiner Verse und führt mich als Leser von einer Frage zur nächsten. Es macht die Größe von „Dunkle Augen“ aus, dass es keine einzige der Fragen beantwortet. Im Gegenteil, je tiefer Ich in den Schichten des Gedichts grabe, desto widersprüchlicher wird es. Die Dunklen Augen bleiben dunkel. Und wer weiß, das Aushalten der Widersprüche, das Warten im nächtlichen Sessel, ist vielleicht noch die angenehmere Lösung. Was da tatsächlich hörbar sein könnte, nähme man den Hörer des Telefons ab – Walter Benjamin deutet es an: „Wenn ich dann nach langem Tasten durch den finstern Schlauch des Korridors anlangte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts war, was die Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte.“
Nico Bleutge
− Zu Nico Bleutges Kommentar. −
Manfred von Ardenne, der 1928 eine Telepathie-Maschine entwarf, einen zimmerfüllenden Versuchsaufbau, dem es gelingen sollte, „das dem Denkvorgang entsprechende Frequenzgemisch durch einen Verstärker zu verstärken und einem zweiten Gehirn wieder zuzuführen“, erzählt in seiner Autobiographie, wie er zu Weihnachten 1969 in seinem ehelichen Schlafzimmer in Dresden einen Weltempfänger in Betrieb genommen und, fasziniert von der „Romantik des Nachrichtenverkehrs zwischen Küstenfunkstellen und Schiffen auf hoher See“, Seemannsgespräche mitgehört habe.
In erschütternder Einfalt breitet von Ardenne vor dem Leser Mitschriften solcher Dialoge zwischen Seeleuten und ihren Frauen oder Verlobten aus, und ich wüsste nicht, was seine durchweg schlüpfrigen Abhörprotokolle mit mir zu tun haben sollten, hätte er in seine O-Ton-Sammlung nicht auch die Stimme eines stets gegenwärtigen unbeteiligten Dritten aufgenommen: „Kiel-Radio, Gespräch beendet! Gesprächsdauer zwei Minuten“.
Küstenfunkstelle, Kiel-Radio – zwei Wörter, die Kindheitsbilder entstehen lassen, das heißt, genauer: keine Bilder, sondern eine Erinnerung an das frühe Wissen um die Macht des Unsichtbaren. Denn Funkwellen sind in der Luft so wenig sichtbar wie im Wasser die pulsierenden Schallwellen des Echolots, nach dessen Erfinder Alexander Behm die Straße benannt war, in der wir 1969 in Kiel wohnten. Hinter dem Haus stand, in Holunder und Brombeeren gehüllt, ein Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, und wandte man sich dort nach links, bog man in den Funkstellenweg, der in wenigen Minuten an die Steilküste führte. Von der Klippe ging es dann hinunter an den Fördestrand, über Kies, Sand. Ich bin also im Funknetz aufgewachsen, und während die Wellen zwischen Küste und hoher See mich auf meinen Spaziergängen zum Wasser unsichtbar durchdrangen, hörte im fernen Dresden ein lüsterner alter Erfinder den Wortlaut der Gespräche ab.
Ich habe früh gelernt zu telefonieren. Meine Mutter arbeitete in der Telefonvermittlung der Marine, manchmal durfte ich sie dort besuchen, wartete nach dem Kindergarten, bis ihre Schicht beendet war und wir zusammen nach Haus fuhren. Eintöniges Warten, natürlich, aber zugleich auch faszinierend: Wie die Telefonistinnen mit dem Rücken zu mir an ihren Steckplätzen saßen, mit ihren Stimmen und Händen arbeitend, Verbindungen herstellend zwischen drinnen, das war der Marinestützpunkt, und draußen, das war die Welt. Hier rief ich, wenn ich telefonierte, an, und ich erkannte die Kolleginnen meiner Mutter an ihren Stimmen leichter als an ihren Gesichtern.
Klackern, Stöpseln, ein Gespräch entgegennehmen, Stöpseln, Klackern – einmal durfte ich einen Techniker in einen Raum begleiten, dessen Namen ich bis heute so wenig kenne wie den der Maschinen, die darin in langen, engen Reihen standen: Ich erinnere mich an den Geruch von feinem Schmierfett und an die unzähligen Zylinder, aus jeweils zehn Metallscheiben bestehend, die sich, wie von unsichtbarer Hand bewegt, um die eigene Achse drehten und einrasteten, Und wenn mir damit auch nicht klarer wurde, wie es zu der unsichtbaren Verbindung zweier Stimmen, zweier Ohren kommt, so hatte ich doch wenigstens einen materiellen Niederschlag des Gesprächsaufbaus vor Augen. Dass man ganz normale Häuser baute, mit Fenstern und Türen und Wänden und Boden, in denen nur Maschinen wohnten, die für das Zustandekommen von Gesprächen verantwortlich waren, erscheint mir noch immer wunderlich und unbegreiflich. Fast meine ich, in den Fenstern hätten sogar Gardinen gehangen.
Wenn Nico Bleutge nun beim Lesen von „Dunkle Augen“ an der mutwillig gestauchten Fügung „Kabel stöpseln sehen“ hängenbleibt, berührt er den Punkt in diesem Gedicht, an dem sich Semantik und Grammatik gegen sich selber wenden, So wie die routiniert Gesprächsverbindungen herstellenden Stimmen, Hände und Apparate etwas Fragiles bekommen, wenn man – wartendes Kind, wartender Erwachsener – sie mitunter zu aufmerksam betrachtet. In solchen Momenten öffnet sich ein Raum, man blickt in eine andere Dunkelheit. Wie im Gedicht.
Steckfelder, wie ich sie Anfang der siebziger Jahre in Kiel in der Vermittlung gesehen habe, gibt es heute nicht mehr, und ich weiß nicht, ob Nico Bleutge sie noch gesehen hat. Ganz offenkundig aber saß mindestens einer von uns beiden beim Schreiben, beim Lesen, beim Schreiben über das Lesen – in jener Telepathie-Maschine des Manfred von Ardenne, von der nicht mehr als eine Ankündigung, eine schematische Darstellung sowie eine Reihe verstörender Photographien aus dem Labor überliefert sind.
Marcel Beyer
Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012
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