DAS ERSCHEINEN EINES JEDEN IN DER MENGE
Ist es eine Wohltat allein zu sein
im Gelage der Gedanken ohne Augenzeugen
ohne das Auge des Entdeckers das sieht wie’s
aaaaaschmeckt
ohne das geübte Ohr der Menge?
Was ist eine Tatsache wert die unteilbar ist
was ist ein Universum ohne dein Beben
dein Erscheinen vor leeren Sitzreihen?
Die Menge geht auf der Erde
und nichts vergeht in der Menge
auf den Rücken summender Webstühle
erreichen wir den großen Widerspruch:
das Erscheinen eines jeden in der Menge
der Titel bezeichnet die Intention von Borns neuen Gedichten recht genau. Es geht um die Ausweitung des Erfahrungshorizonts, nicht nur in quantitativem, sondern auch in qualitativem Sinn: anstatt, wie es zumeist geschieht, neue Erfahrungen auf alte zurückzuführen, soll auch am unscheinbarsten Alltagsdetail – einem Frühstück, einer flüchtigen Liebesbeziehung – ein Stück Utopie sichtbar gemacht werden. Nicht zurück hinter das politische Bewußtsein, das die westdeutsche Lyrik in den letzten Jahren geprägt und weitgehend paralysiert hat, sondern einen Schritt darüber hinaus. Der Text ist durchsetzt mit Zitaten aus älteren Reiseberichten, Science-fiction-Romanen und klassischen Utopien, die seinen Anspruch verdeutlichen sollen: die kritische Haltung, die auch in der Negation stets an ihre Gegner fixiert bleibt, zu überwinden mit Hilfe einer utopischen Perspektive, die nicht nur das Unerwünschte, sondern auch das Wünschenswerte beschreibt:
Denn nur die Ahnung der Gerechtigkeit erlaubt es, sich über eine einzelne Ungerechtigkeit zu empören.
(Sartre)
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1972
(…)
So ist es nicht bloß ein Tribut an Erwartungen, wenn am Schluß dieses notwendig lückenhaften Tableaus ein Autor dieser ,postmodernen‘ Lyrik figuriert: Nicolas Born mit seinem dritten Band Das Auge des Entdeckers. Born hat von der inszenierten Spontaneität der neuen amerikanischen Lyrik, insbesondere von Frank O’Hara gelernt, aber anders als dessen deutsche Epigonen gelingt ihm die Anwendung der adaptierten Methode auf deutsche Stoffe. Die unverkrampfte Verbindung von Realismus und Phantastik beläßt dem gewählten Realitätsausschnitt seine Besonderheit, transzendiert ihn aber zumeist in spielerischer Manier in Richtung auf utopische Vorstellungen. Wie in der Pop-Lyrik dient Science-fiction als Folie, die durchsichtig wird für Märchen und Utopie:
und die große wunderbare Wortvermehrung
ist die große wunderbare Brotvermehrung
ein Buch ist ein Brot
Die „unblutige Weltkarte“, die Born entwirft, ist unsystematisch und antiideologisch, sie wird besetzt mit Wünschen und Sehnsüchten, die durch ihre Spontaneität überzeugen. So verliert auch die Titel-Metapher vom ,Auge des Entdeckers‘ ihren programmatischen Charakter, indem die Gedichte sich als spielerische Entwürfe zu dem entsprechenden Buch geben. Wo dennoch Programmatisches in pathetischer Form auftaucht, überführt es sich durch Übertreibung seines Unernstes:
Wir sind die Verräter der Geschichte
wir sind die tobenden Liebhaber der Erde
wir sind die fühlende Materie
aaadie wächst und wächst
In den theoretischen Äußerungen, die der Autor als „Nachbemerkung“ folgen läßt, gibt Born sich dezidierter, wenn er sagt, das Wahnsystem Realität müsse „um seinen Alleinvertretungsanspruch gebracht werden“. Aber diese surrealistische Perspektive ist für Born wohl deshalb besonders wichtig, weil ihn die alltägliche Wirklichkeit so affiziert. Während bei Krolow die Anerkennung der Realität das Subjekt aufs bloße Registrieren einzuschränken droht, möchte Born den Realitätszusammenhang durchstoßen. Die Piloten-Metapher, eine der Chiffren der Pop-Lyrik, findet sich auch hier:
Das Auge des Piloten ist voll Zärtlichkeit
aaaWIR überfliegen den Wendekreis der Realität
eine abgesprengte Hülse ist zu erkennen
aaader Realismus unten ganz klein
und „Zitate“
Die Zärtlichkeit, die einer utopischen Vorstellung gilt, wirkt überzeugender in den Gedichten, in denen die Alltäglichkeit wirklich zu sich kommt; etwa in dem anektodisch angelegten Gedicht „Die sechs Richtigen“, das die Utopie des kleinen Mannes, die Hoffnung auf einen Lottogewinn als Ineinander von Illusion und Nüchternheit darstellt:
Wir sitzen alle an einem Tisch Millionen
haben sechs Richtige
und Samstagabend werden die Falschen gezogen
doch im Kopf arbeiten sie weiter
die sechs Richtigen
An solchen Stellen nähert Born sich dem selbstgeformten Ideal an:
Jedes Wort ist eine Tätlichkeit und eine zärtliche Berührung des Lebens.
Mag man die „Tätlichkeit“ noch als Konzession an die geforderte Nützlichkeit von Gedichten auffassen, die zarte Empirie ist etwas, das in der Lyrik der letzten Jahre selten geworden ist und deshalb nun neu belebend wirkt.
Harald Hartung, Neue Rundschau, Heft 1, 1973
Mit Sprache musst du anstellen, was das Wasser mit dem Licht anstellt, das sich auf ihm bricht. Deine Gedichte müssen das Wasser sein.
Salvador Espiru
Hier fängt es an
am Horizont dieses Gedichts
SCHLAFEN SIE KURZ
UND TRÄUMEN SIE SO WEIT SIE KÖNNEN!
Nicolas Born, Schriftsteller, still engagierte Persönlichkeit und vielleicht einer der größten Lyriker der deutschen Nachkriegsgeschichte, wäre am 31. Dezember dieses Jahres 75 geworden; er starb am 7. Dezember 1979 an Lungenkrebs.
Welche Rolle spielt
der Tod in diesem Gedicht?
DER TOD IM GEDICHT
jeder ist mit seiner Arbeit beschäftigt
darum nicht mit dem Tod
jeder hält in seiner Arbeit
freundliche Gedanken an sich selbst versteckt
vielleicht ist Eigenliebe die vollkommenste
leider nicht durchzuhalten
Utopie und Sehnsucht – fragwürdige Grundsätze für einen Dichter oder notwendige? Meistens bewegen sich moderne Gedichte auf einer Gradwanderung zwischen beidem, verlassen sich als Rückendeckung auf Ironie und makellose Distanz. Nicolas Born tat in seiner Zeit mit seinem dritten und letzten Gedichtband Das Auge des Entdeckers (nach Marktlage und Wo mir der Kopf steht) eine überraschende Kehrtwende, die zwar schon vorher seine Dichtung quasi ausgemacht hatte, nun aber endgültig zum Programm vollendet wurde. Dieser Zug führt ihn weg von einer anorganischen Poesie zu einer fast schon molekularen, die im Alltäglichen das Leben mit Gesten, Schönheit und Poesie untermauert.
die Kellnerin die nicht nachkommt
und auch schon zum zweiten Mal verheiratet ist
und der Busfahrer der abseits steht
und seit vielen Jahren seine Gefühle für sich behält
alle wollen sie auffliegen
hier ist die große Nachfrage
und das lächerliche Angebot
die Jahre sausen durch die Kalender und wir
sind die Kalender – so abgerissen
Viele gute Gedichte tragen den unvermittelten Zug des Lebens in sich, er scheint sich einzuschleichen in die Zeilen, was sich nicht an Metaphern oder Techniken, sondern allerhöchstens an einem magisch koordinierten, inneren Zusammenhalt festmachen lässt, wodurch aus der mittellosen Sprache plötzlich eine ungeheuer wahre, verlässliche, schöne Betrachterin und Vollenderin wird.
ein Tag wie ein anderer Tag
die Bäume wachsen wo sie gepflanzt wurden
die Wälder singen und wandern in die Bibliotheken
die Bibliotheken schweigen
wie die Fotos von Massakern schweigen
und ich schreie auf im Schlaf
wie du Entfernter im Wachen schreist
Wir haben es nicht in der Hand
das Märchen im Kopf
Das Auge des Betrachters ist ein unkonventionelles und doch sehr unkompliziertes Werk. Kaum eines der Geschichte scheint einen Plan zu haben und meist ist auch die Thematik eher ein Alles in Einem, als ein streng sukzessiv vorangehender Prozess. Immer wieder gibt es streckenweise Zeilenfolgen von großer sprachlicher Fixierung, dann befinden wir uns plötzlich wieder im Niemandsland Ich, wo jedes winzige Detail hervorgehoben werden muss, jeder Blick auf seinem Weg verfolgt wird.
Der Bettgedanke der letzten Nacht ist einfach
einfach wie ich: Kunst heißt
das Leben mit Präzision zu verfehlen!
Wie schon oft nachzulesen, geht es Born in diesem Band vor allem darum dem „Wahnsystem Realität“ mit sehr persönlichen Glücks- und Wahrheitsmomenten zu begegnen und, wenn möglich, dass Wahnsystem gleichsam um diese Ich-Momente herum aufzustellen. Manche der Gedichte sind in ihrer unzielstrebigen Gelassenheit, ihrer formalen Windigkeit, die mit so großer, visueller Dichte einhergeht, einfach unverwechselbar, wie ein einmaliger Weg zu einem ganz bestimmten, bekannten oder wichtigen Ort. Viel von dem, was darin geschieht bleibt ihr Geheimnis und kann nicht wirklich extrahiert werden (deswegen bitte ein eventuelles Lesen nicht „zu“ sehr von den Zitaten hier abhängig machen) weil es die gesamte Form und Formulierung ist, eine Verästelung rätselhafter Differenzen und sich nähernder, untotalitärer kleiner Wunder und Fingerzeige.
Und im Wind
wehen die Ruinen der Diktatmaschinen
Auch in seinem letzten Band zeigt Nicolas Born, dass er ein ganz besonderer Dichter war, mit einer ganz eigenen Stimme, die „Nicolas Born Sachen“ sagte, Dinge und Formulierungen, die wohl kein anderer hätte finden können. Mit lässiger und dann doch wieder eloquenter Ambivalenz hat Born versucht in kleinen Momenten die Ambivalenz aufzuheben oder sie zumindest aus diesem Wort und aus dem Worten „Leben, Alltag etc.“ in andere, unscheinbare, aber wahrere zu führen. Dabei ist er selten aggressiv und wenn doch, dann mit einer Direktheit und einer unausführlichen Schnelligkeit, die einem mehr wie eine sehr geschliffene Wahrheit vorkommt:
Dann kamen Bosse so stark
machten uns schwach machten uns schwach
„Ich bin Realist“ sagte einer erfolgreich.
„Dann stirb doch“ habe ich ihm geantwortet
Weder war er ein großer Elegiker, noch hat er seine Themen über die Wesenheiten eines guten Gedichts gestellt. Er schrieb Gedichte, wollte schöne Gedichte schreiben und einige, so sagte er, seien zu seiner großen Überraschung tatsächlich schön geworden. Als Lyrikliebhaber wird man sich, denke ich, sehr darüber freuen, Born begegnet zu sein. Vielleicht wird es das Leben nicht irgendwie verändern, aber es wird ein neuer Stern am Himmel der eigenen literarischen Wahrnehmung mit ihm erscheinen, zu dem man hinaufsehen oder -zeigen, still nachsinnend über die rätselhafte Offenheit, Einsamkeit und Bedeutung seiner Gedichte…
Wenn es wahr ist dass Kriege sein müssen
ist es dann noch wichtig daran teilzunehmen
Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
– mit diesen Worten beginnt ein Gedicht in dem neuen Lyrikband Das Auge des Entdeckers von Nicolas Born, der im Rowohlt Verlag (Reinbek) erschienen ist. Schon in seinen beiden ersten Lyrikbüchern Marktlage (1967) und Wo mir der Kopf steht (1970) hatte sich Born kritisch mit der Realität auseinandergesetzt. In prosanahen, nicht von vorgegebenen metrischen Mustern bestimmten Texten wurden Dinge und Tatbestände beim Namen genannt – nicht Evokation und Beschwörung war das Ziel, sondern der blosse Befund, die Bestandsaufnahme – im Zweifelsfall wurde die Banalität pseudolyrischer Scheintiefe vorgezogen.
Born wollte, wie so viele jüngere Autoren, bewusstseinsbildend wirken, und wenn er auch nicht glaubte, mit Gedichten die Gesellschaft messbar verändern zu können, so meinte er doch, ein Gedicht, das sich an die Wahrheit der Fakten halte, könne „subversiv“ sein. Freilich hielt er denjenigen, die von Literatur einen direkten politischen Effekt verlangen, entgegen:
Die Forderung, ein Gedicht habe entweder effektiv oder nicht geschrieben worden zu sein, ist eine Forderung von Krämerseelen, die sich an Massstäben orientieren, mit denen die Nationalökonomie einen Mann misst.
Inzwischen hat sich Borns Verständnis vom Gedicht als einem Spiegel der Wirklichkeit merklich gewandelt. Immer noch bildet er die Realität ab, das heisst, er registriert in durchaus subjektiven, von eigenen Erfahrungen ausgehenden Gedichten die Einflüsse der Wirklichkeit auf das lyrische Ich: unprätentiös, klar, keineswegs besserwisserisch, eher fragend als behauptend. Diese Gedichte zeichnet eine grosse Ehrlichkeit aus, alle Grosssprecherei ist ihnen fremd. Aber Born belässt es nun nicht mehr beim blossen Realismus des inzwischen sattsam bekannten zeitkritischen Gedichts: er ist vielmehr – so sagte es treffend Wolfgang Maier – zu einem Realismus gelangt, „der sich aus dem Utopischen speist“. Born hat sich leiten lassen von Sartres Wort, nur die Ahnung der Gerechtigkeit erlaube es, sich über eine einzelne Ungerechtigkeit zu empören.
Nicolas Born hat das Dilemma erkannt, dass ständiges blosses Hindeuten auf das, was ist, auf das bestehende Schlechte also, wirkungslos bleibt, dass der Autor mit seinen unentwegten Hinweisen auf das Bestehende in der Negation befangen bleibt und letztlich zum „kritischen Partner der Macht“ verkommt. Stattdessen fordert er eine Aktivierung des verkümmerten Bewusstseins von der Existenz unserer positiven Möglichkeiten:
Unsere besseren Möglichkeiten müssen besser ausgestellt und dargestellt werden; an den besseren Möglichkeiten muss die Realität gemessen werden, nicht umgekehrt. Vorläufig machen die Macher die Realität, und die Literatur liefert den passenden Realismus dazu.
Born plädiert für die Phantasie, wendet sich gegen den Alleinvertretungsanspruch des „Wahnsystems Realität“, dessen Vertreter die „transzendierenden Energien“ abtreiben wollen als lächerliche oder gefährliche kriminelle Utopien. Der Lyriker versucht in seinen Gedichten „den schmerzhaften Vergleich zwischen phantastischem Anspruch und realem Angebot“. „Information ist gut“, so heisst es weiter in Borns Nachwort, und:
Es ist nicht unter der Würde der Literatur zu informieren, aber unter ihren Möglichkeiten.
Utopische Vorstellungen verwechselt er dabei nicht mit praktischen Methoden, doch gesteht er ihnen den „Wert von Impulsen“ zu. Die neuen Gedichte Nicolas Borns sind noch immer stark der Realität verhaftet, sie sind keine freischwebenden utopischen Entwürfe. Aber die Wirklichkeit in ihnen ist der Hintergrund für den Aufweis anderer, besserer Lebensmöglichkeiten, die verschüttet worden sind: etwa der Vorstellung „einer weltweiten Machtlosigkeit / in der des einen Vorteil / nicht des anderen Nachteil ist“; einer Zeit, in der „sich jeder im anderen erkennt“, einer Epoche, in der man sagen kann:
Ein Buch ist ein Brot
und jedes Wort verwandelt sich in eine Frucht
jeder Gedanke ist die Erfindung einer Bewegung
und der Schmerz dazusein ist das Glück dazusein.
Freilich: diese Zeilen stammen aus dem „SF-Poem“; doch zwingt Born den Leser immer wieder zu der Frage, ob das, was er als Möglichkeit aufzeigt, Science Fiction und Utopie bleiben muss, zu der Frage auch, was der Realisierung besserer Möglichkeiten im Wege steht:
Eine Welt
in der jeder jeder ist –
Klingt das nicht vertraut?
Könnte das nicht von jedem sein?
In den Gedichtbänden Marktlage und Wo mir der Kopf steht akzeptiert Born, so Demetz, „theoretisch die Vorstellungen seiner Generation vom einfachen literarischen Text, zeigte sich aber in der Praxis des Schreibens von Anfang an gelöster als seine gereizten Altersgenossen.“2 Hartung versteht die Formulierung „Jedes Wort ist eine Tätlichkeit und eine zärtliche Berührung des Lebens“ (G, S. 110) noch als „Konzession an die geforderte Nützlichkeit von Gedichten“, bescheinigt aber Borns drittem Band zugleich die notwendig „zarte Empirie“.3 Im Gedicht „Das Üben größerer Sprünge“ (G, S. 160) knüpft Born mit der Zeile „MEIN GEDICHT IST MEIN MESSER in deinem Rüc??ken“ in ironischer Art und Weise an den poetologischen Diskurs in Benders Anthologie4 an, indem Born seine bereits in Marktlage ausgewiesene Offenheit des Gedichts über formale Poetiken setzt. Allerdings distanziert sich Born in einem Interview aus dem Jahre 1979 von seinem einstigen Verfahren der direkten lyrischen Mitteilung:
Damals gab es eine Art Poetologie, die eine ganze Generation von Lyrikern hatte: das Gedicht als Gebrauchsgegenstand, als Operationsgerät, das Gedicht als Angriff, Affront, als eine andere Version von Wirklichkeit, die direkt konfrontiert wird mit der tatsächlichen – alles ausgerichtet auf den operativen Eingriff in die Gesellschaft, in das Verständnis und Vorverständnis von Dingen. Ich muß sagen, daß letzten Endes dahinter doch ein großer Optimismus gesteckt hat, eine Zuversicht auf die Veränderbarkeit der Lebensumstände, der persönlichen und gesellschaftlichen, ein Glaube, der, wie ich heute denke, zwangsläufig auf der Strecke bleiben muß. (WM, S. 94)
Mit dem dritten Gedichtband, der nach Angaben Nicolas Borns vom Februar 1972 „Zeitreise […] oder Das Auge des Entdeckers“ (WM, S. 62)5 heißen sollte, nimmt Born Abstand von der Beschränkung, das Vorzufindene lediglich ,nachzuschreiben‘ und „verschärft den Konflikt zwischen Subjekt und Objekt, indem er den subjektiven Faktor stärker gewichtet“.6 Nun läßt Born, so Godehard Schramm, „das Reagieren mit Wörtern hinter sich“.7 Und Vormweg schreibt:
Die Bestandsaufnahme der früheren Gedichte voraussetzend, sucht das Auge des Entdeckers – dringlicher als in jenen Gedichten – etwas Ungreifbares über die Fakten hinaus.8
Nach Marktlage und Wo mir der Kopf steht geraten dem Lyriker Born die Gedichte nunmehr zur „Arbeit an der Wiederentdeckung glücklicher Momente“9 Die Gedichte des Bandes bewegen sich dabei im „Spannungsfeld aus Realität und Utopie“,10 wobei jedoch – wie Kammermeier ausführt – die vorgezeigte Wirklichkeit für Born „a priori negativ“11 besetzt ist. Wellershoff betont zur Schreibentwicklung Borns:
Die Gedichte [aus Das Auge des Entdeckers, d. V.] waren gegenüber seinen Anfängen weiträumiger und expressiver geworden. Sie rüttelten an den Fakten, spielten mit Hypothesen, Phantasien, stellten das Vorgefundene auch mit absurden Querschlägen in Frage.12
Im Entdecker treten die Verse dem „zeitgenössischen linken Dogmatismus charmant-vehement entgegen.“13 Die Gedichte seien „politisch, und keineswegs nur auf indirekte Art“, denn sie operierten mit einer „Unmißverständlichkeit, die geradezu wieder Vertrauen in die Sprache gibt, in ihre Fähigkeit, zu vermitteln, was tatsächlich menschlich ist.“14 Doch lasse Born „die westlichen Ersatzbefriedigungen – das Vietnam-Zeremoniell, die Fließband-Beschwörung, die neu-linke Liturgie – hinter sich“.15 Die Besonderheit der lyrischen Sprecher in Borns Gedichten liege nunmehr darin, daß der Sprecher im Gedicht sich artikuliere, „ohne auch nur noch Spuren jener Privilegien vorauszusetzen, deren Inanspruchnahme das lyrische Ich schließlich auf die pure Unglaubwürdigkeit haben herunterkommen lassen.“16 Die Gedichte enthielten „[…] nichts Ambitiöses, nichts Falsches“,17 vielmehr wirke „die treffende Formulierung wie ein müheloser Einfall“18 Hartung faßt dabei den besonderen Gestus Borns wie folgt zusammen:
Eine entschiedene, kraftvolle Subjektivität sucht man bei den meisten Lyrikern umsonst. Nicolas Born ist einer der wenigen, die ihre Subjektivität nicht borgen oder aus der Aggression bestimmen müssen.19
Für Kunert steht fest, daß Borns Haltung „keine ideologische Attitüde war wie bei vielen anderen Autoren in den sechziger und siebziger Jahren, die sich von ihrem selbstgezimmerten Sockel zu ihren Zeitgenossen hinabneigten, um ihnen eine unerwartete und fatale Umarmung zuteil werden zu lassen.“20 So erkennt Kammermeier denn auch in den Nachbemerkungen eine „Auseinandersetzung mit kulturrevolutionären Forderungen“,21 deren ideologische Zweifelsfreiheit Born stets in Zweifel gezogen, in ihrem Wesenskern aber nicht bestritten hat. Borns konzeptionelle Ausweitung öffnet sich vielmehr jenem „Versuch über die Befreiung“, wie ihn Marcuse dargelegt hatte. Zur Subjektivität im Auge des Entdeckers schreibt Allkemper:
Durch diese Verzahnung [von Wunsch und Postulat mit Realitätsfragmenten, d. V.], die […] sich zumeist mit graphischer Unterstützung in gebrochenen Langzeilen ausdrückt, relativieren sich Wirklichkeit und gegengesetztes Postulat wechselseitig; sie verlieren ihre Selbstverständlichkeit, ohne sich aufzuheben und machen dadurch sowohl ihre gegenseitige als auch ihre je eigene Widersprüchlichkeit deutlich.22
Insbesondere mit Vorlage dieses Gedichtbandes, der der Literaturkritik als wesentlicher Baustein der besonderen lyrischen Subjektivität galt und Born weithin Anerkennung als Lyriker verschaffte,23 setzt Born das „aktuelle[] Verhältnis von Individuum und Menge“24 ins lyrische Bild. Im Entdecker gelingt Born die „unverkrampfte Verbindung von Realismus und Phantastik“, die „dem gewählten Realitätsausschnitt seine Besonderheit [beläßt], transzendiert ihn aber zumeist in spielerischer Manier in Richtung auf utopische Vorstellungen.“25 Anhand des Gedichtbandes, seit dessen Veröffentlichung der Lyriker Born der Neuen Subjektivität zugerechnet wird und in dem „eine lyrische Generation ihren Sprecher erkennt“,26 läßt sich Borns neuerliche Sprechweise im Gedicht als eine Verschränkung von Realität und Utopie identifizieren.
Die programmatischen Nachbemerkungen zum Band27 sind – wie bereits bei den vorangegangenen Gedichtbänden – theoretische Äußerungen zu den Gedichten, die den „Realitätszusammenhang durchstoßen“28 sollen. Die darin entwickelte „surrealistische Perspektive ist für Born wohl deshalb besonders wichtig, weil ihn die alltägliche Wirklichkeit so affiziert“.29 Borns Nachbemerkungen lesen sich wie ein definitorisches, essayistisches Skriptum, angereichert mit Randnotizen, die den Entwürfen seiner literarischen Praxis Zugang verschaffen sollen. Born habe mit seinen Nachbemerkungen „das signifikanteste lyrische Programm der frühen siebziger Jahre entwickelt, zweispaltig: soziologisch-begrifflich auf der linken, erzählend, beschreibend, utopisch ausgreifend auf der rechten Spalte“.30 Darin schreibt Born:
Das Auge des Entdeckers sieht IHN, den Entdecker selbst (: dich und mich), als außengesteuertes Objekt des Tatsächlichen, aber auch als fremdartiges Wesen, das mit Hilfe von Träumen und Phantasien aufbricht in eine unbekannte Dimension des Lebens. (WM, S. 86)
Im Gedicht „Es ist Sonntag“ (G, S. 129) gelingen Born, so Heise in seiner Rezension, „Durchblicke auf jene Utopie des Vitalen, die er gewöhnlich nur poetologisch umschreibt.“31 Hadayatullah interpretiert den „Sonntag“ als transzendenten Anfang neuer Möglichkeiten:
Natürlich spielt dieses Gedicht zu Hause, obgleich man nicht weiß, wo das nun eigentlich ist. Wir ahnen ja nur die nächste Dimension.32
Die „geflüsterte Nachricht“ von der anderen Wirklichkeit „nimmt uns gefangen, […], allen einsichtig“.33 Kunert schließlich erklärt die Praxis, daß der in den Gedichten Borns dokumentierte Alltag stets über sich hinausweist, zu einem poetologischen Prinzip des Lyrikers. Insbesondere im Gedicht G, S. 129 erkennt Kunert dieses Prinzip in „programmatischer Deutlichkeit“34 wieder, zumal „die auf eigentümliche Weise aufeinander bezogenen Realien die Vermutung vermitteln, hinter ihrem Rücken verberge sich die wesentlichere Realität, die es zu erkunden gälte, um die vordergründige verändern zu können“.35 Demgemäß schließt das Gedicht mit Versen, die deutlich einen „Verweis über die private Einschränkung hinaus“36 enthalten:
Diese Dunkelheit mitten im Grünen
dieses Tun und Stillsitzen
dieses alles ist
der Beweis für etwas anderes
Im Gedicht „Ausgeträumt“ (G, S. 127) focussiert das lyrische Ich anfangs „tagebuchhaft notierend einige Daten aus Umwelt und persönlicher Sphäre“.37 Diese banal gestimmte Privatheit hält das Ich jedoch im weiteren nicht durch und durchkreuzt die objektiven Daten mit einem Erstaunen sowohl über die Dinge als auch über die Perzeption dieser Dinge („ich bin / erstaunlich und ich bin es auch der sich / von Wünschen weit hinaustragen läßt“). Hartung erkennt dabei den kleinen aztekischen Maisgott „seinem kultischen Zusammenhang entrissen“,38 der als vergängliches Objekt vor der Gegenwart ausgedient hat. Die Formel „Es ist ausgeträumt“ darf ebenso verstanden werden als: es ist ausgedrückt, Papier geworden und somit antizipiert. Der Sprecher kann sich nicht recht zur Ruhe setzen, wird sich vielmehr in seinem privaten Geviert einrichten müssen, aus dem herausschauend er „eine Sonne“ aufgehen sieht, mit der jener sattsam bekannte Stoffwechsel der apparativen Gesellschaft lostritt. Das Ich registriert den historischen Fortgang, der ihm im Schreibprozeß bereits historisch geworden ist. Diese Vorwegnahme bedeutet dem Leser, daß dem lyrischen Sprecher die literarischen Erkundungen seiner Umwelt bereits Wahrheit geworden sind und die alsbaldige faktische Übersetzung dieser Vorsehungen zu erwarten steht. Typisch für Borns Verfahrensweise ist, daß „in dieser entspannten, privaten Situation […] Erstaunliches seinen Platz haben“39 soll. Zwar scheinen am vertrauten Ort des Geschehens Bäume „Heute wie gestern“ erstaunlich zu sein, doch „eher gelingt die Verfremdung des Gewohnten, wenn der so häufig geschilderte Sonnenaufgang durch eine geringe Modifikation – die Ersetzung des bestimmten durch den unbestimmten Artikel – zu einem überraschenden, erstaunlichen Ereignis wird.“40 Der Verweis auf die chemische Industrie und das Erstaunen darüber, „daß die Erde damit fertig sein soll / (im großen und ganzen)“, versteht Hartung als einen „Einschub, der das aufsteigende Gefühl relativieren soll“.41 Der Sprecher widersteht – wie bereits der Ich-Erzähler aus Borns Roman – „den eigenen Mühen, Leben vorzutäuschen“ (ESG, S. 128), ein Leben als „Verhaltenskomödie […], in der nichts erstaunlich ist, sondern alles unweigerlich richtig“ (ES, S. 128). Das Ich im Gedicht unterscheidet den doppelten Sinn des Wortes „Ausblick“, worunter einerseits die im Grunde wenig spektakulären Wahrnehmungen bei Tagesanbruch und andererseits der Vorgriff auf die realen Tendenzen zu verstehen sind. Die Zeilen „Bevor ich dies schreiben werde / lege ich mich um elf Uhr wieder hin / nachdem ich gelesen habe / ,es ist / ausgeträumt‘“ erheben erneut das Schreiben als Kulturtechnik zum Thema. Der Text offenbart hierbei die „Schwierigkeiten des Schreibenden, die nichts anders sind als die Schwierigkeiten der Welterfassung, der Integration von Außen- und Innenwelt, Physis und Psyche“:42
Die Aussage des lyrischen Ichs wird zum Stück Literatur, von dessen Entstehung und Bedingtheit der Autor berichtet. Um den artifiziellen Charakter des Prozesses zu betonen, verweist der Autor darauf, daß ein Stück Literatur, ein Zitat, auslösendes Moment für den Schreibprozeß war.43
Hartung bezeichnet die Wendung „es ist die Zeit / in der ich gelebt habe“ als eine „existentielle Pointe“44 Doch erst „der Schluß provoziert den Leser zur Revision und zu neuer Bewertung seiner Eindrücke“45 Mit dem Schlüsselwort „Ausgeträumt“ wird das „Staunen über Ich und Welt“46 sogleich widerrufen. Zurückbleibt lediglich „ein ,Ausblick‘; konkret der des Autors aus seiner Wohnung, im weiteren Sinne der des Subjekts aus seinen Bedingtheiten, aus seinem Anflug von Staunen“,47 die den Rezipienten einen vagen Blick mit dem „Auge des Entdeckers“ werfen läßt. Hartung gibt zu bedenken, daß das Zeitgerüst den Wesenskern des Gedichts widerspiegelt. Zwar erwarte man die Rezeption der wahrgenommen Umwelt („acht Uhr“) und erst im Anschluß und als Reaktion („elf Uhr“) die Notation der subjektiven Gedanken, wobei also „Lebenseindrücke und ihrer sprachliche Bewältigung abwechseln“.48 Doch versagt die Zeilenabfolge eine Lesart, nach der die Formel „ausgeträumt“ einem ,wirklichen‘ Traum entspricht:49
Auf der textuellen Ebene erscheint Desillusionierung nicht als Schlußpunkt, sondern bereits vorher, ehe das Schreiben überhaupt in Gang kommt. […] Die Szenen und Emotionen, die der Text vorführt, stehen unter der Zensur der Desillusionierung. Das hat Folgen, die über die künstlerische Problematik hinausreichen. Wenn, vor aller Darstellung des Traums, schon ,ausgeträumt‘ ist, kann der Traum nur partiell, aus der Perspektive der Ernüchterung erscheinen – nicht mehr als er selbst, als Traum.50
Vehementer als sein literarisches Vorbild William Carlos Williams, den Hartung als Urheber der Schlußformel ausmacht, tritt Born in seinem Gedicht für eine weniger souveräne denn vielmehr geschwächte Subjektivität ein („Der ganze Ausblick lagert sich ab mit mir“). Demgegenüber heißt es bei Williams in der Übersetzung von Enzensberger:
Ich habe meinen Traum geträumt, wie andere auch,
und er ist zu nichts geworden, und so
stehe ich nun hier, sorglos,
die Füße in den Boden gestemmt
[…]
[…] und sage mir: es ist ausgeträumt.51
Sowohl Williams als auch Born lassen den Leser im Unklaren darüber, zu was die Wirklichkeit denn nun geronnen ist. Da Born die Herkunft seiner lyrisch verarbeiteten Zitate üblicherweise kenntlich macht und Zusammenhänge mitunter erläutert,52 ist die Urheberschaft dieser Schlußformel nicht letztgültig gesichert. Für eine Anleihe bei Williams spricht indes die Tatsache, daß Born die Formel als Zitat explizit ausweist, wodurch sie zur „Leerformel“53 gerät.54
Das idyllische Motiv des Frühstücks in dem Gedicht „Glücklicher Versuch“ (G, S. 172), dessen Titel an die geläufige Wendung „geglückter Versuch“ erinnert und nahelegt, daß ein jeder Versuch auch scheitern kann, zeichnet eine vertraute, aber höchst fragile Situation aus dem Alltag nach: Das Gedicht zeigt den „Versuch, einmal nur einfach den Moment zu leben und darin glücklich zu sein“55 Doch „die Gefahr lauert in jedem Vers.“56 Zu diesem von Born mehrfach aufgegriffenen Motiv eines beginnenden Tages äußert Mennemeier:
Born versetzt da den Leser in eine poetische ,Landschaft‘, in welche vermittels der Gestaltung spezifischer Details die Restexistenz des einzelnen in der allgegenwärtigen Massengesellschaft sehr konkret eingegangen ist.57
Die Aussage „Heute wollen wir einmal nicht hinauskommen / über dieses Frühstück am Samstagmorgen“ mutet an wie ein verzweifelt gefaßter Beschluß, wie eine trotzige Verteidigung des ,Tellerrandes‘ in einer eigentlich unverfänglichen privaten Situation. Zu Recht wirft der Leser die Frage auf, warum der Sprecher das gemeinsame Refugium – er spricht im Plural – mit Nachdruck zu illuminieren sich genötigt glaubt. Der Ich-Erzähler aus Borns Roman mag dieses Vorhaben erhellen, wenn er Maria fragt:
Vor zehn Minuten haben wir noch im Bett gelegen, und schon willst du wieder Anschluß finden an den Fortschritt; kannst du nicht erstmal frühstücken? (ESG, S. 52)
Diese vermeintliche Dichotomie von Innen und Außen mißlingt im Gedicht, und die anfängliche Kontrastierung des Privaten gegenüber der äußeren Welt mündet im weiteren Verlauf des Gedichts in der Gleichsetzung von gegebenen Verhältnissen einerseits, die nur undeutlich vertreten sind, und dem vorgeblichen Idyll auf einem Balkon andererseits:
die Wahrheit ist daß wir allein sind
auf dem Balkon und auf der Welt
Erdenschwer scheint es dem Ich, „mich von mir zu befreien“. Nur kurz gelingt es dem Sprecher, den Augenblick des „Balkon-Frühstücks-Glücks zu genießen, wohl wissend um seine ,Adresse in der Weltgeschichte‘ (G, S. 122, d. V.]“.58 Und so bleibt die Utopie eine bis auf weiteres unerreichte; das Unterfangen, sich vom Leiden zu befreien, endet bei einem fragwürdigen „Versuch“. Das vormals schwerelos geglaubte Gefühl auf dem „sonnigen Balkon der jetzt die Welt ist“ zerfällt nun vor dem Locus amoenus, jenem mit profanen Nahrungsmitteln bedeckten Tisch; der zerronnene Glücksmoment kündet gleichermaßen von „Leben und Tod“. Zwar leitet sich das nebulöse Gefühl, „so etwas wie glücklich“ zu sein, aus dem „schwarzen Kaffee“, den „goldenen Mohnhörnchen“ und der „grünen Marmelade“ ab, doch ist sich der Sprecher bewußt:
Das Frühstück ist gekauft
und das Glück ist gekauft59
Aber „nicht das Glück wird bestritten, weil es gekauft und nur möglich ist auf Kosten anderen Leids, sondern dessen Bedingungen werden denunziert zugunsten eines nicht durch Kauf eingeschränkten Glücks, das unbeschrieben bleibt.“60 In himmelblaue Textilien gehüllte Individuen, die – gleich einem Werbefilm entsprungen – ihr „diebische[s] Frühstück“ einnehmen, wehren sich kaum mehr gegen die verkündeten Wahrheiten. So endet das trügerische Stimmungsbild in der lethargischen „Qual eines sonnigen Frühstücks“. Die wiederholte Einfügung der Konjunktion „und“ liest sich dabei wie die nahtlose Aneinanderreihung von passiv registrierten Tatbeständen. Der Samstag, an dem der Werktätige traditionell der Familie gehört, birgt hier ausdrücklich nicht, wie es Hübsch für das Gedicht „Es ist Sonntag“ (G, S. 129) ableitete, die „Ahnung von einer anderen Welt“61 an einem Wochentag der persönlichen Einkehr. Vielmehr mißrät das Idyll im Gedicht, da es als Standbild inszeniert werden soll. Die innere Schieflage verharrt in einem „Anfang von Frühling“, einem Versprechen, das niemals gänzlich eingelöst scheint. Allein, der phallische Verweis auf etwas Äußerliches, „was an uns glücklich ist“, etwas, das „wie Spielzeug in ganz kleinen Händen / unter den blauen blauen Bademänteln“ liegt, erzeugt ein synthetisches Gefühl, das jedoch unversehens in den übermütigen „Gedanke[n] an den Tod“ umschlägt. Und der Gedanke an die „Marmeladenfinger / unter den blauen summenden Mänteln / und unter dem blauen blauen Himmel“62 vermittelt trügerische Eintracht von Ich und Welt: Die sexuelle Befriedigung als Substitut für ein positiv besetztes, authentisches Lebensgefühl mißglückt. Born bemüht die Naturbegriffe „Himmel“ und „Vögel“ zur Widerspiegelung der sexuellen Erregung63 und stellt ihnen das Wort „Spielzeug“ als miniaturisiertes Ebenbild menschlicher „Restexistenz“64 gegenüber. Die Wahrheit ist, so fährt der lyrische Sprecher fort, „daß wir dieses Glück lernen mußten / und alle anderen Gefühle auch / und den Schmerz auch tief in den unteren Schichten“. Borns Ich bekundet somit – ähnlich dem Ich-Erzähler aus der erdabgewandten Seite – das Widerstreben, ein „Leben aus zweiter Hand an[zu]nehmen, als wäre es noch immer aus erster Hand. […]“ (ESG, S. 137). Doch im Gegensatz zu der Romanfigur meidet der lyrische Sprecher geradezu, der „Unerträglichkeit des gemogelten Lebens die allerunerträglichste Dimension hinzu[zu]füge[n], das Bewußtsein davon“ (ESG, S. 137), teils hilflos selbstbehauptend – „aber ich habe Macht über meinen Stuhl“ –, teils scheiternd – „wir sehen uns in der Qual eines sonnigen Frühstücks“. Das Ich bringt fragwürdige Bekundungen über das eigene Leben hervor, in welchem doch ein „Anruf genügt“, ein schwacher Impuls von außen also, um das eingerichtete Leben aus der Balance geraten zu lassen. Denn gemäß Adorno bleibt Leiden „Objektivität, die auf dem Subjekt lastet“65 In den Gedichtzeilen identifiziert Rothmann den Widerwillen gegenüber der „Versachlichung“66 des gesellschaftlichen Lebens. Für Borns Utopie zitiert Kurz den Lakonismus:
Das Glück träumt im Schlafanzug (G, S. 160).67
Daß Born sich mit der Konstruktion und gleichzeitigen Destruktion des Idylls auf des Messers Schneide bewegt, führt Allkemper aus:
Gefährlich wird es, wenn die Trivialität wörtlich genommen und nicht durchsichtig wird, dann verschwindet der utopische Impuls in der spießbürgerlichen Selbstgenüßlichkeit, deren Horizont die Wölbung des Kanapees ausmacht. Born vermeidet diese Eindeutigkeit, denn schon die Absichtserklärung deutet auf das Ausgegrenzte, und die forcierte Betonung des ,diebischen Frühstücks‘ macht die Ambivalenz deutlich, auf die das Gedicht hinausläuft.68
In „Glücklicher Versuch“ gibt Born folglich weniger die „unbeschädigte Subjektivität“69 vor als vielmehr eine, die ihre Vereinnahmung durch das Bestehende weiß. Borns Bewußtsein um den unauflöslichen Widerspruch zwischen „Autonomie der Imagination“ (WM, S. 53) und Eindimensionalität des Subjektiven bringt ein lyrisches Ich zur Sprache, das sich in diesen Widerspruch verwickelt erkennt und sich somit gegen jedes ungebrochene utopische Programm verwahrt.70
Für das Gedicht „Das Verschwinden aller im Tode eines einzelnen“ (G, S. 185) zeigt Ursula Krechel die Synthese aus Privat- und öffentlicher Sphäre auf. Sie sieht hierin „äußerste Hybris und eine sehr große Zartheit in sich vereint: ein Sichverantwortlich-Machen und das Bewußtsein, verschwindend beiläufig, in einem historischen Kontext als Individuum schon verschwunden zu sein“71 Die am Gedichtanfang aufgeworfenen Fragen sind „Fragen eines Beichtspiegels, Gewissensforschungsfragen“72 Krechel stellt heraus:
Beziehen sich die ersten drei Fragen auf die Menge, den Kraftaufwand (,zu groß‘, ,zu sehr‘, ,zu viele‘), forschen die beiden folgenden Fragen nach dem Handwerk des Lebens, einer subjektiv empfundenen Allmacht.73
Das Ich „kann sich nicht blind stellen vor den Enthüllungen der Tagesschau“.74 Dort lauten die Verse:
Ich stehe in der Erde und wann immer ich abhebe
schlage ich hart wieder auf
Der lyrische Sprecher, „der sich selbst gerade zu den großen Dimensionen, dem Überproportionierten in Beziehung gebracht hat, gibt eine Ratlosigkeit, ein Nichtwissen zu. Der sichere Standort mit den übergroßen, überschwenglichen Gesten wird zurückgenommen.“75 Angesichts des aufgeschlagenen Wörterbuchs auf dem Tisch wirft Krechel die Fragen auf, wer denn eigentlich für die Toten in der Tagesschau verantwortlich und wie die fassungslosen Bilder zu übersetzen seien.76 Das Gedicht „mischt das Persönliche und das Öffentliche, zieht beides aus dem gewohnten Zusammenhang, der so, wie er war, nie mehr sein wird.“77 Durch die parallelen Stränge des Privaten und des Öffentlichen gelingt es Born, daß „der gewöhnlich gewordene Tod sich in ein ,ganz gewöhnliches Bild‘ [drängt].“78
Im Gedicht „Vor dem Einschlafen“ (G, S. 103) betreibt Born die Denunziation der alltäglichen Vernunft, wenn er schreibt „wie lächerlich ist diese Information“. Buechler u.a. erkennen in dem Gedicht geradezu paradigmatisch die „Preisgabe operativen Widerstands“79 Doch das Gedicht verschließt sich einer solch kontrastiven Lesart, die sich an Maßstäbe der politischen Lyrik der sechziger Jahre bindet. Zwar berichtet das Ich über sein Verhältnis zur Wirklichkeit aus seiner ,erdabgewandten‘ Position heraus, es wolle „weg in die BESSERE WELT“, um die „Welt im Rücken zu haben“. Doch in Wahrheit will das lyrische Ich nicht Absonderung von den Zeitläuften, sondern „im Augenblick vor dem Einschlafen der schlechten (Tages-)Welt und ,Tagesidentität‘ entkommen und eine neue Identität gewinnen.“80 Ähnlich heißt es in der Fälschung über Laschen:
Am aktivsten fühlte er sich tatsächlich im Liegen. (F, S. 264 )
Bekanntermaßen können im Traum „die primären Bedürfnisse der Überwachung durch das kapitalistische Realitätsprinzip entwischen und ihr wahres, unverfälschtes Gesicht zeigen“,81 so daß sich die genuine Phantasie von der enttäuschenden Realität absetzt und sich im Traum – als der regredienten Form zu eben jener Phantasie – ein Ventil verschafft: Der Traum verweist auf die sublimierten Triebe und den wirkungsvollen Kontrollmechanismus zu ihrer Unterdrückung, die Wünsche nehmen wegen der entgegengesetzten Realität erst im Traum entsprechende Gestalt an.82 Somit erscheint der Traum als irreale Entsprechung der bisher versagten Utopie, die Phantasie ist mithin die Entschädigung für eine Versagung in der Realität,83 wodurch verdrängte individuelle Bedürfnisse aufgearbeitet werden können. Nach Peter Schneider, der in Anlehnung an die Traumdeutung Freuds in seinem 1969 erschienenen Aufsatz „Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution“ Aufschluß über das Auseinanderklaffen von Traum und Wirklichkeit bietet, ist der Spätkapitalismus die „höchste Entfaltung des Gegensatzes zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Bedürfnis und Befriedigung“.84
So findet in Borns Gedicht „eine Widerspiegelung der sozialen Realität oder Alltagsumgebung des lyrischen Ichs nicht mehr oder nur noch ansatzweise statt.“85 Das Ich im Gedicht „hat es nicht mehr nötig oder ist nicht mehr willens, das Leben ,ganz zu überblicken‘, denn welches Leben dieser Überblick vor Augen führte, ist jeweils schon klar: ein Leben der Anpassung an das ,Wahnsystem‘, ein fremdbestimmtes Leben“.86 Die im Gedicht benannte „Infusionsstelle“ am eigenen Körper bedeutet dem Ich, daß „vom ,Wahnsystem‘ auch die Sinne infiziert“87 sind. Diese Sinne sind endlich „zu verschließen“, denn da das Ich „sich in der Vergangenheit allzusehr auf seine infizierten Sinne verließ und dabei nur negative Erfahrungen machte, soll vor dem Einschlafen […] auch die Verbindung mit der […] eigenen Lebensgeschichte abgebrochen werden.“88 In einem Interview äußert sich Born zum Versuch des Subjekts, sich den gesellschaftlichen Zuschreibungen zu entziehen:
Die totale Entfremdung ist, daß man den eigenen Körper nicht mehr hat. Es ist ganz klar, daß man in dem Augenblick, wo man sein Augenmerk auf den eigenen unwiederbringlichen Körper richtet, der Gesellschaft und der Funktionalität als Glied der Gesellschaft etwas abziehen muß.89
Doch mahnt der Sprecher den Leser zugleich, daß gerade durch die Information der „lächerlich“ zitierten Floskel „wie verlautet“, die als Partikel aus der vemunftgeleiteten Realität zu lesen ist, jedes Aufspüren im Gedicht von „Hinweisen, die die pragmatische Orientierung erleichtern“,90 bewußt und erfolgreich durchkreuzt wird. Eine genuine Phantasie wird nicht verfügbar gemacht:
Solche Orientierungshilfen will Born mit seinen Gedichten aber gerade nicht geben.91
Das Gedicht beschreibt, so Kammermeier, „keine Moment der Erfüllung, es drückt das Bedürfnis nach Erfüllung aus“, wobei die Erfüllung vorerst eine Imagination bleibt. Die Schlußformel „ich bin du und schlafe“ steht sodann als „Sinnbild für eine neue, erweiterte Identität“,92 die sich erst durch Abwendung von der beklemmenden Wirklichkeit, im Traum, offenbart. „Die Sehnsucht nach der ungestörten Idylle“, bekennt Born in seinen Nachbemerkungen zum Gedichtband, „kann ohnehin nur noch imaginativ erfüllt werden“ (WM, S. 91). Weiterhin schreibt er:
Gedichte können auch Gespräche sein zwischen unseren vielen möglichen Ichs und dem Ich, das aus uns geworden ist. (WM, S. 90)
Und so zeugen seine Gedichte von den großen Schwierigkeiten, sich von der verinnerlichten „systemkonformen Sensibilität“93 zu lösen und diese in eine ,neue Sensibilität‘ umzusetzen, die sich vom „Wahnsystem Realität“ (WM, S. 90) loszusagen weiß. Ähnlich spricht Michael Krüger davon, innerhalb der Fiktion die „vielen Möglichkeiten, die in jeder Person liegen, wahrzunehmen“, zumal man „ein anderer hätte werden können – oder sogar viele andere“94
Born, der in seinen Gedichten jeder ungebrochenen Subjektivität mißtraut, persifliert im Gedicht „Fahndungsblatt“ (G, S. 117) eben diese Idee einer Individualität und bestätigt in den Zeilen „die Verlustanzeige des authentischen Ich“95 Der Sprecher gibt sich „je nach Umgebung“ als „Carlos Kalle / Karl Carlo Charly Charles Karel oder Günther“ aus, wodurch die durch das gesellschaftliche Ganze vermittelte Illusion der Individualität aufgedeckt wird. Das Ich endet bei seinem Aufruf „Gesucht wird ICH“, der noch in der erdabgewandten Seite in Gestalt der fingierten Geschichte des Schriftstellers nachklingt: „,Ich‘ hatte kein Telefon in der Geschichte und war schwierig anzutreffen“ (ESG, S. 147), und „ICH hatte keine Geltung […]“ (ESG, S. 125). Im „Feriengedicht [Juli 1969]“ taucht der Gedankengang ein weiteres Mal auf: „einer öffnet die Tür und macht sie leise / hinter sich zu / nicht erschrecken es ist ICH“ (G, S. 164). Durch die Verwendung der dritten Person Singular im Vers „es ist ICH“ erscheint die Konfiguration des Ichs fast gegenständlich und fremd. Und in ironischer Manier versichert sich das Ich im Gedicht „Geschichte“, in dem es heißt:
Ich bin es. Ich bin es immer gewesen.
Der mit Wohnungsschlüsseln spielt
und selbstverständlich an ein Frühstück denkt
in der Geschichte
und Briefe schreibt an die Zukunft (G, S. 122).
Das Gedicht „Im Innern der Gedichte“ (G, S. 114), so schreibt Naaijkens, „inventarisiert auf den ersten Blick einfach nur die Möglichkeiten von Ich“96 Doch eröffnet Born das Gedicht einschränkend „gegen falsche Träume und Erwartungen“97 wie folgt:
Du kannst nicht davon leben
aaaaamit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben.
Der Gedichttitel offenbart: Im Gedicht „steckt der Mensch, bist du“98 Kurz zufolge ist es dem angesprochenen „Du“ unmöglich, „mit der in jeder Hinsicht, räumlich, zeitlich, an Widerstandskraft und Größe dir überlegenen ,Wirklichkeit‘ [zu] konkurrieren“. So wird am Gedichtanfang ausgeführt, „was der Mensch nicht ist, was er zu unternehmen nicht versuchen soll“99 Kurz spricht dabei von einem „litaneihaft, psalmodierend gebauten Gedicht“100 Dennoch kann das angesprochene Gegenüber „ein paar bescheidene Dinge […] erfahren, erleiden, annehmen, entscheiden“101 Und trotz der konkurrenzlosen Realität stellt der lyrische Sprecher fest, „daß ,Land und Wasser‘, ,der Himmel‘, ,du‘ selbst, geblieben sind.“102 Ein Textausschnitt aus der Fälschung mag diese Zeilen erhellen:
Grundsätzlich veränderte er sein Leben nicht mehr, obwohl die Idee doch zählebig war, einmal noch eine Zukunft zu haben von ganz anderer Beschaffenheit, ein neues Leben anfangen zu können, aus dem die Spuren des alten von vornherein getilgt wären. (F, S. 93)
Kurz erkennt im Gedicht einen doppelten Bedeutungsträger: Das Ich spricht von der „Haut, aus der einer nicht heraus kann“103 und die zugleich für die „Bejahung der Gefühlswelt gegenüber einem einseitigen Intellektualismus“104 steht. Damit weist Born „die Hybris des Menschen zurück, verweist ihn auf seine Grenzen, öffnet ihn zugleich zu einer intensiveren Wahrnehmung und Aktivität“105 Naaijkens sieht in diesem Verfahren den Vorzug, daß das Gedicht „in der Beschreibung der Utopie den Schrecken schon ankündigt“106 Der Widerspruch verdeutlicht, daß „das Subjekt nicht nur alle ist, sondern auch allein“.107
Insbesondere anhand des Gedichts „Donnerstag, fünfzehnter Juli“ (G, S. 96) lassen sich zentrale poetologische Vorgaben Nicolas Borns auf ihre Einlösung hin nachprüfen. Der Titel dieses Gedichts macht deutlich, daß Born sich in die subjektiven Lyriker einreiht, die – durch Datierung der Gedichte um eine „exakte Situierung des Erlebnisses“108 bemüht – „in detailversessener Beobachtung […] die Stimmung des lyrischen Ichs festhalten“109 Das Verfahren erinnert an Kerouacs Appell: „Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild.“110 Das lyrische Ich versichert sich des eigenen Erlebens, indem es die subjektiven Momentaufnahmen in einen objektiven Datenkranz hineinstellt und zugleich deutlich von ihm absetzt.111 So schreibt Born im Gedicht:
Heute dürfte nicht der 15. Juli sein
um damit anzufangen.
Damit macht der Sprecher die Relativierung des fixen Datums gegenüber dem je einzelnen Lebenslauf deutlich. Ross vermerkt in seiner Rezension:
Nur der Alltag ist da, die sekundenschnell erfaßte Wahrheit dieses Augenblicks […]. Bewußtseinsstrom, innerer Monolog, Montage, Medienverfahren, das könnten die Namen für diese Technik sein, die – so scheint es – nur noch Reflexe notiert, Impressionen gleiten läßt, die kuriosen Einfälle und Eindrücke, die durch die Person Nicolas Born huschen, die nichts anderes ist als die Summe solcher Anwandlungen.112
In den Versen meidet Born, „unmittelbar den Rückzug einer Figur ins Ideologische auszusprechen“:113 „aber du hast mich geärgert weil / du dich wieder in der Gesellschaft versteckt hast“ (G, S. 97), schreibt Born im Gedicht. In Abgrenzung zu jeder ideologisch angelegten Dokumentation betont der Sprecher: „Ich liebe nicht die Gesellschaft aber dich / ich liebe genug für einen“ (G, S. 97). Aber auch diese Haltung bleibt nicht widerspruchsfrei. Ross spricht von „Regung und Durchkreuzen der Regung“,114 die die darauffolgenden Zeilen prägen: „und vielleicht liebe ich auch nicht genug für einen / ich liebe es auch mich zu verändern aber / du mußt in Kauf nehmen daß ich dabei verschwinde / oder kleiner werde / oder dich nie wiedersehe“ (G, S. 97). Und bereits einige Zeilen zuvor zeigt sich das Individuum als erschütterbar im Zusammenprall mit der Wirklichkeit: „Ein Mann / aus der Nachbarschaft überquerte / die Kreuzung bei Rot und wurde getötet“ (G, S. 96), heißt es. Die Vorstellung des lyrischen Sprechers von einer „großen Hand / die ihn herunterwischte von der Erde / oder eine Schaufel / die seine Erinnerung wegkratzte“ (G, S. 96), macht deutlich, daß Ideologie, die „zum Schweigen“ bringt, keine historische Identität stiftet:
So wird aus dem Umstand, daß jemand eine intimere Beziehung hinter soziologisch-politischen Bekundungen verschwinden läßt, bildhafte Darstellung und zugleich mehr als das: eine psychologische Einsicht. Wir erkennen hier, was wir bisher nur obenhin wußten: Daß Theoretisierungen häufig ein Verbergen eigener Schwächen in fiktiver Gemeinschaft bedeutet, deren Priorität vorgeschützt wird.115
Stegers führt an, daß die Verse stets „auf das erfahrene Konkrete und konkret Erfahrene [setzen], teils stellen sie Utopisches vor“116 Und, so Kunert, „alles Konkrete spricht außer von sich zugleich von etwas ganz anderem“.117 Das „Auge des Entdeckers“, jene große Metapher,118 deutet für Ross auf die Relativierung des alten Pathos „sozialistischer Verbrüderungs-Ideologie“119 hin. Dieser Auslegung leistet Born im Nachwort zum Band Vorschub, in dem er Distanz übt zu den Reminiszenzen der politischen Praxis:
Wir haben oft versucht, aus dem Vers herauszutreten auf die Straße. Wir haben nächtelang gesprochen und nächtelang geschwiegen. Wir haben versucht, das Wort Auge mit einem wirklichen Auge zu bezeichnen. (WM, S. 89)
„Nur denen geht es besser, die sich dem Vergessen angeschlossen haben,“ hält Born den Verfechtern des positiv Bestehenden vor, „die Augen zuversichtlich gerichtet in die Zukunft der Selbstvergessenheit“ (WM, S. 207). An anderer Stelle plädiert Born für die Überwindung des „realpolitischen Auge[s]“ (WM, S. 171), das lediglich den materiell-historischen Fortgang als Bewegung registriert.
Born greift die Metapher in seinem Band verschiedentlich auf:120
Wieder ist es Nacht wie in Nachtgedichten
mit Sternen oder einem kleinen Imbiß an der Bude
die Augen des Entdeckers streunen (G, S. 152).
Im Gedicht „Das Erscheinen eines jeden in der Menge“ steht zu lesen:
Ist es eine Wohltat allein zu sein
im Gelage der Gedanken ohne Augenzeugen
ohne das Auge des Entdeckers das sieht wie’s schmeckt
ohne das geübte Ohr der Menge (G, S. 187).
Das Auge des Entdeckers, als ein panoptisches System der Utopie, meint nach Karsunke „ein Auge, das mehr als einen Blick in die […] künftige Gesellschaft zu tun versucht, allerdings aus der aktuellen Gesellschaft heraus, in der weder von der freien Entwicklung eines jeden noch von der freien Entwicklung aller die Rede sein kann.“121 Und der Entdecker ist letztlich eine „Person, die die inneren Kontinente betritt.“122
Das Gedicht „Donnerstag, fünfzehnter Juli“ bietet eine differenzierte Lesart der Metapher an: „für das Auge des Entdeckers sind wir doch mehr / als nur wir selber / unsere Körper sind geformt von allen Formen / […] / ich frage mich ob ich Angst habe vor / dem großen langsamen umhergehenden Blick / auf mein Leben und dein Leben und das Leben“ (G, S. 99), heißt es darin. Mit solcherart Sprache sucht Born, die Beziehungen „zwischen Dingen und Menschen und Wörtern zu materialisieren“123 Ferner werden durch die Verwendung der Pronomen „mein“ und „dein“ sowie des Artikels „das“ subjektive Erfahrungen zu allgemeinen erhoben.
Doch verändert das „Auge“ im Gedichtband seinen Blickpunkt:
Die ungeheure Wichtigkeit des Ichs, des einzelnen wird bewußt, der das ganze Panorama hält, der es in die historische und in die Zukunftsdimension erstreckt; und gleichzeitig – in dem Simultanbewußtsein, das in dieser Lyrik nicht nur reflektiert, sondern verkörpert wird – seine extreme Hinfälligkeit.124
Ähnlich wird in „Anfassen“ (G, S. 101) jede Ambition unterhöhlt:
Ich glaube wir kriegen jetzt eine Mahnung.
Siehst du es zwinkern Leser
das magische Auge? Siehst du den Arm der uns einholt
Leser?
Wie heftig er uns auf unsere Plätze setzt
und wie sehr wir wieder sein Lied singen! (G, S. 101f.)
Allkemper stellt fest, ein in Borns utopischen Gegensätzen „schlicht behauptender Gestus wirkt so angestrengt, daß darin sogleich das Eingeständnis liegt, daß sie nicht sicher über das verfügten, das sie übertreibend entgegensetzen“.125 Bei Born liest sich dieses ironische Moment wie folgt (G, S. 135):
ich habe immer „Nimm Vim“ genommen
und mit den Augen der Entdecker
in die superweiße Tiefe gestarrt
Das „Auge“ müsse sich, so Allkemper, ironisch zurücknehmen, um ernstgenommen werden zu können, „denn nur so wird der produktive Widerspruch zwischen Realitätssatz und Gegensatz nicht zugunsten keimfreier Lehrsätze stillgestellt.“126 Und Hartung führt aus:
Wo […] Programmatisches in pathetischer Form auftaucht, überführt es sich durch Übertreibungen seines Unernstes.127
In Borns Gedicht „Licht an“ (G, S. 175) vermittelt sich eine zwischenmenschliche Beziehung als wohlgemeinter und zärtlicher Pakt, dessen vehemente Behauptung vor der Realität jedoch alsbald ad absurdum geführt wird:
Zusammen halten wir uns
eine Weile
über Wasser
noch ein paar Atemzüge
dann ist es wieder still.
Das waren wir –
Nachkommen blinzeln
in die Sonne.
Die – überwiegend positiven – Besprechungen des Lyrikbandes legen indes auch Mängel in der praktischen Umsetzung Borns poetologischer Maßgaben frei. Auf breite Kritik stößt Borns wohlgemeinte Geste: „Die Realität bleibt im Gespräch“ (WM, S. 89), dessen lyrische Leistung mitunter in Weitläufigkeit zu münden drohe:
Zum Collagegedicht „Ansage und Absage“ (G, S. 174) vermerkt etwa Schramm:
[…] hier zeigt sich die begrenzte Möglichkeit dessen, der das Unbegrenzte darstellen will: die Einzelteile sind nichts mehr wert, weil sie vollkommen beliebig, austauschbar sind.128
Ebenso schlägt Jappe in seiner überwiegend lobredenden Rezension kritische Töne an und bezieht sich beispielhaft auf das Gedicht „Einfach dasein“ (G, S. 146):
Zwischen einigen komprimierten Formulierungen droht die Collage des Langgedichts immer wieder auszufließen, durch Aneinanderreihung und Ausspinnung von Assoziationen, durch Kommentierung der Idee, Darüber-Reden. Das springt einen an, bleibt hängen, aber dann folgen 51 Zeilen bis zur nächsten Präzision, der Zwischenraum ausgefüllt mit nachklappenden Gedanken, belanglosem Erzählen, Aufsammeln von Kultursplittern, in Fußnoten kommentiert.129
Heise bemängelt in seiner Rezension ebenfalls den Hang zum langatmig geratenen Gedicht:
Allerdings gehen viele seiner Beobachtungen, Schnappschüsse und impulsiven Äußerungen im Rhetorischen unter. Sie ertrinken in einer Fülle von Fakten und können nicht den Charakter des Authentischen gewinnen, weil der Zufall und – über lange Strecken – Banalität und Langeweile regieren.130
Und Langer äußert:
In seinen Suggestionen schafft er [Born, d. V.] sich eine eigene Welt, deren häufige Verfremdung dem Leser das Eindringen erschwert. Ihm gelingt immer überzeugender die Objektivierung seiner persönlichen Seh- und Denkweise durch Sprachgestaltung. Aber der verbale Aufwand erscheint hier manchmal zu groß und verdeckt wiederum, was er an Wirklichem freilegen möchte Das Subtile leidet zuweilen unter der Gewalt der Worte.131
Die Literaturkritik legt damit Borns tendenzielle Schwierigkeit frei, den artifiziellen Rekurs auf das Alltäglich-Banale beständig mit höherer Bedeutung aufzufüllen und die Gefahr eines intellektuellen Kurzschlusses abzuwenden. Ferner zeigen sich Borns Gedichte – obgleich sie dem Klischee widerstehen – bisweilen unvermögend, eine von Zweifeln freie utopische Sprechweise zu inszenieren, die sich der bestehenden Wirklichkeit entgegnen ließe. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht hat Allkemper auf dieses Manko verwiesen:
Borns Gedichte vermögen ihrem programmatischen Vorlauf nicht zu folgen […]. Zwar finden sich in dem Gedichtband Das Auge des Entdeckers viele ausformulierte Wünsche und Sehnsüchte, doch sie erreichen – auch groß geschrieben – nie die geforderte Qualität eines ,farbenfrohen Zukunftsbildes‘, einer konkret positiv ausgeführten utopischen ,Landnahme‘, sie verbleiben durch ihre Negation postulativ, ohne positives Gegenbild zu sein.132
Schuhmann verweist allerdings darauf, Nicolas Born verstehe „das Transzendieren der Wirklichkeit mehr als einen existentiellen Akt, als historisch kaum konkretisierbare Durchbrechung von Normen und Systemen, die das Subjekt in seinen Verwirklichungsmöglichkeiten einengen.“133 So ist der utopische Aspekt in Borns Gedicht „Drei Wünsche“ (G, S. 100) ganz zentral:
Daß hierbei die Vorstellung des Lyrikers von Utopie, festgemacht an den Wünschen und Nöten des einzelnen, nicht deckungsgleich wird mit einem wie auch immer realisierten Sozialismus, gibt den Gedichten ihre Weite und ihren offensiven Charakter. Die eigenen Erfahrungen werden nicht eingetauscht gegen vorformulierte politische Einsichten, die es nur in die Sprache der Poesie zu übertragen gälte.134
Am Beispiel des Gedichts „Drei Wünsche“ schränkt Allkemper seine kritische Analyse denn auch ein:
Diese negative Inanspruchnahme der Differenz von Sein und Sollen hat gegenüber ihrer positiven den Vorteil, daß sie die utopische Vorgabe weder als Dogma noch als verlogenes poetisches Idyll, das seine Abhängigkeit vom Vorhandenen leugnet, festschreiben muß, denn sie bezieht sich auf beides: sowohl auf die utopische Vorgabe als auch auf die gegebene Realität, deren beider Abgeschlossenheit sie in Frage stellt.135
Den Gedichten aus Das Auge des Entdeckers ist, so Theobaldy und Zürcher, „ein Widerstand eingegeben, der nicht primär aus dem Rekurs auf empirische Realität besteht, aus dem Einschub realistischer Beschreibungen, sondern der durch die negative Formulierung in den Bildern selbst enthalten ist“.136 Und Krolow vermerkt:
Man muß in seinen [Borns, d. V.] Gedichten beim Wünschen bleiben.137
Die von Karsunke vorgebrachte Kritik gerinnt teilweise zu Nachwehen einer überkommenen Attitüde, wenn er Born einer apodiktischen Überzeugung bezichtigt. Karsunke erkennt in Borns Äußerungen138 gegen „selbstgenügsam die Agitprop-Mühle drehende Lyriker“139 zugleich eine Denunziation gesellschaftskritischer Autoren insgesamt, die der Rezensent und Lyriker in Schutz zu nehmen versucht:
Schließlich versteht Born seine eigne Arbeit doch wohl auch – und zu Recht – als kritisch gegenüber der bestehenden Gesellschaft; welche Methode zu deren Veränderung die brauchbarste sei, ist noch nicht entschieden.140
Karsunke bemängelt ferner, daß „die Präsentation der Utopie als Mittel zu ihrer Erreichung nicht aus[reicht], es bleibt dann bei Willenserklärungen wie in Borns Nachbemerkungen […].“141 Nach Karsunke gerät im Gedichtband der „Vorgriff auf die Utopie häufig auch zum Vorgriff auf den extremen Subjektivismus – was in einer Phase, in der um die Verwirklichung der Utopie noch bitter gekämpft werden muß, leicht zum Rückzug ins (dem Leser) unverständlich Private werden kann.“142 Und auch für Heise ist der Gedichtband ein „Versuch, die in Formeln erstarrte engagierte Poesie der sechziger Jahre durch salopp vorgebrachte Alltäglichkeiten zu beleben“, und er befindet Borns lyrische Sprache für „meist austauschbar, profillos, unaromatisch“143
Jörg Eggerts, aus Jörg Eggerts: Langsam kehrten die Farben zurück. Zur Subjektivität im Romanwerk, im lyrischen und literaturtheoretischen Werk Nicolas Borns, Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002
– Nach dem Vietnamkrieg war Nicolas Born prägend für die deutsche Alltagslyrik. Nicht nur die Literaten von heute sollten ihn dringend lesen. –
Schon der Titel weckt die Neugier auf fabelhaft schöne Welten. Man möchte sofort loslaufen und diese helle, kraftvolle Idee der von Mühsal, Alltagsbürden und Verzagtheiten beschwerten Menschheit empfehlen: Das Auge des Entdeckers, schreibt Nicolas Born, breche mit Hilfe von Träumen und Fantasien auf in eine unbekannte Dimension des Lebens. Und das Irre ist: Jeder kann mitmachen, denn in jedem steckt ein solcher Entdecker, man muss nur den Blick so einstellen, dass man hinter den trostlosen Tatsachen den prachtvollen Garten der besseren Ideen findet, die Gegenwelt zum Elend, den hellen Traum, die besseren Bilder, kurz: die Utopie.
Das Auge des Entdeckers: Um zu verstehen, warum dieser schmale, in der blassrot umränderten Reihe das neue buch rowohlt erschienene Gedichtband solche Furore machte (über 8.000 verkaufte Exemplare!), muss man ein bisschen zurückgehen vom Jahr 1972; zurück in die Sechzigerjahre, jene Epoche der politischen Verpanzerung von allen Seiten.
Gedichte waren damals noch Instrumente des Klassenkampfs, der Agitation und einer ziemlich schal und kläglich gewordenen Idee von politischer Aufklärung. Nicolas Born, der Polizistensohn aus Essen, gelernter Chemigraf und damit genau jenes Arbeiterkind, von dem die revoltierenden Bürgerkinder 1968 geträumt hatten, dieser junge Born hatte in den USA ein Stipendium wahrgenommen und in Ohio die Bekanntschaft mit einer ganz neuen Sorte von Dichtern gemacht. Frank O’Hara, Kenneth Koch und Kenneth Patchen hatten die Welt in ihre Gedichte hineingelassen. Freunde und Alltagsdinge kamen darin vor, und sie verblüfften den Leser mit einer Poesie, deren große Kunst in der scheinbaren Kunstlosigkeit der Alltagssprache bestand. Born hatte dieses poetische Flair mit nach Deutschland genommen und sich eine poetische Welt gebaut, in der, so schrieb er, „jeder jeder ist“. Als wenn das so einfach wäre! Wir sind ja nicht automatisch auf der besseren Seite, nur weil wir es wünschen. Deshalb fragen diese Gedichte auch nach den geschichtlichen Voraussetzungen unseres Denkens und Fühlens:
Wessen Vorstellung bin ich, wessen Veranstaltung?
Aber Born will gar nicht mehr wissen, ob die Geschichte nach Hegels Regie immer deutlicher Richtung Fortschritt und Vernunft läuft. Das glaubt einer wie Born, dem als Nachkriegskind ein Blindgänger ins Gesicht geknallt ist (die zwei Narben an der Stirn sieht man auf Porträtfotos von Born deutlich), ohnehin nicht so richtig. Einer wie Born, der als dreißigjähriger Werktätiger keinen Anschluss mehr an die parolenselige Entschlossenheit der Achtundsechziger gefunden hat, erkühnt sich vielmehr, die Errungenschaften der Zivilisation an ihrem utopischen Mehrwert zu messen:
Und als zum ersten Mal ein Motor entstand
und zum ersten Mal explodierte
war es da spät geworden?
So blöd kann die Wirklichkeit aussehen, wenn sie mit dem Maßband der Poesie vermessen wird. Aber welche Rolle spielt der Mensch, der einzelne, in dieser Geschichte, oder mit Born gefragt:
was nun mit du und ich?
Die Antwort kann nur ironisch ausfallen:
Verwandeln wir uns langsam in ein Portemonnaie
in einen Kosmos
den wir selbst erfunden haben?
Nicolas Borns Kosmos ist eine vieldimensionale Literatur, die Schüler und Nachahmer gefunden hat. Die Alltagslyrik der Siebziger und Achtziger Jahre ist ohne Das Auge des Entdeckers nicht denkbar. Eine Poesie, die so weit ausholend und in vertrackten, sich selbst einfangenden und ausschließenden Bildern („die Waffe fliegt in die Ecke – wer wer erreicht sie als erster, ich dich oder du mich“) spricht, hält den Leser in Atem. Wie aus dem Handgelenk scheinen diese Texte geschrieben zu sein, und tatsächlich war Nicolas Born ein intuitiver Autor. In seinem Nachlass, den die Berliner Akademie der Künste ordnet, findet sich Nicolas Borns schülerhafte Handschrift auf den Rückseiten von Rechnungen und den winzigen freien Feldern von Zigarettenpackungen.
Zwischen den schwebenden Alltagsnotizen, den Zeitgenossen abgelauschten Gesprächen leuchten immer wieder Sätze auf, die man an Wände sprühen könnte:
Kunst heißt das Leben mit Präzision verfehlen!
Das war Borns vertrackte, immer auf beunruhigende Weise pulsierende Poetik. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit darf sich von der Wirklichkeit selbst nicht berühren lassen. „Der Anblick der nassen Dächer trocknet schnell“, so lautet ein Bornscher Satz. Der Realität ist weniger zu trauen als dem subjektiven Blick auf sie.
Nicolas Born schrieb seine Gedichte in eine Kriegszeit hinein. Der Vietnamkrieg hatte 1971, als die Drucklegung der Gedichte anstand, die Nixon-Regierung zum Großfeind der westdeutschen Linken werden lassen. Born weiß das und er schreibt es hin:
Für jeden Atemzug von Mr. Nixon muß einer dran glauben.
Aber er weiß auch, dass er in Sicherheit ist und dass Gratismut ausschließlich für jene geistig paramilitarisierten Besserwisser infrage kommt, an denen es auch in unseren Tagen nicht mangelt:
Es ist doch viel los an einem Tag wie heute
wieder schwere Verluste auf beiden Seiten
mein Kopf der träumt wird nicht abgeschlagen
das ist der Vorteil dieser Gegend
Es ist ganz merkwürdig: Man liest diese fünfzig Jahre alten Gedichte und möchte sie eigentlich sofort und per Amt zur Pflichtlektüre für alljene beleidigten deutschen Literaten erheben, die gerade in selbstgefälligem Ohnmachtsgehabe erklären, sie wollen, können und dürfen jetzt keine Romane mehr schreiben, weil der Krieg ihnen die Aufmerksamkeit raubt. „Das Verschwinden aller im Tod eines einzelnen“ heißt ein Gedicht, in dem es sich einer zuhause gemütlich macht und dabei die Kriegsmeldungen im Radio hört:
und ich lag zugeklappt auf der Couch
während ein verbrecherischer Kommentar mich segnete
und meine Verbrecherohren spitzte.
Diese Gedichte werden nicht mehr auf dem Feldherrnhügel der moralischen Integrität geschrieben. Sie kennen die Realitäten, aber sie erkennen sie nicht an. „Das Wahnsystem Realität muss um seinen Alleinvertretungsanspruch gebracht werden“, schreibt Born im Nachwort zu seinen Gedichten. Und deshalb sucht er „im Innern der Gedichte“ jenen utopischen Glutkern, an dem sich der Traum von der fantastischen Gegenwelt entzündet:
Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
und alles zurück kriegen
und durch Das Leben gehen
durch schnell verfallende Bilder
das warst du.
Nicolas Born wollte, das schrieb er in seinen Nachbemerkungen, „schöne Gedichte schreiben“. Seine Gedichte gehören zum Schönsten, das in den Siebziger Jahren geschrieben wurde. Nichts Abgeklärtes ist in diesen Versen, stattdessen: eine schöne traurige Unruhe und das fast märchenhafte Verlangen nach einer Welt, in der das Wünschen hilft.
Ich wünsche ein Buch in das ihr alle vorn hineingehen und hinten herauskommen könnt.
Ein solches Buch ist Das Auge des Entdeckers. Als Nicolas Born Ende 1979 mit 41 Jahren an Krebs gestorben war, legten seine Berliner Künstlerfreunde ein Grabtuch auf seinen Sarg. In großen Lettern war ein Vers von Born in das Tuch eingewirkt:
Das Auge des Entdeckers sieht IHN, den Entdecker selbst.
Jeder ist dieser Entdecker, jeder könnte es sein, wenn er den Mut besitzt, sich selbst mit seinen „empfindlichen Armaturen“ zum „Unternehmer des Lebens“ zu machen.
Werner Ross: Leierspiel – west-östlich
Merkur, Heft 27, 1973
Roland Willareth: Jedes Wort ist eine Zärtlichkeit und eine zärtliche Berührung des Lebens
In: Arbeitskreis Linker Germanisten (Hg.): Neue deutsche Lyrik, 1977
Detlev Zeiler: Kunst heißt / das Leben mit Präzision verfehlen
Arbeitskreis Linker Germanisten (Hg.): Neue deutsche Lyrik, 1977
Ursula Krechel: Lesarten. Gedichte, Lieder, Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel
Luchterhand Verlag, 1982
Hans Kügler: Gleichzeitigkeit – Anmerkungen zum Zeitbewußtsein in einem Gedicht von Nicolas Born
Klaus Berg / Norbert Kruse (Hg.): Communicatio enim amicitia. Freundesgabe für Ulrich Hötzer. Beiträge zur Germanistik-Didaktik-Musikwissenschaft, 1983
Wolfgang Maier: Anlauf zum Glück, gekoppelt mit Tod
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.9.1972
Wolfgang Maier: Ein Lyriker, der nicht auf Misere abonniert ist
Berliner Morgenpost, 26.11.1972
Yaak Karsunke: Riskante Balance auf die Utopie zu
Frankfurter Rundschau, 9.10.1972
Yaak Karsunke: Keine Kassierer und alle drei Wünsche für alle. Prinzip Hoffnung im Gedicht: Nicolas Born
Kölner Stadt-Anzeiger, 12.5.1973
Heinrich Vormweg: Das Prinzip Hoffnung im Gedicht?
Süddeutsche Zeitung, 27.10.1972
auch in: Nürnberger Nachrichten, 17.11.1972
Roman Ritter: Das Auge des Entdeckers
Deutsche Volkszeitung, 30.11.1972
Harald Hartung: Lyrik der Postmoderne. Vier Beispiele zu einer Ästhetik der Oberfläche
Abhandlungen aus der Pädagogischen Hochschule Berlin. Hg. v. Walter Heistermann, Bd. 1, 1974
Hans-Jürgen Heise: Poesie für den Konsumenten
Die Welt, 11.1.1973
Hadayatullah Hübsch: Die Ahnung von einer Anderen Welt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.9.1975
N.N.: Public and private points
The Times Literary Supplement, 12.1.1973
Alfred Wolken: Rez. von Das Auge des Entdeckers
RIAS, 31.3.1973
Elisabeth Andres: Gedanken zur Lage der neuen deutschen Lyrik
Merkur, Heft 356, Januar 1978
Ich kenne Nicolas Born seit fünfzehn Jahren. KENNEN heißt: seine Sache kennenzulernen auf dem Grund einer verläßlichen und weiträumigen Freundschaft. Ihn selber zu kennen kann ich nicht behaupten, ich kann es wünschen. Vielleicht erkenne ich seine Freundlichkeit (er braucht sie mehr für andere als für sich selbst), das zunehmend Illusionslose seiner Optik, die Rücksichtslosigkeit seiner Selbstanschauung. Ich weiß vielleicht etwas von der Unabhängigkeit seines poetischen und analytischen Denkens. Mir ist seine kritische Fairneß bekannt, seine literarische Toleranz auch dort, wo die Sprache anderer ihm fremd wird, seine weltanschauliche Integrität und so weiter. Es ist nicht unwichtig, das zu sagen, weil die persönliche Weitergabe des Preises (gemeint ist der Rilke-Preis 1979) bedeutet: die Sache und den Menschen bejahen zu können.
Preise oder Ehrungen sind nicht so wichtig, und eine Feierstunde, kurios, aber üblich, bestätigt einmal mehr das Inflationäre der gegenwärtigen Kultur, ihren Organisations- und Podiumscharakter. Da wird ein Preis authentisch durch die Person. Als Ernst Meister an einem Herbstabend anrief und fragte, ob ich den Preis von ihm annehmen wolle, sagte ich augenblicklich zu. Eine Bedenkzeit war nicht nötig, weil ich für Ernst Meister keine Bedenkzeit brauchte.
Als der Gedichtband Das Auge des Entdeckers erschien, war das ein helles Signal für die siebziger Jahre. Die Offenheit und Vitalität, mit der sich ein Mensch hier in die Epoche einblendete, war und ist eine atmende, echte Antwort auf alles, was falsch, fatal und halbwertig ist: Antwort auf ideologische Begradigung, Erstarrung des Denkens, Zerstörung von Lebensgefühl; auf Verflachung, Mode und Macht in jeder Form; auf Larmoyanz und Stubenhockerei in der Defensive. Es war und ist eine souveräne Antwort auf die durchschlagende Gemeinheit öffentlicher und politischer Formeln. Schließlich handelt es sich um eine Sprache, in der die Überflutung durch neue amerikanische Poesie syntaktisch gestaltet ist.
Das Werk hier festzulegen oder auszuwalzen kann nicht von Interesse sein. Es scheint mir aber wichtig zu sagen, daß die Härte und Wahrhaftigkeit seines Romans DIE FÄLSCHUNG ein weiterer Schritt ist. Sich steigern zu können ist für den Schriftsteller nicht selbstverständlich. Die Folgerichtigkeit von Arbeit und Leben, das produktive Verwandeln von Erfahrung, ist heute immer mehr in Frage gestellt. Die intellektuellen Krisen und Widersprüche, die inneren Katastrophen sind zu vielfältig, zu unübersehbar geworden (und möglicherweise kaum noch auszugleichen), als daß hier ein Mensch, soweit er voraussieht, für sich und seine Arbeit garantieren kann. Es ist deshalb schön, zu sehen und zu sagen, daß der neue Roman seine beste Prosa ist.
Nicolas Born schreibt poetische, epische und essayistische Sprache. Mit Rilke verbindet ihn vermutlich nur, daß er am anderen Ende steht. Nach langer Überlegung, den Preis betreffend, kam es mir schließlich darauf an, den DICHTER zu finden, der deutlich am anderen Ende steht. Rilkes WELTINNENRAUM und der Glaube an ihn ist heute zerstört. Kein Mensch steht unangetastet in seiner Menschenwürde, kein denkender Mensch lebt ohne Verlustgeschäft. Protest und Verzweiflung, kein Fisch lebt weiterhin wie der Fisch im Wasser. Das ist eine öffentliche Tatsache, der sich kein Mensch entziehen kann. In dieser Verhaftung bestimmt er noch immer sich selbst. Nicolas Born steht, wie wenige, ruhelos und direkt in der Erkenntnis wachsender Vernichtung von Zukunft, WELT- UND MENSCHENINNENRAUM. Mit allem, was er an kritischer Energie, an Lebendigkeit und offener Erfahrung verkörpert, steht er dagegen. Seine Wunschkraft ist hell, sein Widerstand genau, seine Zeit- und Gesellschaftskritik nicht pauschal, sondern gründlich. Am kollektiven und individuellen Rechthaben nimmt er nicht teil – er stellt sich dagegen mit einer ihm eigenen, konkreten, ganz gegenwärtigen Phantasie. Von Ausweg oder Tröstung macht er keinen Gebrauch. Seine Sprache schreibt die Wunden nicht weg, sondern legt sie bloß. Es versteckt sich in ihr kein Bemühen um Erleichterung von der Erkenntnis. Er ist ein Lyriker, der das spezifisch POETISCHE lyrischer Sprache bezweifelt, jedenfalls nur sehr sparsam gebraucht. Ich habe bemerkt, daß Klassizismus sprachlicher Form ihm Unbehagen bereiten kann. Für ein Unding wie KUNST AN SICH hat er keine Geduld.
Wir sind in London und gehen durch die Tate Gallery. Vor der Grafik William Blakes wird er unruhig, die museale Ordnung scheint ihn zu ermüden. Auf den Straßen danach ist er wieder zu Hause. In einer Kneipe fühlt er sich wieder frei.
Von Anfang an hat ein Verlangen nach unanfechtbarem Leben in der Zeit seine Sprache menschenmöglich gemacht. MENSCHENMÖGLICH heißt: das Dasein der vielen im eigenen zu erkennen, ihm Sprache, Gerechtigkeit, Utopie zu geben. Eine Zeile im Auge des Entdeckers heißt:
Jedes Wort ist eine Tätlichkeit und eine zärtliche
Berührung des Lebens.
Die zärtliche Berührung des Lebens ist selten, die Tätlichkeit der Sätze unversöhnlich geworden. Was die Sprache an Hoffnung aufgeben muß, das gewinnt sie an Schärfe und Belastbarkeit.
Restlos ging das Geheimnis der Wesen auf in Beton.
Resignation wäre Trost oder Einverständnis. Es gibt keine Resignation, weil es Sprache gibt.
Christoph Meckel, aus Rilke-Preis 1979 an Nicolas Born, Buchhändler-Vereinigung, 1980
Lesen als Existenzform. Diese unwiederholbaren, einzigartigen Momente, in denen du allein zwischen all den überflüssigen Dingen sitzt und ein Buch liest: Bücher sind geschichtete Zeit. Sind die Gedächtnisse einer Stadt, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Um so enttäuschter wird der Berlin-Reisende sein, der in dieser Stadt nach Nicolas Born sucht und in den Buchhandlungen kein einziges Exemplar seiner Bücher mehr vorfindet. Selbst sein letztes Buch von 1980 Die Welt der Maschine, in dem Rolf Haufs die Aufsätze und Reden von Born sammelte, ist vergriffen und nur in Antiquariaten zu entdecken. Für einen Autor, der in den siebziger Jahren einer der beliebtesten und wirkungsvollsten Schriftsteller der „jungen Generation“ war und der heute erst dreiundsechzig Jahre alt wäre, eine Form der Ignoranz, die für das heutige Konsumverhalten symptomatisch ist.
„Als Kinder hatten wir einen radikalen und absoluten Anspruch an die Welt: den Anspruch auf Glück…“, schrieb Born in einem autobiographischen Text, der ohne Datierung ist. Dieser Anspruch sollte das ganze Leben lang gelten. Aber nicht – wie Born meinte –, damit uns bewußt wird, „was wir alles entbehren und um was wir alles betrogen sind“, sondern damit uns bewußt wird, über wieviel Glück wir in unserem Leben schon verfügen, daß wir dieses Glück beschützen und vermehren sollten. Um was es Nicolas Born in besonderem Maße ging, war der Nutzen der eigenen Phantasie, wenn der Schreibende seine Träume, Visionen und Wünsche artikuliert. Die Texte des 1937 in Duisburg geborenen Born hatten immer das Gütesiegel des Authentischen, des Echten, Verwurzelten: Sie waren keine Schreibtischliteratur, sondern zeugten von Lebensnähe. Also keine „Ready-mades“, irgendwo vorgefunden und aufgelesen, keine Blackbox-Welt, sondern Texte, die das Produkt eigener Erfahrungen und Wahrnehmungen waren. Besonders dort, wo es um die Verflechtung politischer Ansichten und gesellschaftlicher Bedürfnisse mit lyrischen oder poetischen Formulierungen ging.
In meinen vagen Erinnerungen sehe ich ihn noch immer als engagierten Einzelkämpfer, der immer das Beste wollte. Wo andere das Pathos brauchten, reichten ihm einfache Worte und Gesten. Der Einsatz des Schreckens war ihm zutiefst zuwider. Was uns seinerzeit immer wieder beeindruckte, war die Aufrichtigkeit seiner Worte. Die Redlichkeit seiner Absichten. Es kam ihm auf jede Stimme an, egal, was er am Ende dabei für sich gewonnen hatte. Und egal, wie groß diese Menschengemeinde auch sein mochte, für die er zu kämpfen glaubte. Er war einer jener Schriftsteller, die – wie es Peter Kurzeck einmal selbst beschrieb – „beim Gehen an die Ferne glauben… zuständig für die Welt und daß uns davon nichts verloren geht“. Also einer, der sich wirklich verantwortlich fühlte, der diese Welt mit eigenen Mitteln zu definieren vermochte und mit der eigenen Subjektivität darstellen konnte.
Berlin im November. Das sind die Tage der frühen Dämmerung, in denen ich durch die hellerleuchteten Fenster des Zwiebelfisch starre und mich an die entlegensten Orte erinnere. Die Körper der Schultheiß-Trinker bewegen sich hin und her, bis die Köpfe zu denken beginnen und das Adrenalin durch die Körper jagt. November heißt, daß die Neonazis durch Berlin marschieren. Ein Spätherbst wie aus dem Kinderbuch. Die Nazis demonstrieren für die Meinungsfreiheit – und wir demonstrieren am 9. November gegen die Nazis, zweihunderttausend Menschen vor dem Brandenburger Tor zeigen das Miteinander von Gleichgesinnten. Was wäre aus Nicolas Born geworden, wenn er von seiner Krankheit wieder genesen und zwischen Mauerfall und Kosovo, Tschetschenien und Palästinenserkämpfern, zwischen Hauptstadt Berlin und der Idylle Lüchow-Dannenberg weiter seine Bücher geschrieben hätte? Nicht auszudenken, was wir durch seinen Tod verloren haben! Was für einen Verlust an guten und wichtigen Gedanken wir dadurch erlitten. Alles und jedes war für ihn eine Herzenssache. Und daran denke ich jetzt, während ich durch die großen beleuchteten Fenster des Zwiebelfisch blicke und mich daran erinnere, wie uns die Menscheitsträume aus dem Blickfeld gerieten. „Seitdem du tot bist, werde ich deutlich als…“, schrieb Günter Grass 1980 in seinen Kopfgeburten.
Es fällt schwer, dich zu überleben.
Seine literarischen Anfänge erlebte Born als Fremder mit einem ganz besonderen Blick auf die Welt. Ein Hilfe suchender, erdabgewandter, unbarmherziger Blick, den ihm keiner verderben konnte. Am 4. November 1963 kam er auf Einladung des Literarischen Colloquiums nach Berlin, um bei dem halbjährlichen Seminar von Walter Höllerer mitzuarbeiten. Ein Fremder, der das „Prosaschreiben“ lernen wollte, wie Piwitt, Fichte und Stiller. Damals noch in der Carmerstraße, wo später Wolfgang Maier und Gerald Bisinger residierten: Nicht weit zur Mensa und zum Zwiebelfisch. Born ein fünfundzwanzigjähriger Chemograph, der sich von seiner Druckerei für dieses „Schreiben-Lernen“ einen Urlaub geben ließ. Schreiben als gesellschaftlich verantwortliches Handeln, die Poesie, derentwegen er in diese Stadt kam, sich 1965 von Frau und Kind trennte, um das „falsche Leben“ durch ein „richtiges“ zu ersetzen, „als Lebenshaltung“. Die Literatur als Verweigerung, als autobiographisches Anti-Produkt, das er der Konsumgesellschaft entgegenstellte. Aber Schreiben heißt zweifeln, heißt den Kopf beugen, sondieren, sortieren, heißt Gedächtnisarbeit. Und Erinnern heißt Schwerstarbeit, weil du das eigene Ich in einen Weltmaßstab zu pressen versuchst: Born kämpfte mit seinen marxistischen Freunden gegen die Industrie- und Kapitalkonzerne, unterschrieb „tausend Resolutionen, Aufrufe und offene Briefe“ und formulierte „gelegentlich Agitproplyrik“, die er eigentlich aber für nutzlos hielt, denn er war ein Utopist und kein Marxist.
„Aber so entschieden die Verse, so verhalten ihr Autor. Born hatte proletarisches Dasein zu genau erfahren, bürgerliche Bildung zu mühsam erlernen müssen, als daß er dem Sturm der meist jüngeren Studenten gegen das Establishment vorbehaltlos hätte zustimmen können“, schreibt Rudolf Stegers 1988 zum fünfzigsten Geburtstag Borns im Literaturmagazin Nr. 21 des Rowohlt-Verlages. Ein halbjähriges Magazin, das vorübergehend auch von Nicolas Born herausgegeben wurde. In dieser Ausgabe wurden Gedenkblätter für den am 7. Dezember 1979 an Krebs gestorbenen Born veröffentlicht: hier meldeten sich die brüderlichen Weggefährten, Freunde und Förderer wie Wellershoff, Buch und Delius, Grass, Handke, Haufs und Jentzsch, Kunert, Ledig-Rowohlt, Lettau, Schädlich und Stegers. Betroffene allesamt, Flipperkumpane vom Bundeseck und dem Zwiebelfisch, die hier des mit einundvierzig Jahren verstorbenen Autors gedenken: „Vor den Erinnerungen und Anekdoten ist der Verlust zu beschreiben. Wenn der Name Born fällt oder der Name Nicolas, habe ich sofort seine Stimme im Ohr, sein Lachen, seinen Zorn, und seine Sätze stellen sich wieder ein. Wenn sein Name fällt, denke ich, was uns und was der Literatur heute fehlt. Ich wüßte keinen Freund, der so vielen ein Freund war“, klagt Friedrich Christian Delius.
Borns starke Stimme fehlt überfall, mehr denn je.
Das ist so geblieben.
Während es von Nicolas Born in Berlin so gut wie kein einziges Buch zu kaufen gibt, hat sich dagegen die Auflage des jüngsten Grass-Buchs Mein Jahrhundert seit der Bekanntgabe des Nobelpreises auf 475.000 Exemplare verdreifacht. Die „zusätzliche Wertschöpfung“ durch den Nobelpreis beziffert sein Göttinger Verleger – nach einer dpa-Meldung – auf zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen Mark.
Zurück zu Born. „Der ruhige Born. Der gesetzte Born. Der Bauer. Der Stille“, so beschreibt ihn Grass:
… ich will dich mitnehmen, Nicolas, in Orwells Jahrzehnt.
Er aber hat uns zurückgelassen in der Angstlust des eigenen Lebens. In diesem Zeitalter des Zappens, der Nachahmungen und der Surrogate, der verzweifelten Echtheitssuche. Was wir benötigen, ist sein authentisches Ich. Er war der Wegbereiter. Der Bedachtsame. Der Genaue. Der Zuverlässige, wo das Werk und die Person übereinstimmten. Er war der Fremde. Der Einzelne. Der Ausgeschlossene. Er war der Stellvertreter für alles Unterlassene, für alles Gescheiterte. Er verlangte nach einem Gewissen, das Zeugnis ablegte, dem die metaphysische Verantwortung des Schreibens allein nicht genügte. Er war eine Instanz, die zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte, die zwischen moralischer und politischer Pflicht einen Weg suchte.
Aber zurück zu den Anfängen. Sein erster Roman Der Zweite Tag erschien 1965 bei Kiepenheuer & Witsch, lektoriert von Dieter Wellershoff, der seinerzeit auch Rolf Dieter Brinkmann entdeckte. Das war der Beginn der „Kölner Schule“, die den „Neuen Realismus“ propagierte. Eine Wahrnehmungsform und Darstellungsweise, mit der sich Born in die außerparlamentarische Opposition Berlins begab, die gegen Axel Springer, den Schah-Besuch und Vietnam demonstrierte. Die Intensität einer Abwehrhaltung füllte ihn Tag und Nacht aus: Ein verantwortlicher Staatsbürger, der sich im Widerstand befand und diesen in einer obsessiven Weise in Literatur umsetzte. Born wurde der Allzweck-Linke im Berliner poetischen Niemandsland, der Allzweck-Freund aus dem Kohlenpott, der Verbündete, der immer Stellung bezog. Eine handfeste, aufrechte Erscheinung, die im Notfall auch boxen konnte. Born war der melancholische, aufsässige Rebell, den man immer vorausschickte, in allen Kneipen benötigte, bei allen Diskussionen um seine Meinung bat. Und trotzdem: Bei aller Zuneigung, mit der man Born beglückte, blieb immer die Distanz des Besseren, des Stärkeren, des Begabteren, der sich zum Ärger der Genossen aus dem „Wahnsystem Realität“ herauslösen, der totalitären Wirklichkeit entfliehen wollte. Der dem Meridian seiner Poesie folgte.
1965 bekam Nicolas Born den Förderpreis für Literatur von NordrheinWestfalen, den Brinkmann und ich ein Jahr zuvor erhalten hatten: Brinkmann für seine Prosa und ich für meine Gedichte. Und als ich, 1967 aus dem Rheinland kommend, nach Berlin übersiedelte, traf ich ihn: Im Bundeseck in Friedenau, im Buchhändlerkeller, im Zwiebelfisch, ein Schultheiß-Trinker wie ich, der die politisierten Literaten mit Argwohn beobachtete. Eines aber ist gewiß: Er war mir von allen am nächsten. Heutzutage sind die zustimmenden oder ablehnenden Stimmen der damaligen IG Druck und Papier-Genossen längst in Vergessenheit geraten.
1969/70 wird Nicolas Born vom Writers Workshop der Universität nach Dowa City, einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA eingeladen. Für ihn eine glückliche und folgenreiche Fügung, die ihn mit den amerikanischen Dichtern Robert Creeley, Allen Ginsberg, Frank O’Hara und Kenneth Koch bekannt macht, deren Gedichte er übersetzte. Es war eine Reise ins amerikanische Trauma, das ihn vorübergehend aus dem sozial-demokratischen Berlin-Kessel befreite und mit der rigorosen Radikalität der jungen amerikanischen Dichtung konfrontierte.
Das alles sind die längst fragmentierten Erinnerungen eines Siebzigjährigen. Eine Art Feldforschung in eigener Sache. Subjektive Selbstauskünfte, von der Zeit versehrt und verzerrt. Eine quasi auratische Sphäre des Wiederbelebens. Jetzt im November 2000, im Monat der herabfallenden Blätter. Im Monat der Büchernarren, Eigenbrötler, Müßiggänger und Flaneure. Wie ging es weiter? Damals begann die Zeit, in der die progressiven künstlerischen Denk- und Darstellungstypen den marxistischen und sozialistischen Kollegen kompromißlos gegenübersaßen und die Berliner Literaturszene langsam in zwei Hälften auseinanderbrach. Wir lasen Burroughs, Kerouac, Ginsberg und Ballard. On the Road von Kerouac und Naked Lunch von Burroughs waren uns wichtiger als die chinesische Kulturrevolution. 1967 kam das erste Buch mit Gedichten von Nicolas Born heraus: Marktlage. Ein kompakter Autor, dem die Luft nicht ausging, der gut zu Fuß war, einssechsundachtzig groß, Zigarettenraucher, Kaffeetrinker, mit einem sympathischen Gesicht, rücksichtslos höflich, der seinen Wert eine Spur zu genau taxierte – daran erinnere ich mich noch heute. 1969 gab ich unter dem Titel Godzilla im Kölner Hake-Verlag Gedichte von Brinkmann heraus. Es war das gleiche Jahr, in dem die von Brinkmann und Rygulla zusammengestellte Materialsammlung ACID, die die amerikanische Subkultur in Deutschland bekannt machte, im März-Verlag erschien.
Literatur ist weder Abbild noch Spiegel des Lebens, sondern das Leben selbst: zumindest für die Schreibenden. Und kaum schreibst du die Dinge auf, ist ihre ganze Leuchtkraft dahin. Über Jahre hinweg den Bilderfundus geplündert, ist kaum noch etwas vorrätig. Was geblieben ist, ist der unwiderstehliche Drang zurückzublicken, etwas festzuhalten. Also laß den Blick dahinwandern, davoneilen, abenteuernd hinwegschweifen über das Ufer des Lietzensees, bis du das alte Bundeseck am Friedrich-Wilhelm-Platz erreichst. Dort saßen sie also: Roehler und Bisinger, Ute Erb und Wolfgang Maier, Grass, Johnson und Fuchs, Schnell, Jonke, Artmann, Meckel und Born, Buch und Haufs, Lettau und Schneider. Und zwischen den Stunden „die pendelnden Klotüren, die den Geruch süßlicher Pisse hereinfächern / alle schönen solidarischen Füße unterm Tisch“, notierte Born für das Gedicht „Wahre Begebenheit“, das er mir für eine Anthologie schenkte:
Und wieder sitze ich im Suff am frühen Morgen
wie in der wahren Begebenheit
bei Kerzenlicht und einer Tasse Kaffee
und greife als wäre ich schon ,der neue Mensch‘ nach der alten Graubrotschnitte.
Der Schriftsteller als Mentor des Volkes – das zündete auch in der oppositionellen Bohème von Berlin. Und das Bundeseck als „Dienstleistungszentrum“, in dem die komprimierten Erregungszustände mit einem Glas Bier beruhigt wurden. Das waren sie also: die Schreiberlinge, joviale Drahtzieher, Taugenichtse, Lebenskünstler, Glaubensgenossen. Nicolas Born war inzwischen wieder zurückgekehrt, hatte zum zweiten Mal geheiratet und wohnte mit Frau und Kind in der Dickhardtstraße 64 in Friedenau, wo er „die wohl glücklichsten drei oder vier Jahre seines Lebens verbrachte“, vermerkte Stegers. Born, der Autodidakt, der Neuankömmling aus dem Westen, die Doppelbegabung für Lyrik und Prosa gleichermaßen, hatte Fuß gefaßt, wollte Stellung beziehen, „Rede und Antwort geben“. Und wie schnell er zwischen Gefühlsausbruch und Artistik seinen Stil fand, seine für ihn typische Balance entwickelte! Während er 1970 seinen zweiten Gedichtband Wo mir der Kopf steht veröffentlichte, bereitete ich die Konzeptionelle Anthologie P.C.A. vor, die 1971 der DuMont Verlag in Köln herausbrachte. 1972 erhielt Nicolas Born das Villa Massimo-Stipendium für Rom. Das war die Zeit, in der auch Rolf Dieter Brinkmann in der Villa Massimo war und dort sein Rom, Blicke schrieb, das bei Rowohlt in Hamburg erschien. In diesem Jahr wurde Born auch der Förderpreis für Literatur von Berlin verliehen, und er kaufte sich mit seiner Frau Irmgard Masuhr ein Bauernhaus in Langendorf im Hannoverschen Wendland und verließ Berlin. 1973 veröffentlichte der Luchterhand-Verlag mein Prosabuch Lecki oder der Krieg ist härter geworden. Im Jahr 1975 lasen wir alle Westwärts 1 & 2, das die besten Gedichte von Brinkmann enthielt und von Jürgen Manthey im Rowohlt-Verlag herausgegeben wurde.
Nicolas Born schrieb nicht für hartgesottene Leute, die eine aggressive Einstellung zum Leben, zur Welt hatten. Brinkmann dagegen war der weltanschauliche Kampf von Born gleichgültig. Das Erlebte und Erlittene von Brinkmann bezog sich ausschließlich auf seine eigene Person, wurde nie gesellschaftskritisch verallgemeinert. Alles blieb allein seine Sache, etwas, womit wir uns damals nicht solidarisierten: „Er wollte weder einer Klasse noch einer Schicht noch einer Gruppe angehören“, schrieb Born über seinen „unversöhnlichen Freund“, der fünfunddreißigjährig in London „auf die dümmste und banalste Art totgefahren“ wurde. Aber eines hatten sie gemeinsam: Den Anspruch auf Klarheit und Genauigkeit beim Schreiben, die „verzweifelte und oft auch verrannte Art nach Wahrheit, Klarheit und Sinn“ zu suchen. Als 1976 der zweite Roman von Born Die erdabgewandte Seite der Geschichte bei Rowohlt erschien, war er inzwischen Mitherausgeber des dort auch erscheinenden Literaturmagazins, Mitglied der Jury des Petrarca-Preises und Gastdozent der Universität Essen. Die letzten Bücher von Brinkmann und Born stellten im deutschen Herbst so etwas wie ein neues literarisches Wahrnehmungsprogramm dar, das sich von den älteren Autoren wie Böll, Eich, Koeppen und Grass, Lenz und Walser erheblich unterschied und als die „Neue Subjektivität“ bezeichnet wurde. Ein subjektiv gefärbter Trend, der bei den politischen Kollegen der achtundsechziger Illusion keinen Beifall erntete und in der Berliner Szene heftigen Widerstand hervorrief.
Das alles sind Spuren, die sich verlieren. Wege, die du mit der Wünschelrute zurücktastest. Das Gedächtnis setzt aus. Die Erkundung stockt. Wenn du nach den Anfängen suchst, gehst du, vom Zwiebelfisch kommend, am Haus von George Grosz vorbei, die Carmerstraße entlang und bis zum Haus Nr. 4. Hier stand das alte Gebäude des Literarischen Colloquiums, in dem Nicolas Born das Schreiben erlernen wollte. Seine Lehrer waren Grass und Peter Weiss, Rühmkorf, Mayer und Bloch. Im Haus Nr. 3 wohnte einst Walter Benjamin und im Haus Nr. 1 befindet sich heute der Buchhändlerkeller von K.P. Herbach.
Es ist inzwischen Freitag, der 10. November. Wer das heutige Literarische Colloquium kennenlernen will, fährt mit der S7 vom Bahnhof Zoo nach Wannsee, Richtung Potsdam. Im Blau des Himmels vereinzelte Flugzeuge mit querverlaufenden Kondensstreifen. Die Sommerstühle der Schrebergärten sind winterfest verpackt. Birken, Ahorn und Eichen. Das Gebäude des heutigen LCB, Am Sandwerder Nr. 5, ist dunkel und muffig. Der Blick über den Wannsee wie viele Jahre zuvor, als ich mit Maier und Bisinger hier saß. Von einem Nachruhm der beiden Toten kann keine Rede sein. Erinnern heißt anfangen, Lesen heißt wissen wollen, aber Vergessen will gelernt sein. Du gehst bis zur Ampel, überquerst bei Loretta die Königstraße und gehst vor der S-Bahn-Brücke in die Bismarckstraße. Das hast du oft getan: das Grab von Kleist besucht. An Bootshäusern inmitten einer kleinen Parkanlage vorbei. Ein Hochkantwürfel aus Granit mit seinen Lebensdaten. NUN. O UNSTERBLICHKEIT BIST DU GANZ MEIN. Rote und weiße Rosen darauf. Der Efeu mit goldbraunen Blättern der daneben stehenden Eiche bedeckt. Sich hier an Nicolas Born zu erinnern, fällt nicht schwer. Du gehst die vierundvierzig Stufen hinab zum See, setzt dich auf eine der beiden Bänke und blickst auf das schwarze herantreibende Wasser mit den vielen Enten darin. Der Erdboden ist frisch gerecht. Aus dem Hintergrund hörst du die rangierenden S-Bahn-Züge.
Peter Handke schildert Nicolas Born in den von ihm herausgegebenen Gedichten in der Bibliothek Suhrkamp 1990 als „einen jungen Mann der zweiten Hälfte der sechziger Jahre“, der kein Einzelgänger mehr sein will und endlich mit der Menge gemeinsam aufzubrechen gedenkt:
Wir gehen zusammen los
wir kommen zusammen an.
Ein Vereinzelter, der nicht mehr allein sein will und von seiner eigenen Individualität erschöpft ist, sehnt sich nach dem gemeinsamen Aufbruch. Nach dem kollektiven Wir. Er wußte Bescheid. Wünschte sich Übereinstimmungen, war sich selbst nicht genug und brauchte seine Kumpane, die mitmachten, mitdachten. Ich verweigerte mich damals der allgemeinen Politisierung und blieb der Außenstehende, der die individuelle Phantasie des Einzelnen höher bewertete als die nicht lange andauernde Wir-Euphorie.
Heute, am Samstag, den 18. November, lese ich, als Beifahrer auf dem Weg nach Neuruppin, noch einmal die Gedichte von Born, die ich alle schon kannte. Ein „gemeinschaftssehnsüchtiger Mann“, schreibt Handke, ein „Gedichtemann, der durch die Weltgeschichte geht“. Und zwar mit dem Auge des Entdeckers, der seine „große Zugehörigkeit“ gefunden hatte, von der er am Ende genauso enttäuscht werden sollte wie von seiner eigenen Identität: „Lieber keine Identität. Lieber zusammengesetzt sich fühlen aus lauter sich gegenseitig abstoßenden Fremdorganen“, vermerkte er 1978 in einem Brief an Günter Kunert.
November ist der Monat der Verfallserscheinungen. In dem Geschichten aufeinanderprallen, in dem viel passiert: Die lange Nacht der off-Kultur. Bruno Ganz als Faust. Die AIDS-Gala. Das Tunnel-Inferno in Kaprun. Die Leitkultur. Die Abschaffung des Asylrechts. Der Tod von Karl Markus Michel. Das alles ist Erzählstoff genug, und Born würde aus diesem „Sperrmüll im Kopf“ ein Gedicht schreiben. Er hat die Literatur – ähnlich wie Walter Benjamin – zwar als „Artikulationshilfe für Unterdrückte“ schlechthin gesehen, weigerte sich aber, die revolutionäre Botschaft in eine vermeintliche Proleten-Sprache zu verpacken. Auf alle Ästhetik zu verzichten und sich in der Sprache der Bild-Zeitung beim Arbeiter anzubiedern! Für ihn zählten die utopischen Bilder einer „Gegenrealität“, mit denen er sich der totalen Politisierung immer wieder entzog. Was er sich wünschte, war jene Form von Offenheit, die ihn „aus der Abhängigkeit von der Sprache befreite“ und einen freien Blick ermöglichte. Einen unverstellten Blick auf die Dinge. Ohne Vorherbestimmung einer Ideologie. An die uneingeschränkte Beweglichkeit der Gedanken glaubend. Wonach sich Born sehnte, war die „brüderliche Hand / gespannt um den Globus… zusammen halten wir uns / eine Weile / über Wasser“. Das Ziel war, gemeinsam von einem Moment zum anderen zu leben, zu überleben.
Es ist Sonntag, der 19. November, 10 Uhr vormittags. Ich fahre, vom Lentz kommend, bis zum Bahnhof Zoo und von dort mit der U-Bahn bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz. Es ist, als würdest du den Flügelschlag der vergangenen Zeit vernehmen. Oder anders: als würdest du durch die Begrenzung der Gegenwart hindurchsehen und die siebziger Jahre erblicken. Die Häuser stehen reglos. Erstarrt. Unverändert. Als wäre nichts geschehen. Die Erinnerungen drängen aus allen Richtungen. Du steigst die U-Bahn-Treppe in den himmelblauen Herbsttag empor und stehst vor dem Eckhaus des Roten Kreuzes, in dem einmal unser Bundeseck war. Müßig, nach den Namen zu suchen, du kennst sie alle: Born und Grass, Johnson, Loschütz, Maier und Bisinger, Roehler und Erb, Jonke, Herbach und Buch, Meckel, Haufs und Lettau, Rühm und Wiener. Müßig, in die Görrestraße zu gehen und nach dem alten Buchhändlerkeller von K.P. Herbach zu suchen. Müßig, in die Wilhelmshöher Straße zu gehen und nach meiner damaligen Wohnung zu sehen. Ich stehe regungslos in meiner eigenen Erinnerung und höre das Sonntagsgeläut der Klinkerkirche Zum guten Hirten. Es ist, als wäre ich allein zurückgeblieben, als müßte ich diese Zeit ein zweites Mal erleben. Und Born? „Mitten im Satz bricht er ab und geht davon“, schrieb Grass.
Man möchte seine Rückkehr einklagen und dem Tod, diesem Macher, die Fälschung nachweisen.
Ein Autor, der mit tausend Augen seine alte Wahlheimat betritt. Ein vertrautes Terrain. Ich gehe die Bundesallee hinauf, am Haus Nr. 79 vorbei, in dem einmal Tucholsky wohnte, überquere die Fahrbahn und schwenke am Walter-Schreiber-Platz links in die Rheinstraße ein. In der Nr. 47 habe ich einmal gewohnt. Ein Hinterhof-Quartier im 4. Stock, in dem zuvor Gerald Bisinger und Klaus Stiller wohnten. Der Weg wird zum Erlebnisspaziergang! Zur Hommage an Nicolas Born. Ich gehe in die Dickhardtstraße hinein, an dem Haus des früheren Luchterhand-Lektorats vorbei, über die Saarstraße hinweg bis ich rechts vor dem Haus Nr. 47 stehe, in dem damals Born und Buch mit ihren Frauen wohnten. Und plötzlich werde ich unsicher, ob es nicht Nr. 48 oder 44 war: Vier alte, sich ähnelnde Häuser mit Balkons. Auf allen könnte er gesessen haben, Nicolas, Sonntags zum Frühstück. Und hier fandest du den Sommer, der niemals vorüberging.
„Alle Worte der Trauer scheinen unangemessen, richtiger die zornigen und bedrückten. Daß wir Nicolas Born verloren haben, macht uns hilfloser in einer Welt, die sich ,selbst nicht weiß‘, in der wir ziemlich allein sind mit unseren sicheren Befürchtungen und trostlosen Einsichten, immer mehr allein, je weiter das allgemeine Unheil fortschreitet“, heißt es im Nachruf von Günter Kunert, der im Gedenkbuch für Nicolas Born abgedruckt ist: ein von Christiane Beyer und Axel Kahrs herausgegebenes Buch, das zwanzig Jahre nach dem Tod von Born mit dem Titel Der Landvermesser 1999 im Verlag zu Klampen in Lüneburg veröffentlicht wurde. Darin ein Foto von Isolde Ohlbaum, das einen lächelnden Born zeigt. Für die meisten eine Überraschung, denn selten sah man diesen „unerbittlich“ freundlichen Menschen mit einem lachenden Gesicht. Born war aus dem Ruhrgebiet „getürmt“. Unzufrieden, verbittert. Ein „Lebensstatist“, der rigoros aufrichtig, radikal lebensfähig und in brüderlicher Feindlichkeit die Flucht ergriff. Oder genauer: verjagt wurde. Dies alles verebbt. Genug des Lobes, er würde sich dagegen zur Wehr setzen.
Friedenau ist entleert, hat seine Literaten verloren. Und wo Leere herrscht, braucht man die Projektionen. Die Fälschungen. Und darauf setzt Berlin: es weiß die Leere zu füllen. Auch wenn es Kulissen sind wie die Neubaublöcke. Oder die Maus-Kultur der poppigen Erstschreiber. Aber wer Berlin mit dem 100er Bus in zwanzig Minuten durchquert, will keine Bücher lesen, keine Spuren suchen. Und trotzdem: Es wird Ausnahmen geben, literarische Querdenker und Widerstandskämpfer, die in dieser Stadt nach den Büchern von Born suchen, die längst vergriffen sind.
1976 erschien der zweite Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte im Rowohlt-Verlag. Der Ich-Erzähler erzählt darin eine Geschichte, die in Berlin und anderswo spielt und dessen letzte Zuflucht die Beschreibung seiner Geschichte ist. Je größer seine Verzweiflung, desto größer seine Beschreibungswut. Und Lasski war sein Freund, der die Vernichtung des Autors als einziger Augenzeuge miterlebte:
Es tat überhaupt nicht weh. Es war wie im Traum, tot zu sein… Es war nichts mehr nötig. Ich sah mich vollkommen stumpf und zufrieden… aus meinem Kopf herausschauen… Das könnte ein Ende sein, dachte ich nur.
Wie leichtfertig war es, schon damals seinen eigenen Tod zu beschreiben. Ihn vorauszuahnen. „Wie leichtfertig war es zu leben… und er brauchte eine Menge Gutmütigkeit, um sich dabei zuzusehen“, heißt es auf der ersten Seite seines Buches. Es war das gleiche Jahr, in dem Nicolas Born den Brand seines 1972 gekauften Bauernhauses in Langendorf im Hannoverschen Wendland verkraften mußte.
Inzwischen war er Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften. 1977 erhielt er den Literaturpreis der Hansestadt Bremen und wurde Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Schließlich auch Mitglied des PEN. Das waren alles verdiente, schnell aufeinander folgende Honorierungen seiner literarischen Arbeiten. Born war kein Skandal-Event-Erzeuger wie Brinkmann. Kein Tabuverletzer. Eher der hochtalentierte Seiteneinsteiger, der plötzlich seine Ernte einfuhr, die er gesät hatte. Die sein eigen war. Es war eine Ernte der Abschiede. Und dabei war er sich nicht einmal sicher, ob „Abschiede überhaupt gebraucht werden“. Also „auf Wiedersehen Piwitt in Rom… auf Wiedersehen Günter Grass… auf Wiedersehen Onkel Heinrich… auf Wiedersehen Mutter“. Den geographischen Ort seiner Sehnsucht kennen wir noch lange nicht. Denn schöner als alle Abschiede erschien ihm die Vorstellung „einfach wegzugehen / und einfach wiederzukommen“. Und irgendwo dazwischen lebte er in seinen Gedichten. Von der Wirklichkeit leben und mit der Wirklichkeit konkurrieren, ergibt keine idyllische Bleibe. Auch wenn darin die „kleinen Sonnen deiner Demokratie leuchteten“. Ein Gedicht ist für Born keine fragile metaphorische Abbildung, eher ein realer Zustandsbericht der äußeren Welt und seiner eigenen persönlichen Befindlichkeit.
Berlin in der Novemberzeit. In den Morgenstunden im Lentz, Mittags um den Lietzensee und die Dämmerstunde im Zwiebelfisch. „Und solange das Buch noch nicht fertig ist, kann mir gar nichts passieren“, frohlockt Peter Kurzeck, der seit Oktober 2000 als siebenundzwanzigster Stadtschreiber in Bergen-Enkheim wohnt. Ein Förderpreis, den Nicolas Born im Jahre 1978 als fünfter, nach Koeppen, Krolow, Rühmkorf und Härtling, erhielt. Eine Auszeichnung, die Born nach seiner zehnwöchigen Reise nach Beirut nur noch phasenweise für sich in Anspruch nehmen konnte. Die Schlüsselübergabe erfolgte am 1. September und die dazugehörende Festrede hielt Martin Walser. Da kämpfte einer um sein Königreich, aber dieses Königreich war schon verloren. War dem unbarmherzigen Prinzip der Realität verfallen und leitete eine endlose Kette neuer Zerstörungen und neuer endgültiger Abschiede ein. Born hatte Beirut, das er aus seinen jungen Jahren schon kannte, als „Journalist“ besucht. Ein engagierter Autor war als Journalist getarnt nach Beirut gekommen, um dort den libanesischen Bürgerkrieg zu beobachten. Das war die Aneignung eines Stoffes, den er für seinen nächsten Roman Die Fälschung verwenden wollte. Ein Erfahrungsstoff, der ihn aber lebensgefährlich erschöpfte und bei weitem seine Kräfte überstieg: „Es war, als hätte der Tod von ihm Besitz ergriffen“, registrierte Hans Christoph Buch in einer späteren Kritik des Romans.
Etwas war passiert, womit Born vielleicht nicht gerechnet hatte: daß sein Ich-Erzähler, der Reporter Laschen, der hier stellvertretend für Born die tägliche Metzelei zwischen christlichen Milizen, Palästinensern und Moslimen erlebt, diesen grauenhaften Todesbildern eines schrecklichen Vernichtungskrieges nicht mehr gewachsen war. Daß weder Laschen noch Born diese unverfälschte, nackte Wirklichkeit nicht mehr „in eine gute allgemeine Verträglichkeit“ eines „ Weltunterhaltungsprogramms“ umwandeln konnte. In seinem vorletzten Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte erkannte Born „die Gefangenschaft in der Äußerlichkeit“, den Selbstbetrug des bisherigen Solidaritätsbegriffs, „das solidarische Gemuschel und Gesabbere“ von „Sozialverrückten“. Was er damals noch verfocht, war das uneingeschränkte Wahrnehmungs-Ich, das sich jeden weiteren Verpflichtungen entzog und nur sich selbst verantwortlich war. Doch was er „im Schlachthaus“ Beirut erlebte, dafür reichten seine Selbstschutz-Reflexe nicht aus. Was Born vermutlich schon vorher ahnte, denn die üblichen Kategorien von Recht und Unrecht waren in solchen Kriegen nicht mehr auszumachen. Entweder du reagierst auf die Alltäglichkeit des Schreckens mit Gleichgültigkeit und Empfindungslosigkeit, oder dein Entsetzen billigt den „Durchbruch zum wahren Schmerz, zum wirklichen Sehen, zur Wahrheit und Wirklichkeit“, wie es Born formulierte, und du gerätst in eine persönliche Krise.
„Die Literatur als Utopie“, hatte es noch im Literaturmagazin Nr. 3 geheißen, und Born erklärte in seinem Vorwort, daß die utopische Literatur den „erschütternden“ Zusammenprall der Imagination mit dem Faktischen ausdrücken müsse. Beirut war dieser Zusammenprall! Als ich 1999 im neuerbauten und wiedererrichteten Beirut die letzten zerschossenen Straßenzüge erblickte, sah ich ihn vor mir: Born als Journalist Laschen, wie er vom Balkon des Hotels Commodore westwärts zum Leuchtturm blickt und auf die Lautsprecherstimme des Muezzin hört. Der Krieg war hier zum „Normalbetrieb“ verkommen. Heute ist Beirut wieder so friedlich und neu poliert wie unser Potsdamer Platz. Aber noch immer gibt es die Panzer, die Patrouillen mit Maschinenpistolen. „Ich weiß nicht, wie weit die Zukunft / mir voraus ist“, heißt es in dem Born-Gedicht „Das Verschwinden aller im Tod eines Einzelnen“. Nicolas Born war sich viel zu weit voraus. Die Zerstörung der Welt kein Zustand, der sich endlos beschreiben läßt. Hier hatte er die Feuersbrunst seines eigenen Hauses tausendfach vervielfältigt erneut erlebt. Aber zurück zu seinen biographischen Fakten: Born erhielt 1979 noch den Rainer-Maria-Rilke-Preis für Lyrik und kaufte sich nach der Zerstörung des ersten Hauses ein zweites Bauernhaus in der Nähe von Dannenberg. Hier begann er im Garten seines Breeser Hauses mit dem Neuaufbau eines alten Backhauses, das ihm künftig als Schreibwerkstatt dienen sollte.
Aber dazu kam es nicht mehr. Was plötzlich erschien, war „die weiche Hand mit der Äthermaske“: Im Januar 1979 entdeckte man Borns Krebserkrankung, gegen die er sich mit aller Heftigkeit und mehreren vergeblichen Operationen zur Wehr setzen sollte, bevor er am 7. Dezember 1979, einundvierzigjährig, verstarb. Sein Körper hatte kapituliert.
Born war mit seiner Ich-Bilanz ein literarisches Ereignis ersten Ranges. Der „Literatur-Arbeiter“ Born hatte sich selbst verwirklicht, obwohl diese Verwirklichung nach Ansicht seiner marxistischen Freunde bisher nur das „Vorrecht des bürgerlichen Individuums“ gewesen war. Hier hatte sich ein Autor gegen die Zerstörung von Geschichte ausgesprochen und dabei die Zerstörung seiner eigenen Lebensgeschichte riskiert. Und wir, die „erinnerungslos in brüderlicher Vergeßlichkeit leben“, wie es Born in seiner Rede von Bergen-Enkheim formulierte, sollen uns zumindest daran erinnern, daß keiner von uns so intensiv und so genau nach dem „Sinn des Ganzen“ fragte wie Nicolas Born.
„Seit einigen Jahren weiß ich, daß ich ein Schriftsteller bin. Ich hoffe, daß dieses grobe Selbstverständnis niemals zu einer Selbstverständlichkeit wird, daß ich mich also niemals zu Ende definieren kann und niemals aufhöre, mir selber ein Geheimnis, eine immer wieder zu öffnende Botschaft zu sein“, hatte Nicolas Born in seiner Antrittsrede vor der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz gesagt. Das sind Daseinsversicherungen, die unserem gegenseitigen Verständigungswahn energisch zuwiderlaufen, denn Born will bei allen verständlichen Botschaften für sich selbst noch ein Geheimnis bleiben. „Vor solchen Leuten wie Baader, Raspe und Haag fürchte ich mich, und ich möchte auf keinen Fall, daß ihre Art der Menschenverachtung einmal Politik wird“, hatte er noch am 21. September 1977 geschrieben.
Eines ist dieser Staat sicher nicht: Ein Polizeistaat.
Damit hatte er seine Richtung klar zu erkennen gegeben, obwohl er sich mit den aktiven Gegnern der atomaren Anlagen in Gorleben längst solidarisiert hatte.
So viel mußt du wissen, bevor du zum Grab von Born nach Breese fährst. An so viel mußte ich mich zurückerinnern, bevor ich seine biographische Spur wieder aufnehmen konnte. Es ist Dienstag, der 21. November. Wir fahren bei strömendem Regen von Berlin über Magdeburg in den Landkreis Lüchow-Dannenberg in das Hannoversche Wendland. Mein erster Besuch, den ich dreißig Jahre verweigert habe. Denn so wenig mich die Künstlerkolonie Worpswede begeisterte, so wenig zog es mich in den Klüngel der Literaten-Enklave von Lüchow-Dannenberg mit seinen verschönten, niedlich puppenhaften Scheunen, Mühlen und Bauerngehöften.
„Der Weg, den Borns Gedichte markieren, ist der unserer fortschreitenden und so fortschrittlichen Vernichtung“, hatte einmal Günter Kunert geschrieben. So fahren wir dahin, mit den eigenen Vorurteilen im Kopf. Ein Gespinst von Regenwasser auf den Autoscheiben. Die Bücher von Born im Handschuhfach. Die einzigen Born-Gedichte, die ich in diesen Tagen noch auftreiben konnte, sind die aus der 1983 erschienenen Jubiläumsausgabe zum 75. Geburtstag des Rowohlt-Verlags, die Gedichte von 1967 bis 1978 enthält. Eine Ausgabe, die längst verramscht wurde und jetzt für fünf Mark im Modernen Antiquariat zu haben ist. Nach unserer Ankunft in Lüchow fahren wir weiter zum Künstlerhof Schreyahn, der in einer ausgebauten Fachwerkscheune des Runddorfes untergebracht ist. Daneben zwei Puppenhäuser für die Stipendiaten. „Wo sind die neuen Organe für das neue Leben?“ fragte Nicolas Born vergeblich in einem Gedicht. In der Mitte des Dorfes eine Gruppe hochgewachsener Eichen. Riesige Trecker, die mit Zuckerrüben beladene Anhänger in die Gehöfte fahren. Alles andere ist in eine blaue Ferne entrückt und ohne Geräusche. Über meinem Bett im Künstlerhof Schreyahn hängt ein handgeschriebenes Gedicht von Guntram Vesper. Hier wohnten schon Blum und Fröhlich, Eigner und Seide, Kurzeck und Herms, Friesel und Taschau. Der Himmel ein Novemberhimmel mit vereinzelten Sonnenflecken. Schräg gegenüber ein Storchennest.
Kaum bis du hier, möchtest du für immer bleiben. Fern von der lärmenden, vergifteten Metropole. Alles vergessen, fallen lassen, zu dir selbst zurückkehren. überhaupt dann, wenn du einen so landschaftserfahrenen Begleiter wie Axel Kahrs an deiner Seite hast, der jeden Winkel und jede dazugehörende Geschichte kennt. Für jemanden, der Born gelesen hat, ist alles Erinnerung, und du fühlst dich wie beim Lesen eines Born-Gedichtes „wehrlos auf alles gefaßt“, was dir entgegenkommt. Von Lüchow geht die Fahrt nach Dannenberg und ich notiere mir die Orte Müggenburg, Gollau, Grabow, Jameln, Tramm, Schaafhausen und Prisser. Von hier fahren wir weiter in das nahegelegene Breese in der Marsch, wo im Haus Nr. 15 Nicolas Born wohnte. Ein Bilderbuchhaus, wie es schöner nicht sein könnte. Born wünschte sich immer „ein Buch, in das ihr alle vorn hineingehen und hinten herauskommen könnt“. Ein Haus wie ein Buch. Ein altes, behäbig wirkendes bilderartiges Fachwerkgebäude. Am Vordergiebel der Spruch „Ein heftig Feuer brennet sehr und wirft Funken, Glut und Flammen“. Etwas abseits im Garten sein kleines Backhaus, das sie ihm geschenkt hatten und das er sich als „Schreibhaus“ einrichtete. Aber in dem er keine einzige Zeile mehr schreiben konnte. Und das Peter Handke bewohnte, als er Nicolas Born acht Wochen lang in den Tod begleitete.
„Was muß getan werden?“ fragte Born. Nichts wissend „vor-nicht-mehr-können“. Born wollte Welten erkunden und scheiterte an der Vielfalt der Welten. Nicht weit von Breese entfernt liegt Damnatz mit seiner Fachwerkkirche und dem an der Elbe gelegenen Friedhof. Dazwischen Gümse, das „Schloß“ der Rixdorfer Drucker Bremer, Vennekamp, Schindehütte und Waldschmidt, die die ersten Berliner hier waren. Ihnen folgte Hans Christoph Buch und 1972 Nicolas Born. Dazu kamen die vielen Freunde, die sie häufig besuchten: darunter Grass, Handke, Kunert und Haufs, Teobaldy, Lenz und Lettau. Ihnen wiederum folgten die Journalisten und Redakteure. Jede biographische Spur gleicht der Fluchtfährte eines Davoneilenden, dem die Meute hinterherkeucht!
Inzwischen gehen wir den Deich zum Friedhof von Damnatz entlang. Auf der gegenüberliegenden Elbseite sehen wir die Gehöfte der „Republik Rüterberg“, in der jahrzehntelang die hundertfünfzig DDR-Bewohner zwischen zwei Grenzzäunen gefangen waren und am 8. November 1989 ihre Gemeinde zur Republik erklärten. Und dann die hohe Lindenallee des Friedhofs: Unvorstellbar, wie viele Stimmen hier nicht mehr zu Wort kamen und für immer verstummt sind. Dieser lange kurze Augenblick, in dem ich auf die kleine quadratische Grabplatte starre, in die der Name von Nicolas Born eingraviert ist. Das alles hast du schon viele Male erlebt: Fassungslos vor einem Grab zu stehen, ein paar ferne Echos der Krähen zu hören und den eigenen Pulsschlag in den herabhängenden Händen zu spüren. „Lieber John Lennon. Lieber Nicolas“, schrieb Peter Handke, als er am 7. Dezember 1980 vor diesem Grab stand.
Die Vorstellung eines lebenden Nicolas schafft Sicherheit. Born bedeutet eine bestimmte Art von Wahrnehmungssystem. Ein System, das in unserer wiedervereinigten Wohlstandsgesellschaft bitter nötig ist. Und der Weg vom Born-Grab zum Castor-Entsorgungszentrum in Gorleben ist eine chronologische Reihenfolge, die zwingend und ganz im Sinne Borns wäre. Es ist später Nachmittag, als wir mit Axel Kahrs an der Dönitzer Eisenbahnbrücke vorbei nach Langendorf fahren, um das alte Grundstück von Born zu sehen, auf dem sein erstes Haus abbrannte. Linker Hand daneben das Gasthaus Lucifer, das heute eine Disco ist. Im selben Dorf das Haus von Buch. Zum Schluß das Fürchterlichste: Die Umkreisung der Atommülldeponie von Gorleben. Vierhundertzwanzig Castor-Behälter sollen hier einmal gelagert werden. Das ist die Utopie, die heute verwirklicht wird. Das „Wahnsystem Realität“, gegen das Nicolas Born so verzweifelt ankämpfte, denn ein einziger Castor-Behälter entspricht etwa fünfunddreißig Hiroshima-Bomben. Die alles umschließende Betonmauer ist drei Meter hoch und gekrönt mit NATO-Stacheldraht und fest installierten Wasserwerfern.
„Ich sehe vielmehr und zuviel / als daß ich dächte, alles aufzuschreiben“, heißt es in einem frühen Born-Gedicht. Und so geht es mir jetzt: Was könnte ich alles aufschreiben, was ich jetzt sehe und denke! Oder wie Born es ausdrückte:
Alle zusammen haben wir alles erlebt.
Der Abschluß dieses Tages ist die Fahrt zum „Elbholz“ des Grafen Bernsdorf. Ein Wildnisgebiet, über das Nicolas Born eines seiner schönsten Gedichte schrieb:
Wenn ich sterbe, will ich allein sein
nicht mich berühren, nichts verwischen
kein Wort
es soll alles echt aussehen.
Für mich saß er auf einem Baumstumpf, rauchte seine Zigarette und starrte in den fahlen Wassertümpel. Den eindringenden Landvermessern blickte er „wie der einzige Einheimische“ mit „haßerfüllten Augen entgegen“.
Walter Aue, aus Walter Aue: Auf eigene Faust. Spurensuche in Berlin, Anabas Verlag, 2001
NICOLAS BORN
Ich würde gern Born wiedersehen,
der hier geschlafen hat,
in diesem Bett, in diesem Hotel,
kurz vor der Renovierung.
Gerald Bisinger, der Dichter,
war damals Zimmerkellner
und sorgte für frisches Bier.
Wir sprachen darüber,
was nicht gewesen ist,
was nie gewesen sein wird.
Ach, der traurige Reichtum
seiner hohen hellen Lieder.
Schon damals gab es die Spinnen,
die mir jetzt ein Netz flicht,
in dem ich ersticke, fast.
Michael Krüger
Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker
Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017
Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017
Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017
Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018
Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980
Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
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