DIE SPRACHE DER LYRIK
– Ein Gespräch. –
Manfred Voigts: Herr Born, von Ihren ersten Gedichten 1967 bis zu Ihren letzten, die jetzt 1978 erschienen sind, hat Ihre Lyrik eine Wandlung durchgemacht, die man wohl ganz grob so beschreiben kann, daß Ihre ersten Gedichte direkter und unmittelbarer politisch orientiert waren und die letzte Gedichtgruppe Partien enthält, die eher unter den Begriff Naturlyrik fallen als unter den der politisch engagierten Lyrik.
Nicolas Born: Zunächst einmal glaube ich, daß auch nicht in einem weiteren Sinne die letzten Gedichte, die Sie ansprachen, unter den Begriff der Naturlyrik zu fassen sind. Die Veränderungen – ich glaube, daß sich biographisch so eine Veränderung ergibt, wie man sich selbst verändert, wie sich die Außenwelt verändert, wie sich die Kontaktpersonen verändern, das spielt alles notwendigerweise eine Rolle. Vielleicht ist der direkte, politische Zugriff signifikant für eine Altersstufe, ein Zugriff, eine Direktheit, die einem nach späteren Erfahrungen und Gedanken nicht mehr möglich ist.
Voigts: Ich möchte Sie nicht in eine Ecke drängen, in der Sie nicht stehen, aber mir scheint, daß ihre frühen Gedichte mehr mit der Aussagenlogik arbeiteten, während Ihre späteren Gedichte sich mehr in Assoziationen bewegen, bei denen keine Quintessenz abstrahierbar ist.
Born: Damals gab es so eine Art Poetologie, die eine ganze Generation von Lyrikern hatte: das Gedicht als Gebrauchsgegenstand, als Operationsgerät, das Gedicht als Angriff, als Affront, als eine andere Version von Wirklichkeit, die direkt konfrontiert wird mit der tatsächlichen – alles ausgerichtet auf den operativen Eingriff in die Gesellschaft, in das Verständnis und Vorverständnis von Dingen. Ich muß sagen, daß letzten Endes dahinter doch ein großer Optimismus gesteckt hat, eine Zuversicht auf die Veränderbarkeit der Lebensumstände, der persönlichen und gesellschaftlichen, ein Glaube, der, wie ich heute denke, zwangsläufig auf der Strecke bleiben muß. Es entstehen stufenweise Haltungen, nicht nur durch Überzeugungen, durch Analysen und Lernprozesse, sondern daß tatsächlich subjektiv ein Abbau des Glaubens und der Zuversicht stattfindet, der natürlich von außen seine Energien und Impulse erhält – ein Prozeß, der, so subjektiv er auch ist, doch ständig Belege in der Außenwelt aufweist. In den letzten zehn Jahren gab es eine gesellschaftlich-politische Entwicklung, die sozusagen im Gleichschritt mit der Desillusionierung des Subjekts vorangeschritten ist.
Voigts: Und das hatte zur Folge, daß der Sinn des Gedichtes – ganz grob gesagt – aus dem Kommunikationsfeld, dem Umfeld des Gedichtes in das Gedicht selbst hineingezogen wird?
Born: Es ist das Medium selber wichtiger geworden für mich. Während es früher mindestens so geschienen hat, daß das Gedicht und das Genre benutzt wird, um etwas zu transportieren, um Angriffe vorzutragen, um Kritik zu üben, ist mir das Medium selber als ein Ort des Aufbewahrens von Blicken, von Gedanken, von Gefühlen, von Beziehungen, von Beschreibungen der Beziehungen, wichtig geworden. Das ist das Verläßliche eigentlich, das Gedicht selber ist das Verläßliche, in dem etwas bleiben kann, das nicht mehr sein darf oder realiter nicht mehr sein kann.
Voigts: Darf ich mal relativ konkret fragen: Wie fangen Sie an, ein Gedicht zu schreiben – mit Bildern, mit Worten? Haben Sie eine Vorstellung von dem, was da am Ende herauskommt oder akkumulieren Sie Assoziationen, die sich erst beim Schreiben um bestimmte Punkte sammeln?
Born: Es gibt ganz verschiedene Energien und Impulse, die sich freimachen aus der gewöhnlich abgelebten Zeit des Tagesablaufes. Es gibt Momente, da ist die einzige Provokation das weiße Blatt, und es gibt Momente, da ist ein Wortfetzen, ein Gedanke da, ein Bild – es ist so unterschiedlich, daß man eine Festlegung nicht riskieren darf. – Meine Schreibweise ist vorwiegend eigentlich die: einen Zustand herzustellen, der von sich aus eine Verfremdung bedeutet. D.h. ich setze mich an eine Maschine und fange dann nicht an zu denken: welches ist meine Methode, welcher Möglichkeit gehe ich nach, welcher widerstehe ich zu schreiben, das sind alles Erwägungen, die bei mir beim Schreiben eigentlich vorkommen sollen. Es muß ein Zustand erreicht werden, der so aus dem Normalen herausspringt, daß der Blick frei wird, daß etwas gesehen wird wie beim ersten Mal oder zum letzten Mal, was ja auch sein kann. Und den Zustand versuche ich so lange durchzuhalten, ohne mir Konstruktionsprinzipien präsent zu halten.
Voigts: Und damit hängt zusammen, daß die Sprache, in der dann geschrieben wird, nicht die Umgangssprache des täglichen Lebens ist und daher ein Gedicht – anders als ein Zeitungsartikel – interpretiert werden muß?
Born: In einem Gedicht kann man Umgangssprache simulieren, sie ist aber im Kontext von vornherein verfremdet, und wenn das nicht der Fall wäre, wäre Umgangssprache im Gedicht gar nicht verwendbar. Erst dadurch, daß man Elemente herauslöst und sie in einen anderen Kontext hineinbringt, wird sie überhaupt verwendbar, und da hat sie dann allerdings in dieser Form auch ihren Platz, sie kann verwendet werden, muß es aber nicht. Insofern ist auch prinzipiell jede andere Sprache verwendbar, aber alle Sprachelemente finden sich grundsätzlich in einem neuen Kontext wieder und werden in sich, aber auch allgemein dem ganzen Sprachbereich gegenüber verfremdet und sind dann neu da. Insofern ist die Sprache eines Gedichts eine andere, sozusagen transzendente Form – ,transzendent‘ ist vielleicht ein zu starkes Wort, aber eine der Sprache insgesamt entfremdete Form von Ausdruck. Ich sage diesmal nicht verfremdete, sondern entfremdete Form von Ausdruck, aber nicht in dem negativen Sinne, den sonst Entfremdung hat.
Voigts: Da fallen mir die literaturgeschichtlichen Parallelen ein: Rimbaud hat gesagt, daß er eine neue Sprache schaffen wolle, Hofmannsthal hat gesagt, daß ihn die Umgangssprache eher zum Schweigen bringt und daß er erst in einer ganz neuen Sprache sprechen könne, die er dann natürlich nicht erreichen kann, aber solche Vorstellungen sind verbreitet, und die Frage ist, warum dieser Ausbruch aus der Umgangssprache versucht wird.
Born: Ich glaube, es ist signifikant für Kunst überhaupt, daß etwas von dem Ursprünglichen, etwas von dem Mythischen erhalten geblieben ist, auch wenn wir es nicht mehr wahrhaben wollen, auch wenn wir die Sprache durch und durch funktionalisieren wollen. Es gibt ja auch Leute, die Gedichte schreiben, die absolut Klartext schreiben wollen, bei denen es nur um Informationswertigkeiten geht, aber selbst bei solchen Produkten ist zumindest ahnbar – ich will jetzt nicht mystifizieren da, aber die Sprache hat nach wie vor noch ihr Geheimnis, bei aller Semantikforschung und Linguistik hat sie etwas, was sich aller Analyse entzieht, aller Funktionsanalyse entzieht…
Voigts: Die Analyse selbst kann sich ja auch nur in der Sprache bewegen.
Born: Genau, das ist möglicherweise das Handicap der Analyse, deshalb kommt die Analyse nicht vollständig zurecht. Es bleibt einfach ein Geheimnis. Über dieses letzte Geheimnis können wir einfach nicht einmal… Es ist wie ein Moment, in dem das Leben aufhört und das Sterben, der Tod anfängt. Es ist so ein unentwirrbarer kleiner Punkt zwischen zwei Existenzformen eigentlich.
Voigts: Obwohl das möglicherweise ein bißchen hart ist jetzt, möchte ich mal fragen, wieso Sie das zweite Mal bei Sprache und lyrischer Sprache auf das Problem des Todes kommen. Sie haben vorhin schon gesagt: Vielleicht das letzte Mal Sachen sehen…
Born: Ich möchte das jetzt eigentlich vordergründig als einen Zufall ansehen, daß ich das zweimal als Beispiel angeführt habe. Psychologisch könnte man daraus seine Schlüsse ziehen, die kann ich aber nicht ziehen – für mich war das ein Zufall.
Voigts: Das muß ja nicht sein, es kann ja auch sein, daß der Gedanke dahinter steht, daß die Sprache eine der entscheidenden Qualitäten des Menschen ist, und daß ohne Sprache der Mensch als Mensch tot ist, daß das Wort wirklich eine lebenswichtige Sache ist.
Born: Ja, das wird nicht begriffen. Es ist wahr, sie ist die spezifische Lebensausdrucksmöglichkeit des Menschen, sie ist gleichzeitig auch die Lebensfähigkeit des Menschen, und das wird nicht begriffen. Dieser zweite Atem geradezu wird benutzt, als wäre es die letzte Selbstverständlichkeit. Es gibt öffentlich kein Bewußtsein von Sprache. Die Sprache wird malträtiert und entwürdigt, als wäre sie ein Schrott, der gerade noch zur Verständigung dient, und in den einfachen Entscheidungsabläufen weiß man gerade noch, was gemeint ist, als Signalfunktion: Halt! Stehen bleiben! Gehen!
Voigts: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Sprachschöpfung. Es gab schon immer – sicher seit 200 Jahren – eine sehr brisante Grenze zwischen Sprachschöpfung und Sprachspielerei, zwischen dem Wunsch, der Alltagssprache zu entkommen und neue Bilder, neue Unter- und Obertöne der Sprache zu entdecken und der einfachen Lust am Spiel mit Sprache, wie wir sie z.B. in der konkreten Poesie finden. Sehen Sie da eine Schwierigkeit der Lyrik?
Born: Ich sehe generell darin für mich kein großes Problem. Es reizen diese Clownerien, die mit der Sprache möglich sind, jeder hat vor allem in der Jugend so einen kleinen Dadaisten in sich stecken, aber ich habe mir diese Möglichkeit weggenommen, ich halte das in der Lyrik nicht mehr für wesentlich – als müßte ich in der Lyrik beweisen, daß ich auch noch Humor hab. Ich habe auch keine besondere Lust an Sprachspielen, es wird immer so ein besonderer Effekt hergestellt, der mir nicht gefällt, der so den Willen hat, den Sinn zu strapazieren. Das passiert ohnehin auch mit einer Sprache, die gerade das Ungeheuerliche in einem ganz gewöhnlichen Ausdruck bringt. Auch da wird natürlich das Disparate sehr eng oft zusammengebracht, ein Verfremdungsmechanismus eingesetzt, in dem sich etwas reibt und Widerstand entsteht. Das kann aber mit ganz einfachen Mitteln geschehen, das kann natürlich auch mit so einer Sprachwillkür entstehen, indem man die aberwitzigsten Konstruktionen herstellt, um da den Witz herauszuschlagen und den Widersinn, der in der Sprache genauso steckt wie der Sinn. Man kann das mal demonstrieren, aber das hat mich als Möglichkeit nicht weiter interessiert.
Voigts: Was ist das für ein Sensorium, mit dem man diese beiden Dinge unterscheidet?
Born: Bei Sprachspielen würde ich schon sagen, es ist eine sehr demonstrative, exhibitionistische Möglichkeit der Sprache, zu zeigen, was man an unterschwelligen Nebenbedeutungen hervorzaubern kann, so daß sie die dominierenden Bedeutungen werden. Für mich werden die Sprachspiele so aufgebaut wie Fallen für Dümmere, und sie haben für mich etwas Hämisches – vielleicht weil sie mir mehr aus dem Kabarett und Nonsensbereich bekannt geworden sind. Obwohl ich das nicht denunzieren möchte, es ist immerhin eine Möglichkeit, die in der Sprache steckt, und wenn das ein Valentin gemacht hat oder ein Alfred Jarry, dann finde ich das sehr erfreulich. – Nun kann einer sowieso nicht die ganze Palette der Möglichkeiten der Sprache für sich in Anspruch nehmen und für sich benutzbar machen. Es gibt eine Beschränkung, die einem eigentlich, je länger man sich mit der Sprache beschäftigt, immer enger wird: die eigene Möglichkeit. Es ist einerseits ein Expansionsprozeß, den man, wenn man Schriftsteller ist, durchmacht – es müßte nicht nur beim Schriftsteller so, sein, das sollte für den Menschen überhaupt gelten –, daß die Sprache prinzipiell immer verfügbarer wird, die Ausdrucksmöglichkeiten immer reicher werden auch mit seinen Sprecherfahrungen. Gleichzeitig entsteht aber so etwas wie eine Beschränkung auf die Eigentümlichkeit, auf die eigentümlichen Möglichkeiten des Subjekts in der Sprache. Es ist eine Bewegung, reicher an Ausdrucksmöglichkeiten zu werden, aber zugleich sich zu beschränken auf die spezifische eigene Stilmöglichkeit.
Voigts: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Ober- oder Untertöne der Sprache. Ist nicht bei der Lyrik der Satz angebracht: Der Ton macht die Musik? Geht es nicht gerade um die mitschwingenden Ober- oder Untertöne bei der Lyrik?
Born: Sicher, generell. Ich glaube, daß man bei jedem Menschen lauscht und horcht auf die Eigentümlichkeit. Genauso wie kein Mensch aussieht wie der andere, diese Unterschiedlichkeit gewahrt ist sogar in der Masse, so ähnlich ist es auch, wenn man jemanden an seinen Körperbewegungen, man kann auch sagen, an seiner Körpersprache erkennen kann. So kann man ihn auch in den Sprachbewegungen erkennen, die ihm eigentümlich sind.
Voigts: Mit dem ,Ton‘ verbinde ich folgendes: Das Kind lernt, wenn die Mutter spricht, die Sprache innerhalb einer Einheit mit Bewegung und Geruch als Schall, als Ton, und erst ganz langsam wächst es hinein in diesen gewaltigen Sprachkosmos, von dem es stückchenweise hier ein bißchen, da ein bißchen kennenlernt. Kann es sein, daß die Lyrik immer wieder an dieses direkte, unreflektierte, unmittelbare Erleben der Sprache als Klang erinnert, daß Lyrik immer wieder aus dem Sprachzeichen zurückgeht in den Klang, sei es nun durch Reime, Alliterationen oder ähnliches. Der Spracherwerb war ja auch ein Auseinanderreißen dieser spontanen Einheit von Klang und Mitteilung, und will Lyrik nicht immer auch zurück zu dieser direkten Kommunikation?
Born: Ich halte das durchaus für möglich, obwohl Sie das sehr ausgeführt haben wie eine Theorie, daß eine Verbindung wiederhergestellt wird zu dieser frühen Unmittelbarkeit – künstlich natürlich. Es ist durchaus möglich, daß dieses mythisch Erlebte da wieder zum Vorschein kommt auf eine sublimierte, auf eine Kunst-Weise, und gerade im Gedicht etwas wiederherstellt von dieser Erlebnisweise der Sprache. Es ist nur ein Beispiel: Ich habe gerade in einem Prosasatz geschrieben, daß ein Mann und eine Frau miteinander sprechen, und es ist so ein Moment, wo es um nichts geht, in dem, was sie einander sagen, und es steht auch quasi als Kommentarsatz dabei, daß es unwesentlich ist, was sie zueinander sagten, und es war nur das Sprechen, das erfahren wurde, nicht mehr die Information. Die Information in dem Sprechen, in den einzelnen Wörtern und Sätzen war herausgenommen, weil die Situation selbst sich darum herum geschlossen hatte und die Situation komplett war und keine Information nötig war. Die Funktionalität war geradezu herausgesogen, aber das Sprechen war notwendig, es war nichts anderes mehr da.
Voigts: Ich möchte einen anderen Aspekt ansprechen: Könnten Sie Ihre Sprache als ,Muttersprache‘ bezeichnen? Als Gegensatz dazu möchte ich eine Äußerung Brechts wiedergeben: „Am Anfang war nicht das Wort, es ist am Ende, es ist die Leiche der Dinge.“
Born: Ich möchte erst einmal sagen, daß ich das Wort ,Muttersprache‘ nur als Konvention benutzen kann, aber so könnte ich es auch ohne Skrupel benutzen. Man erschrickt etwas: Muttersprache. Mir hat ein DDR-Kollege gerade geschrieben, daß auf dem Zeugnis seiner Nichte nicht mehr ,Deutsch‘ steht (als Unterrichtsfach, sondern ,Muttersprache‘. In dem Zusammenhang finde ich das geradezu bösartig. Das ist nicht DDR-spezifisch, nehme ich an, das ist Trend-spezifisch und vielleicht ist es sehr deutsch, das könnte hier in einer anderen Konstellation genauso geschehen. Das nur als kleine Fußnote dazu. Den anderen Teil der Frage…
Voigts: Sprache als Leiche der Dinge. Mit Muttersprache assoziiere ich, daß Erleben in der Sprache enthalten ist, daß Sprache gesammelte geschichtliche Erfahrung enthält, also auch Volksleben.
Born: Natürlich, niemand kommt je heraus aus den Bedingungen, die vor allem Sprachbedingungen sind, wie wir wissen. Es ist eigentlich etwas müßig; und ich habe auch ein Unbehagen dabei, mir klar zu machen, was es heißt, in der deutschen Sprache zu leben, eine deutsche Sprachgeschichte zu haben. Die Pervertierung der Sprache scheint mir allerdings im Deutschen auf eine besondere Weise gelungen, daß nämlich die Öffentlichkeitssprache schon identisch ist mit der Sprache der Technokraten beispielsweise, mit der technischen Sprache, daß soviel in die Umgangssprache überführt ist, als sei es gar nichts, daß eine Technifizierung der Sprache eigentlich droht. – Es gibt etwas, was mir im Vergleich mit anderen Sprachen am Deutschen problematisch erscheint, das ist so etwas Stakkatohaftes, so eine Entschiedenheit – es kommt aus dem Gefühl bei mir, aus dem Klang, ich kann das nicht begründen, es ist so etwas, was einem manchmal keine Luft läßt – etwas Eigentümliches hat sich in der Sprache festgesetzt, vielleicht gerade durch neue Imperative, durch neue Signalfunktionen. Es gibt da bestimmte Konstruktionen, bei denen ich zusammenzucke, wenn ich sie höre, die ich auch unbewußt vermeide, wenn ich schreibe, und ich suche dann eine andere Konstruktion, eine Ausweichmöglichkeit. Ich könnte jetzt kein Beispiel nennen, aber es gibt diese Konstruktionen ständig in der Umgangssprache, und auch in der Belletristik kommen sie durchaus vor, Konstruktionen, die für mich nicht handhabbar sind. Da kann man nichts objektiv ableiten, es sind die imperativistischen Sprechweisen, die mir widerstreben, die eine Entschiedenheit haben, die mich so zusammenzucken lassen.
Voigts: Noch einmal zur Kritik und Zerstörung der Umgangssprache: Benn hat einmal gesagt, daß die Lyrik eine Art Zertrümmerung der Realitätserfahrung durch Sprache sei, und daß erst die Zerstörung der Realitätserfahrung in der Sprache Raum schafft für das lyrische Gedicht.
Born: Das kommt mir sehr absolut vor, das könnte nie eine Formulierung sein, die mir nahe ist. Manches von Benn kann mir schon nahe sein, aber nicht solche apodiktischen Dinge. Ich glaube allerdings schon, daß damit ein bestimmtes Vorverständnis von Stereotypen zusammenhängt. Ich habe auch schon einmal so ein paar Dinge gemacht, in denen nur Klischees und Stereotypen wiederholt werden und dadurch außer Kraft gesetzt werden.
Voigts: Ja, wir können ja etwas anderes nehmen. Ich erinnere mich, daß Sie in dem Nachwort eines Gedichtbandes geschrieben haben (Das Auge des Entdeckers, Reinbek 1972, S. 113), daß Sie versuchten, das Wort ,Auge‘ mit dem Auge selbst zu bezeichnen. Da ist für mich der Wunsch ablesbar, daß nicht mehr das Wort die Realität bezeichnet, sondern daß dieses Verhältnis umgekehrt wird, und da ist für mich etwas drin von der Zertrümmerung der Realitätserfahrung durch Sprache.
Born: Ja, das ist sicherlich auch richtig. Ich kann dann nur mit dem Satz vom ,Raum schaffen‘ nichts mehr anfangen, das klingt mir dann auch schon wieder zu imperialistisch, als ginge es wie bei Benn überhaupt um das absolute Gebilde, das Absolute schlechthin. Was mir allerdings einleuchtet, und das würde ich auch als Antwort sagen, daß die Sprache eine Balance halten muß, eine Identifikationsmöglichkeit lassen muß, aber die leichte Identifikation auch irritieren muß, daß da ein ständiger dialektischer Gebrauch in Gang bleibt zwischen der Identifikation und der Irritation, eine ständige Balance und ein Spannungsverhältnis, das nie verläßlich wird und nie simpel schwarz auf weiß wird als eine Funktionsfalle von Sprache und sich dieser Polarität immer bewußt ist.
Voigts: Wobei damit das Allerweltsverständnis kaputtgemacht wird, daß ein Wort und ein Ding eindeutig aufeinander bezogen sind.
Born: Ja, das muß auch gestört werden, wenn es auch nicht zerstört werden muß, es muß die Relativität sichtbar gemacht werden.
Voigts: Und ich nehme an, das hängt damit zusammen, was Sie am Anfang gesagt haben, daß Sie eine bestimmte Konstellation herstellen, wenn Sie Gedichte schreiben, in der die alltäglichen Zusammenhänge verfremdet werden.
Born: Ja, weil es sonst nicht erkennbar wird, weil es sonst in der allgemeinen Wahrnehmungsunfähigkeit stecken bleibt.
Voigts: Ich möchte jetzt etwas ansprechen, das bisher immer nur angedeutet wurde. Es wird sehr häufig, vor allem im Zusammenhang mit Freud behauptet, daß Lyrik sehr viel mit Tagträumen zu tun hat, mit Wunschphantasien, die spontan die Alltagserfahrung durchbrechen und untergründige Störungen und Wünsche andeuten.
Born: Ich halte das nicht für falsch, wenn man so eine These aufstellt, aber ich weiß nicht, ob man damit nicht ein Phänomen erklärt, und damit ist es erklärt. Ich glaube natürlich, daß die poetische Sprache, ich möchte nicht sagen die lyrische Sprache, daß die poetische Sprache einen Abglanz und eine Ahnung geben kann vom anderen Leben – nicht vom anderen Leben im Sinne von Utopie, von einer anderen Gesellschaft, das mag im einzelnen konkreten Fall auch zutreffen, aber prinzipiell von dem Untergründigen, von der tiefen Kontemplation, die in uns stattfindet, wie sie in Träumen sich durchaus sehr vielfältig äußern kann, auch im Sinne von Bilder- und Sprachuniversalität. Ich glaube, daß sich das, worüber wir vorhin gesprochen haben, damit verbindet, mit dem Authentischen, Eigentümlichen, das in jedem von uns drinsteckt, das meist aber eigentlich zugedeckt wird von dieser Funktionalität, von diesem Allernotwendigsten, wo das Allernotwendigste dem einzelnen übriggeblieben ist, sich zu äußern und zu sagen; daß er am Leben ist, daß er da ist. Während diese andere Welt eine Ahnung gibt von dem unglaublichen und ständigen Chor, Menschen-Sprach-Chor, der sich unentwegt, die ganze Geschichte hindurch, aufgebaut hat, in vielen Sprachen und über viele Membranen, wo geradezu ein kosmischer Stoffwechsel sich unentwegt fortgesetzt hat – wenn man das Bewußtsein hat, da mit drinzustecken und da eine Zunge zu sein, weiter nichts, aber da heran zu müssen, an die Eigentümlichkeit – das Eigentümliche wird ja exemplarisch auch für andere, niemals jemand, der sprechen will wie alle sprechen, der wird niemals exemplarisch für die Masse oder eine Vielzahl von Menschen…
Voigts: Das ist eine Sache, die Sie vielen Wissenschaftlern sagen müßten…
Born: Ja, aber ich wollte eigentlich noch einmal in eine andere Richtung damit, was eigentlich das andere Leben ist. Ist das unsere Existenz oder gehört das wegrationalisiert, gehört das versteckt, wie man früher die Irren versteckt hat in der Familie?
Voigts: Können wir dazu noch einmal zurück zu den Tagträumen? Ich verbinde damit auch in meinem eigenen Erleben, daß plötzlich im normalen Tagesablauf Erinnerungsbilder von Ruhe und Glück, von unterdrückten Bedürfnissen den Alltagsteppich durchbrechen, der da von Minute zu Minute gewebt wird. Und daß das In-Sprache-Fassen dieser Bilder eine wesentliche Eigenschaft der Lyrik ist.
Born: Kann man das generalisieren? Aber ich würde eine solche Definition akzeptieren.
Voigts: Ich will das nicht zur erschöpfenden-Definition generalisieren, sondern nur als eine Tendenz darstellen.
Born: Das könnte signifikant sein, ich nehme das auch mal an, ich habe dagegen nichts Besseres zu setzen, was Lyrik denn sonst sei.
Voigts: Sind das aber nicht Punkte, in denen man sich selbst viel besser erfährt als im täglichen Umgang, sind das aber nicht auch Punkte, die man lieber unterdrückt, weil sie das tägliche Leben stören? Das schockartige Wiedererkennen verdrängter Bedürfnisse ist ja eine Bedrohung der Alltagsexistenz.
Born: Was Sie da ansprechen ist das Problem poetischer Erkenntnis überhaupt, und das ist mit Schmerzen verbunden. Es kann bis zum physischen Schmerz gehen – ein bestimmter Blick, jeder kennt den Ekel bei einem bestimmten Anblick, so kann das auch sein bei einer plötzlichen Epiphanie, einem Erkenntnismoment – immer jetzt abgesetzt von wissenschaftlichen Erkenntnissen im Labor –, sondern die unmittelbare Wahrnehmungserkenntnis, die plötzlich durchbricht, manchmal herbeigeführt durch Erkennenwollen und manchmal unwillkürlich in einer poetischen Wahrnehmungsweise.
Voigts: Wer wird schon gern an Bedürfnisse erinnert, die man gerade…
Born: … die zu unterdrücken man gelernt hat.
Voigts: Und aus begreiflichen Notwendigkeiten.
Born: Ja, durchaus. Niemand kann behaupten, daß die Sublimierung der Triebe nur die reine Strangulation oder Amputation bedeutet, es ist auch ein Maß von Notwendigkeit darin, und die totale Freisetzung ist ganz unvorstellbar.
Voigts: Kann man dann sagen, daß die Lyrik ein Weg ist, auf dem das Ich des täglichen Lebens in Kommunikation treten kann mit dem Selbst der unterdrückten Wünsche und Sehnsüchte?
Born: Ja, das würde ich so akzeptieren. Es kann ja nicht der eine Bereich völlig unterdrückt werden, dann ist die Komplexität weg, dann ist die Eindimensionalität in der Sprache durchgesetzt, dann ist sie als Projekt komplett. Aber es ist ja nicht denunziert damit die einfache Verständigung über einfache Dinge, ob es kalt, ob es einem warm ist, das kann ja sehr intensiv sein, vom Verständnis unterfangen sein, so daß ein wunderschöner Dialog vorstellbar ist in ganz einfachen, banalen Zusammenhängen. Aber die Momente, in denen alles so einfach wird, dürfen natürlich nicht um jeden Preis erkauft sein, daß alles Schwierige, alles schmerzverursachende Erkennen einfach wegfällt und nur noch das Angenehme zu Wort kommt, das Eingelullte, die Grunz-Sprache des Sich-Wohl-Fühlens.
Voigts: Wie hängt diese schockartige, zumindest irritierende Selbsterfahrung zusammen mit der Sprache, die doch eine gesellschaftliche ist, denn diese schmerzhafte Selbsterfahrung ist doch höchst privat und existentiell – wie es z.B. Rilke in einem Gedicht sagt: Du mußt dein Leben ändern!
Born: Vielleicht geschieht Poesie auch aus Angst zu verschwinden, bloß noch vereinnahmt zu werden von der Gesellschaftssprache, der Sprache der Oberflächenwahrnehmung, der Nutzanwendung. Und selbstverständlich ist auf der Gegenseite das poetische Erkennen eine ständige, in dem Medium selbst konservierte Erwartung, ein Erlösungswunsch eigentlich, der aber nie eingelöst wird, der immer unter der Schwelle bleibt, aber immer an der Schwelle zerrt und sie oft auch ein Stückchen weiterschiebt. Aber daß es nie kommt, das bleibt das Geheimnis auch der eigenen Identität, es wird nie ganz befreit aus der Einsamkeit des einzelnen, es wird nie ganz zur Sprache und zum reinen Ausdruck, zur Selbsterkenntnis, es bleibt immer in dem Kampf drin, und deshalb auch der Schmerz, auch diesen Moment der Erkenntnis nicht halten zu können, und ihn nicht durchhalten zu können und wieder zurücksinken zu müssen in allgemeinere Formen von Verständnis, von Sprechen. Ich glaube, daß die poetische Sprache – ich benutze das jetzt so: die poetische Sprache, was kann die poetische Sprache alles sein, sie kann in so vielen Formen erscheinen, der Umgangssprache näher oder sich sehr weit von ihr entfernend – ich glaube, daß sie prinzipiell eine Art Resistenzform ist, ein Sich-Verwahren gegen die Ansinnen des eindimensionalen Realen, ein immer wieder gesetzter Kontrapunkt. Ja, ich würde schon sagen eine Form von Resistenz, die in der Sprache selbst bleiben muß und auch hinaustreten und wieder zurücktreten muß in die Sprache. Es klingt sehr geheimnisvoll, und es klingt andererseits auch sehr banal, aber ich kann’s anders gar nicht ausdrücken, was es eigentlich als Vorgang bedeutet, warum Menschen da sich hinsetzen und Gedichte schreiben, warum sie sich unterscheiden in der Wortwahl, in den Satzkonstruktionen, in dem Aufbau der Verse, warum diese Ausdrücklichkeit in dem einzelnen Vers. – Eine einfache Erklärung gibt es, die haben wir jetzt öfters schon angesprochen, daß die Verfremdung notwendig ist, um die Sprache selbst Erkenntnisse hervorbringen und Wahrnehmung transportieren zu lassen. Es muß sich entfernen, es muß etwas fremd werden und gleichzeitig zurückblicken können auf das Fremde der sogenannten normalen Sprache.
Voigts: Das Besondere der lyrischen Sprache besteht eben darin, daß diese Erkenntnis nicht in erster Linie die Erkenntnis der Außenwelt ist, sondern die Erkenntnis der Sprache selbst, dessen, was an Erfahrungen, Gelebtem und Ungelebtem, an Gedanklichem und Emotionalem in ihr enthalten ist.
Born: Ja. Aber es geht ja dennoch nicht um die Sprache, sondern in der Sprache sind Dinge noch da, die sonst nicht mehr da sind, die nur noch in der Sprache aufbewahrt sind – insofern ein Selbstfindungsprozeß in Sprache, als ginge es um die Sprache selbst. Man kann annehmen, es ginge um die Sprache selbst, aber nur deshalb, weil die Sprache Leben enthält, weil sie abgestorbenes und vergessenes, kaschiertes Leben enthält, und wenn man sich da mit der Sprache beschäftigt, können all diese Möglichkeiten wieder zum Vorschein kommen.
Voigts: Ist das eine Möglichkeit, die Lyrik gesellschaftlich oder sogar politisch zu verstehen?
Born: In einem indirekten Verständnis würde ich das schon bejahen, in dem Verständnis, in dem nichts unpolitisch ist. Das ist ein weites Feld. Explizit politisch, wie man einen politischen Bereich…
Voigts: Es geht nicht um konkrete Handlungsanweisungen, sondern in dem Sinne, daß Sprache eine öffentliche Angelegenheit ist, um die man sich kümmern muß, der es schlecht gehen kann, der es gut gehen kann, die verkümmern kann und gepflegt werden muß, die die eigentliche Basis des öffentlichen Lebens ist.
Born: Da stimme ich Ihnen zu, nur was sich daraus für eine Konsequenz ergibt, die kann man sich vorstellen, die traditionelle Sprachpflege. Die schulpolitisch und kulturpolitisch betriebene Sprachpflege ist sicher notwendig, aber sie ist nicht das Eigentliche, was die Sprache am Leben erhält. Sie hat etwas Therapeutisches, etwas museumshaft Pflegerisches, was die Sprache an sich gar nicht nötig hat, wenn genug Leute Gebrauch von der Sprache machen, wenn genug Leute wissen, was Sprache eigentlich bedeutet. Und das kann eigentlich nur über diese Eigentümlichkeit wieder gehen, indem viele Eigentümlichkeiten seltsam exemplarisch werden auch für Leute, die ihre Eigentümlichkeit vielleicht noch gar nicht entdeckt haben, sie werden auf etwas gebracht, das für sie sehr wichtig werden kann. Wie wird Sprache authentisch? Nur über die Person eigentlich, die spricht. Woran erkenne ich jemanden? Kann ich ihn als jemand bestimmten erkennen? Und da müßte eigentlich Gesellschaft erst anfangen. – Da steckt natürlich auch der Aspekt drin, was Konservativismus heute ist, wie modern die im politischen Lager Konservativen geworden sind, und wie altmodisch und konservierend sich die Progressiven verhalten – ich will mich mal so dazurechnen, als jemand, der dieses Verständnis von Sprache hat, daß Sprache nicht verkommen darf in Futurologie oder Wirtschaftsplanung und ihren Sprachbereichen.
Voigts: Die Erinnerung hat ja auch so einen konservativen Beigeschmack, obwohl auf ihr unsere Identität beruht.
Born: Das, was erhaltenswert erscheint aus den Erinnerungen, muß lebendig bleiben, das ist zunächst die Sprache selbst, in der alles ruht, und dann sind es auch Dinge, die wir meinen mit der Sprache, die die Sprache auch sind. Es gibt da eigentlich gar nicht diese unüberbrückbare Distanz zwischen der Bedeutung, den Wörtern und der Existenz der Dinge. Sie sind nicht auseinandergerissen, die Sprache als Symbol- und Zeichensystem und die Dinge, das erscheint uns nur so.
Voigts: Sie haben mal in einem Nachwort geschrieben, daß Sie davon ausgehen, daß Ihnen ein paar schöne Gedichte gelungen seien. Was ist da dieses Schöne?
Born: Ich habe das einfach so subjektiv behauptet, ein Etikett, das ich mir herausgenommen habe, ohne ein Einverständnis mit einem Leser zu suchen. Schön ist vielleicht nur eine Empfindung; es kann eine Erkenntnis sein, wenn es ein Epiphanieerlebnis ermöglicht. Aber das Empfinden von Schönheit ist, stelle ich mir vor, so ähnlich wie das Sich-Wohl-Fühlen, das Es-Bequem-Haben, das überhaupt nicht im klassischen Sinne die Attribute des Schönen enthalten muß. Wenn ein Einverständnis hergestellt wird – auch mit einem Gedicht –, dann fühlt man sich wohler, es gibt nie eine Schönheit an sich, es ist eine Platitüde, das so zu sagen.
Voigts: Ja, man muß wirklich davon ausgehen, daß es bestimmte Arten von Lyrik gibt, die einem liegen und andere Arten, mit denen man nichts anfangen kann, und daß das legitim ist. Die Art von Lyrik, mit der ich etwas anfangen kann, hat etwas zu tun mit Zeiterfahrung und Geschichtserfahrung. Sie verbindet die sozioökonomische Geschichte auf der einen Seite mit der ganz subjektiven Zeiterfahrung und der individuellen Geschichte. Es ergibt sich da bei mir eine andere Form der Geschichtserfahrung, als wenn ich den ,Holocaust‘-Film sehe – auch wenn der mich sehr gepackt hat –, und ich habe das dunkle Gefühl, daß diese Geschichtserfahrung noch tiefreichender ist.
Born: Ich möchte trotzdem partiell eine Antithese dazu vorbringen. Kann nicht in unserem begrenzten Schönheitsgefühl eine literarische Ästhetik dem Schönheitsbegriff näherkommen – auch wie wir ihn heute empfinden –, wenn er die Universalität aufgibt, wenn er sich im Bewußtsein reinigt von allem, wenn er idealisiert, wenn er etwas idealisiert, und zwar nur um der Affirmation zu entgehen? Nur um das Bestehende, die Verhältnisse zu leugnen, und aus Erkenntnisgründen und ästhetischen Gründen seine Figuren idealisiert, um sie der Wirklichkeit gegenüberzustellen – gegen alle Erfahrungen idealisiert, was ja immer den Geruch hat von Harmonisierung. Ich sehe das zum Beispiel in einigen Figuren von Handke, der Figuren fast kahl werden läßt, sie sagen in Momenten der Drangsal nur edle Sätze und bewegen sich auch so, und es ist ein totaler Kontrast hergestellt. Man kann das Fehlende beklagen, aber man kann gleichzeitig sehen, daß etwas von dem Schönheitsbegriff, auch sogar von unserem Schönheitsbegriff, darin stärker herauskommt als in einem Realismus, der die Realität als Vorlage akzeptiert, der mimetisch an ihr entlangfährt und sie immer als Kontrollinstanz akzeptiert. Es ist eigentlich eine Frage von mir, ob das nicht eine Strategie sein könnte, eine ästhetisch-poetische Strategie, die Kunst so weit der Realität zu entheben, um Realität überhaupt erst sichtbar zu machen. Das ist natürlich eine Konfrontationsstrategie, aber die könnte doch eine Wahrheit sagen. Die müßte natürlich Geschichte abweisen, Vorgeschichte, bestimmte Dunkelzonen einer individuellen Vorgeschichte in der Fiktion ausklammern beziehungsweise nur ahnbar machen in ganz kleinen idealisierten Momentaufnahmen.
Voigts: Daran möchte ich noch eine Frage anhängen. Eher war ja die Tendenz die, daß die Geschichte aus dem Gedicht, der Erzählung herausgehalten wird, daß in einem poetischen Innenraum ein Gegenbild zur Realität auftaucht. Die übliche Verfahrensweise der wissenschaftlichen Interpretation läuft aber in der Regel genau umgekehrt. Ein Gedicht wird vor allem biographisch und historisch in der Geschichte aufgelöst. Auch sicher gute Interpretationen gehen davon aus, daß das Gemeinte außerhalb des Textes, in der geschichtlichen Realität zu suchen sei.
Born: Es sind ja diese Interpretationsmethoden immer möglich, es läßt sich ja immer etwas zur Rechtfertigung dieser Interpretationsmethoden sagen – solange sie nicht das Gedicht rechtfertigen durch Erklärungen, durch Aufdeckung, als sei die Interpretation notwendig, als gehöre sie zum Gedicht. Es ist ein Zugang, eine Möglichkeit, ein Zugang, der eigentlich doch offen sein müßte und sollte – eine Tür ist zu öffnen. Ich habe immer den Eindruck, daß man mit dem Gedicht fertig werden will, daß man’s in den Griff kriegen möchte, wie man mit allem irgendwie fertig werden will. Ich werfe das nicht Philologen oder Lehrern vor, oder Leuten, die sich professionell damit beschäftigen, das ist nicht verwerflich eigentlich. Es ist dieser Versuch, eine Tür zu öffnen, die längst offen ist, nicht verwerflich. Jedem Leser fehlen auch bestimmte Voraussetzungen.
Voigts: Nehmen wir einen konkreten Punkt: Ist es legitim, Lesarten in eine Interpretation hineinzunehmen, also etwas, was der Dichter z.B. wieder ausgestrichen hat, was dem normalen Leser gar nicht zur Verfügung steht – darf man das, als gehöre es zum Text, mit hineinnehmen?
Born: Ich kann mir keine Möglichkeit vorstellen, das zu unterbinden oder als Sakrileg zu behandeln. Aber die Frage ist, ob es wirklich sinnvoll ist und eine neue Dimension erschließt, und wenn es sie erschließt – hat die noch etwas mit dem Gedicht zu tun? Ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist und ob es nicht substantiell an dem Poetischen vorbeigeht. Ich muß das noch einmal wiederholen, ich glaube, daß ein Triebmoment dahinter steckt, mit etwas fertig zu werden, ihm die Schärfe zu nehmen, den Schmerz der nachschöpfenden Erkenntnis, der poetischen Erkenntnis in der Rezeption – den Schmerz nicht aushalten zu müssen, sondern bereits erklärt zu haben. Ich hüte mich davor, jemandem, der Gedichte interpretiert, Vorwürfe zu machen, ich habe auch in Interpretationsversuchen ganz anregende Diskussionen erlebt, nichts darf man verabsolutieren. Aber man muß überprüfen, ob nicht diese Komponente wieder sehr stark wird, während man sich damit beschäftigt, den Text zu zerlegen und zu analysieren, ob man nicht dabei die Einzelteile des Körpers vor sich liegen hat, des Sprachkörpers, aufgelöst in allgemeine Sprache, und die Substanz ist entfleucht, man hat sie nicht mitzerlegt. – Es gibt Seitentüren, die einen an dem Schrecken vorbeilassen, dem Schrecken des Blicks oder dem Schrecken der Verfremdung.
Voigts: Ist dann nicht doch der Vorgang der Interpretation verwerflich? Sie gibt ja vor, das Gedicht in eine Sprache zu übersetzen, die leichter verständlich ist, der Text soll ja zugänglicher gemacht werden – und ist nicht dieser Zugriff des Interpretierenden einer, der dem Gegenstand die Schärfe nimmt?
Born: Ja, das habe ich auch so gemeint. Es wird eine Populärfassung hergestellt, die süffiger ist. Es muß nicht das Gedicht geschützt werden, viele Gedichte sind ja auch ganz einfach und werden furchtbar durchinterpretiert. So kann man damit nichts zu schaffen haben, man muß dann sagen können, so eine Möglichkeit kommt für mich nicht in Frage.
Das Gespräch wurde am 15.2.1979 in Berlin geführt und erschien im Konkursbuch Nr. 4, 1979
I. Die Welt der Maschine
– (Autobiographie)
– Die Welt der Maschine
– Schwache Bilder einer anderen Welt. Science-fiction und ihre mögliche Rechtfertigung
– Reisen im inneren Universum. Über William S. Burroughs
– Ist die Literatur auf die Misere abonniert? Bemerkungen zu Gesellschaftskritik und Utopie in der Literatur
– „Die Phantasie an die Macht.“ Literatur als Utopie
– Brief an die Arbeitsgemeinschaft Literatur am Weidig-Gymnasium in Butzbach
– Stilleben einer Horrorwelt. Gegen die Wortidyllen: Rolf Dieter Brinkmann
– Sind wir schon Utopia? Subjektive Anmerkungen zu avantgardistischen Stadt- und Verkehrsplänen (1968)
– Eines ist dieser Staat sicher nicht: Ein Polizeistaat
II. Die Sprache der Lyrik
– Wo mir der Kopf steht
– Das Auge des Entdeckers
– Die Sprache der Lyrik. Ein Gespräch
– (Die Brüskierung der Erwartungen) Zu den ersten Gedichtbänden von Rolf Dieter Brinkmann
– Die Poesie der wirklichen Dinge. Über Günter Eichs Maulwürfe
– Vita nova mea. Zu Karl Mickel
– Schöne Bilder von Zukunft. Über den Gedichtband Gegen die symmetrische Welt von Volker Braun
– Blaue Flecken. Zu Jürgen Theobaldy
– Wünsche, Lügen und Träume. Über Kenneth Koch
– (Amerika): Über das parodistische Element im amerikanischen Gedicht. Über Ron Padgett. Über Charles Bukowski
– Ich soll den Glasberg besteigen. Über Donald Barthelme
– Vom nächtlichen Weg zur Bergfahrt. Der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl
– Versuchte Nähe. Zu den Geschichten von Hans Joachim Schädlich
– Riß im Rumpf des Fortschritts. Zu Der Untergang der Titanic von Hans Magnus Enzensberger
– Einübung in das Vermeidbare. Zu Alfred Kolleritsch
– Ich weiß nichts Dunkleres denn das Licht. Über Ernst Meister
III. Reden
– Endspiel zu Lebzeiten. Rede für Ernst Meister zum Petrarca-Preis 1976
– Antrittsrede vor der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz
– Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises
– Wider eine Zukunft der Selbstvergessenheit. Rede zur Verleihung des Stadtschreiberamtes von Bergen-Enkheim
– Enkheimer Reden: Auf Urs Widmer. Auf Sarah Kirsch
– Rede in Gorleben
– Rilke
– Editorische Notiz
– Quellennachweis
Den Plan, Aufsätze und Reden zu sammeln, hatte Nicolas Born selbst; konkrete Vorarbeiten dazu konnte es jedoch nicht geben. Der vorliegende Band ist kein Buch aus dem Nachlaß. Er sammelt die veröffentlichten Arbeiten Nicolas Borns. Da es keinen lückenlosen Nachweis der Veröffentlichungen gibt, Nicolas Born im Umgang mit Originalmanuskripten außerdem „großzügig“ war, war ich auf Hilfe angewiesen. Irmgard Born war diese Hilfe. Hinzu kam das gute Gedächtnis der Freunde. Herausgeber und Verlag sind dankbar für weitere Hilfe bei der Suche nach Originalmanuskripten, für auch zu diesem Band ergänzende Daten usf. Der nachfolgende Quellennachweis gibt Entstehungsjahr oder Erstdruck an; Rundfunkveröffentlichungen wurden nicht berücksichtigt.
Rolf Haufs
ist Nicolas Born an Lungenkrebs gestorben. Wie kein anderer Schriftsteller in der Bundesrepublik war er in seinen Büchern und Reden in der Öffentlichkeit ein engagierter Ankläger der modernen „Industriemaschine“, die den Menschen in seinen Bewegungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen in einen lethargisch hingenommenen Behinderten-Status versetzt hat: „Die eingepaßte Funktion fast jedes einzelnen in der Industriemaschine zwingt ihn zu immer rationellerem Verhalten. Er hat vieles zu vergessen; viele Möglichkeiten seines Körpers und Geistes sind als Möglichkeiten abgestorben. Die Maschine erzwingt ein verstümmeltes Sprechen.“
Im Ruhrgebiet aufgewachsen, wo er auch einige Jahre als Chemograph arbeitete, hatte Born schon in seiner Jugend den Rigorismus des Wachstums um jeden Preis am eigenen Leben zu spüren bekommen: Die Familie mußte ein nach dem Krieg in mühseliger Eigenarbeit errichtetes kleines Haus in Essen wieder aufgeben und einer Industrieansiedlung weichen. Die „Megamaschine“, von der Born im Titelaufsatz dieses Buches so eindringlich warnend spricht, ließ ihn auch in dem einstmals entlegensten Naturreservat der Bundesrepublik nicht los. In der Nähe Gorlebens, wohin er sich zum Schreiben seiner beiden wichtigsten Romane, Die erdabgewandte Seite der Geschichte und Die Fälschung, zurückgezogen hatte, tauchte das Gespenst der totalen Maschine erneut bedrohlich vor ihm auf. So wurde Born immer mehr zu einem bewußten wie auch kenntnisreichen Ökologen und arbeitete, neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit, aktiv in der Bürgerinitiative gegen die Entsorgungsanlage in Gorleben mit.
Der Titel dieses Bandes, mit dem ein 1977 im Literaturmagazin 8 erschienener programmatischer Aufsatz des Autors überschrieben ist, enthält eine Anspielung auf die seit Lukrez gebräuchliche Metapher von der „machina mundi“. In ihr entfaltete sich über die Jahrhunderte hin die Vorstellung von einer ,gemachten‘ und wie ein ,Uhrwerk‘ in Bewegung gesetzten Welt. Später verschwand aus diesem erst noc poetischen Begriff sowohl die Idee des Schöpfers wie auch jeder naturphilosophische Gehalt.
Die Texte in diesem Band von Nicolas Born wehren sich gegen die Spätfolgen dieser Auffassung nicht nur mit aktuellen ökologischen Argumenten, sie betreiben darüber hinaus die Wiederherstellung einer Welt jenseits der Maschine in den verschiedenen Formen künstlerischer Teilhabe.
Rowohlt Verlag, Klappentext, 1980
herausgegeben von Rolf Haufs, dokumentiert die wichtigsten Aufsätze und Reden Nicolas Borns. Ob er sich politisch engagiert („Rede in Gorleben“), sich der Literatur widmet (Aufsätze über Rolf Dieter Brinkmann, William S. Burroughs, Günter Eich u.a.) oder das eigene Schreiben reflektiert („Wo mir der Kopf steht“), stets ist Born bemüht, eine Sprache zu gewinnen, die Widerstand gegen den Verlautbarungscharakter leistet, sich den Formeln der maschinellen und medialen zweiten Wirklichkeit widersetzt.
Dieser Autor verstand Literatur als Utopie und praktische Gesellschaftskritik: „Vielleicht geschieht Poesie auch aus Angst zu verschwinden, bloß noch vereinnahmt zu werden von der Gesellschaftssprache, der Sprache der Oberflächenwahrnehmung, der Nutzanwendung. Und selbstverständlich ist auf der Gegenseite das poetische Erkennen eine ständige, in dem Medium selbst konservierte Erwartung, ein Erlösungswunsch eigentlich, der aber nie eingelöst wird, der immer unter der Schwelle bleibt, aber immer an der Schwelle zerrt und sie oft auch ein Stückchen verschiebt.“
Rowohlt Verlag, Ankündigung
Ob alles gut ist, wenn einer tot ist? Ich bin nicht sicher, denn dann fällt er unter die Herausgeber, und die sind gnadenlos. Was der Autor zu Lebzeiten vielleicht gerne zu den Akten getan und bei sich behalten hätte, das wühlen sie hervor. Sie nerven an der Witwe herum, belämmern gutwillige Freunde des Verewigten, und auf einmal ist auf dem Grabhügel des teuren Toten ein Häuflein viel zu wenig bekannter Arbeiten zusammengetragen, das unbedingt herausgegeben werden muß. Freundespflicht nennt man dann so etwas. Bärendienst hieße es besser.
Den armen Nicolas Born hat’s erwischt: Er ist unter die Editoren gefallen. Er hat Romane wie Die Fälschung und Die erdabgewandte Seite der Geschichte geschrieben, auch Gedichte, war ein Jahr lang Stadtschreiber von Bergen-Enkheim; mit 42 ist er an Lungenkrebs gestorben. Nun ist die Heiligsprechung in vollem Gange. In literarischen Konventikeln wird der Name des früh Entrückten verzückt weitergehaucht als Losungswort der Bescheidwissenden.
Wehe, wen es trifft. Seit Jahren ist bei uns zu beobachten, daß die öffentliche literarische Szene immer mehr zu einer Art Guru-Ballett verkommt. Da werden plötzlich Geheimtips in literarischen Saunen weitergeflüstert; die Verehrungsopfer heißen dann mal Sarah Kirsch, mal Günter Kunert, mal Thomas Brasch.
Wehe diesen armen Opfern, denn wenn die literarische Partygesellschaft ihr Mütchen an Verzückung gekühlt hat, dann bleibt der Totgeküßte an einer Ecke liegen, während der Zug der Verehrer weitertobt zu einem neuen Heiligen. Auch Nicolas Born hat es so getroffen, und es ist im Moment wohl gar nicht so einfach und selbstverständlich, etwas Selbstverständliches zu sagen: daß nämlich nicht alle Texte eines Autors automatisch gut oder besser werden, wenn er der irdischen Partygesellschaft den Rücken zugedreht hat.
Die Aufsätze, Kritiken und Reden Nicolas Borns hätten gnädig noch eine Weile von Nacht bedeckt bleiben sollen. Sie alle sind in der Tendenz ehrenwert und ehrenfest. Die Welt der Maschine – der Titel des Bandes und des großen programmatischen Aufsatzes am Beginn zeigt die kritische Richtung. Der größte Teil der Aufsätze läuft, zum Teil mit bedenkenswerten Argumenten, gegen das an, was jetzt vielen mit Grauen klar wird, daß unsere Welt nur noch Supermaschine, Apparat, Datenverarbeiter ist und wir allmählich als gelochte Opfer durch irgendwelche Seitenschlitze ausgespuckt werden. Selbst die Verantwortlichen sind nicht mehr verantwortlich. Die Supermaschine ist zu einer Art globalem Wettergeschehen unserer Zivilisation geworden, über das kein Big Boss mehr gebietet, selbst wenn die Herren verzweifelt so tun.
Noch schlimmer die Diagnose Borns: die Maschine hat unser Bewußtsein, unsere Sprache gestürmt, und wir denken und reden weithin nur noch funktions- und sachgerecht, in jener fürchterlichen Sachorientiertheit, die Politiker, Medien und Werbung uns rund um die Uhr in den Bauch stanzen. Wir leben und lieben viereckig, weil wir dann wie Container raumsparend zu stapeln sind und so mehr Platz für Startbahnen geschaffen wird, um vom aktuellsten Schrecken zu reden. Bald haben wir das Format von Containern und das Hirn und die Rede von Mikroprozessoren und schnarren uns dann mit Computerstimme noch sachgerechter an, wie das jetzt schon die Frankfurter Fahrplanauskunft tut.
Das ist die Apokalypse, gegen die als schon eingetroffene Wirklichkeit Born anredet. Er verfolgt den täglichen Schrecken bis in die hintersten Winkel, bis in Bastionen, in denen ihn keiner mehr vermutet, bis in die gesellschaftskritische Literatur. In dem 1972 entstandenen Aufsatz „Ist die Literatur auf die Misere abonniert?“ liest er den sogenannten „gesellschaftlich engagierten Autoren“ – und wer war das damals nicht? – die Leviten:
Beschreiben sie Alternativen, Gegenbilder? Bestehen sie auf dem Realitätsanspruch imaginärer Gegenwelten? Setzen sie wenigstens ihre ganze Phantasie ein, ein Leben ohne Entfremdung zu beschreiben. Der Maschinensprache verfallen oder eine glückliche Liebesgeschichte, selbst wenn sie dabei erkennen müßten, daß ihre Phantasie dazu nicht ausreicht? Halten sie die Provokation aus, sich der Gesellschaft zu entfremden, wenn die zu einem einzigen Entfremdungsapparat geworden ist? Nein, denn sie haben sich integriert und integrieren lassen. Sie beschreiben die vorgefundenen Verhältnisse in der wahnwitzigen Hoffnung darauf, daß die Erkenntnis der Misere die Misere verändert.
Und ein Stückchen weiter heißt es:
Derart bandagierte und geschiente Autoren verzichten geradezu auf kritische Wirkung. Je eindeutiger sie ihre Position darstellen, um so resistenter wird das Publikum dagegen, denn es identifiziert mit Recht das literarische Produkt mit dem erklärten Programm des jeweiligen Autors, so wie man vom Milchmann nichts anderes als Milch erwartet. Die Nostalgie ist als Späteffekt von vornherein in dieser Autor-Publikum-Beziehung enthalten.
Es ist natürlich nicht unter der Würde der Literatur zu informieren, aber es bleibt unter ihren Möglichkeiten. Literatur als bloßes Transportmittel für systemimmanente Kritik (und zur systemimmanenten Kritik muß auch die revolutionäre Attitüde gerechnet werden) kann nur noch vordergründige Effekte hervorbringen: eine penetrante affirmative Leier für oppositionelle Minderheiten.
Der gesellschaftskritische Autor, gleichgültig ob er sich für einen Reformer oder Revolutionär hält, ist auf die Misere abonniert. Er kann nicht verhindern, daß er zum Gewohnheitskritiker wird und zum kritischen Partner der Macht.
Das ist ehrenfest, und es bedeutete 1972 eine ganze Menge, sich so gegen den Strom der davonwirbelnden ideologiekritischen Autoren zu stemmen. Und doch ist hier auch schon zugleich der Klumpfuß voll entwickelt: Born selbst spricht die Sprache der großen Maschine, und es ist die komische bis verzweifelte Tragik dieser Aufsätze, daß sie nicht nur infiziert, sondern voll verseucht sind von dem, was sie als Krankheit diagnostizieren.
Nur in winzigen, versprengten Spuren und an wenigen Stellen gebietet Born sprachlich über das, was seiner Ansicht nach heilt: eine alternative, befreite Sprache, eine nicht von der Maschine deformierte menschliche Rede. Borns Kritik ist selbst Kritik vom Lochstreifen, spricht wie in den Datenspeicher getippt und liest sich wie Text auf dem Schirm der Lesegeräte, gestanzt wie der uns jetzt alltäglich verkaufte Videotext. Born sagt:
Der gesellschafts- und systemkritische Autor wird nur verstanden, wenn er sich in den vorherrschenden Schreibweisen ausdrückt und wenn er sich an dem vorgestanzten Realitätsbegriff orientiert, der für ihn selektive Wahrnehmung bedeuten muß, und zwar im Sinne des Systems, das er kritisieren will.
Und er selbst redet doch wie einer dieser Verdammten.
Was ist von solchen Bornschen Sätzen zu halten:
Aber äußerst selten gibt es in diesen Gedichten Bezüge zur aktuellen Realität. Die Erfahrungsmomente aus der Realität dienen allenfalls als Impulse, die Imaginationsschübe auslösen. Sonst ist alles auf Erfindungen angelegt, die sich mit den Realvorkommen nicht decken.
Da ist schlicht die sprachliche Apokalypse, vor der Born sich fürchtete, ein schrecklicher jüngster Tag des sprachlichen Unvermögens, das der computerisierten Rede nicht entweichen kann.
Wo wäre als Alternative die humane Rede, die Born in seinen Romanen, schon sehr viel seltener in seinen Gedichten erreichte und hier in den Aufsätzen nur noch in Maschinenprosa hilflos anruft:
Ich finde dagegen, daß der Schriftsteller seine Phantasie benutzen soll, um Träume, Visionen und Wünsche zu artikulieren, daß er eine mögliche oder sogar unmögliche Gegenrealität entwerfen soll, damit unsere einzige, die Realität transparent wird, gemessen werden kann am Besten. Das Mögliche muß sich im Trommelfeuer der Medien erst wieder einführen und revoltieren gegen das abgekartete Spiel der Fakten.
Wo bleibt denn das neue Sprechen? Warum müssen Wünsche etc. „artikuliert“ werden, warum partout muß man „Gegenrealität entwerfen“, warum, zum Teufel, muß etwas „transparent“ werden, wo heute das auch der Zungenschlag von Startbahnenplanierern, Bäumefällern und konzertierten Aktionisten ist? Mensch, Born, warum? Eine unsägliche verbale Gefangenschaft schaut aus diesen Aufsätzen, was ja noch nicht das Schlimmste wäre, wenn sie eingestanden und nicht immer mit den nur geforderten „Alternativen“ zugedeckt und zugetrumpft würde.
Man glaubt schon, was Born sagt:
Ich habe nie politisch sein wollen und noch viel weniger wollte ich politisch sein müssen.
Aber auch diese Weigerung wird ihm kein Rettungsanker. Denn auch das Unpolitische mißlingt ihm. Noch nie habe ich so uninspiriert über Günter Eichs Maulwürfe reden hören wie hier bei Born – eine einzige Phrasenhäkelarbeit, Luftmaschen die Fülle. Notwendige Brotarbeit vielleicht, aber die muß man nicht in posthumen Bänden wie Perlen ausbieten vor uns armen Schweinen, den Lesern. Vieles hätte eben nicht rumort in den Schubladen, wenn es dringeblieben wäre.
Ein paarmal ist jene beschworene Alternative zur großen Maschine bei Born vorhanden wie fernes Wetterleuchten, noch ohne Donner, so in seiner „Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises“:
Meine Klage ist emotional, und ich habe aufgehört, mich deshalb für inkompetent zu halten. Ich habe genug gesehen, gehört und gelesen, auch von sogenannten Experten. Ich weigere mich, mich Tag für Tag aufs neue, wie es heißt, ,sachkundig zu machen‘.
Und noch unübertrefflicher am Beginn der Gorleben-Rede:
Liebe Freunde, wer uns entsorgen will, den wollen wir stillegen.
Hier ist die Rede der Maschine ins Herz getroffen, so daß sie für die Dauer solcher Sätze nur noch lächerlich röchelt. So hätte ein heutiger Georgsritter mit Worten umzugehen, wenn er auf den Drachen trifft. Aber ein Georg ist eben der nicht, der wie Born nur dauernd vom vorhandenen Drachen redet oder – noch schlimmer – selber die Sprache des Drachens spricht, ohne daß er’s merkt.
Einigen dieser Aufsätze sieht man an, welche Verheerungen der Literaturbetrieb bei Born angerichtet hat, jenes Gefühlchen, dabeizusein und dazuzugehören. Da lobt man sich hin und her zwischen dem Theobaldy, dem Brinkmann, dem Born und dem Widmer und der Kirsch, und alle attestieren sich gegenseitig, wie viel sie aneinander haben, der Jürgen am Nicolas, der Nicolas am Rolf Dieter, am Urs und an der Sarah. Welch eine Kumpelei, die eben den Mangel an wirklich literarischer Gesellschaft und Kultur durch ihre Provinzialität nur sichtbarer macht. Alle diese einzelnen sind wahrscheinlich sehr viel besser als der literarische Zirkus, den sie miteinander aufführen, vor allem auch der Born.
Da hat er nun in seiner Antrittsrede vor der Mainzer Akademie gesagt:
Ich hoffe auch, daß ich niemals etwas Nützliches schreibe im Sinne einer Dienstleistung oder eines ,ökonomischen Fortschritts‘.
Seine Hoffnung wurde enttäuscht; seine Tragik ist, daß er es dennoch getan hat mit diesen Aufsätzen, trotz allen geredeten Protests. Warum nur hat man ihm diese Edition angetan und uns nicht den besseren Born gelassen, den wir bislang hatten?
Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker
HIER, DIE ANREDE
für Nicolas Born
Die Wege, oft gegangen, wurden tiefer,
der weite Deich, die Ferne, nichts gab Ruhe.
Dir blieben bloß der Schmerz, der hohle Atem,
dein Körper noch, verhärtet, Müdigkeit.
Sprachst von Jahren, sprachst von letzten Fristen,
du wolltest weiter, Hoffnung: Sommer, zwei noch.
Sahst das Haus, die beiden rohen Zimmer,
dort würdest du, im Herbst schon, schreiben.
Die ersten späten Tage im November,
sie, letzte Spuren, plirrend auf den Scheiben.
Der Regen tropfte, kahle Zufahrtswege,
die Autos trieben Lichter durchs Gehölz.
Gedichte zeugen, deine Schrift, die Stimme,
im Blätterrausch noch einmal du: dein Traum
der Bilder, des Gewebs, der Bücher. Knochen.
Jürgen Theobaldy
Jürgen Becker, Günter Grass, Walter Höllerer, Michael Krüger, Günter Kunert, Peter Rühmkorf, Hans Joachim Schädlich: Rolf Haufs zum Sechzigsten
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 137, März 1996
Michael Braun: „Der Planet friert. Still!“
Badische Zeitung, 30.12.2005.
Auch in: Neue Zürcher Zeitung, 31.12.2005/1.1.2006
Martin Lüdke: Immer größer werdende Entfernung
Frankfurter Rundschau, 31.12.2005
Nico Bleutge: Vertikale Poesie
Süddeutsche Zeitung, 31.12.2005/1.1.2006
Richard Pietraß: Im Glashaus
Der Tagesspiegel, 31.12.2005/1.1.2006
Martin Lüdke: Nebel kommt auf Katzenfüßen
Frankfurter Rundschau, 30.12.2010
Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017
Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017
Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017
Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018
Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980
Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
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