SF-POEM
Das grüne Dickicht der Technik
aaaaadie fühlende Materie
die wächst und wächst
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Riß
der durch die Schatten geht
ES IST JETZT SO
aaaaaDASS SICH JEDER IM ANDEREN ERKENNT
prämierte Träume regeln die „Wirklichkeit“
aaaaaso daß wir hell sein können und dunkel
Leer-Räume warten darauf mit neuen Dingen
aaaaagefüllt zu werden
genug Schuhe sind hergestellt
aaaaafür Weltumgehungen rund um die Uhr
genug Tische
aaaaafür runde und quadratische Gespräche
keine Gewinne keine Verluste
zum erstenmal heften wir eine unblutige
aaaaaWeltkarte an die Wand
und die große wunderbare Wortvermehrung
ist die große
aaaaaaaaaaawunderbare Brotvermehrung
ein Buch ist ein Brot
aaaaaund jedes Wort verwandelt sich in eine Frucht
jeder Gedanke ist die Erfindung einer Bewegung
und jeder Schmerz dazusein ist das Glück dazusein
aaaaadoch der Feind
befreit sich immerfort
aaaaavon seinen Leichen
er geht
aaaaaund kommt nicht weiter
Wir haben die Ruder mit Tüchern umwickelt
und unser langsamer Algentraum
aaaaatreibt auf die goldenen Berge zu
und aus den Grabhügeln gefallener Partisanen
aaaaawächst Spielzeug wie rotlackierter Löwenzahn
aaaaadas uns ansieht
Auf der andern Seite sehen wir
die Verfasser alter Verfassungen verkleinert
aaaaaauf Buchstabengröße
Der Wind dreht
aaaaaund wir sind jetzt die riesige Bewegung
aaaaaaus Tönen und Farben.
Wir sind die Verräter der Geschichte
wir sind die tobenden Liebhaber der Erde
wir sind die fühlende Materie
aaaaadie wächst und wächst
wir sind es die die See verkochen
aaaaazu einer reichhaltigen Fischsuppe
wir stöhnen in er Glückstrommel
wir entmachten die Mathematik
wir schälen Küsse mitten im Kampf
wir ruhen in uns
aaaaaJedes Wort ist eine Tätlichkeit und eine zärtliche
Berührung des Lebens
alle Spiegel ruhen ohne Gesicht
aaaaain den Innentaschen der Toten
unsere Gefühle dringen dem Feind durch die Poren
er greift nur noch tagsüber an wenn wir
aaaaaaunerreichbar auf vergessenen Wegen gehen
und uns nachlässig in die Natur hinein vermehren
Die ENERGIEN singen
zu spät fängt der Feind an seinen Körper
aaaaazu entdecken
der WILLE ZUR MACHT schmerzt
aaaaain den Eingeweiden
kein Gedanke mehr zwischen uns
aaaaanur offene Gewässer und Überläufer
In Augenblicken fordern wir
aaaaaein Königreich für unsere Zwecke
dieses alte Wort stellen wir provisorisch
aaaaain den Raum
und schon projiziert uns der Feind
aaaaaein Königreich in die Gestirne
mit dem ganzen höfischen Gezucke
er nutzt unsere Schwäche und überschüttet uns
aaaaamit Flitter
versucht uns Warenhäuser einzupflanzen
aaaaahelle futurologische Dome
aaaaavoller abwesend summender Verkäuferinnen
wir ducken uns unter dem tastenden
aaaaaweltweiten Lichtstab
wir bringen Geschichten in Gang
wir streicheln uns
aaaaaaaaaaaaaaaawir streicheln die Erde
der Feind muß saufen von unsern Gefühlen
und Energien befreien sich
aaaaadie auf Mikrofilmen niedergehalten wurden
Drakonisch setzt er seine Symphonieorchester ein
deren Schallwellen ihn selber hinaustreiben
aaaaain das Farb-Negativ der Geschichte
Der letzte Ansturm
aaaaalöst sich auf in der letzten Bewegung
und langsam wird dieser Geshichte
aaaaader Ton abgedreht
machte Born die kulturstürmerische Geste der Neuen Linken und ihre „Kunst ist tot“-These mit, sondern hielt stets an der besonderen Wirksamkeit des Ästhetischen fest:
Kein Gedicht bewirkt eine meßbare Änderung der Gesellschaft, aber Gedichte können, wenn sie sich an die Wahrheit halten, subversiv sein.
Die rohe, unartifizielle Formulierung, die Born programmatisch vom Gedicht forderte, das direkte Angehen der Dinge und Beziehungen, weisen ihn von den ersten Gedichten an als gesellschaftskritischen Autor aus. Auch am unscheinbarsten Alltagsdetail – einem Frühstück, einer flüchtigen Liebesbeziehung – soll ein Stück Utopie sichtbar gemacht werden. Diese Utopie soll die gegenwärtige Realität als das „Wahnsystem Realität“ enthüllen, das sie ist.
Man merkt überall, daß das Unscheinbare, das unsere Verrichtungen, unser ,Hantieren‘ erst ermöglichende Beiläufige, die Minutenmöglichkeit und ihre Nutzung, gegenwärtig sind… Die ,Fortsetzungsgeschichte‘ Lyrik hat nichts mit Idylle und noch weniger mit ,Idee‘ zu tun. Eine zusammenhanglose Traurigkeit liegt hinter der Fülle loser, momentaner Zusammenhänge, mit denen sich der Gedichtschreiber so gelassen wie möglich eingerichtet hat. Es ist eine Gelassenheit, in der jederzeit alles mögliche, auch das Phantastische, ,passieren‘ könnte. (Karl Krolow in Stuttgarter Zeitung)
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Klappentext, Juli 1981
Bei unserer vorletzten Begegnung zeigte Nicolas Born stolz sein neues Schreibgehäuse; ein Bauer des Dorfes, wohin Borns gezogen waren, hatte ihm ein Backhaus aus dem 18. Jahrhundert geschenkt, das er selber zerlegte, um die „antiken“ Bestandteile auf sein Grundstück zu transportieren, wo es dann wieder in der alten Form errichtet wurde. Einige Stufen führten in dem Fachwerkhäuschen zum „ersten Stock“ hinauf, zu einem winzigen Raum, zu Tisch und Stuhl und Ausblick auf die Landschaft der Elbniederungen bei Lüchow-Dannenberg: Hier wolle er jetzt ungestört arbeiten, erklärte er seinen Besuchern. Dort hat er keine Zeile mehr geschrieben. Er ist auf elende Weise bald darauf zugrunde gegangen.
Liest man heute aufs neue seine in den Jahren 1967 bis 1978 verfaßten und veröffentlichten Gedichte, fallen an ihnen zwei Dinge auf: ihre zeitresistente Vitalität und die in ihnen deutliche Latenz des Todes: Lebenssucht und Sterbensnähe in einer derart engen Wirkgemeinschaft gemahnen an eine andere Epoche, für die solche Symbiose (nicht nur) in der Literatur bezeichnend war: das Barock.
Aber nichts läge ferner, als Nicolas Born zu einer „barocken Erscheinung“ zu stilisieren oder mystische Spekulationen über Todesahnungen anzustellen, die man den Gedichten unterschieben müßte. Allein es gehört zu den psychischen Implikationen dieser besonderen Gattung, daß ihre Schöpfer dem Tode auf gewisse Weise näher sind als andere Autoren. Ihr Bewußtsein ist inniger verknüpft mit der Sterblichkeitsgewißheit, diesem klassischen Motiv und tragenden Grundzug der Lyrik, und das erfordert zugleich eine entschlossenere Negation der „gesunden Mitte“, eine radikale Antizipation, der eine Verwandtschaft mit dem faktischen Ende eigen ist.
Die Notwendigkeit, das eigene Selbst als Rohstoff zu benutzen, erzeugt die konsequenteste Methode der Separation und Distanzierung des vom Gedichteschreiben befallenen Individuums. Fremder werden: den andern wie sich selbst, ist die Bedingung, die Welt als fremd zu erfahren, um sie überhaupt evozieren zu können. Das hat seinen Preis, den Born beiläufig in dem Gedicht „Einfach dasein“ benennt: „Kunst heißt / das Leben mit Präzision verfehlen!“ – nur eine der zahllosen, durch Einbettung in Bildhaftigkeit unauffällig gemachten Wahrheiten. Ohnehin eignet den Bornschen Gedichten eine Dignität und Diskretion der Mittel, die sich aller Überrumpelungsversuche, dem Verblüff, und Bluffenwollen, der Lautstärke, enthalten.
„Irgendwann werden wir / von hinten erschossen und vor uns liegt unberührt / unser Leben…“ heißt es in einem anderen Gedicht („Was meinst du“), und das, scheint mir, markiert exakt den „Point of View“, die Balance auf des Messers Schneide: Zwischen Angst und Verzicht siedelt die dichterische Existenz, und daß dies kein idyllischer Wohnort für ein geruhsames Altern ist, sollte wohl verstand sein.
Dem Leser, für den der Bau der Zeilen und Strophen wie mit leichter Hand hingeworfen wirkt, die treffende Formulierung wie ein müheloser Einfall, bleibt das Gesetz solchen Schreibens verschlossen. Dabei finden sich in Gedichten, auch in den Borns, Querbezüge und Verweisungen die Menge, als deren Folge assoziativ das Verurteiltsein kenntlich wird, das, unter anderem, in der Unfähigkeit besteht, seine Umwelt den Normen gemäß aufzufassen. Ein vielleicht sogar unbewußt versteckter Hinweis spricht davon in dem Gedicht „Die Tänzerin“. Die letzten drei Zeilen lauten:
Seht die Tänzerin auf dem Bildschirm
sie erklärt
die Welt zwischen den Nachrichten.
Daß da zwischen den Bildern von Tod und Vernichtung eine bewußtseinslose Körperübung exekutiert wird, ist Gleichnis von enormer Kürze und Prägnanz, macht aber zugleich eine Sichtweise deutlich, vor der die Welt nicht mehr bestehen kann: „die Megamaschine“, als die sie in den Aufsätzen und Essays von Born auftaucht.
Liest man Gedicht um Gedicht, sieht man den Entwicklungsgang: eine Evolution der Einsamkeit. In den frühen Gedichten der „Marktlage“ oder in denen des Bandes Wo mir der Kopf steht erscheint das Ambiente durch die Biographie destilliert: die Mutter, der Vater, Verwandte, Menschen näherer Bekanntschaft, Typen aus dem Ortsmilieu – sie alle dienen als Katalysatoren der Gedichte, indem ihr Dasein, ihr besonderes Leben, Anlaß wie Gegenstand der dichterischen „Wahrheitsfindung“ liefern. Ihr Auftritt ist zugleich Erscheinen von historisch und sozial bedingtem, allgemeingültigem Schicksal, das durch den Rückgriff aufs scheinbar Private dargestellt wird.
Doch im Verlaufe des Schreibens treten die fast fotografisch umrissenen Gestalten und ihr exemplarisches Sein zurück. Fernerhin werden die Menschen zu Namen, auch zu Typen, und verlieren, bis auf einen Fall („Für Wolfgang Maier“), ihre Dreidimensionalität. Vertrautheit, vielleicht auch Vertrauen, schwindet. Der Blick des Schreibenden fällt mit Faszination und mit Ambivalenz auf die konkreten Dinge des Alltags. Und so alltäglich die Szenerien und Objekte des Gedichts auch sein mögen, so außerordentlich ist die Perspektive, unter der sie verfremdet und verwandelt erscheinen. Denn alles Konkrete spricht außer von sich zugleich von etwas ganz anderem – aus diesem Prinzip resultiert die nahezu körperlich spürbare Intensität der Bornschen Gedichte: Daß die auf eigentümliche Weise aufeinander bezogenen Realien die Vermutung vermitteln, hinter ihrem Rücken verberge sich die wesentlichere Realität, die es zu erkunden gälte, um die vordergründige verändern zu können. Hier das Prinzip in seiner reinsten Form; in nahezu programmatischer Deutlichkeit:
ES IST SONNTAG
Die Mädchen kräuseln sich und Wolken
ziehen durch die Wohnungen –
wir sitzen auf hohen Balkonen.
Heute lohnt es sich
nicht einzuschlafen
das Licht geht langsam über in etwas Bläuliches
das sich still auf die Köpfe legt
hier und da fällt einer
zusehends ab
die anderen nehmen sich
zusammen.
Diese Dunkelheit mitten im Grünen
dieses Tun und Stillsitzen
aaaaadies alles ist
der Beweis für etwas anderes.
Natürlich unterlagen auch Borns Gedichte Einflüssen, beispielsweise jenen der neueren amerikanischen Lyrik, etwa der Ginsbergs; Born selber hat, den amerikanischen Dichter Kenneth Koch übersetzt und dessen Gedichte herausgegeben. Aber im Gegensatz zu den Amerikanern schießt bei Born ein metaphysischer Faden durchs syntaktische Gewebe. Abseits jeder „neuen Innerlichkeit“ und politischer „Stellungnahme“ sind diese Gedichte Wort gewordener Widerstand, ein absoluter und kompromißloser gegen die apparativ entartete Welt, in der das Menschlichere, nämlich das Bewußtsein der Leiden, wegtherapiert worden ist: „… vergiß nicht / dir eine Wunde offenzuhalten.“ Selbst das will nicht mehr so recht gelingen; wir werden „alleswissende Mutanten“, „Lebensstatisten, Abgänger. Am Tropf der Systeme.“
Nach den großen poetischen Anrufungen wie „Stilles Leben“, „Entsorgt“ und „Fortsetzungsgeschichte“, wo der rücksichtslos lapidare Satz steht: „Mit uns macht die Geschichte Schluß…“, führt der Weg von allen fort, ins „Elbholz“, wie sich die letzten Textminiaturen nennen. Da ist die Einsamkeit zu sich selber gekommen. Zwischen der Person, die schreibt, die geschrieben hat, und der Restnatur sind die Hindernisse der Zivilisation weggeräumt:
Momente, die sich tief in den Raum erstrecken
d.h. versammelte Ewigkeit
die eine Weile stillsteht, kleine Energien
stelle ich mir vor, schrieb ich…
Das ist, obgleich keineswegs als solche deklariert, nichts anderes als eine Poetologie in kürzester Formel:
Versammelte Ewigkeit, die eine Weile stillsteht…
In solcher Wendung schwingt nicht nur mit, wofür das Beste deutscher Dichtung einsteht, es zeigt gleichermaßen das Wissen um die Voraussetzung von Dichtung – aber dieses Wissen zu praktizieren ist heillos.
Günter Kunert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1983
Georg Jappe: Wie der einzig Einheimische
Die Zeit, 7. 4. 1978
auch in: Basler Zeitung, 10.6.1978
Rudij Bergmann: Gespreizter Rauch
Stuttgarter Nachrichten, 21.4.1978
Horst Eberhard: Selbsterfahrung im Gedicht. Rudolf Langner, Alfred Kolleritsch, Nicolas Born
ders.: Geh ein Wort weiter. Düsseldorf, 1983
zuerst in: Neue Rundschau, Heft 89, 1978
Hanno Ehrler: Schwarze Serenade, Entsorgung und tote Metren. Ein Liederbuch: Zehn Uraufführungen bei den Frankfurter Festen (Zu Vertonung von „Entsorgt“)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.9.1989
Karlheinz Ludwig Funk: Gesang der Zerstörung. Das „Frankfurter Liederbuch“ (Zu Vertonung von „Entsorgt“)
Frankfurter Rundschau, 18.9.1990
Jerry Glenn: Nicolas Born: Gedichte 1967–78
World Literature Today, Heft 53, 1979
Harald Hartung: Nicolas Born: Gedichte 1967–1978
Neue Deutsche Hefte, Heft 159, 1978
Hanno Helbling (= hg.): Nicolas Born: Gedichte 1967–78
Neue Zürcher Zeitung, 17.3.1978
Henriette Herwig: Postmoderne Literatur oder postmoderne Hermeneutik? Zur Theorie und Praxis der Interpretation zeitgenössischer Literatur am Beispiel von Peter Handke, Botho Strauß, Bob Perelman und Nicolas Born (Zu: „Ein Foto (nach und für Delius)“)
KODIKAS/CODE. Ars Semiotica. Vol. 13, No. 3/4. Tübingen: Narr, 1990
Walter Hinderer: Form ist eine Ausdehnung von Inhalt. Zu Nicolas Borns Gedicht „Da hat er gelernt was Krieg ist sagt er“
Gedichte und Interpretationen. Bd. 6 Gegenwart. Hg. von Walter Hinck. Stuttgart: Reclam, 1982
Arnim Juhre: Klassiker
Deutsche Allgemeines Sonntagsblatt, 21.8.1983
Otto Knörrich: Bundesrepublik Deutschland. (Zu: „Ein Foto (nach und für Delius)“)
Walter Hinderer (Hg.): Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart, 1983
Karl Krolow: Erschrockene Gesellschaft
Der Tagesspiegel, 23.7.1978
auch in: General-Anzeiger, 10.8.1978
Stuttgarter Zeitung, 8.6.1978
Darmstädter Echo, 12.6.1978
Günter Kunert: Keiner für sich, alle für niemand
Frankfurter Rundschau, 15.7.1978
Günter Kunert: Im Hause des Lebens (Zu „Dies Haus“)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.1.1988
Günter Kunert: Eine Art Menschennähe (Zu „Das Erscheinen eines jeden in der Menge“)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.12.1989
Paul Konrad Kurz: Im Spannungsfeld Utopie-Subjektivität-Realität
ders.: Über moderne Literatur 6. Frankfurt a.M., 1979
Peter Laemmle: „Die Ruhe auf dem Lande ist oft nur stille Wut“. Zeitgenössische Autoren zum Thema: Stadtflucht heute (nur kurz zu „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“)
Merkur, 34. Jg., Heft 9, 1980
Rudolf Langer: Jedes Wort eine zärtliche Berührung. Die Gedichte des Spurensuchers Nicolas Born
Süddeutsche Zeitung, 11.4.1978
Bernd Leukert: Zerfall unter der Wolke
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.6.1986
Gisela Lindemann: Nicolas Born: Gedichte 1967–78
Journal 3 für Literatur. In: NDR, 30.5.1978
Franz Norbert Mennemeier: Balance auf niedrig gespanntem Seil
Neues Rheinland, Nr. 3, 1979
Ton Naaijkens: Lyrik und Subjekt. Pluralisierung des lyrischen Subjekts bei Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, Ernst Meister und Peter Rühmkorf. (= Diss. Univ. Utrecht 1986) Utrecht, 1986
N. N.: Nicolas Born: Gedichte 1967-78
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.8.1981
Irmela Schneider: Fernsehen in der zeitgenössischen Literatur. (Schneider nimmt kurz Bezug auf Borns Gedichte „Tänzerin“ und „Fernsehen“).
Norbert Oellers (Hg.): Vorträge des Germanistentages Berlin 1987. Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung. Bd. 4, Tübingen, 1988
Godehard Schramm: Der einzig Einheimische
Nürnberger Zeitung, 22.4.1978
auch als: Ein Spiegel von Armseligkeit
horen, Jahrgang 24, Heft 2, 1979
Klaus Siegel: Unilevertranen; een poging tot rehabilitatie
Literair Paspoort, 30. Jahrgang, Nr. 279, Juli/August 1979
Jürgen Theobaldy: Die Zukunft des Horrors
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.1.1983
Magdalena Vogel: Möglichkeiten aus der Vorstellung
Tages Anzeiger, 30.9.1978
Jürgen P.Wallmann: Warme Zimmer, dampfende Abendessen. Schmerzhafte Vergleiche zwischen phantastischem Anspruch und realem Angebot
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 26.3.1978
auch in: Rheinische Post, 25.3.1978
Mannheimer Morgen, 22.4.1978
RB, 5.9.1978
Thomas Zenke: Was durch uns hindurchgeht in dieser Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.4.1978
auch in: DLF, 16.4.1978
– Zu den Gedichten von Nicolas Born. –
Vier Gedichtbücher umfaßt der neue Band Gedichte von Nicolas Born, und er deckt damit die Zeitspanne der letzten elf Jahre ab. Dieser Spannungsbogen ist nicht nur für den interessant, der anhand von Gedichten westdeutsche Geschichte zurückverfolgt – in diesen elf Jahren hat sich auch das Schreiben des Lyrikers Born gewandelt: weniger sein Stil, mehr seine Blickrichtung. „In Berlin 1966“ heißt es (typisch und ironisch zugleich):
Kiefern und Birken interessieren uns nicht
Fontane und Raabe lassen wir links liegen.
Von Epidemien befallen
sind wir noch immer gut zu Fuß…
Elf Jahre später in einem Liebesgedicht diese Zeilen:
Wir lernen nicht mehr die Gräser zu unterscheiden
Sträucher, die Bäume…
Beide Male ist von Abstand die Rede – beim ersten Mal ist es die absichtliche Abkehr, beim zweiten steckt mehr Erfahrung dahinter; Liebe (im weitesten Sinne) erfahrbar als Mangel.
Im ersten Gedichtbuch schrieb Born
Alles drehn wir um
als Ironie kommt es zurückgehinkt.
Diese Zeile könnte als Überschrift über einem ganzen Kapitel westdeutscher Literatur stehen. Es ist aus dem Abstand von elf Jahren interessant zu sehen, was der Lyriker Born damals sah, welche Lapalien, welche Geringfügigkeiten für ihn „Welt“ im weitesten Sinne waren – und man sieht dann auch, wie weit diese Lyrik der ironischen Bestandsaufnahme nur gelangen konnte: sie kam übers ironische Feststellen nicht hinaus.
Gewiß, ein aufmerksames Feststellen zugleich aber auch ein Spiegel von Armseligkeit, wenn man sich, wie gesagt, vorgenommen hat, im Gedicht nur die „rohe“, die „unartifizielle Formulierung“ zuzulassen, wenn man ganz und gar auf jene fatale Objektivitätsgläubigkeit des „Direkten“ eingeschworen ist. Dann machen einen wirklich Berichte „von der Gartenschau befangen“. Vielfach sind diese empfindsamen Gedichte auch Kapitulationserklärungen – wie von einem untergehenden Schiff werden Meldungen in die Welt gefunkt:
genau aus diesen und jenen Gründen sinken wir, aber wahrscheinlich sind unsere Funksprüche an den falschen Empfänger gerichtet…
Die Gefährlichkeit, sich aufs rohe Allgemeine einzulassen, muß Nicolas Born bald gespürt haben: wiewohl in der Diktion unverändert wird der Schreiber nach und nach das Reagieren mit Wörtern hinter sich lassen und sich dem „Auge des Entdeckers“ zuwenden. In diesem dritten Teil des neuen Gedichtbuches stehen zwei Möglichkeiten der Lyrik unserer Tage dicht beieinander.
Da ist das Collagengedicht „Ansage und Absage“ – einige Zeilen lauten so:
Peter Hamm über Peter Handke
Vietnam im Peter Hammer Verlag
der grüne Schrank
Ernte 23
Artur Ludquist:
Gedichte…
Born hat ja vielfach mit der Collage gearbeitet, hier zeigt sich die begrenzte Möglichkeit dessen, der das Unbegrenzte darstellen will: die Einzelteile sind nichts mehr wert, weil sie vollkommen beliebig, austauschbar sind.
Es zeigt sich auch, wer alles beschreiben will, mauert seiner Sprache die Fenster zu. Auf der Seite gegenüber das Gedicht „Licht an“:
Ich fühlte
daß außer mir
noch jemand
im Zimmer war:
…
Ich weiß genau
daß wir einmal
so froh waren
und nichts mehr
zu sagen war
…
Zusammen halten wir uns
eine Weile
über Wasser…
Welche Intensität und Genauigkeit, wenn Figuren ins Gedicht kommen, wenn nicht die Wörter ohnmächtig sind, wohl aber diejenigen, denen diese Worte gelten.
Dasselbe gilt für eines der letzten Liebesgedichte, in dem ebenfalls die Wörter wieder Gewicht bekommen, die Collage nur wie unterlegt wirkt (denn Born ist kein Lyriker des Assoziativen) – das Gedicht beginnt so:
Friede dem Frieden
und der Nacht über deinem Haus
…
Ich, einer wie alle, verletzt von Angst
komme täglich unverletzt
aus dem Kugelhagel heraus…
Viel Wahrhaftigkeit steckt in diesen Gedichten – das spricht für die Skepsis des Autors, deutet aber auch eine gewisse Fixierung auf Armseligkeit an, denn selbst wenn es nur ironische Volte wäre, was Born in einem „Feriengedicht“ (1969) sagt, müßte man sich doch fragen, warum sich ein Autor davon so beeindrucken läßt und damit der Sprache das Wasser abgräbt:
Dieses Gedicht handelt von Ferien Der Himmel
ist blau das Meer blau
aaaaabei uns geht es auch ziemlich normal zu
ein Tag ist schnell um (verfliegt) und was dann?
„Dann“ kamen „ein paar Notizen aus dem Elbholz“, die das Gedichtbuch beschließen – und diese aforistischen Gedichte sind dem Lyriker Nicolas Born am eindrucksvollsten geraten, denn hier endlich werden die früher so monolithischen Lapalien endlich in weiterem Bezugsrahmen gesehen, das Staunen wird schärfer, denn das Unmittelbare wird Sprache, die dem „Rohen“, dem „Unartifiziellen“ nicht mehr so zu trauen scheint wie früher:
Alles nicht aus Ideen gemacht, schwarzes
nasses Geäst der geschmähten Eichen
rumpelt am Himmel
Born nähert sich „wie der einzig Einheimische“ dem Elbholz an – er ist ihm näher als die Einheimischen und eben auch ferner (und dies wird sehr wahrhaftig ausgesprochen).
Godehard Schramm, die horen, Heft 114, 2. Quartal 1979
– Bemerkungen zum poetischen Prozess am Beispiel von Nicolas Born. –
Jedes ,Nach‘ hat etwas Elegisch-Larmoyantes, wenn nicht Abgeschmacktes, verweist auf einen Zustand aus zweiter Hand, auf ein Schattendasein mit Katzenjammer als Grundton. Im Danach stundet sich die Zukunft ebenso wie sich die Idee einer Avantgarde widerruft.
Das poetische Sprachmaterial ist stets vorgeprägt. Der kreative Umgang mit ihm erfordert zunächst intensive Sprachkritik. Mit Bezug auf Celan hatte sich dazu Thomas Kling, der einer der sprachinnovativsten Lyriker nach Celan gewesen war, wie folgt geäußert:
Es gibt bei Celan Ansätze auf dem mineralogischen Gebiet, aber das ist eine so kristallin verhärtete Angelegenheit, dass es zu einem Glimmen gar nicht mehr kommen kann. Er jagt die Schichten, die Materialien mit einer Hochgeschwindigkeit aufeinander, aber nicht mit ,Nachbildbeschleunigung‘, sodass sie nicht mehr miteinander reagieren können, sondern als totes Gestein nebeneinander stehen bleiben und durch den Dichter zur Schlacke verurteilt werden.1
Klings Ideal bestand dagegen darin, „Wortschichten untereinander zum Glimmen zu bringen“. Dieses Ineinanderfälteln von Geologie und Sprache sah er bei Novalis und vor allem bei Droste-Hülshoff in Vollendung erreicht, bei Celan versucht, aber auf kommunikativer Ebene weitgehend misslungen.
Im Stadium des Danach entstehen oft seltsame Hybride, Poetologeme gleichsam, von denen einige Franz Wurm unter dem Titel „Gepresster Celan“ selbst kreiert hat. So dichtet der vielleicht engste Freund Celans heute Verse wie diese:
DIE LICHTRÄNDER haben sie
aus dem Rahmen gedrängt
von vornherein und malen
drastische Schatten.
Oder als unmittelbare Anspielung und Parodie auf den Celan-Wissenschaftsbetrieb:
INSEMINARISIERT
Sie haben ihn aus der Luft getragen
in ihre Lehre. Dort
rätseln sie über seinen Atem.2
Ähnliches versucht der in der Voivodina geborene Lyriker Bosko Tomasevic, mit Versatzstücken aus Celans Biografie arbeitend, wenngleich in deutlicherer Epigonalschieflage, die dann erreicht ist, wenn der Grad der Verwandlung des Materials geringer ist als der Hinneigungswinkel zum Vorbild:
WÜRDEST DU um Celan
zu besuchen
vom Neckar kommen?
Warst du im Hölderlintum?
Kehrst du heim frostgeschmiedet
nach Czernowitz
um gauklerisch das
Sprachgitter zu werfen
auf Atemkristall?3
Nachfolgend geht es um einen Fall eines eher unerwarteten Celan-Bezuges, der – auch das ein Phänomen im Danach – zu einer entschiedenen Absetzung von ihm führte. Die Rede ist von Nicolas Born.
Welches Omen geht von Namen aus? Was ist von solchen Omen zu halten? Born zum Beispiel. Auffallend, einsilbig, altdeutsch zudem: ,Born‘ meint Quelle. ,Born des Lebens‘ – ein Ausdruck, der sich in jedem poetischen Hauskalender seit der Romantik findet, bis, ja, bis die nazistische Einfärbung des Deutschen daraus ,Lebensborn‘ machte. Dadurch geriet ,Born‘ in das Wörterbuch eines Unmenschen, bis ein am letzten Tag des Jahres 1937 in Duisburg geborener Chemigraph namens Nicolas Born diesen Namen durch die Art seines Schreibens wieder rehabilitierte. In seinen Gedichten hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, Namen einfach aufzurufen: „Röhler“ oder „Piwitt“, Namen von Freunden, deren Namen nach gewissen Vogelarten klangen. Paradoxausführlicher wurde er nur in einem Fall:
auf Wiedersehn Günter Grass der wie ein Tier arbeitet
aber sonst eigentlich nicht viel macht.4
Die Kriegskindheit hinterließ tiefe Spuren in Nicolas Borns schmalem, gewichtigem Werk. In seinem Todesjahr 1979 veröffentlichte er den Roman Die Fälschung, die später von Volker Schlöndorff verfilmte Geschichte des Journalisten Georg Laschen, der über den Libanon-Krieg und die Zerstörung Beiruts berichten soll.5 Dabei erweist sich ihm das bloße Berichterstatten als Qual und „Fälschung“ ebenso wie seine Beziehungen zu Menschen. Authentisch scheint in seinem Leben nur die Zerstörung zu sein, jene um ihn und in ihm. Die Fälschung gleicht einer bitteren Frucht von Borns Kriegskindheit, dargestellt als ein Stilleben des Grauens, in dem die ungeheuerlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Monotonie des Alltags werden.
Kostproben eines Erzählens, das sich eingedenk einer womöglich auch gefälschten Sprache vollzieht: „Vielleicht waren alle Fotos von der Wirklichkeit nicht in Ordnung, falsch, alle Sätze über die Wirklichkeit falsch.“ (53) „die Sätze waren leer, er hatte darin nichts fühlen können, sie erfassten nicht, griffen nicht auf, was er gemeint hatte, das ging bis an die Wörter, die ihm entleert, hohl vorkamen, so als hätten sie über Nacht ihren Nutzen verloren, seien ausgeschieden worden aus dem Verständigungskreislauf.“ (S. 128) „Deutschland, wie das klingt. Hörst du, wie unangenehm Deutschland klingt, wie stählern, wie trostlos und hartnäckig. Es dröhnt noch immer so.“ (S. 130) „Wann immer sie etwas sagte, breitete sich darin das Ungesagte vielfältig aus.“ (S. 157) „Alles zerrt und stülpt sich um in sein Gegenteil. Eine gewaltige Chemie der Absichten oder die Absichten der Chemie.“ (S. 175) Wer so über den Klang seines Herkunftslandes schreibt, mag die „Todesfuge“ gelesen haben. Und wer von der „Chemie der Absichten“ weiß, dürfte mit Nietzsches Formel von der „Chemie der Empfindungen“ vertraut gewesen sein.
Berichten müssen wo der Ausdruck von Empörung am Platze wäre. Schreiben müssen in einem „abführenden Mitteilungsstil“, der alles entsorgt, was ist.
Jeder Satz von brutaler Sachlichkeit, jeder Inhalt, auch der genaueste, eine völlige Anonymität. (S. 193).
Berichten mit vom Geschehenen bereits infizierten Worten, das ist die Qual des Georg Laschen, der seine Berufskrise mit der „Krise der Berichterstattung“ im Zeitalter der „zynischen Vernunft“ (Peter Sloterdijk) gleichsetzt (S. 241).
Vor dem Hintergrund schreibt er wieder und wieder aus Beirut seiner ihm längst entfremdeten Frau ins norddeutsche Flachland. Er möchte das „Falsche“ in deren Leben, die Scheinheiligkeit des Normalzustands, das Trägheitsgesetz von „Gewohnheit und Agonie“ durchbrechen, ihrer Kinder willen, damit nicht auch sie dieses „Falsche“ weiterschleppen müssen, sondern mit wirklichen Entscheidungen konfrontiert werden, die immer auch Entscheidungen für bestimmte Wörter sind, eine genaue Sprache, die in einem nachvollziehbaren Verhältnis zum Gefühl stehen soll. Überraschend für ihn selbst schreibt Georg Laschen: „Vielleicht sind die pathetischen Wörter hier die genauesten“. (S. 261) Weil sie Leiden und Leidenschaft beinhalten.
Und der Autor Nicolas Born, der vom Chemigraph zum Psychographen, ja Logographen wurde, und das als Prosaschriftsteller und – mehr noch – als Lyriker, wie lässt sich sein Verhältnis zur Sprache fassen, wie jenes „Nach“ beschreiben, in dessen Schatten er dichtete?
Borns poetisches Verfahren hat etwas vom Vermögen des Sumpfrohrsängers, der ,Lieder‘ singt, die nur aus Imitationen anderer Arten bestehen, die sie einmalig zusammensetzen. Diese Vogelart kombiniert ihre Imitationen des Gesangs anderer Vögel auf eine so eigene Weise, dass die imitierten Vogelarten darauf gar nicht mehr reagieren.6 Mir will scheinen, dass dies als ein Paradigma für das poetische Verfahren in der Nachmoderne gelten kann.
Erkennbares Nachahmen bis zur Unkenntlichkeit des Nachgeahmten: dieses Verfahren scheint gerade für jene Lyriker unabdingbar, die im Schatten stilprägender Vorbilder aufgewachsen sind und sich der Frage stellen, wie man nach ihnen überhaupt weiter schreiben kann. Im Falle Nicolas Borns hieß ein solches Vorbild überraschenderweise Paul Celan. Zwar ist bei Born keine konsistente Auseinandersetzung mit Celan nachweisbar, wie sie etwa bei Ernst Meister vorlag, mit dem Born zeitweise in enger Verbindung stand. Wohl aber steht diese Bewunderung Celans am Anfang von Borns schriftstellerischer Arbeit, wie aus einem aus Essen im Februar 1960 geschriebenen Brief an Celan hervorgeht:
Essen, den 20.2.1960
Sehr geehrter Herr Celan,
bin 22 Jahre alt, Verehrer Ihrer Lyrik und Ihrer Übersetzungen. Der Grund dieses Briefes ist der, daß ich Ostern mit zu der Meute gehöre, die dann wie alljährlich Paris überfällt. Nun komme ich zu der mir selbst unverschämt klingenden Bitte, deren Erfüllung von Ihnen abhängt und mir ein großer Gewinn wäre.
Können Sie, wenn Sie Ostern in Paris sind, zu meinen Gunsten eine Stunde für ein nutzloses Gespräch opfern?
Für eine Nachricht, auch im Falle der Unmöglichkeit dieses Treffens, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Ich treffe Karfreitag mittags in Paris ein und werde Karsamstag und den ersten Feiertag dort sein.
Mit den besten Wünschen für Ihr weiteres Schaffen Ihr sehr ergebener
Klaus Born7
An diesem Brief fällt auf, dass Born auch den Übersetzer Celan verehrte, gleichzeitig aber mit jugendlicher Lust am Paradoxon kokettiert: Bittet er Celan doch um die Gunst eines „nutzlosen Gesprächs“. Eine Antwort Celans ist nicht überliefert. Er mag sich gewundert haben über dieses bizarre Ansinnen eines jungen Deutschen auch noch namens Born.
Drei Jahre später schreibt Born an Johannes Bobrowski; voraus gegangen sein dürfte ein Gespräch mit dem Dichter über die Shoa, denn Born bekennt in diesem Brief:
Herr Bobrowski, ich hoffe sehr, dass wir uns bei der nächsten Gelegenheit über das deutsche Problem der Judenvernichtung weiter unterhalten können. Verstehen Sie bitte, dass ich das alles hier und in den letzten Jahren geistig nicht so verarbeiten konnte wie andere Menschen. Ich bin 25 Jahre alt. Das soll keine Entschuldigung sein und ich kenne manche Dinge inzwischen besser, als es einem ruhigen Schlaf zuträglich ist, aber die endgültige Einstellung zu dem Schrecklichen habe ich noch nicht gefunden. Die konnten auch Sie mir in so kurzer Zeit nicht plausibel machen.8
In diesem Zusammenhang kommt Born dann auch auf Celan zu sprechen:
Ich habe die Todesfuge wohl verstanden, auch den Satz, der das spezifisch Deutsche charakterisiert, daß der Meister aus Deutschland am Abend das goldene Haar der Margarethe in Liebesbriefen beschluchzt und sogleich darauf seine Rüden hervorpfeift. Ja, sicher, ja, soweit reicht es bei mir, aber darüber wird mir alles transzendent. Dabei ist nicht etwa die Schuldfrage mein Problem. Ende der geschichtlichen Existenz?? Ich weiß nicht. Ist nicht die ganze Weltgeschichte ein einziges Blutbad, in dessen Pausen herrlich existiert wird? Wir Deutschen haben es natürlich perfekt praktiziert, aber ist das der alles entscheidende Unterschied zwischen uns und anderen Völkern? Vielleicht beziehe ich mich zu häufig auf andere Völker, aber muß man denn nicht immer vergleichen, um sich zu erkennen? Ich verstehe nicht. Soll ich mir einen deutschen und dazu ewigen Satan einreden?
Entschuldigen Sie bitte meine Konzeptlosigkeit. Seien Sie mir bitte nicht böse ob meiner Haltlosigkeit.9
Aufschlussreich an diesem Brief ist vieles: Zum einen die Befindlichkeit eines geschichts- und sprachsensiblen Menschen Jahrgang 1937 in Nordrhein-Westfalen Anfang der sechziger Jahre, als die deutsche Wirtschaftswunder-Republik mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen konfrontiert wird. Die Fragen, die dieser angehende junge Dichter stellt, entspricht den Fragen, die noch bis zum so genannten Historiker-Streit von 1985/86 virulent bleiben sollten: Kann und soll man die Shoa vergleichen? Ist sie Teil eines historischen Prozesses oder zu singulär, um sie mit anderen Verbrechen in Beziehung setzen zu können? Und wie ist es um die ästhetische Verarbeitung bestellt? Bezeichnend ist Borns Bemerkung, dass ihm in der „Todesfuge“ außer ein zwei konkreten Bildern „alles transzendent“ werde. Er kritisiert sie, weil sie ihm das „Ende der geschichtlichen Existenz“ zu signalisieren scheint – auch das eine über Hegel, der mit dem Jahr 1807 die Geschichte zu Ende gehen ließ, was Camus kritiklos zitierte,10 bis zu Francis Fukuyama immer wiederkehrende Problematik: die These vom Zuendegehen dessen, was uns bewußtseinsmäßig konditioniert hat.
Borns Brief verweist auch auf Ernst Meister, mit dem er in jener Zeit in engerer Verbindung stand und dessen eigene kritische Auseinandersetzung mit Celan auf Born gewirkt haben dürfte. Meisters These: „Ich habe mich nie auf der Flucht vor dem Satz befunden… Seine Preisgabe ist eine Eitelkeit derer, die sich mit der Feststellung von seiner Ohnmacht zieren“, richtete sich unmittelbar gegen Celan, so sehr er ganze Phasen seines lyrischen Schaffens mit Celan subtexthaft grundierte.11 Wie gesehen, sollte jedoch gerade der Prosaautor Nicolas Born zu dieser sprachdefätistischen Haltung, wie sie Meister beklagte, zurück kommen. Nämlich im Roman Die Fälschung. Meister zielte mit seiner existentiellen Lyrik auf eine im traditionellen Sinne sprachlich intakte Totalität des Dichtens, was die Verarbeitung von Motiven einschloß, die auch Celan gebrauchte:
IM ZEITSPALT12
Im Zeitspalt
ein Gedanke gewesen,
bis der Ewigkeitsschrecken
ihn umwarf.
Was folgt,
ist nicht Schlaf,
sondern Skelett.
Das wissen
die Verständigen aber.
Bei Born zeigte sich nun, dass er sich in seiner eigenen poetischen Praxis sowohl von Celan wie auch Meister entfernte, ohne beide wohl je ganz aus dem Sinn verloren zu haben. Borns Lyrik, auf sie hat zuletzt Peter Handke mit einer Auswahlausgabe (1990) neu aufmerksam gemacht, veranschaulicht die Bemühung zwischen Engagement und immer nötigem Kahlschlag, versuchter Subjektivität und auf schein-objektive Sachverhalte zielende Aussagen eine eigene Stimme zu finden, die sich immer wieder einem leihen wollte: dem Ausdruck von Wirklichkeiten. Born hätte sein Bemühen um Orientierung durch Schreiben durchaus mit Hinweis auf Celans Bremer-Rede begründen können, der darin die Formel prägte „wirklichkeitswund und nach Wirklichkeit suchend“. Dass Celan gerade auch deswegen für die „engagierte Lyrik“ bedeutsam war, hat Paul Hoffmann in Anlehnung an Marlies Janz, die Grundlegendes zum Engagementcharakter so genannter absoluter Poesie gesagt hat,13 am Verhältnis Erich Frieds zu Paul Celan eindrucksvoll gezeigt.14
Born umkreist die Frage nach dem, was ein Gedicht ist, ermöglicht und erzeugt: „Ein Mittag im Dorf macht noch kein Gedicht“, „Im Inneren der Gedichte“, „Zuhausegedicht“, so die Titel dreier Poeme, die man im weitesten Sinne ,poetologisch‘ nennen kann. Die Frage nach dem, welcher Stoff, Umstand oder Anlaß ein Gedicht mache, welcher Stimmung und sprachlichen Voraussetzungen es bedürfe, um Worte, syntaktische Fügungen zu einem poetischen Text werden zu lassen, diese Fragen erklärte Born ihrerseits zum poetischen Material.
ZUHAUSEGEDICHT15
Es ist der 12. November 1970 am Morgen
18 Grad Außentemperatur
drei Briefe und eine Karte im Kasten
zum erstenmal seit Wochen
ist die Sonne wieder ganz da
der Morgen eine Sendung in Farbe
wir können uns etwas wünschen
jetzt
Piwitt pflegt im Bad seine hohe Stirn
ein Gespräch über Sozialismus haben wir
rechtzeitig abgebrochen
ein paar Flugkörper sind im Raum
wir erwarten das Kind noch diese Woche
es soll ihm einmal nicht so gut gehen wie uns
aber vielleicht bringt es uns dem Glück
einen Schritt näher
noch gestern Nacht waren wir unglücklich
wir hatten zuviel vom Glück gesprochen
und den langsamen Fahrzeugen der Zukunft
sicher ist deshalb dieser Morgen so schön
einmal wollen wir für uns selber da sein
und für andere
das ist der Einsatz den wir heute wagen
Piwitt fragt mich ob er hier vorkommt
ja sage ich aber nur als Name
er ist zufrieden und bricht auf
zu einer Wanderung
Bevor es in das „Innere der Gedichte“ gehen kann, sehe man sich im Inneren einer Bleibe um, womit die Vermutung angedeutet scheint, dass man Gedichte ebenso wie Räume bewohnen könne. Eine bedingte häusliche Idylle an einem milden Spätherbsttag im Todesjahr Celans – ein Datum als lyrische Aussage, das Präsentisches evozieren, fixieren will und sie doch nur simulieren kann: Es ist: was ist? Ein Datum ist. Außenwelt dringt in die Innenwelt: Durch Briefe und Karten und eine sonnenverklärte Natur, die zur „Sendung“ wird, was medial und übertragen gemeint sein dürfte. Ein etwas unspezifisches Engagement liegt in der Luft. Piwitt, Freund des lyrischen Ichs, gemeint sein dürfte der Schriftsteller Hermann Peter Piwitt (Jahrgang 1935), steuert eine narzisstische Gebärde bei („pflegt im Bad seine hohe Stirn“) und eine selbstvergewissernde Frage. Theorie ist nicht gefragt; das „Gespräch über Sozialismus“ findet sein vorzeitiges, den Hausfrieden sicherndes Ende. Es geht statt dessen um einen „Einsatz“, eine Aktion, aber dieses „Engagement“ des Tages ist ein gleichfalls nicht genau benannter, vermutlich auf „das Kind“ bezogener altruistischer Akt. Piwitts Präsenz bei dieser Aktion beschränkt sich jedoch auf seinen Namen, was ihn veranlasst aufzubrechen – das aber „zufrieden“.
Das Gedicht behauptet einen zumindest umrisshaft erkennbaren Inhalt; die Form hebt drei Aspekte hervor: das Jetzt, das einer Sache Einen-Schritt-Näherkommen, das Dasein-Wollen für andere, was aber zur Loslösung des einen Aktionisten führt, der – ein romantischer Anklang – zum Wanderer wird. Paradox genug und den Wert des Altruismus einschränkend ist der Wunsch der Protagonisten, dass es dem Kind weniger gut gehen möge als ihnen.
Das „Zuhausegedicht“ endet mit dem Verlassen des Zuhause und der Aufhebung der Intimität. Hans-Jürgen Heise, der zur Generation Born und Piwitts gehört, eröffnete seinen neuesten Gedichtband Ein Kobold von Komet mit dem Gedicht „Das Gedicht“, das eine explizite thesenhaft vorgetragene Poetik vorlegt, die zu zitieren hier lohnt, weil recht genau auch Born Verfahren trifft:
Das Gedicht ist eine Versuchsanordnung
[…]
Das Gedicht plündert die Wandtresore
und räumt das Meißner Porzellan
ab vom Regal
[…]
Das Gedicht würgt an keiner Grammatik
es sagt was es fühlt und verschweigt
was es denkt Das Gedicht ist ein Tornado
der sich viel zu selten
durch die Rumpelkammer der Seele bewegt.16
Ein Wir, ein Ich, aber kein eigentliches oder nur implizites Du kennt dieses Gedicht, keine Du-Emphasen wie bei Celan oder Meister, nur Ich und Wir wie übrigens auch in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Gedicht“, das freilich Born zum Zeitpunkt der Niederschrift seines poetischen Textes noch nicht kennen konnte.17 Von Borns „langsamen Fahrzeugen der Zukunft“ wusste auch Brinkmann, der jedoch nicht sagen konnte, wohin mit ihr. Daher setzt er sie in Anführungszeichen.18
Schließlich befindet sein lyrisches Ich:
Die Zukunft zieht sich zusammen und
erlischt.
Das Statische, das Born zu vermeiden suchte, erweist sich bei Brinkmann als Bedingung der zu führenden „Restexistenz“.19 Das Problem wurde für Born in seinen späten Gedichten noch akuter. Das Gedicht „Entsorgt“ zum Beispiel, bringt diese Sequenz:
Mir fehlt die Zukunft der Zukunft
mir fehlt sie.
Mir fehlen schon meine Kindeskinder
Erinnerungen an die Welten
mir fehlen Folgen, lange Sommer am Wasser
harte Winter, Wolle und Arbeit
[…]
Die Trauer ist jetzt trostlos
die Wut ohne Silbe, all die maskiert Lebendigkeit
[…]
Kein Gedicht, höchstens das Ende davon
[…]
Kein Schritt mehr frei, kein Atem
kein Wasser unerfasst20
Ein Gedicht, das dringlich wirkt, ohne Pausen zu sprechen ist, durch Verluste eilt, wie Born an anderer Stelle sagt,21 ein Gedicht, dass sich die Pausen bis zu seinem Ende aufgespart hat, um sie dann nur umso wirkungsvoller einzusetzen und mit einem Zukunft indizierenden Wort zu schließen:
Gekippte Wiesenböschung, Engel, ungewisse,
warmer Menschenkörper und Verstehn
Gärten hinge breitet, unter Zweigen Bänke…
Schatten… Laub… im Wind gesprochen…
……….Samen22
Das „Zuhausegedicht“ wie auch der lyrische Text „Ein Mittag im Dorf macht noch kein Gedicht“ sowie „Im Innern der Gedichte“ desgleichen die poetische Sequenz „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“, Ende November 1977 aufgezeichnet, wie im Vorspann zu diesem Gedicht ausdrücklich vermerkt, nach der Lektüre von Salomon Geßners Idyllen, sie bezeugen allesamt Borns Umgang mit der wirklichkeitswunden Wirklichkeit. Besonders schonungslos geschieht das „Im Inneren der Gedichte“, dort, wo es um die lyrische Substanz geht. Und dort wird das Du zu einer Hilfskonstruktion, um nicht beständig Ich sagen zu müssen. Es ist ein Du, das sich mit der Wirklichkeit des Todes auseinanderzusetzen beginnt. Du, das sind in diesem Falle nicht die Anderen, sondern „Viele“ mit ihren prekären Identitäten:
du bist der Mörder
kreisend in der eigenen Blutbahn
[…]
du bist der ausgeschlachtete Indianer
[…]
die Rebellion der Gefangenen
[…]
du bist dein Tod.23
Die Pointe dieses Gedichts scheint, dass es den Weg in sein Inneres verweigert oder allenfalls andeutet, was sich da zutragen könnte. Die poetischen Prozesse, die sich im Gedicht abspielen, werden zunächst als eine Konkurrenz mit der Wirklichkeit bezeichnet, von der man aber nicht leben könne. Den Duktus dieses Gedichts prägt, dass nahezu jede Zeile mit einem „du“ beginnt, also mit einem Auftakt einsetzt, um thesenartig die Befindlichkeiten, Charakteristika, aber auch Möglichkeiten und Aussichtslosigkeiten des Du festzulegen. „Im Inneren der Gedichte“, so geht es einem allmählich auf, formieren und positionieren sich die Varianten des Du, zu denen gehört, dass es sich bei all diesen Zeile um Zeilen beschworenen Dus um Selbstanreden und Selbstprojektionen handelt: Du bist alles nur Denk- und Vorstellbare. Im Inneren der Gedichte vollzieht sich keine eigentliche Verwandlung mehr, sondern allenfalls eine Vervielfachung der Blickwinkel aufs Eigene. Steht die Unvernunft in Blüte, dann ist das ich-verdächtige Du eben „die Blüte und die Unvernunft“. Das Ich des Gedichts gleicht somit der Summe aller Du-Fiktionen. „Du bist dein Tod“, das meint doch auch: Man entwickelt sich zum Totengräber seiner Illusionen und bescheidendsten Utopien. Aus dem Fortschrittspathos von einst ist folgerichtig eine „Avantgarde der Frei-Küchen“ geworden.
Man darf dieses Gedicht wohl Borns radikalstes nennen, das alle Vorbehalte abgelegt hat und dieses Du oder Ich mit den „Vielen“ vergleicht, um es sich erkennen zu lassen, ganz so, wie er dies Johannes Bobrowski in seinem frühen Brief über Celan angekündigt hatte. Das Ich erkennt sich in diesem Prozeß zuletzt als Gegenstand der Rasterfahndung. „Gesucht wird ICH“, so beginnt sein Gedicht „Fahndungsblatt“ aus jener Zeit.
Man kann mich daran erkennen dass ich das CH
wie ein SCH spreche
Gelegentlich täusche ich meine Umgebung indem ich
das rechte oder linke Bein nachziehe
[…]
Ich schieße sofort24
Das verdächtige, allgemeingefährliche Ich verfährt nach Art der Selbstdenunziation. Sein Gedicht tendiert dabei nicht zum verstummen wie bei Celan, sondern – in jener Phase seines Schreibens – zum Unerhörten. Für Celan war dieses Unerhörte das Überlebt-Haben, wie etwa auch für Ludwig Greve (1924–1991), von dem die Zeile stammt:
Ich hatte Übung im Singen
mit geschlossenem Mund25
Born sorgte vielleicht eher die Frage nach dem Sich-Überleben. Deswegen: „Ich würde singen, verheerend, niederschmetternd / – große Orgel bei jedem Wind“, wie es im „Elbholz“ heißt.26
Was er zitiert in diesen poetischen Notizen sind ,lichte Wolken‘, die ,Lichtung‘, das ,abgelegene Gehöft‘, Celan-Anspielungen wie von ferne, die er in neue Wirklichkeiten stellt und für sich selbst wirken läßt. Das Verblüffende findet zuletzt natürlichere Bilder:
Sturmschneise, gesplissene Stämme
niedergeworfenes, weggeschütteltes Geäst
schwere Brüche – in der langen Stille
nach dem Sturm sieht das nicht
wie ein Schlafen aus27
Im „Innern der Gedichte“ öffneten sich für Born Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm aufgrund eines bestimmten Leidensdrucks keine lexischen Experimente, Wortbrechungen oder syntaktischen Verkrümmungen abnötigten; dort wurde es ihm möglich, noch einmal neu nach Natur zu fragen und dem Zusammenhang von Überlieferung und eigener Orientierungssuche. So etwa in seinem Gedicht
IM ZUG ATHEN – PATRAS28
Kahle Felsschädel, helle Augen
hell der Mund.
Alter Wortboden, wilder Rhododendron
auf der Höhe
Fruchtbar fruchtbar das Meer,
– Licht
scharfe elektrische Küsten.
Die Geometrie der Pflanzungen, und
der einzelne Olivenbaum
silberne Helligkeit, großer Sinn
kleinen Lebens, wie schwer verstehe ich.
Grüne Zitrone auf dem Sitz neben mir
hat wie viel mit meinem Leben zu tun.
Schatten des Zuges, Schatten des Esels,
viele dürre helle Bäume, kleine Schatten
in die Welt gesetzt,
kleine Liedchen, summt.
Auf antikem Wort-Boden scheint die Natur einen neuen Blick zu ermöglichen und ein gewandeltes Verhältnis zu sich selbst. Wären nicht die Schatten, „Liedchen“ ganz eigener Art; wäre nicht die unreife Zitrone, die in einem unbestimmten Verhältnis zum Ich steht.
Wann das jeweilige ,Danach‘ beginnt, ist offenkundig; schwieriger zu bestimmen ist, wie lange das Danach dauert. Wann tritt man aus dem Schatten, den der „Lichtzwang“ geworfen hat, ins lichte Offene? Im Poetisch-Künstlerischen betrifft diese Frage weniger einen Emanzipationsprozess denn einen Verwandlungsvorgang. So müssen denn aus bedeutenden Aprèsludes des Danach Vorspiele zu einem Unbekannten werden.
Rüdiger Görner, Jahrbuch für Internationale Germanistik, Heft 43, 2011
– Frühe Briefe von und an Nicolas Born. –
1
Der hier dokumentierte Briefwechsel mit meinem 1979 verstorbenen Freund Nicolas Born ist ein Fragment: Viele Briefe und Postkarten, mit denen wir einander auf dem Laufenden hielten, sind undatiert. Oft erlaubt nur der Poststempel die zeitliche Zuordnung; bei anderen fehlt der Antwortbrief oder der Text, auf den das Geschriebene sich bezieht. Anders als Borns komplett erhaltene Korrespondenz mit Peter Handke und Günter Kunert gingen Briefe und Postkarten bei Umzügen verloren oder fielen der Laxheit im Umgang mit geistigem Eigentum zum Opfer, wie sie um 1968 Usus war. Hinzu kommt, dass Born und ich jahrelang Tür an Tür wohnten, zuerst in Berlin-Friedenau, später im Wendland, und lieber bei Kaffee, Wein oder Bier miteinander redeten, statt Briefe zu schreiben – E-Mails gab es noch nicht. Dass meine Zuschriften an Born und dessen Briefe an mich getrennt figurieren, liegt auch daran, dass es sich, bei Licht betrachtet, um Selbstgespräche handelt, Rechenschaft ablegend über unser Leben und unsere Arbeit, Alltagssorgen und literarische Pläne; ernstgemeinte und ernstzunehmende Gedanken stehen unverbunden neben Blödeleien, wie sie ein Vorrecht der Jugend sind.
Kennengelernt hatten wir uns im Literarischen Colloquium Berlin in der Carmerstraße, wo Walter Höllerer angehende Autoren einlud, im Winter 1963/64 an einem Workshop zum Thema Prosaschreiben teilzunehmen: Unsere Lehrer hießen Hans Werner Richter, Peter Weiss, Peter Rühmkorf, Uwe Johnson und Günter Grass, und außer Born und mir waren Peter Bichsel, Hubert Fichte, Hermann Piwitt sowie zehn weitere Debütanten mit von der Partie. Born unterschied sich von den Übrigen durch seine proletarische Herkunft und den Ruhrgebietsakzent – erst später erfuhr ich, dass er nicht aus Essen, sondern vom Niederrhein stammte. Er hatte eine Lehre als Chemigraph absolviert, kein Abitur gemacht und nicht studiert, und das war keine Schwäche, sondern seine Stärke, weil er singen und boxen konnte und die soziale Realität der Adenauer-Republik von unten auf kannte, was seinem Schreiben zugutekam. Trotzdem war Born kein schreibender Arbeiter, wie Max von der Grün sie in der Gruppe 61 um sich scharte, sondern ein literarischer Selfmademan, der viel gelesen hatte, den Anfang des Ulysses von Joyce auswendig konnte und frühe Gedichte an Ernst Meister sowie Prosa an Dieter Wellershoff und Günter Grass geschickt hatte, die ihn zum Weiterschreiben ermutigten – letzterer half ihm mit einem Darlehen, sich als Autor auf eigene Beine zu stellen.
Sein Negersein wurde als besonders reizvoll empfunden, wenn man ihn bei Nacht sah, wenn man vielleicht durch einen herbeigeführten Zufall gemeinsam mit ihm nach Haus ging, auf ihn einsprach, bis er lachte – dann sah man ihn dunkel im Dunkel oder man sah ihn fast gar nicht, nur die weißen Zähne sah man, weil er lachte.
Mit solchen Sätzen, die er als Talentprobe und Visitenkarte hinterließ, hat Nicolas Born sich im Literarischen Colloquium eingeführt, und das war der angehende Autor, dem ich am 12. Juni 1964 von Berlin nach Essen schrieb:
Nun muss ich Dir endlich einmal auf Deinen letzten Brief hin nicht im Postkartenformat antworten, sondern richtig, mit Maschine. Das Dumme ist nur, dass das ä nicht funktioniert, ich muss ein a mit einem ” versehen, und das stört meine literarische Arbeit; Du wirst lachen, so etwas ist in der Tat von Wichtigkeit. Es ist schön zu hören, dass Du wenigstens über die Thingfeier des Hauses Kiepenheuer Kontakt zur Literatur hältst, und sei es auch nur mit Böll, der ja ein redlicher Mann ist und Katholik wie Du. Was habt Ihr dort denn unternommen, in der vulkanigen (sic) Eifel? Das Leben in Berlin würdest Du verändert antreffen, man sieht sich kaum mehr und jeder geht seinen Dingen nach, nur am Wochenende sind meist Partys im neuen Colloquium, wo man sich findet. Rühmkorf und Dein Freund Kopiun29 (oder so ähnlich) ist auch da, ein sehr netter Mensch, der uns alle wehmütig macht durch seine körperliche Ähnlichkeit zu Dir… Das neue Colloquium ist ein furchtbar träger, pantoffelhafter Haufen, die Jungs dort möchte man nicht für geistige Menschen halten, aber auch für nichts anderes Bestimmbares. Sie lassen sich ehrgeizlos von den englischen Autorenkollegen, die zweihundert Mark mehr beziehen, (wofür haben wir eigentlich zwei Kriege geführt?) übertreffen. Mein Zimmer ist sehr heiß und täglich 11 Uhr geht Neugröschel30 unter dem Fenster vorbei, mal in Hellblau, mal Schneeweiß, mal Müller-Rosé, heute Morgen mit einem kleinen Degen. Das Letzte stimmt nicht … Grüß Frau und Kind ausdrücklich – ich komme spätestens im August bei Euch vorbei. Viele Grüße – Buch
Wir sprachen uns mit Nachnamen an wie die Primaner in der Feuerzangenbowle, und der verspielte Ton meines Briefs war einerseits Schülerulk, andererseits von Robert Walser beeinflusst. Born hieß damals noch Klaus – erst später nannte er sich Nicolas und wurde so zur literarischen Person. Er war sieben Jahre älter als ich, und Hermann Peter Piwitt, mit dem zusammen wir eine Art Troika bildeten, war 1935 geboren: eine Generationskohorte der besonderen Art, zusammengehalten durch Bier, Bratkartoffeln und Wildwestfilme, die wir gemeinsam anschauten, manchmal zwei Filme hintereinander. Nach dem Mord an Kennedy marschierten wir mit Hubert Fichte zum Schöneberger Rathaus, wo Willy Brandt vom Balkon herab eine lallende Rede hielt – meine erste Demonstration, der weitere folgen sollten; der viel ältere H.C. Artmann stieß erst später zu unserem Dreierbund.
Obwohl er in Malmö lebte, wo ich ihn von Kopenhagen aus besuchte – mein Vater war Botschafter in Dänemark –, schlug Artmann die Einladung zur in Schweden tagenden Gruppe 47 aus. Born, Piwitt und ich aber fuhren nach Sigtuna und lasen selbstverfasste Texte vor. Es war mein zweiter Auftritt bei den 47ern – im Jahr zuvor hatte ich dort einen Achtungserfolg erzielt –, doch diesmal fiel die Troika Born-Buch-Piwitt in der Gruppenkritik durch. Ernüchtert nach anfänglicher Euphorie, schrieb ich folgenden Brief an den nach Essen zurückgekehrten Freund:
Lieber Born, Berlin, 18.10.1964
Du hast die 47er Lädierungen wenigstens zur Kenntnis genommen, meine Selbstzufriedenheit aber scheint so grenzenlos zu sein, dass ich sie nicht einmal spüre. Doch ich bin nicht stolz darauf. Piwitt habe ich heute gesehen; im großen Ganzen hat er’s verwunden. Was sollte er auch anders?
Weißt Du, dass Konrad Bayer sich in Wien umgebracht hat – aus unerfindlichen Gründen – es ist Tatsache. Danach habe ich ein paar vergebliche Schreibversuche unternommen. Es hat mir genützt, weil ich viel nachgedacht habe und mit neuen Plänen in Berlin angekommen bin: Ich will einen Roman schreiben. Das andere Schreiben war doch nicht entwicklungsfähig. Vielleicht komme ich endlich von meiner ,Masche‘ los. Vor allem aber sollte man sich vom literarischen Betrieb fernhalten, solange man überhaupt noch nichts gemacht hat – das macht einen sonst kaputt. Und über den Roman sollte ich nicht reden, ehe er geschrieben ist. Du siehst, wie tief meine Grundsätze gehen, dass ich sie, kaum aufgestellt, schon umstoße.
Das wäre alles. Mach’s gut – Buch
PS
In Kopenhagen hatte ich eine Blutvergiftung und bekam eine Woche lang Penicillin. Was so alles zusammenkommt: Blutvergiftung, Blinddarm, Konrad Bayer, Chruschtschow, Labour Party, Atombombe, Krach mit den Eltern, Reinfall auf der Gruppe 47 – das hat sicher mit den Sternen zu tun.
Nicolas Borns Antwortbriefe aus dieser Zeit sind unauffindbar – vermutlich habe ich sie verlegt oder verloren. An dem heute legendären Treffen der Gruppe 47 in Princeton 1966 nahm Born nicht teil. Nach der Landung in New York schickte ich ihm eine Ansichtskarte mit dem Bild der Freiheitsstatue:
Lieber Born, es ist schrecklich und schön zugleich, Klimaanlagen, entsetzlicher Komfort, unverständliche Leute und dazu die nervösen 47er – ich bin meistens betrunken wie jetzt – Buch.
Piwitt schrieb an den Rand:
Born, hier gibt es Hasen, Drosseln, so groß wie Raben, und wilden Schnittlauch auf grünen Matten. Das ist aber auch das einzige, was an die Heimat erinnert.
Die Tagung in Princeton, wo Peter Handke der Gruppe 47 die Leviten las – ich teilte mir ein Zimmer mit ihm im Holiday Inn – war mein erster Amerikabesuch.
Bald danach, im Herbst 1966, erschien im Suhrkamp Verlag mein Erzählband Unerhörte Begebenheiten, und Mitte September schrieb ich aus Kopenhagen an Born:
Letzthin hatte ich eine Lesung in Frankfurt mit Martin Walser, der auch etwas von meinem Erfolg abbekommen wollte. Durch meinen Charme gelang es mir, 4 (in Worten: vier!) Bücher zu verkaufen. Wie geht’s in Berlin? Ich komme gerade aus der Sauna, frisch und duftend wie eine Rose. Wirst Du mein Buch besprechen? S. 109 ist ein Druckfehler: Statt „Zukunft“ lies „Zunft“.
Und im Frühjahr 1967 schickte ich Born einen Kartengruß aus Moskau, wo ich meine Russischkenntnisse erprobte und Lew Kopelew traf – die UdSSR war damals noch eine terra incognita, schwer zu erreichen und abgeschirmt vom Rest der Welt:
Moskau, 10.4.1967
Lieber Born, so sieht’s hier aus – Pop-Art wie in Amerika.31 Schade, dass Du nicht dabei bist. Mir gefällt es ganz ausgezeichnet – leider bin ich krank.
Von Herbst 1967 bis Mai 1968 war ich Stipendiat am Writers’ Workshop der University of Iowa und schlug Born als Nachfolger für das International Writing Program vor, das Paul Engle und seine Frau Hualing Nieh damals aus der Taufe hoben.32 Nach meiner Ankunft schickte ich eine Postkarte in die Fredericiastraße nach Berlin-Charlottenburg, wo er in einer Souterrainwohnung hauste:
Lieber Born, hier kannst Du Romane schreiben! Das Land ist wunderbar, Steaks und Maiskolben doppelt so groß wie anderswo, außer Chinesinnen und Bier gibt’s keine Ablenkung. Ich fahre ein riesiges Auto und bewohne ein Vier-Zimmer-Apartment. Du hörst noch von mir.
Der nächste Brief vom 6.10.1967 klingt weniger enthusiastisch:
Hans C. Buch, 522 E. Bloomington, Iowa City, Iowa 52240, USA
Lieber Born,
ich habe ein Gedicht geschrieben:
Gib das Rauchen auf, Mao!
Geh aufs Land,
Bau Dämme, züchte Vieh,
Schreib Gedichte, schwimm ein bisschen.
Du brauchst die Bombe nicht, Mao.
Marx war ein Westler:
Schieß nicht auf mich!
Komm, wir trinken ein Bier!
Wie gefällt’s Dir? Vielleicht kannst Du’s als Loseblattlyrik verkaufen.33 Eine alles vergiftende Melancholie kettet mich an die minimalen Ablenkungen, die Iowa City, dieser misslungene Entwurf einer amerikanischen Universitätsstadt, zu bieten hat: Sex und Bier. Trotzdem gibt es anspornende Beispiele, u.a. einen philippinischen Writer, der 24 Stunden lang ohne Unterbrechung geschrieben hat und zuletzt ohnmächtig neben seinem Schreibtisch lag. Ein sehr begabter Junge – die Geschichte ist wahr! Paul Engle heißt der Mann, der mich eingeladen hat. Er sieht aus wie Walter Jens und hat die Funktion von Höllerer, viel beschäftigt, aber sehr nett. Gleich am ersten Tag sind wir mit dem Boot auf dem Iowa River und Stausee spazieren gefahren, haben Steaks mit Mais am Holzkohlefeuer gegrillt und chinesische Lieder gesungen, während ringsum die Fische sprangen und der Mond emporschoss. Die Landschaft hier erinnert an Sibirien, aber es wachsen Melonen. Die Gegend ist wellig-flach, in verschiedenen Grüns, mit Buschwäldern. Früher lebten hier die Sioux… Mit den Schriftstellern aus Asien und Afrika ist kein Dialog möglich. Die Chinesen – außer Wong May34 – sind reaktionär, weil aus Formosa, die Amerikaner hassenswerte Liberale, die gegen den Krieg sind, aber nicht richtig. Ich habe endlose Diskussionen gehabt mit bärtigen Trotteln, die nicht über das glimmende Ende ihrer Marihuana-Zigarette hinwegsehen, und begegne unerhörter Aggressivität, was praktisch-kritische Bewusstseinsbildung angeht…
Ich habe vergessen, Iowa City zu beschreiben. Das Städtchen besteht aus mehreren Straßenkreuzungen mit Kinos, Restaurants usw., ringsum Grünflächen mit weißen Häuschen im Kolonialstil. Da wohne ich… Auch ein Auto habe ich angeschafft, dessen rechte Tür nicht aufgeht (Dodge 1956). Sonntags fahren wir zum Angeln. Es ist schön hier – Dein Buch
Rückblickend fällt mir der Name Vance Bourjaily35 ein, ein in Iowa lehrender Romancier, für dessen Seminar ich einen Essay zum Thema Entfremdung beisteuerte – theorielastig wie alles, was ich damals schrieb.
Lieber Born, Iowa City, 14.12.1967
frag mich nicht, was ich hier mache. Die Herrschenden mit ihren ständigen Provokationen halten mich von der Arbeit ab. Es ist zum Kotzen. Ich bin aktiv, viel zu aktiv im hiesigen SDS,36 sinnlose Aktivitäten zumeist… Ich schreibe Artikel und feuere die Studenten zu Taten an, bei denen ich mich im Hintergrund halte. Letzte Woche hatten wir wieder eine Demonstration – 18 wurden verhaftet, ein Schädelbruch durch Polizeiknüppel, Tränengas – sehr unangenehm –, ich hab auch was abgekriegt. Wir hatten versucht, Dow Chemical, den Napalm-Hersteller, vom Campus zu jagen, wo er Absolventen an- oder abwerben wollte. Zwar wurde Dow nicht verjagt, aber es gab eine Konfrontation mit der Polizei, in deren Verlauf tausend Studenten eine Hundertschaft Polizisten zur Weißglut trieben: umso schlimmer für diejenigen, die sie schnappten. Sie wurden zu Höchststrafen verurteilt – 500 Dollar oder einen Monat Gefängnis nach Wahl, danach Rausschmiss von der Universität, Einziehung zur Armee und Entsendung nach Vietnam. Einige dieser Studenten kenne ich gut. Ich sage Dir, Born, es ist viel ernster hier als in Deutschland. Was soll man machen? Man muss was machen. Manchmal denke ich – das klingt frivol – das größte Verbrechen des Systems sind die Meisterwerke, die es verhindert oder ungeschrieben sein lässt, z.B. meinen Roman… In H.W. Richters Almanach der Gruppe 47 fand ich folgenden Satz: „Auch dieses junge Deutschland, geboren aus einem politischen Impuls mit revolutionären Zielen, wurde in das Gebiet der Literatur abgedrängt oder begab sich aus Ohnmacht oder frühzeitiger Resignation dorthin.“ Hier hast Du das Dilemma der Nachkriegsgeneration, zu der auch wir gehören… Was machst Du, Born, ich höre, Du seist verreist. Komm bald wieder. Schreibst Du was? Was schreibst Du? Schreib mir mal – Buch
Der Winter 1967/68 gehörte zu den hektischsten Phasen meines damals noch jungen Lebens mit privaten und politischen Verstrickungen, deren Knäuel ich schreibend zu entwirren versuchte. Und als sei das nicht genug, begleitete ich meinen Vater an Ostern 1968, während Rudi Dutschke niedergeschossen wurde und das Springerhaus brannte, ins Land seiner Vorfahren, nach Haiti, um Erbschaftsangelegenheiten zu klären. Von meinem Besuch im Armenhaus Amerikas unter der Voodoo-Diktatur von Papa Doc Duvalier berichten zwei im Telegrammstil gehaltene Postkarten an den fernen Freund. Beide sind undatiert:
Lieber Born, Du beklagst Dich, dass ich nicht mehr schreibe. Während die Schwarzen die Ghettos abfackeln, sitze ich in einem Restaurant der Millionärsstadt Miami und esse Austern. Es ist grauenhaft – komm nicht her. Morgen fahre ich nach Haiti, ins Land meiner Väter.
Und weiter:
Lieber Born, ich bin im Land meiner Väter, in Haiti. Seit drei Tagen wird hier ununterbrochen getanzt, und nachts höre ich die Trommeln. Faschismus ist eine respektable Regierungsform gegen die hiesige. Es ist schön und grauenhaft. Viele Grüße – Buch.
Haiti ließ mich nicht mehr los: Von nun an reiste ich so oft wie möglich dorthin und berichtete für deutsche Medien über das mühsam gebändigte Chaos des Inselstaats, der 1804, lange vor den spanischen Kolonien Südamerikas, seine Freiheit und Unabhängigkeit errang, nachdem aufständische Sklaven eine von Napoleon entsandte Armee vernichtend geschlagen hatten. Haiti wurde zu meiner zweiten Heimat, Himmel und Hölle zugleich, wo Voodoo und Surrealismus sich auf Exotik und Erotik reimten. Damit hatte ich ein zentrales Thema gefunden, das es mir erlaubte, persönliche, politische und literarische Obsessionen zu einem Roman zu bündeln, der 1984 bei Suhrkamp erschien: Die Hochzeit von Port-au-Prince. Aber ehe es so weit war, fuhr ich in meinem ramponierten Auto von Iowa westwärts und schickte im Juni 1968 eine Ansichtskarte von Arizona nach Berlin-Charlottenburg:
Lieber Born, wir sind durch die sengende Glut der Wüste und den Schnee der Rockies gefahren, haben wilden Indianern, Bären und Wölfen getrotzt, haben die Naturwunder des Grand Canyon gesehen und seit Tagen das erste Mal heiß geduscht.
Das uneigentliche Sprechen gehörte zum guten Ton zwischen Born, Piwitt und mir – Ironie ist ein anderes Wort dafür, und die Parodie tritt noch deutlicher hervor im Text einer Postkarte, die ich im Juli 1978, also zehn Jahre später, aus Kuba an Born schrieb:
Lieber Nicolas, ich wohne mit 16.000 Jungkommunisten in einem Erziehungsheim, schlafe auf steinharten Pritschen, werde Tag und Nacht ideologisch geschult und warte auf den Tag, da wir nach Angola geschickt werden – freiwillig natürlich! Es ist 30 Grad im Schatten und die Geier ziehen ihre Kreise. ¡Venceremos!
Hier schließt sich der Kreis: Inzwischen hatte Born sich von den Torheiten und Tollheiten seiner Jugend verabschiedet und war unter Peter Handkes Ägide aufgebrochen zu neuen Ufern, auf die der Titel seines Romans Die erdabgewandte Seite der Geschichte verweist.
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Ich überspringe einen Besuch in Nürtingen, wo Born mit seiner Frau Irmgard, einer Ärztin, vorübergehend sesshaft geworden war, und gehe gleich in medias res, nach New York: Von dort aus schrieb er mir am 28. September 1969 folgende Postkarte:
Liebe Buchs, es ist hier alles tatsächlich sehr groß und erstaunlich. Der arme amerika-unkundige Born steht am Empire State Building und sagt zu jedem Passanten Guten Tag. Wo ist die unselige Rothaut, die Manhattan für 24$ verkaufte? Ich suche nach Spuren von Frank O’Hara. Euer Born.
Der 1966 verstorbene Frank O’Hara gehörte mit Ted Berrigan und Kenneth Koch37 zu den Vorbildern, denen Nicolas Born wichtige Impulse für sein Schreiben verdankte: Kennengelernt hatte er diese und andere Dichter durch Rolf Dieter Brinkmann, der die in Deutschland noch kaum bekannten Autoren übersetzt und in Anthologien vorgestellt hatte. Dass Born auch Walt Whitman und William Carlos Williams, Neruda und Borges schätzte, steht auf einem anderen Blatt, ebenso wie seine panische Angst vorm Fliegen, die er mit Beruhigungspillen bekämpfte. Am 12. Oktober 1969 sandte er mir ein Lebenszeichen aus Iowa, wo er meine Nachfolge am Writers’ Workshop antrat:
Lieber Buch, es geht uns ganz gut. Für 135 Dollar haben wir ein Doppelappart (sic). Es ist steril, aber wir haben es schon ein bisschen schön versaut. Die Südamerikaner bilden eine erdrückende Mehrheit. Eigentlich habe ich immer Englisch gekonnt, wusste es nur nicht. New York hielt vieles Schöne für uns bereit. (…) Das kommt mir hier rundherum wahnsinnig unwirklich vor, eine Wüste, bunt aufgedonnert wie eine Kirmes. Anselm Hollo38 hat Dich sehr gemocht, obwohl Du ihn immer geärgert hast mit Deiner marxistisch/leninistischen Linie, sagt er… Ich habe einen Bericht über New York geschrieben für den Rias. Darin kommst Du auch vor als ehemaliger Bewohner des Martinique. Das Ganze ist aber eher ein Nachruf auf Frank O’Hara geworden. Der Lyriker Ted Berrigan hat uns das Village gezeigt, auch das Haus von O’Hara. Und die Taxis sind wirklich so bienengelb wie in seinen Gedichten.
In Amerika entwickelte Born eine neue Poetik, die er mit dem Stichwort Utopie umriss und in seinem Gedichtband Das Auge des Entdeckers exemplifiziert: nicht im Sinne bloßer Science-Fiction, sondern durch das Verfremden der automatisierten Wahrnehmung, indem er Floskeln wie gut und schön weglässt und dadurch Irritationen erzeugt wie im folgenden Text:
Liebe Buchs, Iowa City, 22.12.1969
vor allem wünschen wir Euch ein Weihnachtsfest und ein neues Jahr… Dieses Zeitvergehen erschreckt einen doch sehr, auch wenn man in Amerika ist, wo alte Leute versteckt gehalten werden. Nur sehr selten entdeckt man einen geduckten alten Menschen hinter dem Steuer eines Altwagens. Also vielen Dank für Das Kapital, das wir sicherlich lesen werden. (…) Wir werden hier mit Weihnachtsmusik eingeschläfert. Und Paul Engle arrangiert Partys. Gestern trafen wir ihn im Liquor Store, wir wollten gerade bezahlen, da entdeckten wir, dass wir unser Geld vergessen hatten. Paul Engle sprang sofort in die Bresche. Er hatte vor ein paar Tagen eine Lesung, nahm auch Stellung zu Vietnam, mit allgemein humanitären Erwägungen, was die Menschen sich so alles antun, sie hätten irgendwie ihren mind zu changen, sonst sähe es böse aus für die Welt. Mein Bewusstsein reagiert schon sehr entschieden auf den kapitalistischen Moloch; meine Vorkenntnisse kann ich mir nicht länger verheimlichen, aber ich fürchte, dass mein Schreiben dadurch nicht progressiver wird. Hollo sagte, dass unsere Generation wahrscheinlich die letzte ist, die noch alles essen, Ferien machen und vielleicht noch natürlich sterben kann. Die Formosa-Chinesen hier sind nett, aber doch eben nur Spielzeugchinesen. Wir fragen uns immer, ob sie wissen, warum sie hier geliebt werden. Aber geliebt werden möchte jeder, ich auch. Marx wird von Ullstein gebracht. Diese ungeheure Liberalisierung im Kapit. (sic) hat Karl noch nicht voraussehen können, erst recht nicht, da sie sich parallel zur Unterdrückungsmaschinerie entwickelt. Aber so kann ich in diesem Briefchen nicht weitermachen…
Die Meetings im Intern. Workshop sind grauenhaft. Es wird viel über Kafka und Joyce gesprochen, viel bloß eitler Unsinn. Wenn der Film Easy Rider nach Berlin kommt, müsst Ihr ihn Euch unbedingt ansehen. Die Black Panthers werden hier überall ausgerottet. Ihr habt davon sicher erfahren. Was meint Ihr, sollten wir nach Berlin zurückgehen nächstes Jahr? Ich habe die ganze Bundesrepublik im Auge, aber an keinem Ort möchte ich wirklich gern sein. Diese Frage ist so wichtig, dass Ihr sie uns bitte beantworten solltet. Aber vielleicht ist sie doch nicht so wichtig. Für heute herzliche Grüße von Euren Borns
Lieber Buch, 14.1.1970, 838 Mayflower, Iowa City/Iowa 52240
ich stecke schon mitten im Kapital, verstehe es auch. Denke viel nach über die vereinfachende Frage, ob es wirklich noch darauf ankommt, wer uns regiert, nicht vielmehr darauf, wie wir die Regierenden unter Kontrolle halten und dass sie uns nicht unter Kontrolle halten können. (Aus Spiegelgespräch mit Horkheimer). Wenn Du am 20. Januar, 20.15 Uhr Zeit hast, hör doch mal im 3. Programm Wortwechsel von Brinkmann und mir und schreib bitte, wie schlecht es war… Hier ist nun kein Platz mehr für ein großes Lamento über Iowa City. Sicher wieder beim nächsten Mal. – Dein Born
Liebe Buchs, Iowa City, 1.2.1970
wir hören gerade die letzte Platte von den Rolling Stones. Auf dem 8. Floor das laute Streiten der Autorenparteien, die sich gegenseitig vorwerfen, im 19. Jahrhundert, wenn nicht noch im 18. zu leben. Dem französischen Poeten wird täglich bescheinigt, dass die franz. Literatur seit Racine tot ist. Der Poet aus Chile wird von den anderen Südamerikanern geschnitten, weil Chile u.a. Neruda hervorgebracht hat, die anderen dagegen nicht. Der Argentinier pocht auf Borges, hat aber das Pech, nicht mit ihm befreundet zu sein, während der Kolumbianer mit ihm befreundet ist. Der Argentinier liebte eine scharfe Argentinierin heiß, bis sie sich dem Kolumbianer zuwandte. Da verfiel der Argentinier in grauenhafte Depressionen. Er begab sich in ärztliche Behandlung, um sich anschließend zu betrinken, bei Rot über eine Kreuzung zu fahren und im Gefängnis zu landen. Für 14 Std., bis Engle ihn herauskaufte für 500 Dollars. Seine Anfälle verschlimmerten sich. Gestern ist er abgereist nach Buenos Aires. Inzwischen hat aber die Argentinierin auch schon im Gefängnis gesessen, weil sie versucht hatte, einen Mantel zu stehlen. Aber Engle bringt alles in Ordnung… Es scheint ihm schwerzufallen, einen Deutschen einzuladen, weil er das Geld selber aufbringen muss. Die Südamerikaner werden von Ford bezahlt und die Chinesen von Washington aus…
Den Starbuck39 habe ich von Dir gegrüßt. Er wollte genau wissen, was Du machst und wie es Dir geht. Ich habe es ihm haarklein erzählt. Er geht bald hier weg und lässt Dich grüßen. Vor ihm wird in den Zeitungen gewarnt, weil seine Schecks ungedeckt sind. Zu viele Scheidungen. Ich habe ihn im Geschäft getroffen. Er kaufte ein Pfund Zwiebeln und ein halbes Pfund Gehacktes. Es ist erschütternd. Seid herzlich gegrüßt von Eurem Born.
Im Zentrum der von Born kolportierten faits divers aus dem Treiben der literarischen Bohème stand ein Paradiesvogel aus Buenos Aires, Luisa Valenzuela, die das Writing Program erotisch aufmischte, bevor sie sich als Favoritin von Susan Sontag in New York niederließ.
Iowa City, 5.3.1970
der Frühling kommt; wir haben hier wunderschöne Tage, die Sonne wärmt schon, während noch Eisschollen den Fluss hinuntertreiben. (Hatte ich schon geschrieben, dass wir uns endlich ein Auto gekauft haben? Einen Oldsmobile Super 88 für 300 Dollars. Sehr gut erhalten, vollautomatisch, verbraucht ca. 30 Liter Benzin auf 100 km. Aber Geld spielt ja noch immer keine Rolle. Heute sind wir nach Amana gefahren und haben Schinken, Käse und Wein gekauft. In Amana leben die Amaniten wie die Maden im Speck.40 Anschließend sind wir Buchs alter Empfehlung nachgegangen: auf den Friedhof. Das heißt, wir sind mit dem Auto zwischen den Gräbern herumgefahren, am schwarzen Engel vorbei bis zur Gruft der Familie Mandel.) Vor einer Woche tauchte hier ein langhaariger Poet aus New York auf, George Kimball. Er behauptete, meine Gedichte besser übersetzt zu haben als Eric Torgersen.41 Damit wollte er sich bei uns nur einschleichen. Er lebt ohne Geld, allerdings aus Prinzip. Er trägt ein Glasauge, hat einen sehr geraden Gang und kriegt in jeder Kneipe Bier umsonst. Er blieb fünf Tage. Kennt Ihr noch den Paper Place und die Boutique Things & Things? Alles niedergebrannt. George Kimball wollte uns einen seiner Romane schenken, hatte aber kein Exemplar; da stieg er in die Ruine ein und kam mit 5 Exemplaren seines Buches wieder heraus, geräuchert, durchnässt aber lesbar. Er schrieb hier ein kurzes Gedicht:
If I were
you and you
were me I
would be so beautiful
and you’d be
all fucked up.
Anschließend waren wir auch in der Paper-Place-Ruine (lebensgefährlich!) und holten uns Bücher, die wir noch nicht kannten. Kurz, ein Abenteuer nach dem anderen… Das Herumreisen in der Weltgeschichte macht einen Menschen nur heimatlos, unbehaust. Die Fremde ist wie ein Schwamm oder besser – wie ein schwerer Stein, der, wenn man ihn hochhebt, sein wahres Gesicht zeigt. Viele Grüße und Küsse, Euer Born
Iowa City, 17.4.1970
Vielen Dank fürs Kursbuch, über das ich mich sofort hergemacht habe.42 Buch, Du brauchst Dich wegen Deines Essays nicht zu schämen, auch wenn er etwas hüpfend daherkommt. Du hast Besseres geschrieben und man erkennt, dass Du dringend Ruhe und Selbstbesinnung brauchst. Jene Ruhe und Selbstbesinnung, von der ich etwas zu viel hatte hier. Trotzdem, ich hab’s mit Gewinn gelesen, es machte Spaß, von Dir mal wieder was Gedrucktes in den Fingern zu haben… Schön, was Du über mein Buch43 sagst, nur habe ich es leider noch nicht gesehen. Meine Exemplare werden beim Poststreik in New York verlorengegangen sein. Buch, ich merke sehr wohl, dass hinter Deinem vordergründigen Lob geradezu ein Abgrund der Kritik klafft…
Wir fahren hier am 1. Mai los. Es wird eine ähnliche Fahrt werden, wie Ihr eine hattet, vorausgesetzt, dass das Auto fährt. Wenn Ihr könnt, schreibt noch mal kurz vor dem 1. Mai. Von uns werdet Ihr danach nur noch Karten erhalten. Ich bin verrückt darauf, Euch wiederzusehen, und mit Dir, Buch, die Wege der Jugend wiederzufinden. Sehr vertrauliche Grüße von Eurem Born
Dieser Brief war eine self-fulfilling prophecy. Mitte Mai erreichte mich eine Ansichtskarte aus Arizona mit folgendem Text:
Liebe Buchs, auf Euren Spuren fahren wir westwärts. Es ist sehr aufregend, im Augenblick in Las Vegas = keine Spielhölle, sondern die Hölle schlechthin. Für den Grand Canyon gebrauchten wir das Wort meaningless. Zu groß, man kann ihn nicht mal fotografieren. In Liebe Nicolas
Einen Monat später erhielt ich eine Postkarte aus Mexiko, wo gerade die Fußball-WM stattfand:
Wir sind heute noch weiter nach Süden vorgedrungen, über den Popocatepetl (tirolisch) hinaus nach Oaxaca. Einmal haben wir Salat gegessen, das rächt sich; wir ertragen es in Demut. Alles spricht hier von Seeler und Müller, nicht von mir. Das Auto fährt immer noch ein Stück weiter. Die Indios wissen, dass Cortez ein Papiertiger war. Wir benehmen uns wie Touristen, machen Fotos und tragen luftige Blusen und Schnallenschuhe. Herzlichst – Euer Born
Nicolas Born war hinter schneebedeckten Vulkanen verschwunden, für immer, wie mir schien. Aber auf Umwegen via Süddeutschland und Rom kehrte er irgendwann zurück nach Berlin, wo ich ihm eine Wohnung besorgte. Räumlich waren wir uns näher denn zuvor – wir wohnten im selben Haus –, doch die Freundschaft war nicht mehr so innig wie vor dem Amerikaaufenthalt, der auf unterschiedliche Weisen unser Leben und Schreiben prägte: Parallelbiographien im Sinn von Plutarch, bis jeder seine eigenen Wege ging. Ein Jahr vor seinem Tod schickte Born mir eine Postkarte aus Budapest, die wie ein Gruß aus dem Jenseits klingt, als habe er die tödliche Krankheit vorausgeahnt. Auf der Karte ist eine Suppenterrine abgebildet mit einem Rezept für Karpfen, neben das er schrieb:
Liebe Buchs, seit langem habe ich wieder, zum ersten Mal, das Gefühl, genug Zeit zu haben. Ob das am Soz. liegt? Gegenüber ist die Vietnam-Botschaft. Jeden Morgen fährt ein VW-Bus vor und es steigen an die siebzig kleine Beamte aus, mit Acrylpelzen auf den Mantelkragen. Ich glaube, der Mann auf der Straße hat nur einen Wunsch: in andere Sprachen übersetzt zu werden. Mein Tisch ist voll von Rohübersetzungen. Bis bald, Euer Born
WER LACHT HIER, HAT GELACHT?
Eine Reminiszenz
Das schallende Gelächter von Walter Höllerer
das wiehernde Gelächter von Hubert Fichte
das bärbeißige Lächeln von Uwe Johnson
die meckernde Lache von Peter Rühmkorf
der grimmige Humor von Peter Weiss
das verschlagene Grinsen von Hermann Piwitt
die Lachkaskaden des Hans Magnus Enzensberger
im Rohr krepierende Lachsalven von Günter Grass
das homerische Gelächter von Johannes Bobrowski
das prustende Gelächter von Günter Kunert
das lautlose Lachen von Friedrich Christian Delius
das ansteckende Lachen von Peter Schneider
das bellende Gelächter von Fritz J. Raddatz
Klaus Wagenbachs gackerndes Gelächter
das grollende Gelächter von Erich Fried
das selbstzufriedene Lächeln von Siegfried Unseld
das fauchende Lachen von H.M. Ledig-Rowohlt
die grundlose Heiterkeit des Peter O. Chotjewitz
die stille Heiterkeit von Renate Höllerer
das heisere Lachen von Nicolas Born
Heiner Müller der pausenlos Witze erzählt
über die Jochen Schädlich nicht lachen kann
das Mona-Lisa-Lächeln der Gisela Elsner
Ingeborg Bachmann der das Lachen im Hals stecken
bleibt auf- und abschwellendes Lachen der Gruppe 47
das aus der geschlossenen Tür des Plenarsaals dringt
dumpf dröhnendes Gelächter auf dem Podium Allen
Ginsberg und Gregory Corso lachen um die Wette
sekundiert von Robert Creeley und Ted Joans ein
Lachkanon in den Artmann nicht einstimmt auch Ernst
Jandl bleibt ernst ersticktes Lachen am Caféhaustisch
lautes Gelächter in der Bar Kichern am kalten Büfett
Lachen im Turmzimmer Gelächter auf dem Bootssteg
des Colloquiums wo Michel Butor eine Angel auswirft
während Alain Robbe-Grillet sich das Lachen verbeißt
Hans Christoph Buch, aus Hans Christoph Buch: Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur, Frankfurter Verlagsanstalt, 2019
DIE FRÜHEN GRÄBER
In memoriam Nicolas Born
Schnatternde Gänse im Nebel
Knüppelholz kreuzweise gestapelt:
Bis hierher stand das Wasser
im Mai neunzehnhundertfünfundvierzig
Weiße Vogelschrift im Schnee
von Reifenspur unleserlich gemacht:
Hier hat der Rechtsstaat
sich profiliert
Flatternde Folie am Maschendraht
schilpender Spatzenschwarm im Vorgarten:
Wenn die auffliegen klingt’s
wie eine Ladung Schrot
Grünes Zollhaus am Deich
Mopedfahrer mit Ohrenschützern auf der Kreisstraße:
Die Gefahr kommt immer
aus dem Hinterland
Müder Schmetterling ruht aus
Gruß von Onkel Heinrich mit Familie:
Den Anordnungen des Personals (Toten-
gräber) ist unbedingt Folge zu leisten
Gefrorener Apfel am Baum
Treppe, die in schwarzes Wasser hinabführt:
Ihr Edleren, ach es bewächst
eure Male schon ernstes Moos!
Hans Christoph Buch
Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker
Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017
Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017
Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017
Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018
Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980
Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
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