Nicolas Born: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nicolas Born: Gedichte

Born-Gedichte

IM INNERN DER GEDICHTE

Du kannst nicht davon leben
aaaaamit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
aaaaaund alles zurück kriegen
aaaaaund durch Das Leben gehen
aaaaadurch schnell verfallende Bilder
das warst du
aaaaadu und Das Werdende Leben
Personen keuchend unter ihren Grabsteinen
aaaaaaaaaaMit einer ungeheuren Anstrengung
aaaaavon dir und allen Vorfahren
aaaaablendest du dich aus
Land und Wasser sind geblieben
der Himmel ist geblieben
aaaaaund du bist geblieben
du hast dich auf nichts einzurichten
kleine Sonnen erleuchten deine Demokratie Und
du wählst das Leben und den Tod
aaaaadu hast viele Schöne Stimmen
du bist Viele
deine Haut ist deine Haut Und endlich
aaaaanichts als Haut
du bist der Unternehmer des Lebens
aaaaader Veranstalter weißer Erscheinungen
du bist der RaumMensch im Freien
aaaaader Autor des Laufs der Geschichte
du bist imstande Zeit zu drucken wie Bücher
du wiegst und siebst und liebst Und im Wind
aaaaawehen die Ruinen der Diktatmaschinen
die Unvernunft steht in voller Blüte
du bist die Blüte und die Unvernunft
du bist Tag und Nacht bei Tag und Nacht
du bist der Mörder
aaaaakreisend in der eigenen Blutbahn
du bist Vater und Sohn
du bist der ausgeschlachtete Indianer
aaaaaund der registrierte Indianer
du bist alle Farben und Rassen
du bist die Witwen und Waisen
du bist die Rebellion der Gefangenen
du bist Geheul ohne Aufenthalt
aaaaaMesserwürfe Schüsse
du bist der phantastische Sportler der TraumMeilen
aaaaader Bildersturm im Haupt der Demokratie
du bist der Sprengmeister aller Ketten
du bist die geheim leuchtende Parole
aaaaadie Banderole
aaaaadie Avantgarde der FreiKüchen
du bist Mensch Und
aaaaaTier wenn es den Tod fühlt
du bist allein und du bist Alle
du bist dein Tod und du bist der Große Wunsch
du bist der Plan den du ausbreitest Und
du bist dein Tod

 

 

 

Zu dieser Ausgabe

Die vorliegende Ausgabe bietet eine möglichst vollständige Sammlung der Gedichte Nicolas Borns. Es wurden sämtliche veröffentlichte und ein Großteil der unveröffentlichten Gedichte aus dem Nachlaß aufgenommen.
Viele Manuskripte und Entwürfe Borns sind 1976 mit seinem Landhaus verbrannt. Dennoch ist – vermutlich in seinem Elternhaus – gerade aus der frühen Zeit einiges erhalten geblieben. Diese eher ungeordneten Materialien und Typoskripte lassen Spuren einer gewissen Auswahl durch den Autor erkennen. Deshalb werden hier auch solche Gedichte und Entwürfe erstmals der Öffentlichkeit im Druck zugänglich gemacht, die teilweise roh und fragmentarisch geblieben sind.

Der 1978 erschienene Band Gedichte 1967–1978 bildet als letzte umfassende und autorisierte Ausgabe zu Lebzeiten die Textgrundlage und Druckvorlage (DV) für den ersten Abschnitt (S. 5–248) der vorliegenden Ausgabe. Gedichte 1967–1978 vereinigte mit wenigen Ausnahmen die Texte aus den Bänden Marktlage (1967), Wo mir der Kopf steht (1970) und Das Auge des Entdeckers (1972). Unter dem Titel Keiner für sich alle für niemand wurden die seit 1972 entstandenen Gedichte in die Sammlung aufgenommen. Abweichend von Gedichte 1967–1978 werden hier jedoch die Fotocollage aus dem Band Wo mir der Kopf steht und die Zeichnungen von Dieter Masuhr aus dem Band Das Auge des Entdeckers wieder eingesetzt. Ferner war eine Abweichung von Gedichte 1967–1978 als Druckvorlage dort nötig, wo versehentlich Gedichte zusammengezogen worden sind, die im Band Das Auge des Entdeckers noch einzeln aufgeführt waren. Es handelt sich dabei um die Gedichte „Anfassen“, „Nachts“, „Licht an“ und „Als du gegangen warst“. Kleinere Fehler wurden im Vergleich mit früheren Drucken und Typoskripten korrigiert. Sie werden im Anhang nachgewiesen.
Den zweiten Abschnitt der Ausgabe (S. 249–271) bilden die Gedichte aus den Bänden Marktlage und Wo mir der Kopf steht, die nicht in Gedichte 1967–1978 aufgenommen worden sind.
Auch die in den Einzelbänden enthaltenen poetologischen Texte waren in Gedichte 1967–1978 nicht berücksichtigt worden. Sie finden sich im Anhang der vorliegenden Ausgabe (S. 548–556).
Den dritten Abschnitt (S. 273–308) bilden die einzeln veröffentlichten Gedichte. Als Druckvorlage gilt, sofern es im Anhang nicht anders vermerkt ist, die letzte autorisierte Druckfassung.

Der vierte Abschnitt (S. 309–402) vereinigt eine Auswahl unveröffentlichter Gedichte, Fragmente und Notizen. Als Ganzes wurde hier eine von Born früh zusammengestellte, aber nicht veröffentlichte Gedichtsammlung mit dem Titel Echolandschaft aufgenommen. Diejenigen Gedichte daraus, die bereits einzeln veröffentlicht waren, wurden im Hinblick auf den Zusammenhang und teilweise in früheren Fassungen abermals aufgenommen. Es folgt dann eine annähernd chronologische Auswahl weiterer unveröffentlichter Arbeiten, beginnend mit Borns ersten lyrischen Versuchen um 1960 und endend mit letzten Entwürfen, die offenbar während einer Lesereise anläßlich des Bandes Gedichte 1967–1978 entstanden sind.

Im Kommentar werden die im Nachlaß aufgefundenen Typoskripte Manuskripte gedruckter Gedichte nur bei relevanten Abweichungen der Druckvorlage angeführt. Bei größeren Abweichungen wird zugunsten der Lesefreundlichkeit die gesamte Fassung abgedruckt. Sind von einem Gedicht bis zu einem Dutzend Entwürfe mit geringfügigen Arbeitsschritten zwischen den einzelnen Fassungen erhalten, beschränkt der Kommentar in diesem Fall darauf, die wahrscheinlich früheste, d.h. die am stärksten von der Druckvorlage abweichende Fassung aufzuführen. Die Zwischenschritte werden, so sie relevant erscheinen, aber besonders stark voneinander abweichen, zugunsten der Lesefreundlichkeit zusammengefaßt (z.B. ts2–3).
Ebenfalls aus Gründen der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit wurde in einigen Fällen auf die detaillierte Beschreibung der Typoskript-Fassung zugunsten eines einfachen Hinweises auf deren Existenz verzichtet, sei es, weil sehr viele Fassungen erhalten sind, sei es, weil den bekannteren,  bzw. den gedruckten Gedichten Priorität vor den unbekannten, nie autorisierten oder noch rohen Entwürfen eingeräumt wurde.
Die zahlreichen Rundfunkaufnahmen der Gedichte Nicolas Borns, die häufig auch die erste Veröffentlichung eines Gedichts darstellten, wurden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit und der häufig mehr vorliegenden Manuskripte nur in wichtig erscheinenden Fällen berücksichtigt.
Da der Autor seine Manuskripte in den seltensten Fällen mit einem Hinweis auf den Entstehungszeitpunkt versehen hat, beziehe ich mich bei der Einordnung der unveröffentlichten Gedichte auf Hinweise durch die Textträger, stilistische oder biographische Merkmale und auf Aussagen meiner Mutter, Irmgard Born. Häufig ist eine sichere zeitliche Einordnung dennoch nicht möglich, deshalb sollte die Reihenfolge als Annäherung an die Chronologie der Entstehung verstanden werden.

Im 1973 in der DDR erschienenen Band Rezepte für Friedenszeiten, der Gedichte von Nicolas Born, F.C. Delius und Volker von Törne vereinigt, sind die Gedichttitel im Inhaltsverzeichnis mit einer Jahresangabe versehen, die hier wiedergegeben wird. Die verschiedenen Entwürfe und Fassungen der Gedichte lassen sich meist anhand der Korrekturen und einer Tendenz zur Verdichtung des Textes durch den Autor von einem Arbeitsschritt zum nächsten zeitlich einordnen.
Beim Vergleich von Fassungen bezieht sich die angegebene Zeilenzählung auf die Druckvorlage, wobei der Gedichttitel (Ü) und Leerzeilen nicht mitgezählt wurden. Im Fall des Vergleichs mit einer anderen Vorlage wird dies angegeben (wie ts I). Varianten innerhalb einer vollständig abdruckten Fassung werden unter Verweis auf deren Zeilenzählung vermerkt.

Nachwort

Der Schrank
Den alten Schrank, der solange ich denken kann den Nachlaß meines Vaters enthielt, haben wir kaum je geöffnet. Seit 1976 das Haus in Langendorf abgebrannt war, enthielt er alles, was an Manuskripten und Papieren geblieben war. Oft hatten wir uns vorgenommen, alles anzusehen an einem Wochenende im Landhaus in Breese – meine Mutter, meine Schwester Rike und ich. Aber immer erschien die Aufgabe zu groß, verhedderten wir uns in Fragen an meine Mutter und in Geschichten um meinen Vater. Das war immer schön, aber auch sehr schwer. Wir fanden keinen Anfang.
In all den Jahren waren immer wieder Anfragen gekommen von Journalisten, Doktoranden, Archivaren und Verlegern. Meine Mutter erzählte dann, denn sie war sich dessen sicher, die meisten Manuskripte, Borns ganzes Arbeitszimmer sei 1976 mit dem Haus verbrannt. Dann gab es das Gerücht, der Nachlaß „gebe nichts her“, mindestens dreimal sei er von professioneller Hand durchgesehen. Alles, was es wert gewesen wäre, sei längst veröffentlicht. Von Zeit zu Zeit öffnete meine Mutter den Schrank, legte einen Ordner oder Papiere zu den anderen und schloß ihn dann gleich wieder.
Für uns Kinder war der Schrank immer das einzige Terrain im großen Bauernhaus in Breese gewesen, in das wir nicht eindringen durften. An dem, was er enthielt, schien etwas zu hängen, ein Geruch, etwas Modriges, wie auch an den Fotos und Büchern, an denen teilweise noch Brandstellen zu sehen waren. Manches war, als habe mein Vater es gestern noch in seiner Hand gehalten.
Lange Zeit dachte ich, wenn nachts im Haus die Balken knarrten, meine Mutter hielte meinen Vater dort im oberen Stockwerk versteckt. Wir dürften nur nicht wissen, daß er da war.
Manchmal passiert es mir heute noch, daß ich träume, er käme zurück. Er ist dann blaß, das Haar schütter. Ich sehe die Striche, rot und gelb auf der rasierten und vermessenen Brust. Sie markieren, wo die Bestrahlung ansetzen soll. Wir sind uns fremd, gehen vorsichtig aufeinander zu. Ich bin glücklich im Traum und noch beim Aufwachen.

Später haben wir jeden Satz dankbar aufgenommen, den irgend jemand über unseren Vater sagte. Das waren immer schöne und oft sehr lustige Geschichten. Es ging darum, was für ein guter Freund er war, wie hartnäckig er gewettet, fußballgespielt, geboxt und gesungen hat. Daß er sehr gut gekocht hat. Und daß er ein wunderbarer Schriftsteller gewesen sei. Denen, die meinen Vater gekannt haben, schien es, fehlte wirklich etwas nach seinem Tod.
Erst später sagte man mir gerne ganz im Vertrauen auch schlechte Dinge über ihn. Die politischen Gedichte seien nicht Borns Stärke gewesen. Er hätte weiter Gedichte schreiben sollen, statt sich auf Romane zu versteifen. Die Romane hätten sich wenigstens verkauft. Ein Draufgänger sei er gewesen. Der Erfolg sei ja damals so schnell gekommen. Ich weiß nicht, warum sie sich plötzlich gezwungen fühlten, mir solche „Wahrheiten“ zuzutrauen, oder ob es das war, was sie nun meinem Vater gegenüber empfanden.

Als wir im vergangenen Jahr den Schrank öffneten, lag viel Staub auf den Papieren und schweren Ordnern. Sie waren vermischt mit Versicherungsscheinen, Bankauszügen, Praxispapieren. Manches war erst nach dem Tod meiner Großmutter vor ein paar Jahren aus Borns Elternhaus in Praest dazugekommen. Niemand hatte die Papiere geordnet. Nicht einmal der Freund Rolf Haufs, der kurz nach Borns Tod den Band Die Welt der Maschine herausgegeben hatte, war an den Nachlaß herangegangen.
Vieles von dem, was wir dann fanden, haben wir alle zum ersten Mal gelesen. Da waren Zeitschriften mit Namen wie Der Gummibaum oder Der fröhliche Tarzan aus den sechziger Jahren, Schreibhefte des Lehrlings Klaus Born aus den fünfziger Jahren, Vorlesungsverzeichnisse der Volkshochschule Essen, ordnerweise Zeitungsausschnitte, Briefe und vor allem Stapel von Manuskripten, Durchschlägen, Kopien, Abschriften.
Längst sind die beiden ersten Gedichtbände Marktlage und Wo mir der Kopf steht nur noch spärlich in Antiquariaten und Bibliotheken zu haben. Und auch der Sammelband Gedichte 1967-1978 ist seit einiger Zeit nicht mehr lieferbar. Deshalb freut es uns, hier nun die Gedichte Nicolas Borns manche von ihnen zum ersten Mal, wieder zugänglich machen zu können.

Mir scheint die Vergangenheit meines Vaters wie kaum eine andere vor allem einen Ausgangspunkt zu bedeuten. Ohne, daß er den Weg genau gewußt hätte dorthin, wo er sein wollte, scheint doch eine Umkehr für ihn zu jedem Zeitpunkt unmöglich gewesen zu sein.
Wenn ich die ersten Versuche, die frühen Entwürfe und auch die später verworfenen Texte hier zu seinen bekannten Gedichten hinzugestellt habe, dann deshalb, weil ich glaube, sie gehören dazu. Einer der guten Freunde meines Vaters hat mir gesagt, er selbst würde heute seine frühen Texte gerne wieder lesen, die ihm vor einigen Jahren wohl noch unangenehm waren. So sei es eben gewesen am Anfang, und manchmal sei das ja auch lustig. So möchte ich auch diese Auswahl verstanden wissen.
Während der Arbeit am Nachlaß ist das mit krakeliger Handschrift in einen Vormerkkalender von 1960 notierte Gedicht „Der spürt nicht dieses O“ zu einem meiner Lieblingsgedichte geworden. Es scheint mir auch – gerade gegenüber den von Ernst Meister so stark beeinflußten Gedichten „war es wer“, „Kein Wort“ und anderen schon eine ganz eigene Stimme zu enthalten.
So zeigt sich die Entwicklung der veröffentlichten wie der unveröffentlichten Gedichte wenig gradlinig. Zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände verging ja auch nur kurze Zeit. Marktlage erschien 1967, Wo mir der Kopf steht 1970 und Das Auge des Entdeckers zwei Jahre später, 1972. Neben den dokumentarischen und beinahe soziologisch anmutenden Gedichten, die präzis die Zustände und die Alltagssprache analysieren, stehen in Marktlage und Wo mir der Kopf steht die politischen, protestierenden, anklagenden Gedichte; und neben diesen steht vom ersten bis zum letzten Band das zeitlose, das Liebesgedicht, der Nachruf, der Traum vom Glück.
Aber unzweifelhaft hat sich vom ersten Gedichtband bis zur letzten erschienenen Gedichtsammlung Keiner für sich, alle für niemand sehr viel getan im Schreiben Borns. Zunehmend zeigen sich Liebe, Natur und auch der Tod als Unsicheres, entwischt das Glück und hinterläßt nur eine undeutliche Spur, wird das Leben selbst zu einem kaum Faßbaren. Wo anfangs mit dem Ausdruck „unter Dach und Fach“ noch eine frische Wut auf verwaltetes Leben zu spüren war, scheint in den späten Gedichten die „technifizierte und erstarrte menschliche Bewegung“ sichtbar. Das im „Auge des Entdeckers“ konstatierte „Wahnsystem Realität“, die „Megamaschine“, der mächtig Träume, Wünsche und Sehnsüchte entgegengestellt sind, ist in Keiner für sich, alle für niemand die „Panik der Materie“, eine Art Matrix, ein klammes Netz, in dem sich das Gefühl eines großen Verlusts verfängt. Der Krieg, der über die Nachrichten und die Zeitungsabonnements ständig in unsere Wohnzimmer einzudringen drohte, wurde nun zum persönlichen Horror, zum „vorbereiteten Gewimmer“. Der „glückliche Versuch“ glitt ab zur „schönen Trauer um verlorene Liebe“.
Born zog sich in seinen Gedichten mehr und mehr auf sich selbst zurück, aber das anfangs dabei entdeckte Hoffen, das Glück, das Schöne, so scheint es, wurde ihm bald grob entsorgt. „Inzwischen ist der Tod vorgedrungen bis zu uns“, heißt es in Fortsetzungsgeschichte. „Aber wir sind weniger gewarnt.“
Zunehmend hat Born das Gedicht als Medium selbst interessiert, wie er 1979 im Gespräch mit Manfred Voigts sagt:

Während es früher mindestens so geschienen hat, daß das Gedicht und das Genre benutzt wird, um etwas zu transportieren, um Angriffe vorzutragen, um Kritik zu üben, ist mir das Medium selber als ein Ort des Aufbewahrens von Blicken, von Gedanken, von Gefühlen, von Beziehungen, von Beschreibungen der Beziehungen wichtig geworden. Das ist das Verläßliche eigentlich, das Gedicht selber ist das Verläßliche, in dem etwas bleiben kann, das nicht mehr sein darf oder realiter nicht mehr sein kann.

Für mich sind die Gedichte meines Vaters eben das. Ein verläßlicher Aufbewahrungsort für meine Beziehung zu ihm und meine Verlorenheit ohne ihn. Ich werde oft gefragt, ob mir gefällt, was mein Vater geschrieben hat. Ich mag keine Gedichte so sehr wie die meines Vaters. Es ist ein unglaubliches Privileg, daß mir diese Gedichte, die ich in mir herumtrage solange ich denken kann, von ihm geblieben sind. Mein Vater machte sich oft lustig über mich, weil ich noch nicht lesen konnte. Er zeigte auf ein Schild und wollte mir dann nicht sagen, was da geschrieben stand. Vielleicht ist es das, was für mich die Gedichte so stark wirken läßt: Seine Sprache, die durch sie zu meiner werden konnte.
Aber es gibt noch einen anderen, weniger persönlichen Grund dafür, daß ich die Gedichte meines Vaters liebe. Heute ist so wahr wie damals, wie verloren der Einzelne in der Menge erscheint. Und vielleicht wird erst jetzt klar, wie ernst die Bedrohung und wie dauerhaft die Verletzung ist, von der Born in seinen Gedichten schreibt.
Die „Megamaschine“ ist heute kein Wahnsystem mehr, sondern nur noch System. Die marktwirtschaftlichen Gegebenheiten nehmen uns mehr denn je Entscheidungen ab. Die immer gleichen Horrornachrichten aus den immer gleichen Krisengebieten werden von Analysten verläßlich vorausgesagt. Ironie und Zynismus existieren heute so selbstverständlich neben Naivität und vor allem Banalität – als hätte das alles nichts miteinander zu tun.
Gerade in Zeiten der hysterischen Kommunikation auf allen Kanälen wirkt das Gefühl unserer Verbundenheit mit der Außenwelt längst nicht mehr beruhigend. Gefährdet von Spionageprogrammen, Trojanischen Pferden und einfachem Stromausfall setzen wir uns morgens an die Bildschirme. Wir wissen alles oder nichts, über die Zeit, die Terroristen benötigen, um eine Millionenstadt auszurotten, über die Ursachen von Amokläufen, über die Zukunft von genmanipuliertem Mais. Wir scheinen auch heute nie herauszufinden, woran etwas wirklich lag, dabei folgt auf jeden Unfall eine mindestens monatelange Investigation, auf jede Affäre ein jahrelanger Prozeß.
Mein Vater hat nicht mehr miterlebt, wie in den achtziger Jahren Nenas „99 Luftballons“ ein Welthit wurde. Wie das Waldsterben, die Raketensysteme, die äthiopischen Kinder im Fernsehen zu großen Gesellschaftsthemen wurden. Wie der Kalte Krieg die Welt so erfolgreich in schwarz und weiß unterteilt hat, daß nach dem Mauerfall eine Zeit lang gar nicht mehr so klar war, wo eigentlich „der Feind“ saß.
Wir haben uns mit diesen in meiner Kindheit als wirklich unerträglich empfundenen Zuständen erneut eingerichtet. Schwefeldioxid und Schwefeltrioxid sind durch internationale Abkommen reduziert, Pflanzenschutzmittel werden vor allem ins Ausland exportiert, die Atommülltransporte rollen wieder fast unbemerkt durch schwachbesiedelte Gebiete. Das Leiden an Arbeitslosigkeit und Chancenlosigkeit scheint mit Reformen geregelt, das Leiden an Einsamkeit und Lieblosigkeit mit Talkshows und „Chatrooms“. Auch in der Elbe, lieber Vater, können wir endlich wieder baden, der Elbdeich ist begradigt, die Elbtalaue ein Naturschutzpark.
In der Rede zur Verleihung des Stadtschreiberamtes von Bergen-Enkheim sagte mein Vater:

Doch Kinder und Jugendliche krümmen sich in dieser Perspektivlosigkeit, unter diesem Verdikt, was angeblich ihr Wesen sei: ihr Bausparertraum, ihre zufriedene Agonie. Sie krümmen sich in dem Bewußtsein, es ginge ihnen besser denn je zuvor. Es geht ihnen schlecht, soviel weiß ich. Wenn sie ihre Sinne benutzen, ihren Verstand, ihre ganze Kraft, wenn sie anfangen zu leben, geht es ihnen schlecht. Nur denen geht es besser, die sich dem Vergessen angeschlossen haben, die Augen zuversichtlich gerichtet in die Zukunft der Selbstvergessenheit.

Es geht uns besser, keine Frage. Schon deshalb scheinen mir die Gedichte meines Vaters wichtig – als Verläßliches, als Aufbewahrungsort für Blicke, Gedanken und Gefühle, die woanders nicht mehr möglich sind. Einer der letzten Gedichtentwürfe Borns muß wohl dieser gewesen sein, den er auf seiner Lesereise zum Sammelband Gedichte 1967-1978 notiert hat:

Als einmal der Zug in Fußgängertempo verfällt:
aaaaableibende Blüten und Vogelstimmen:
wir sind zurückgekehrt
nur etwas verschlissen von Schnelligkeit.

Einzelheit, damals
Wenn wir meine Großeltern in Praest in der Nähe der holländischen Grenze besuchten, mußten wir nach der langen Autofahrt jedesmal noch an der Bahnschranke auf das Vorbeifahren eines Zuges warten, bevor wir endlich vor dem kleinen Einfamilienhaus mit Garten halten konnten. Oma Helene jätete im Garten Unkraut. Auf dem Abendbrottisch hatte sie einen Eierschneider vorbereitet. In der kleinen praktischen Küche standen ihre „Aschebecher“, auf dem Badewannenrand lag ein Bimsstein und im Schlafzimmer tickt ein Wecker unter Dürers betenden Händen. An Opa Born erinnere ich mich nur noch in seinem Sessel, still, dann starb er, noch ein Jahr vor seinem Sohn.
Borns Mutter Helene arbeitete vor der Heirat als Abteilungsleiterin in einem Lebensmittelgeschäft. Sein Vater war erst bei der Autobahnpolizei in Duisburg, dann wurde er Dorfpolizist in Praest am Niederrhein, wo die Familie ein Dienstwohnung bezog. Am 31.12.1937 wurde, noch in Duisburg, ihr erstes Kind geboren, Klaus Jürgen. Zwei Jahre später kam die Tochter, Christa.
Die Familie hatte es nicht leicht. Werner Born wurde zwar aus dem Rußlandfeldzug zurückbeordert zur Polizei nach Praest, geriet aber bald darauf in französische Kriegsgefangenschaft. Helene und ihre zwei Kinder wohnten in dieser Zeit bei einem benachbarten Bauern. Bei seiner Rückkehr fand der Vater 1947 in einer Essener Firma Arbeit. Die Familie kam sehr beengt bei Verwandten im Stadtteil Altenessen unter. Bald danach begann sie mit dem Bau eines eigenen Hauses im Siedlerweg, bei dem alle Familienmitglieder mitzuhelfen hatten.
Schon in dieser Zeit schloß sich Born zum Lesen auf der Toilette ein, denn es war in seiner Familie nicht gerne gesehen. Mit seinem Vater hatte er ohnehin viel Ärger, weil er sich in dessen Augen nicht genug am Hausbau beteiligte. Born hatte das Gymnasium in Emmerich besucht, aber lange konnten die Eltern das Schulgeld nicht aufbringen. Nach dem Umzug nach Essen-Altenessen besuchte er wieder die Volksschule.
Nach dem Abschluß, Born ist 14 Jahre alt, besorgt ihm sein Vater in der Klischee-Anstalt Vignold eine Lehrstelle als Chemigraf. Er lernt hier, Druckplatten für mehrfarbige Plakate und Fotos in einem komplizierten Verfahren zu ätzen. Neben die Formeln und Zahlen schrieb er in seine Hefte Krimis und Mafia-Geschichten, deren Helden amerikanische Namen tragen.
Born war in der Kindheit Meßdiener, spielte Fußball wie alle anderen, war schon in der Lehrlingszeit Mitglied der Gewerkschaft und der SPD. Aber er nahm auch – das war ungewöhnlich – Boxunterricht und gewann später sogar einen Preis für Gesang im Singkreis Essen. Seiner Cousine und seiner Mutter brachte er zum Geburtstag oft kleine Ständchen dar. Und vor allem las er ununterbrochen Bücher. Schon bald nach Beginn der Lehre zog sich der als „seltsam“ geltende Junge auch immer öfter zum Schreiben zurück. In einem Interview von 1966 sagte Born:

Es muß Anlässe gegeben haben, sonst schriebe ich heute nicht. Welche es allerdings waren kann ich kaum mehr bestimmen. Ich nehme an, daß die erste Intention ein Produkt des Lesens war, wahrscheinlich jenes Gefühl der Unbefriedigung, das jeder Lektüre folgt. Das tritt interessanterweise auch nach dem Lesen guter und bester Bücher auf, ganz einfach deshalb, weil die eigene Phantasie die Geschehnisse mitinszeniert und sogar ständig unter einem emotionalen oder bewußten Korrekturzwang steht. Daher rührt meiner Ansicht nach die Unbefriedigung und auch der Aberwitz und Wahnsinn, es besser machen zu wollen.

Born gründete mit seinem Arbeitskollegen und bestem Freund Dieter Hartenstein, dem angehenden Autor Martin Kurbjuhn und dem jungen Lehrer Alfred Timmer den Club. Sie trafen sich im Elternhaus Borns in dessen gemütlichem Mansardenzimmer, sprachen über Literatur und lasen vor allem Klassiker – Joyce, Proust, Kafka, Döblin. Auch Borns Freundin Christel, seine spätere erste Frau, war meistens dabei.
Sie besuchten auch Kurse der Volkshochschule zu Geschichte, Philosophie und natürlich immer wieder Literatur. Wer an diesen Kursen regelmäßig teilnahm, bekam am Ende des Semesters die Gebühren zurückerstattet.
Born hatte schon damals eine unbekümmerte Art, Freunden und auch eher uninteressierten Kollegen Bücher in die Hand zu geben. In der kleinen Zeitschrift, die er und Hartenstein anläßlich eines Betriebsausflugs der Firma herausgaben, machten die Kollegen einen Schüttelreim, der ihn als „klug wie Einstein“ porträtiert, der „wie Caruso singt / Und Lyrik in die Zeitung bringt“. Auf dem Heimweg in der Straßenbahn zeigten sich die Freunde, was sie während der Arbeitszeit geschrieben und gezeichnet hatten. Einige Borns früher Gedichtentwürfe sind noch auf Bestellzetteln für Chemikalien geschrieben.
Mit den Freunden unternahm Born auch ausgedehnte Tramp-Reisen, für die er von einem verständnisvollen Arbeitgeber unbezahlten Urlaub genehmigt bekam. Monatelang blieb er in der Schweiz und Italien, war auf dem Balkan, in Griechenland, der Türkei und Syrien unterwegs. Auf einem Foto sieht man ihn in Sandalen auf einem Esel reiten. Es heißt, in Istanbul sei er sogar in einen türkischen Puff gegangen.
Born hatte schon bald nicht mehr vor, in dem Handwerksberuf zu bleiben. Er legte eine Begabtensonderprüfung für Lehramtsstudiengänge ab. Aber auch Lehrer wollte er nie werden. Er versuchte, bei der Rheinischen Post oder dem Essener Tageblatt ein Volontariat zu bekommen. In dieser Zeit schrieben Hartenstein und er wohl schon vereinzelt Buchbesprechungen. Was sie dabei verdienten, verpraßten sie dann mit ihren Freundinnen in der Schweinebörse, ihrem Stammlokal.

In der Essener Buchhandlung Baedeker entdeckte Born eines Tages Hannelies Taschau, die bereits in der Eremiten-Presse veröffentlicht hatte. Unverschämt nah rückte er an die junge Frau heran, während sie einen Celan-Band bestellte, und als sie ihren Namen nannte, ließ er sie nicht mehr in Ruhe: „Hab ich’s doch gewußt“, sagte er, „Sie schreiben ganz wunderbare Gedichte. Aber ich schreibe auch ganz wunderbare Gedichte.“ Er blieb hartnäckig, bis die eher schüchterne Taschau in ein Treffen einwilligte. Sie wurde in den Club geladen. Später gingen sie oft mit den Freunden zusammen schwimmen, aßen Brötchen, redeten stundenlang.
Born organisierte Lesungen Heinrich Bölls und Ernst Meisters in Essen. Meister schrieb er das erste Mal 1959 und stellte sich mit Gedichten und vielleicht auch einer Romanprobe bei ihm vor. Bei seinen anschließenden Besuchen begleiteten ihn die Freunde aus dem Club. Die Beziehung wurde zu einer lebenslangen Freundschaft. In seiner Rede zur Verleihung des Petrarca-Preises 1976 an Ernst Meister schrieb Born:

Anfang der sechziger Jahre habe ich von Ernst Meister etwas über die Genauigkeit und die Unsicherheit der Sprache gelernt und, was noch wichtiger war, er hat mir damals klar gemacht, daß die Poesie mit meinem Leben zu tun hat und nicht etwa ein entlegener Bereich für irgendeine scheinhafte Kreativität ist.

In einem meiner liebsten Gedichte, „Zeitmaschine“, in dem Born sich über den Volkshochschullehrer ärgert, der „schon immer für die Trennung von Werk und Autor eingetreten“ ist, verweist er schon einmal auf diesen fast natürlichen Ansatz im Umgang mit dem autobiografischen Element seiner Literatur.
Aber auch der sprachliche Einfluß Meisters ist in vielen Gedichten Borns deutlich zu erkennen. In einer Rundfunksendung, die Born 1976 über Ernst Meister verfaßt hat, sagt er:

Ich habe das Gefühl, einige von Meisters Gedichten in mir herumzutragen und eine besondere Membrane für sie entwickelt zu haben. Diese menschliche Verlorenheit, diese zerfetzten Weltbilder, Scherbengerichte der Geistesgeschichte – von Lebenshilfe kann da nicht die Rede sein, und trotzdem ist seine Poesie für mich ein über Vieles hinausgreifendes Erlebnis, und so ein Erlebnis kann schon auch ein Trost sein.

Ende 1960 veröffentlichte Born mit „Geäst im Fenster“ und „Thrakienischer Traum“ wohl seine ersten Gedichte in der Essener „jugendeigenen“ Zeitschrift Fliegende Blätter. Stimmen der jungen Generation, die Dieter Stamm herausgab. Klaus Born fungiert im Impressum dieser Zeitschrift als Mitarbeiter, ebenso wie Rolf Dieter Brinkmann.
Ein weiteres Gedicht, „Haltend die Standarte“, nahm Ernst Meister 1961 mit einem sehr positiven Kommentar in seine Serie zu Texten junger Lyriker in den Ruhr Nachrichten auf.
Einen ersten Entwurf dieses Gedichts hatte Born in einen Vormerkkalender von 1960 notiert. Dort findet sich neben vielen weiteren Gedichtnotizen, Fernseh-, und Hörspielentwürfen, ersten Roman-Aufzeichnungen sowie einer wohl für eine Zeitung geschriebenen Rezension zu Meisters 1960 erschienenem Gedichtband Die Formel und die Stätte auch folgende Notiz:

Für mich wird ein Gedicht uninteressant wenn ich es ausgelotet habe und es mir völlig erklärlich ist. Gegenthese zur absoluten Analysis: Ein Gedicht muß dunkle Stellen haben, die die Gewähr bieten, daß sie jedem bis zu einem bestimmten Punkte dunkel bleiben.

Im Nachhinein wird hier vor allem der enorme Schritt deutlich, den Born getan hat von der noch bis in die sechziger Jahre dominanten, hermetischen Schreibweise, der häufig stilisierten und mit Metaphern codierten Wortkunst, zu der Anfang der sechziger Jahre vor allem von Walter Höllerer und Hans Werner Richter propagierten unartifiziellen Sprache, die ohne Schnörkel, direkt und engagiert neue Wege beschreiten sollte.
Ende desselben Jahres, im Oktober 1961, heiratete Born Christel Martine. Sie wohnten zunächst gemeinsam in der oberen Etage des Elternhauses in Essen- Altenessen. Am 24. Mai 1962 wurde Borns erste Tochter, Undine, geboren.
Der Beruf des Chemigrafen war ihm inzwischen ein notwendiges Übel. Born versuchte Geld zu sparen, um sich für die Arbeit an einem Roman freinehmen zu können. Er schrieb Gedichte, fertigte Skizzen und Entwürfe für Hörspiele und Erzählungen an. Mit der Arbeit an Der Zweite Tag hat er wohl im Frühjahr 1962 begonnen.
Im April 1962 meldete sich Born für das Berlin-Seminar der Jungsozialisten des Bezirks Niederrhein an. Er überredete auch Hannelies Taschau mitzukommen. Das Programm findet sich, auf Hosentaschenformat zusammengefaltet, noch heute im Nachlaß. Neben einer Stadtbesichtigung, Empfängen bei verschiedenen Senatoren, dem Gewerkschaftsbund und den Zehlendorfer Jungsozialisten, fuhren Born, Taschau und wahrscheinlich auch die Freunde Martin Kurbjuhn und Walter Hoppe in jeder freien Minute nach Ostberlin, um Johannes Bobrowski zu treffen.
Wie zuvor schon bei Meister hatte Born alles organisiert. Er war begeistert von Bobrowskis Arbeit, und das wollte er ihm nun persönlich sagen. Bobrowski empfing die jungen Literaturbegeisterten, hörte sich freundlich ihre Texte an, gab auch Ratschläge. Born begann sich damals vordringlich für Prosa zu interessieren.
Während eines Besuchs bei Ernst Meister in Hagen hatte inzwischen dessen Frau Else Meister, die sich als Lyrikerin Alice Koch nennt, die Idee, auch Klaus Born solle sich einen Künstlernamen zulegen. Sie schlug Nicolas vor.
Im Februar 1963 zog Born mit Frau und Kind in eine eigene Wohnung in der Camphausenstraße in Holsterhausen. Hannelies Taschau ging damals nach Paris, um „nicht zu ersticken“ in Essen, wo sie für sich außer dem Kontakt zu Zeitungen, keine weiteren Publikationsmöglichkeiten sah. Von Zeit zu Zeit, erzählt sie, kam Born mit dem Kinderwagen vorbei, um die Mutter zu fragen, wann sie denn wiederkäme. Schreiben wollte er ihr nicht.
Ernst Meister empfahl Born an Hans Bender und dieser empfahl ihn zusammen mit Wolf Simeret, dem Sohn Meisters, weiter an Walter Höllerer. Born wurde – jetzt schon unter dem Namen Nicolas Born – als Stipendiat der Ford Foundation nach Westberlin geladen, wo er am ersten Lehrgang des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) vom November 1963 bis Februar 1964 teilnahm. Die Klischee-Anstalt gewährte ihm, wie zuvor schon für seine Reisen, sechs Monate unbezahlten Urlaub.

Das Weiterkommen
Bis die Teilnehmer des „Lehrgangs Prosaschreiben“ ein Zimmer gefunden hatten, wohnten sie im Hotel Schiff. Jeden Morgen trafen sie sich im LCB in der Carmerstraße 4, diskutierten Texte, versuchten Kriterien festzulegen. Mit den jungen Autoren Hans Christoph Buch und Hermann Peter Piwitt freundete sich Born schnell an. Gemeinsam nutzten sie die Zeit vor allem für die Entdeckung der Stadt. Sie unternahmen ausgedehnte Wanderungen zu Kleists Grab („Das Weiterkommen“), von Charlottenburg nach Kreuzberg, wo sie Günter Bruno Fuchs, der damals noch zur Künstlergruppe der Rixdorfer gehörte, durch die Kneipen führte, und Fahrten zu Bobrowski nach Friedrichshagen.
Das LCB-Projekt war nach dem Mauerbau von der amerikanischen Ford Foundation für das freie Westberlin großzügig finanziert worden und orientierte sich an den Creative Writing-Kursen amerikanischer Universitäten. Das Konzept, das Schreiben anhand praktischer Themenstellungen zu lernen, das Diskutieren von Texten und das programmatische Auftreten der Macher waren in Deutschland zunächst ein umstrittenes Experiment. Die bisher noch unbekannten, jungen Autoren proklamierten, sich „freikämpfen“ zu wollen „von den Holzwegen und Manieren, die mancher lebende und wohlbeleumdete, aber mittelmäßige Schriftsteller sein Leben lang nicht aufgibt“, so Piwitt in seinem Nachwort zu ihrem Gemeinschaftsroman Das Gästehaus, der 1965 erschien. Diskussionsleiter wie Walter Höllerer und Hans Werner Richter, Peter Rühmkorf, Peter Weiss und Günter Grass, Gäste wie Michel Butor und Uwe Johnson sorgten für Aufsehen.
Man begann in dieser Zeit allgemein über Texte, Form und Sprache zu reden. Kritiker diskutierten öffentlich mit Autoren. Kriterien einer „modernen Sprache“ wurden gegen Pathos, hermetische Schreibweise und Epigonen-Literatur der Fünfziger Jahre gesetzt. Die Forderung nach einer „für alle zugänglichen Literatur“ wurde laut und entwickelte sich bald zu einer nach „klassenloser Dichtung“.

Bis spät in die sechziger Jahre fanden Podiumsdiskussionen und Happenings in Serie statt. So nahm Born unter anderem am 7. Literarischen Werkstattgespräch in der IG-Metall-Schule Lohr teil, am 5. Oberhausener Werkstattgespräch, das der Journalist Dieter Schmidt medienwirksam unter dem Thema „Dichten Sie nur für Abiturienten?“ organisierte, und auch seine Lesung im Jugendzentrum Essen wurde „im Rahmen der Essener Autorengespräche“ veranstaltet.
Begonnen hatte dieser Trend sicherlich mit der Gruppe 47. Im September 1964 lud Hans Werner Richter Born, Buch, Piwitt und andere, deren Arbeit er im LCB kennengelernt hatte, erstmals zur Tagung der Gruppe im schwedischen Sigtuna ein.
Doch mit dem Schreiben dieser entschieden jüngsten Generation schienen viele der älteren Mitglieder kaum etwas anfangen zu können. Obwohl gerade Hans Werner Richter das politische Engagement und das literarische Experiment der jungen Autoren gefördert hatte, scheiterten die Neugeladenen in der Gruppe, ohne daß es zu einer greifbaren Kritik gekommen wäre.
Born las aus Der Zweite Tag und erntete ratlose bis ablehnende Reaktionen. Daraufhin beschimpfte Piwitt den gesamten Zuhörerraum mit den Worten, er fände es traurig, daß „ein paar Kreise hier“ dem Text das Gehör verweigerten. Hans Mayer, für den das Wort Kreise zu „Greise“ geworden war und der sich gemeint fühlte, legte sich daraufhin ins Bett und wollte nicht mehr aufstehen. Man riet Piwitt, sich zu entschuldigen, aber der reiste – „wegen Liebesgeschichten“ – noch in derselben Nacht ab. Für Born war die Tagung eine Enttäuschung.
Aber längst hatte sich sein Leben so sehr verändert, daß auch die Gruppe 47 ihn nicht mehr entmutigen konnte.
Neben der Arbeit im Literarischen Colloquium, Einladungen und vielen neuen Bekanntschaften, hatte Born in dieser Zeit für die Berliner Morgenpost, die Neue Ruhr-Zeitung und andere rezensiert. Walter Höllerer übernahm seine Erzählung „Der Boxkampf“ und das Gedicht „In der Erwartung“ in Akzente. Zwei Gedichte, „Stunde“ und „Wiederholung“, erschienen im von Hans Bender herausgegebenen Jahresring.
Mit seinem schon 1962 in einem Brief an Bobrowski angekündigten Roman-Manuskript war Born nach Abschluß des Lehrgangs 1964 nach Köln gefahren, um es Dieter Wellershoff für den Verlag Kiepenheuer und Witsch anzubieten. „Er kam mir unsicher und zielstrebig zugleich vor, als wäre die Zielstrebigkeit ein dringendes Bedürfnis nach Klarheit, das von einer fundamentalen Unsicherheit hervorgebracht worden war“, schreibt Wellershoff nach Borns Tod im Literaturmagazin. „Dann tat ich etwas, was ich nie vorher getan habe und auch nie wieder tun werde: – Ich sagte ihm, er solle zwei Stunden spazierengehen, dann würde ich ihm sagen, was ich von seiner Arbeit hielte.“
Während des folgenden Treffens der Autorengruppe des Kiepenheuer Verlags in Kronenburg an der Eifel traf Born auf Rolf Dieter Brinkmann, Günter Herburger, Günter Seuren und Günter Steffens. Später wurde diese Gruppe als Kölner Schule bekannt. Das „Programm“, das Dieter Wellershoff in der Hauszeitschrift des Verlages zur Ankündigung der jungen Autoren entworfen hatte, wurde mit dem im deutschen Literaturbetrieb üblichen, interessierten Skeptizismus besprochen. Letztlich habe der Neue Kölner Realismus aber nichts mit dem traditionellen, gar mit dem sozialistischen Realismus zu tun, so die Kritik, er behandele mit der „unmittelbaren Erfahrung der Umwelt“ ein tatsächlich neues Thema mit „etlichen möglichen Variationen“.
Im Februar des folgenden Jahres erschien bei Kiepenheuer und Witsch Der Zweite Tag. Der Roman galt als „Paradetext“ zu Walter Höllerers programmatischem Aufsatz „Veränderung“ im gleichnamigen Sonderheft von Akzente. Gleichzeitig wurde er als „erster Roman eines Autors der Kölner Gruppe“ gehandelt. Tatsächlich hatte Born mit viel praktischer Hilfe Wellershoffs den Roman nach seiner Rückkehr aus Berlin noch einmal gründlich überarbeitet. Mit Rückblenden nach Art des Nouveau Romans und einer Sprache „fast frei von Unarten, die man nicht mehr begehen darf“ bewerteten die Kritiker das Debüt insgesamt als talentierten aber überehrgeizigen Versuch. Heinrich Vormweg konstatierte abschließend, „daß die Übergewalt des Alltags, des Banalen, zur nicht mehr abweisbaren Erfahrung wird“.
Born war nach Essen zurückgekehrt. Seine Ehe hatte während der langen Trennung und durch den großen Abstand, den sein neues Leben nicht nur räumlich verursachte, Schaden genommen. Vor allem wegen seiner Tochter Undine machte ihm das sehr zu schaffen.
Noch bis zum Sommer war Born in der Klischee-Anstalt in Essen als Chemigraf angestellt. Zwei bis dreimal die Woche setzte er sich nach Feierabend an die Schreibmaschine, seine Hauptarbeitszeit war das Wochenende. Ein schneller Schreiber sei er nicht, erzählt er in einem Zeitungs-Interview von 1965. Schaffe er vier Seiten am Tag, dann sei er schon zufrieden. „Das Artistische habe ich ausprobiert“, sagt er im Hinblick auf sein Romandebüt, „jetzt schreibe ich realistischer“. Seinen nächsten Roman wolle er im Ruhrgebiet spielen lassen, mit dem er sich noch immer verbunden fühle. Berlin sei lediglich sein zweiter Wohnsitz, schon wegen der Freunde und aus familiären Gründen. Aber in Essen habe er sich „zeitweise etwas isoliert gefühlt“ und er habe auch „keine Lust“, ein „literarischer Lokalmatador zu werden“.
Inzwischen wurde über so gut wie jede Bewegung Borns als „junger Essener Autor“ in den regionalen Tageszeitungen berichtet. Nachdem er während des Aufenthalts im Literarischen Colloquium festgestellt hatte, daß das Ruhrgebiet für einen Schriftsteller „eine Goldgrube“ sein könnte, und Leser durchaus interessierte, wo er herkam, fühlte er sich nun vereinnahmt.
Der Druck der Öffentlichkeit gerade gegenüber jungen Autoren, von denen man ein bestimmtes Auftreten und sogar eine bestimmte Kleidung erwartete, war groß. Hannelies Taschau, mit der gemeinsam Born 1965 eine Lesung in einem überfüllten Essener Jugendzentrum hatte, forderten die Fotografen sogar auf, für die Fotos nicht zu lächeln. Im Mai desselben Jahres hatte Born im Jugendzentrum einen Kurs über „Mitteldeutsche Autoren“ geleitet. Die fünfzehn Teilnehmer, erzählt Taschau, seien vor allem von dem Dichter begeisterte junge Frauen gewesen.
Im Frühjahr 1965 hatte Born als Gast an einer Tagung der Gruppe 61 in Dortmund teilgenommen, einer Gruppe „schreibender Arbeiter“, deren prominentestes Mitglied der ehemalige Grubenlokführer Max von der Grün war. Born wurde einige Male fälschlicherweise in die Nähe dieser Gruppe gerückt. In einem Zeitungsartikel zur Literatur im Ruhrgebiet äußerte er sich aber eher kritisch zu ihren Themen.
Der Förderpreis Literatur des Landes Nordrhein Westfalen, den Born im Oktober für seinen Roman erhielt, ermöglichte ihm den Neustart in Berlin. Die Scheidung von seiner Frau und die räumliche Trennung von seiner Tochter bedeuteten für Born eine schwierige Zeit. Aber es schien für ihn auch keinen Weg zurück zu geben. Über eine solche Trennung schrieb er sein erstes Hörspiel, Schnee, das im November 1966 vom WDR gesendet wurde.
In Berlin konnte Born für den Anfang in einem Zimmer des LCB am Wannsee wohnen. Hermann Peter Piwitt hatte inzwischen nebenan in einer heruntergekommenen Villa ein Zimmer gemietet. Morgens gingen sie, wie Born es nannte „den Speer werfen“, betrieben Frühsport mit Kugelstoßen und Dauerlauf. Dann schwammen sie im Wannsee oder gingen „wandern“. Abends nahmen sie die S-Bahn zum Savignyplatz.
Dort entdeckten sie die chronisch leere Blaue Grotte, eine muffige Kneipe in der Schlüterstraße, die aber schon bald zu einem Treffpunkt der APO wurde. In der S-Bahn-Quelle standen sie stundenlang am Flipper. Später gingen sie zu Herta, weil da noch nichts los war. Sie sinnierten am Resopaltresen, wurden „klug voneinander“, wie Piwitt es ausdrückt, bis auch diese Kneipe voll wurde.
Gleich nach seiner Rückkehr holten die Berliner Freunde Born in den Wahlkontor, wo eine Gruppe junger Schriftsteller den SPD-Wahlkampf mit Versatzstücken, Redebeiträgen und Schlagworten anheizen helfen sollte. Born sagte dazu in einem Interview von 1966:

Das Engagement war natürlich primär da, bei jedem, soweit ich es beurteilen kann. Andererseits waren viele auf Bezahlung angewiesen, weil jüngere Autoren nun einmal nicht 6 Wochen ohne Entgelt arbeiten können. Nun darf aber auch niemand glauben, das Entgelt sei mit 10 DM pro Stunde zu hoch. Die tägliche Arbeitszeit der Beschäftigung schwankte zwischen 3 und 6 Stunden und mit dem Rest des Tages war dann in der Regel nicht mehr viel anzufangen. Das Engagement war, wie Sie sich denken können, bei vielen so stark und der sprichwörtliche ,Linksintellektualismus‘ so temperamentvoll, daß es für [den Kontorchef] Klaus Roehler manchmal schwierig war, ihn zum Nutzen der SPD zu transformieren. Gottseidank wurde gelegentlich gestritten und Gottseidank blieben auch Töne nicht ungehört, die dem wahltaktischen Programm der Partei widersprachen. Jedem aber ging es letztlich um den ,Wechsel‘ und dieser Umstand koordinierte für Wochen die individuellen Interessen, die Verschiedenheit der Temperamente und politischen Ansichten.

Mit dem Spruch „Ein weicher Kanzler macht die Mark nicht wieder hart“ erregte Born damals den Neid einiger Mitdichter. Brandt, so Piwitt, habe später gesagt, diese Sätze hätten nicht genutzt, aber geschadet hätten sie auch nicht. Nach der Bildung der Großen Koalition trat Born aus der SPD aus.
Er arbeitete nun vor allem an einem Erzählungsband. Kiepenheuer organisierte Lesungen. Im November 1965 nahm er an der Tagung der Gruppe 47 im LCB am Wannsee teil. Im Dezember erschien das Essener Lesebuch, eine Anthologie mit Arbeiten jüngeren Autoren der Region, darunter vier Erzählungen und sieben Gedichten Borns. Akzente übernahm 1966 noch einmal für zwei Nummern Gedichte, und auch in der von Peter Hamm herausgegebenen Anthologie Aussichten war er mit einigen Gedichten vertreten.
Borns Eltern mußten 1966 ihr mühsam in Eigenarbeit erbautes Haus in Essen aufgeben. Wegen einer Industrieansiedlung wurde es enteignet und abgerissen. Born hat diese Erfahrung („Dies Haus“, und im Hörspiel: Die Zerstörung eines Hauses) schwer getroffen. Mit der Entschädigungssumme bauten sich Helene und Werner Born in Praest ein neues Haus.
Im April 1966 war Born von seiner ersten Frau geschieden und lebte nun endgültig in Berlin. Er mietet in der Fredericiastraße in Charlottenburg ein winziges Zimmer. Durch das einzige Fenster sah man die Beine der Vorübergehenden („Ich versuche mich zu beklagen“). Er hatte damals, so heißt es unter Freunden, eigentlich immer einen Eintopf auf dem Herd. Und er hatte viel Frauenbesuch.
Das Erscheinen von Marktlage fiel in die Zeit eines ausgesprochenen Lyrik-Booms: Selten waren so viele Gedichtbände verlegt worden wie im Frühjahr 1967. Luchterhands Loseblatt Lyrik, die moderne Gedichte sozusagen als Wandschmuck druckte, war nur der Anfang von einer „Entsakramentalisierung des Gedichts“, wie sie Günter Grass gefordert hatte, einer „fruchtbaren Leichtfertigkeit im Konsum“, heißt es in der Besprechung von Wolfgang Maier. Diese neue „Leichtfertigkeit“ produzierte zunächst vor allem epigonale Brecht-Poesie und pointenreiche politische Protestverse.
Marktlage wurde wie schon Der Zweite Tag von der Kritik eher mißmutig anerkennend als freundlich aufgenommen. Gelobt wurden fast einhellig die Nachruf- und die Liebesgedichte. Aber neben dem Hinweis auf das deutliche Talent und die gelungenen Porträts stand immer auch ein Seitenhieb auf die programmatische Hinwendung zur „Verbrauchersprache unserer Wohlstandsgesellschaft“. In derselben Aufmachung wie Günter Herburgers Ventile und fast gleichzeitig herausgegeben, sollte „der gelehrige Rezensent“, so Peter Hamm, anhand von Marktlage begreifen, daß Dieter Wellershoff, „Witschens Lektor, nun seinen Neuen Kölner Realismus auch für die Lyrik“ reklamiert habe.
Tatsächlich wollte Born seine Gedichte der Zeit entsprechend „roh“ haben, wie er im Klappentext schrieb, „jedenfalls nicht geglättet“. Beinah spröde wirken einige der Gedichte heute in ihrem offensichtlichen Realitätsbezug. Aber die Abkehr von „Schminke und Parfüm“, von der metaphernreichen, chiffrierten Sprache der „alten Poetik“ schien bei ihm aus einer ehrlichen Suchbewegung heraus zu geschehen. Born „erfand Poesie nicht mit Worten“, wie er es nannte, seine Sprache verbarg nichts, aber gerade dadurch wirkte sie hintergründig.
Nur beinahe zufällige, alltägliche Beobachtungen wie „Eine Liebe“ in Köln-Knapsack und der Eintopf der Rentnerin Adelheid Moll werden so liebevoll wie genau festgehalten. Eine Trennung, eine neue Freiheit wird wie allgemeingültig erlebt: „Wie früher haben Bewegungen ihren Sinn“, heißt es in „Endlich ist nichts mehr zu verlieren“. Es ist das noch tastend Persönliche, das Erleben Borns, als „ich Born, Sohn des Born“, das diese Gedichte über Abschied, Einsamkeit, Liebe und Tod, obwohl sie in ihrer Protest-Haltung so deutlich situiert sind, heute noch immer gültig sein läßt.
In einer Zeit, als der „Tod der Literatur“ ausgerufen und gleichzeitig von der Kunst zunehmend erwartet wurde, die Gesellschaft zu verbessern, trat Born als Fortgegangener wie als Neuangekommener so vorsichtig wie unbeirrt einen Schritt zurück – schon weil ihm diese Gesellschaft fremd erscheint und er sich selbst fremd darin ist: „Oft für kompakt gehalten / für eine runde Sache / die geläufig zu leben versteht“, porträtiert er sich in „Selbstbildnis“. „Was hat mich so eingeseift / was hat mir derart die Knochen gezählt?“ heißt es in „Ich versuche mich zu beklagen“. „Wo ich nicht mehr sein kann / gehn andere unangefochten mit Hunden“, in Sisal.

Nürtingen neuerdings
Jetzt verbrachte Born viele Abende in der Großkneipe Pohlmann, Kantstraße/Ecke Suarezstraße in Berlin-Charlottenburg. Die Rixdorfer, die Berliner Künstlergruppe, zu der auch Uwe Bremer und Günter Bruno Fuchs gehörten, und viele andere spielten dort „Leichenzug“, ein Würfelspiel, bei dem der Verlierer jeweils einen Schnaps trinken mußte. Bier, Korn und Eisbein waren hier für einen unschlagbar niedrigen Preis zu haben, was zu einem durchmischten Publikum führte. Es wurde geflippert, geboxt, Tischfußball gespielt, am Wochenende traf man sich auf dem Fußballfeld.
Die junge Ärztin Irmgard Masuhr lernte Born 1967 auf einer Ausstellungseröffnung ihres Bruders, des Malers Dieter Masuhr kennen. Das war in der Galerie Natubs, einer Szenekneipe in Charlottenburg. Born kam damals gerade von einer Kneipentour mit Günter Grass. In der Auslage einer Buchhandlung zeigte er ihr stolz seinen Band Marktlage, der damals gerade erschienen war.
Der befreundete Schriftsteller Peter O. Chotjewitz überließ dem Paar bald seine Wohnung in der Leibnizstraße, während er in der Villa Massimo in Rom ein Stipendium hatte. Mehrmals pro Woche gingen die Borns nun in die Spätvorstellung des Kinos Maskotte am Stuttgarter Platz und sahen Krimis mit Eddie Constantine. Zu ihrer Hochzeit im November 1968 bekamen sie von Irmgards Eltern ihren ersten Fernseher geschenkt. Bis dahin sahen sie – meistens in der Spätvorstellung die Wochenschau („Fünfzehnte Reihe“), bevor es in die Kneipen ging, um Freunde zu treffen. Auf Fotos sieht man Born in großer Runde vor einem Bier sitzen und mit ausladenden Gesten erzählen.
Meist begannen die Touren noch immer am Savignyplatz in der Blauen Grotte, dann ging es in die S-Bahn Quelle, in die Dicke Wirtin und später noch zum Absacken in den Zwiebelfisch, oft bis früh morgens. Irmgard konnte dann nur noch zum Umziehen nach Hause und mußte gleich ins Krankenhaus.
Piwitt, Buch und andere Freunde Borns aus dieser Zeit kamen nun häufiger auch in seinen Gedichten vor. In einem Interview mit Volker Hage von 1970 sagt Born, er habe das aus amerikanischen Gedichten übernommen:

Das bedeutet nicht mehr oder weniger, als daß man seine Freunde mal an den Platz bringt, wo man sie gern sieht. Solange die Freunde in der Wirklichkeit da sind, gibt es keinen Grund, daß sie in den Gedichten plötzlich nicht da sein sollten. Das ist doch sehr schön: man macht die Freunde eben auch ein bißchen bekannt dadurch.

Es war die Zeit der Demonstrationen gegen die Springer-Presse und Vietnam. Auch Irmgard wurde auf dem Weg zum Krankenhaus einmal angespuckt und als dreckige Studentin beschimpft, weil sie ihr Haar lang trug. Sie und Born beteiligten sich an fast allen wichtigen Protestaktionen, aber nie in erster Reihe. Sobald es gewalttätig wurde, gingen sie.
Anfang Juni 1967 schrieb Born zusammen mit Peter Schneider und Klaus Roehler die erste Protestresolution gegen die Springer-Presse und das Vorgehen der Berliner Polizei. Dann initiierte er mit anderen den Boykottaufruf gegen Springer. Gemeinsam mit F.C. Delius, Rolf Haufs, Gert Loschütz und Jochen Ziem veröffentlichte er in Luchterhands Loseblatt Lyrik eine Dokumentationsarbeit zur Polizeigewalt am 21. Februar 1968.
Die Politisierung des Lebens der jüngeren Generation nahm nun zunehmend auch Einfluß auf die Lyrik, sei es von seiten der engagierten Linksintellektuellen, die eben mehr gesellschaftliche Ziele und Effektivität für die Literatur forderten, sei es von seiten der eher konservativen Allgemeinheit, die sich durch diese Bewegung provoziert fühlte.
Charakteristisch für die Zeit fragte eine Serie des Kölner Stadtanzeigers um Weihnachten 1968: „Warum sind deutsche Schriftsteller nie mehr feierlich?“ Auf eine solche Frage könne ein „junger Autor“ „eigentlich nur zänkisch“ reagieren, antwortete Born in seinem Artikel. Aber auch solche „Provokationen und Blasphemien“ seien inzwischen sinnlos geworden, weil die Gesellschaft sie lieb gewonnen habe. Er hoffe, könne es aber nicht garantieren, daß er seinen Lesern niemals feierlich begegne.

Stimmungen sind meinetwegen Privatsache. Jeder mag mit seinen glücklich sein, aber mir damit gefälligst gestohlen bleiben. Wer will, soll Glückstränen weinen über das schöne und Gute im Menschen und mag sich, wenn er sich übervorteilt fühlt, daran erinnern, daß „Geben seliger denn Nehmen“ sein soll. […] Ich scheue mich, hier das Wort Vietnam auszusprechen. Aber welches Maß an Ignoranz ist notwendig, welche Verzerrung des humanistischen Gehalts der Weihnachtsgeschichte, Krieg, Hunger und Unterdrückung in der Welt gerade in der Weihnachtszeit zu verdrängen?

Born hat eindeutig Stellung bezogen, in theoretischen Texten wie mit öffentlichen Aktionen. Aber er wollte nie als „politischer Dichter“ verstanden werden. Das Gedicht „Berliner Para – Phrasen“, das 1967 noch als Flugblatt kursierte, sah er als einfache Persiflage und ärgerte sich, daß es später immer wieder abgedruckt wurde. Agitprop blieb für Born weit hinter dem zurück, was Gedichte konnten. Gudrun Ensslin und Bernward Vesper lernte er während der Zeit des Wahlkontors kennen, Ulrike Meinhof während seiner Tätigkeit für konkret. Aber ihre späteren radikalen Aktionen lehnte er eindeutig ab. Anfang der siebziger Jahre traten einige seiner Freunde der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins bei, was Born ärgerte, der sich von solcher Art des politischen Engagements immer distanzierte.
Das anstrengende Kneipenleben machte ihm in dieser Zeit zunehmend zu schaffen. Mit Lesungen und Interviews, Rezensionen für den Rundfunk und nun auch für die Zeitschrift Der Monat war Born Ende der sechziger Jahre zunehmend in die Arbeit eingebunden.
Im Oktober 1967 besuchte er auf der Fahrt zur Tagung der Gruppe 47 in der Pulvermühle mit Irmgard seinen alten Essener Freund Dieter Hartenstein, der inzwischen in der Schwäbischen Alb lebte. Während dieser Reise beschlossen sie, von Berlin wegzugehen („Auf Wiedersehen“).
Irmgard suchte sich Ende 1968 zunächst in der Schwäbischen Alb dann in der Nähe von Nürtingen eine Stelle im Kreiskrankenhaus Kirchheim/Teck in der Nähe von Stuttgart, die sie gleich nach der Hochzeit antrat. Sie mieteten in einem Neubauviertel in Nürtingen eine Vier-Zimmer-Wohnung mit Balkon, direkt an einem Wald gelegen. Am Wochenende fuhren sie Ski und tranken am Fuß der Piste Obstler.

Aber Irmgard mußte viel arbeiten und Born war viel allein. Er schrieb an Hörspielen (Die Zerstörung eines Hauses, Südwestfunk 1969, Innenleben, WDR 1970) und am Skript für eine Fernsehdokumentation (Skizzen aus dem Alltag: Fernfahrer, WDR). Die Ruhe des Lebens in Nürtingen scheint ihn nie ganz ausgefüllt zu haben. Die Hartensteins waren für spontane Treffen doch zu weit entfernt. Auch die Besuche von Freunden auf dem Weg in den Süden oder die Bekanntschaft mit Walser und Peter Härtling konnten das nicht ausgleichen („Nürtingen neuerdings“).
Im April 1970 erschien Borns zweiter Gedichtband, Wo mir der Kopf steht bei Kiepenheuer und Witsch. Komplexer und reduzierter in Form und Sprache als noch in Marktlage überhörte Born Puffgespräche, porträtierte das muffige Elternhaus, beobachtete alltägliche Unsicherheiten, die schale Liebe, aber auch die Befangenheit gegenüber dem eigenen Leben, dem eigenen Kind. Schon hier ging es um die neue Medienrealität, die Fernes gleichzeitig nah und unfaßbar werden ließ. Born führte die unfreiwillige Komik der täglichen Sprache vor, sezierte die Banalität von Sehnsüchten.
Gleichzeitig wurde das Gedicht selbst, das Schreiben und das Vermitteln zum Thema. „Mein Interesse ist mir so wichtig wie das Ding in seiner Umgebung“, schrieb Born in seinem Nachwort. „Ich zeige Rituale und Übereinkünfte, die ich erkenne, bin aber ebenso darauf aus, mein eigenes Ritual und meine eigene Übereinkunft zu erkennen und loszuwerden.“
Wo mir der Kopf steht fand viel positive Beachtung. Die Gedichte „Das Brautpaar“, „Ehe und Kinder“ las Born bei Lesungen am Anfang, um mit vielen Lachern Stimmung zu schaffen. Während die allgegenwärtigen Gespräche über die große Revolution schon in Enttäuschung zu erstarren begannen, schien das Bedürfnis nach subtiler Kritik, die Zustände und eigene Schwäche mit einbezog, um so stärker. „Kein Gedicht bewirkt eine meßbare Veränderung der Gesellschaft, aber Gedichte können, wenn sie sich an die Wahrheit halten, subversiv sein“, schrieb Born dazu. Den ständigen Verdacht, sich nicht genug zu engagieren, weist er eindeutig zurück:

Die Forderung, ein Gedicht habe entweder effektiv oder nicht geschrieben worden zu sein, ist eine Forderung von Krämerseelen, die sich an Maßstäben orientieren, mit denen die Nationalökonomie einen Mann mißt.

Wie sehr sich solche Vorstellungen in linken Kreisen inzwischen verfestigt hatten, wird an einer Besprechung in der Volkszeitung deutlich. Über das Gedicht „Ein einzelner Toter“ heißt es: Wenn „der Autor den Tod des Bedichteten wirklich beklagt“ dürfe er „ihn nicht zum Thema bürgerlicher Lyrik machen“. Und weiter:

Statt dessen sollte er Texte schreiben, die die Ursachen solch unnötiger Todesfälle reflektieren und damit dazu beitragen, den Kampf gegen jene Zustände zu mobilisieren, unter denen Menschen für imperialistische Machtansprüche sterben und töten.

Was heute vor allem überrascht, ist, daß sich die Kritiker häufig an dem damals stolzen Preis von 12 Mark und der aufwendigen Ausstattung des Bandes störten. Gedichte wurden nicht nur in heute unvorstellbarem Maß beachtet und gelesen, sie sollten auch für jedermann erschwinglich sein. Volker Hage schlug Born in seinem Interview sogar vor, sich für Raubkopien von Wo mir der Kopf steht einzusetzen.
Sicherlich auch aufgrund der vereinnahmenden Art einiger Teile der linksintellektuellen Szene, distanzierte sich Born schon kurz nach dem Erscheinen des Bandes zunehmend von einigen gerade der populäreren Gedichte wie „Das Brautpaar“ und „Berliner Para-Phrasen“. In einem Interview vom September 1970 sagt er:

Ich wundere mich bei mir selber, daß ich den Widerspruch überhaupt noch aushalte. Wenn ich zum Beispiel das Gedicht „Brautpaar“ nehme, das alle Leute sehr schön finden. Ich weiß eigentlich nicht mehr, wie ich dazu komme, sowas zu schreiben. Was mache ich in diesem Gedicht? Ich benutze die Sprache einer bestimmten Klasse und kehre sie gegen sie, ich denunziere sie damit und bin ,kritisch‘: „Seht mal Leute, was ihr so zusammenredet ! Wie ihr über eure Verhältnisse redet – viel besser könnt ihr dann auch nicht denken darüber!“ Also: ich versuche den Leuten zu zeigen, in welchem Zustand sie mit ihrer Sprache sind – und gleichzeitig denunziere ich sie auch: Ich bringe den einzelnen, der das liest oder hört zum Lachen, weil er sich nicht betroffen fühlt. Und hinterher muß ich diesen Widerspruch aushalten!

Born begann inzwischen „utopische Gedichte“ zu schreiben, die, statt Kritik zu äußern, den Zuständen beunruhigend schöne Vorstellungen entgegensetzen sollten: „Ich glaube, daß die Notwendigkeit einer solchen neuen Richtung gegeben ist“, sagte er dazu im Interview schon 1970, „weil das Alte einfach nicht mehr stimmt“.

In den Seitenblicken der Cowboys
Im Oktober 1969 gingen meine Eltern für ein Jahr nach Amerika. Schon 1968–1969 hatte Born nach Hans Christoph Buch am International Writers Workshop der University of Iowa teilnehmen sollen. Damals hatte er aber gerade Irmgard kennen gelernt, die wegen ihrer Arbeit erst im Folgejahr 1969–1970 mit ihm kommen konnte.
Bei ihrer Ankunft in New York waren sie beeindruckt. Auf den Super-8-Filmen sieht man Borns Auge von Irmgards Mini-Rock langsam die Skyscraper heraufschwenken. Im Greyhound fuhren sie nach Chicago und weiter nach Iowa City. Unterwegs begegneten ihnen Mobile Homes, auf Lastwagen verladene kleine Häuser wie aus Pappe, ein Sinnbild für amerikanische Mobilität („Bilanz mit Zwischenfall“). Die Stipendiaten wurden auch den Geldgebern des Programms vorgestellt. Von einer Versicherungsgesellschaft erhielt Born eine große Plastikdose mit Aspirin-Tabletten zum Geschenk.
Schon früh hatte sich Born mit amerikanischer Lyrik beschäftigt, vor allem mit William Carlos Williams, E.E. Cummings und Robert Creeley. An der Universität wurden nun zahlreiche Lesungen vor allem auch jüngerer zeitgenössischer Autoren veranstaltet. Born lernte unter anderen Charles Bukowski und den Beat-Lyriker Allen Ginsberg kennen, der seine Gedichte singend vortrug. Teilweise besuchte er auch die Schriftsteller. Durch einfaches Sprechen und Lesen hatte er schnell Englisch gelernt. Ted Berrigan und Frank O’Hara, Eric Torgersen und den befreundeten John Batki übersetzte Born nach seiner Rückkehr ins Deutsche, ebenso wie David Ray, Anselm Hollo und Kenneth Koch.
Der Einfluß amerikanischer Lyrik war sicher am auffälligsten an der freieren Form und dem lockeren Tonfall einiger der Gedichte zu sehen, die Born in Amerika schrieb. So nutzte er gerade für die in den USA erschienene längere Version von Feriengedicht unter dem Einfluß experimenteller Pop-Lyrik eine Collage-Form. Die gleichzeitig rasend und griffig erscheinenden Bilder, die Born für seine Eindrücke in „Landschaft mit großem Auto“ fand, waren für ihn ebenfalls neu. Nach seiner Rückkehr sagte Born dazu im Interview mit Volker Hage:

In Amerika habe ich gesehen, daß da eine Spontaneität erreicht wurde, auch eine Offenheit der Form, die uns noch fehlt. Deshalb reden hier so viele von ,Unsagbarem‘. Dadurch, daß wir manches nicht sagen können, haben wir zu manchem nichts zu sagen. […] Ich werde sicher nie ,amerikanische Gedichte‘ schreiben. Es gibt da nur einige formale Möglichkeiten, die hier noch nahezu unbekannt sind – vor allem das Understatement und die Leichtigkeit, mit der sie etwa einen Trivialsatz im Gedicht unterbringen können. Das ginge hier einfach nicht. Und dafür wird die ganze Szene hier im Moment etwas offener. Und auch durch viele Übersetzungen. Deshalb finde ich auch Brinkmanns Aktivität [mit seiner Anthologie Acid amerikanische Pop-Literatur in Deutschland bekannt zu machen] gut, weil es mithilft, diese ,Glas-und-Perlen‘-Lyrik abzuschaffen.

Vor der Rückreise aus den USA im Sommer 1970 kauften sich die Borns in Iowa ein großes altes Auto und fuhren damit nach San Francisco und San Diego, wo sie Reinhard Lettau besuchten und Herbert Marcuse kennenlernten. Das Oldsmobile war so groß, daß der befreundete japanische Dichter Motoi Oda, mit dem sie in Iowa viel Whisky getrunken hatten, während der Reise bequem auf der Rückbank übernachten konnte. Von San Diego ging es nach Mexiko, Guadalajara, Mexico-City, in den Süden und an die Küste bei Acapulco, Santa Cruz und über Texas zurück nach New York. Sie waren sehr stolz darauf, das Auto nach der langen Reise mit Gewinn weiterverkauft zu haben.
Born litt unter zunehmender Flugangst, die während seiner Reise in die USA ihren Höhepunkt erreichte. Mehrere Schnäpse und Valium halfen nicht („Betrachtung des Himmels“). Nach Amerika wollte er gar nicht mehr fliegen und zog selbst für die Reise in den Libanon 1977 eine Bahn- und Schiffsreise vor.
Nach ihrer Rückkehr mieteten die Borns in Gailingen am Oberrhein ein möbliertes Haus mit Garten. In der Nähe hatten sie ihre Möbel untergestellt, und hier wollten sie bis Neujahr bleiben, weil die Wohnung in Berlin noch nicht renoviert und Irmgard inzwischen hochschwanger war. Am 17. November 1970 wurde Rike Marie in Singen geboren.
Der Umzug nach Berlin geschah Hals über Kopf, als in Gailingen am Weihnachtsabend die Heizung ausfiel. An der deutsch-deutschen Grenze vor Berlin ließen die DDR-Grenzer Irmgard mit dem gerade einen Monat alten Säugling im Schneesturm stehen, während Born mühsam einen Sitz nach dem anderen aus dem für den Umzug schwerbeladenen Auto ausbauen mußte.
In Berlin angekommen zogen die Borns in die noch nicht ganz fertig renovierte Wohnung in der Dickhardtstraße in Berlin-Friedenau ein. Hans Christoph Buch hatte sie vermittelt, er wohnte mit seiner Familie im Erdgeschoß desselben Hauses. Irmgard trat gleich im Januar ihre neue Stelle im Krankenhaus an. Born, der schon lange und gern Auto fuhr, machte etwa zu dieser Zeit seinen Führerschein, nachdem er bei einem kleinen Unfall Angst gehabt hatte, die Polizei würde seine Papiere überprüfen.
In den folgenden Jahren bis zum vollständigen Umzug aufs Land 1976 haben sich die Borns und die Buchs die Kinderbetreuung praktisch geteilt. Während die Frauen, beide Kinderärztinnen, tagsüber arbeiteten, paßten die Männer auf die Kinder auf. Abends mußte nur einer von vieren zu Hause bleiben.
Man traf sich in dieser Friedenauer Zeit vor allem in der Gastwirtschaft Bundeseck. Der Buchhändlerkeller und die Wolff’sche Buchhandlung waren in unmittelbarer Nähe, der Luchterhand Verlag gleich in der Dickhardtstraße. Am Wochenende trafen die Borns Uwe Johnson und Günter Grass auf dem Wochenmarkt. Wieder begann ein reges Nachtleben, das Born nun aber reflektierter, fast ernüchtert wahrnahm. Die „Zeit der großen Ausbrüche auf den Kurzwellen von Pohlmanns Tafelaquavit“ war vorbei („Nach dieser ersten Zeile“). Gedichte wie „Drei Wünsche“ und „Glücklicher Versuch“ handeln von eintretendem häuslichen Glück und Gedichte wie „Licht an“ und „Als du gegangen warst“ von dessen Zerbrechlichkeit.
Born schreibt viel in dieser Zeit, Artikel für die Zeitschrift konkret, Beiträge fürs Radio; der NDR produziert sein Hörspiel Übungen in einer Fremdsprache. Der Verlag organisiert Lesungen. Gemeinsam mit Rolf Haufs nimmt Born an den Struga Poetry Evenings im August 1972 in Makedonien teil, wo er einem älteren russischen Dichter seine Verehrung ausdrückte, indem er ihm eine weiße Blume überreichte.
Vor allem aber schreibt Born Gedichte. Er wendet sich nun völlig ab von den politischen Forderungen an die Literatur. In seinem 1972 für den Rundfunk geschriebenen Essay „Ist die Literatur auf die Misere abonniert?“ heißt es:

Das Bewußtsein von der Existenz unserer positiven Möglichkeiten ist verkümmert, besonders in der Literatur, die doch gerade das vermittelnde Medium zwischen Imagination und Realität sein sollte. Wir sind so eingestellt, daß wir alle unsere Vorstellungen an der Realität und an ihren Maßstäben von Realisierbarkeit messen, anstatt Realität immer an unseren besten Vorstellungen zu messen. Gesellschaftskritik im Rahmen eines literarischen Realismus kann nur immanente Kritik sein, um so mehr als sie sich Erfolgszwang selber diktiert.

Gedichte, das ging ihm nun schon eine Weile im Kopf herum, sollten utopisch sein, offen für Träume, Sehnsüchte, für Möglichkeiten des Glücks. In den Nachbemerkungen zu seinem dritten Gedichtband, Das Auge des Entdeckers, der 1972 erschien, schloß er: „Ich gebe zu, daß ich schöne Gedichte schreiben wollte, und einige sind zu meiner größten Überraschung schön geworden.“
Mit Das Auge des Entdeckers, dem ersten bei Rowohlt erschienenen Band, gelang Born der Durchbruch zu einem breiteren Publikum. Die aus Amerika mitgebrachte offenere Form der Gedichte, die kunstvoll verschränkten Ebenen aus erfahrener Realität, erträumten Gegenbildern und medialer Darstellung stecken voll Wahrheit, ohne platt realistisch zu sein. Die Leichtigkeit der beschriebenen Gefühle wirkt ansteckend. Der Ton ist erzählender geworden, Born greift, noch immer unartifiziell, auch mal zur „gemütlichen Metapher“ („Betrachtung des Himmels“). Er nutzt Versatzstücke aus der Science Fiction-Literatur, zieht mit großen Worten wie „DAS NEUE LEBEN“ und immer wieder „DAS GLÜCK“ lange utopische Linien. Die liebevollen Bilder von Liebe, Freundschaft, Vaterschaft, aber auch die tiefe Verzweiflung des Einsamen im „Innern der Gedichte“, zeugen von einer neuen Ausdrucksstärke, die nicht unbemerkt blieb.

Ein Spiel auch, mit dem Ende
Im Oktober 1972 wurde Born Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Das zweite Schriftstellerstipendium erhielt Rolf Dieter Brinkmann. Gemeinsam mit den übrigen Künstlerstipendiaten, dem inzwischen in Rom ansässigen Chotjewitz und anderen traf man sich zu gemeinsamen Abendessen und erkundete die Stadt.
Das Verhältnis zu Rolf Dieter Brinkmann war gerade in praktischen Alltagsdingen schwierig und häufig angespannt, obwohl sich die Kollegen schon seit längerer Zeit kannten und auch zusammengearbeitet hatten. So war für den Rundfunk schon 1970 Wortwechsel entstanden, „Ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born“. Es handelt sich um eine Collage aus Textteilen, Western-O-Tönen und poetischen Überlegungen, die während eines Gesprächs in Brinkmanns Kölner Küche aufgenommen worden waren. Große Teile des in der kurzen Version von Borns Feriengedicht weggelassenen Textes sind hier eingeflossen. Aber gerade was das Plakative der Brinkmannschen Pop-Lyrik anbetraf, die „Verabsolutierung der medienvermittelten Wirklichkeit“, wie Born es in einem Interview von 1970 ausdrückt, waren die Kollegen häufig nicht einer Meinung. Born hielt es für wichtig, trotz der Abwendung vom rein politischen Gedicht den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität beizubehalten.
In Rom schrieb er die Kindergeschichte „Oton und Iron. Abenteuer in der vierten Dimension“. Außerdem arbeitete er vorwiegend an Übersetzungen – vor allem der Gedichte des Amerikaners Kenneth Koch. Der unglückliche Tod Wolfgang Maiers nahm ihn sehr mit („Für Wolfgang Maier (1934–1973)“). Im Mai 1973 fuhr Irmgard, ein zweites Mal hochschwanger, nach Berlin, wo ich kurz darauf geboren wurde.
Noch von Rom aus kauften meine Eltern auf Hinweis Hans Christoph Buchs, der dort bereits ein Haus besaß, ein Bauernhaus in Langendorf an der Elbe im niedersächsischen Wendland. Nach der Rückkehr zog Born sich – mit zahlreichen Ausbauarbeiten beschäftigt – fast vollständig in das Haus zurück. Die Gegend im Landkreis Lüchow-Dannenberg, wo die Elbe die Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik bildete, schien damals als einer der ärmsten Landkreise Westdeutschlands noch völlig naturbelassen. Mein Vater empfand die neue Umgebung mit ihren ungepflasterten Landwegen, den moosbewachsenen Strohdächern der Bauernhöfe, den Mastschweinen auf Matschweiden und den Unken in den Elbwiesen erstmals als ein Zuhause. Er sprach oft von einem schlechten Gewissen, weil er sich so bevorzugt fühlte in dieser scheinbar noch heilen Welt („Stilles Leben“). In Langendorf begann er die Arbeit an der „Erdabgewandten Seite der Geschichte“.
Unter den Künstlern und Journalisten, die sich im Landkreis niedergelassen hatten, entwickelte sich schnell ein reges Leben aus Festen, Fußballspielen und auch hier der Entdeckung neuer Kneipen. Sie trafen sich zum Schafe-Schlachten bei Uwe Bremer, badeten im Sommer im Gümser-See, spielten im Winter auf den gefrorenen Elbwiesen Eishockey.
Gleichzeitig mit dem Rückzug aufs Land war Born zunehmend in der literarischen Öffentlichkeit präsent. In Ostberlin waren inzwischen seine Gedichte zusammen mit denen von F.C. Delius und Volker von Törne in dem Band Rezepte für Friedenszeiten erschienen. Der Förderpreis Literatur zum Kunstpreis Berlin von 1973 wurde ihm verliehen. Die Süddeutsche Zeitung druckte seinen Essay „Schwache Bilder einer anderen Welt“, in die erste Nummer des Literaturmagazins wurde die Erzählung „Täterskizzen“ aufgenommen.
Auch in den folgenden Jahren schrieb Born viel. Die Texte für Kinder „Im Breiberg“, „Der König ist einer von den wenigen“ und „Die Bremer Stadtmusikanten“ erschienen 1974. Das Literaturmagazin druckte die Erzählung „Die Fährte der Wiedergeburt“, der Saarländische Rundfunk übernahm den Essay „Ist die Literatur auf die Misere abonniert?“. Born übersetzte die „Wannsee-Gedichte“ von Wong May, die 1975 in der LCB-Edition erschienen. Die Erzählung „Radikale Ernte“ wurde mehrfach im Radio gesendet. Als Rolf Dieter Brinkmann in London tödlich verunglückte, schrieb Born den Nachruf „Stilleben einer Horrorwelt“.
Ab 1975 wurde er Mitherausgeber des Literaturmagazins, das bei Rowohlt erschien. In diesem Jahr wurde auch erstmals der Petrarca Preis unter großer Medienaufmerksamkeit auf dem Mont Ventoux verliehen – posthum an Rolf Dieter Brinkmann. Born gehörte mit Peter Handke, Michael Krüger und anderen zur Jury. Im Oktober wurde er in die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur aufgenommen. Im Wintersemester 1975/1976 leitete er als Gastdozent für Gegenwartsliteratur ein Seminar an der Universität Essen.
Ernüchterung hatte bewußt oder unbewußt bald viele junge Künstler ergriffen. Die einsetzende Flucht einiger Freunde Borns aufs Land war ein deutliches Symptom für das Ende der revolutionären Hoffnungen. „Die Sub- und Saufkultur“, so Born zu einem Journalisten, empfand er inzwischen als „genauso tödlich wie das spießige Einerlei zu Hause“. Auf der Suche nach sinnvolleren Betätigungen als den in den Kneipen festgefahrenen politischen Diskussionen, wandten sich einige Schriftsteller nun auch in Richtung der DDR. Günter Grass organisierte Besuche bei Kollegen in Ostberlin, an denen Born von Anfang bis Ende teilnahm.
Born war mit Irmgard schon Ende der sechziger Jahre häufig zu den befreundeten Kunerts nach Treptow und später nach Berlin-Buch gefahren. Nun ging es darum, die Kollegen im Osten in die Diskussionen um Literatur einzubinden und ihnen mehr Anschluß zu verschaffen. Born, Grass, Haufs, Delius, Christoph Meckel, Buch und Peter Schneider auf der einen und Günter Kunert, Hans Joachim Schädlich, Sarah Kirsch und Wolf Biermann auf der anderen Seite lasen einander zwischen 1974 und 1977 auf mehr als einem Dutzend Treffen, die meist bei Schädlich stattfanden, Texte vor und sprachen darüber.
Die Bekanntschaft mit Peter Handke, die seit dessen DAAD-Stipendium 1967 in Berlin bestand, entwickelte sich in dieser Zeit zu einer tiefen Freundschaft. Häufig kam Handke mit seiner Tochter nach Langendorf, Born fuhr mehrfach zu ihm nach Paris. In einer Postkarte an Irmgard schrieb Born, er lerne von Handke „Disziplin“. Tatsächlich, so bezeugt Hans Christoph Buch, habe Born im Gespräch mit Handke einen neuen Ernst im Umgang mit Literatur entwickelt, der ihm Mut gemacht habe, „zu sagen, was er zu sagen hatte“.
Viele der alten Freunde Borns konstatierten in dieser Zeit eine Beschleunigung in seinem Leben. Lesereisen, Preisverleihungen, Reden, die Fahrten in den Osten – Born war kaum noch anzutreffen. Häufig blieb er auch längere Zeit mit der Tochter Undine bei seinen Eltern in Praest oder besuchte Irmgards Eltern im rheinlandpfälzischen Rengsdorf, wo er Ruhe zum Schreiben fand. Zu den häufigen Reisen kam seine anwachsende Betroffenheit über die Bedrohung der neuen Heimat durch ein geplantes Atomkraftwerk. „Wieso haben wir je angenommen, daß Poesie für uns Heutige nicht auch noch Beschwörung ist?“ schreibt Born 1976 in einem Text über Ernst Meister.

Ein Versuch, immer nur ein Versuch, den Schrecken von Zeit und Raum in eine Formel aus Wörtern zu bannen? Mir scheint, daß aber an die Stelle der Beschwörung alle möglichen Beschwichtigungen des Schreckens getreten sind, Täuschung und Selbsttäuschung, der allgemein anerkannte Irrtum. Das Eis ist dünn, eigentlich wissen wir das.

Im Juni hielt Born die Laudatio auf Ernst Meister zur Verleihung des Petrarca Preises in Arqua bei Padua. Die Übersetzung der Gedichte von Kenneth Koch erschien im Rowohlt Verlag. Auf der Frankfurter Buchmesse 1976 war dann Die erdabgewandte Seite der Geschichte das Gespräch der Saison. Der Roman galt bald als Wendepunkt der deutschen Gegenwartsliteratur und als Paradebeispiel einer „Neuen Innerlichkeit“. Im Januar 1977 erhielt Born für seinen zweiten Roman den Bremer Literaturpreis.
Anfang September 1976 brannte das Haus in Langendorf bis auf die Grundmauern ab. Born und Handke wollten gerade uns Kinder ins Bett bringen, als sie plötzlich ein lautes Knallen hörten. Mein Vater regte sich mal wieder auf über die Schüsse der DDR-Grenzer am anderen Elbufer, die man von Zeit zu Zeit hörte. Doch als er aus der Haustür trat, sah er das Haus schon in Flammen. Der Dachdecker hatte Strohbündel für das neue Dach vor den Heizungsschacht gelegt. Es blieb gerade noch Zeit, uns Kinder und ein paar Möbel aus dem Erdgeschoß herauszutragen. Heldenhaft befreite Peter Handke die Heidschnucken Hänsel und Gretel aus ihrem Stall. Das Arbeitszimmer im ersten Stock und fast alles, was meine Eltern besaßen, war verloren.
Born erholte sich nur schwer von dem großen Verlust des über Jahre ausgebauten Hauses. Inzwischen war auch die Bedrohung durch die Atomenergie konkreter. Schon Ende 1973 war bekannt geworden, daß man in Langendorf ein Atomkraftwerk plante. Gemeinsam mit Bremer, Buch und anderen engagierte sich Born in der Bürgerinitiative gegen Atomkraft. Dann wurde das Nachbardorf Gorleben im Frühjahr 1977 als Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum bekannt gegeben. Die Anti-Atomkraftbewegung mobilisierte für den 12. März eine Großkundgebung mit etwa 20.000 Teilnehmern, auf der Born eine Rede hielt, an die sich im Wendland noch heute die Leute erinnern: „Liebe Freunde“, sprach er die Menschen an, und das wirkte damals nicht pathetisch. „Wer uns entsorgen will, den wollen wir stillegen!“ Und weiter:

Unsere unglücklichen Gefühle und Ahnungen, unsere Sorge und unsere Angst sind zugleich auch unsere Kraft, und die lassen wir uns nicht versachlichen.

Born erlebte die Standortverkündung wie einen weiteren Heimatverlust. Der Zynismus der Atomlobby gegenüber den Auswirkungen nuklearer Energie-Experimente und das plötzliche Bewußtsein der Entscheidungsmacher für das Fehlen von Arbeitsplätzen in der ärmlichen Region im Zonenrandgebiet betrafen Born zu direkt, als daß er Distanz hätte wahren können. Er begann, sich mit aller Kraft seiner Person zu engagieren.
Im Einleitungs-Essay „Die Welt der Maschine“ für das Literaturmagazin 8 stellte Born eine „Sprache des Großen Bruders“ der Logik des „Stillen Brüters“ gegenüber. In der Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises sprach er von der Atombedrohung, und auch im Text „Eines ist dieser Staat sicher nicht: Ein Polizeistaat“ spiegeln sich sein Engagement und seine einsetzende „trostlose Trauer“. Er war nun nicht mehr nur in der Literaturszene sondern auch „als Intellektueller im Zusammenhang mit der Neuen Linken“ (Süddeutsche Zeitung) in der Öffentlichkeit präsent. Er wurde Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und des PEN.
Wenige neue Gedichte entstanden in dieser Zeit. Sie zeugen von einem Erschöpfungszustand, von „stiller Wut“, aber auch von einer neuen Reife, die das „sich Abtasten“ früherer Gedichte („Geschichte“) zum Wunsch nach einem langsamen Einkehren in ein kaum mehr eitles „Ich“ wandelt („Münchner Hotel“). Borns „Alter Pullover“, Sinnbild für „Ein langsames schönes Alter“ kontrastiert nun um so stärker mit der schmerzhaften Verzweiflung an der anhaltenden Unsicherheit, der Zukunftslosigkeit in einer zunehmend zerstörten Umwelt („Entsorgt“, „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“).
Born plante seinen nächsten Roman. Im Landkreis hatte auch der Journalist Kai Hermann ein Haus, der für den Stern aus dem Libanon-Krieg berichtete. Born wollte darüber schreiben, „was mit Menschen passiert, die sich das ansehen“, wie er in einem Zeitungsartikel zitiert wird. Im Mai 1977 fährt er mit Zug und Schiff über Italien, Griechenland und Syrien („Im Zug Athen-Patras“) für einen Monat in den Libanon, um für den Roman Die Fälschung zu recherchieren.

Nach dem Brand waren wir kurze Zeit bei Buchs im selben Dorf untergekommen, dann in den von meiner Mutter angemieteten Praxisräumen in Dannenberg. Als die Kinderarztpraxis zum neuen Jahr 1977 eröffnet wurde, mieteten wir ein Haus auf dem Grundstück Uwe Bremers in Gümse. Im September 1978 wurde Born zum fünften Stadtschreiber von Bergen-Enkheim ernannt. Im Oktober starb sein Vater. Ende des Jahres zogen wir in das neue Haus im Dorf Breese in der Marsch bei Dannenberg ein.
Im Frühjahr 1978 erschien der Sammelband Gedichte 1967-1978. Born unternahm zahlreiche Reisen zum Signieren des Bandes. Der Lyrikboom der späten sechziger Jahre schien nun neuen Schwung zu bekommen und führte zu einer heute fast unvorstellbaren Aufmerksamkeit.
Borns Gedichte wurden in allen überregionalen und vielen regionalen Zeitungen und Radiosendern groß besprochen. Überraschend beklagten sich die Kritiker vor allem über das Fehlen der aus den Bänden Marktlage und Wo mir der Kopf steht ausgeschiedenen Gedichte und der „Nachbemerkungen“ aus dem Auge des Entdeckers. „Born entfaltet sich, nuanciert sich“, schrieb Karl Krolow, es war von „großer Poesie“ die Rede, wenn Born nun endlich den Mut zeige, sich der „großen poetischen Gesten eines Nerudas“ zu bedienen.
Aber die neuen Gedichte über die Atombedrohung, den Naturverlust und das Älterwerden wurden auch als eine Absage des Autors der „Erdabgewandten Seite der Geschichte“ an die Lyrik gelesen. Rudolf Langer, der ihn auf den Spuren nicht nur Nerudas sondern auch Majakowskis, Whitmans, Rimbauds und Baudelaires sieht, stellte sich in der Süddeutschen Zeitung sogar die Frage, ob Nicolas Born durch die große Anerkennung und „bevorzugte Vermarktung“ seines Romans als Lyriker verschlissen worden sei:

Wo ist die Zeit, als er sang: „Es muß geflogen werden, sonst nichts“? Ausgeträumt. Diese Sprachgewalt kann nicht Pose sein, sie klingt echt und stimmt traurig. Traurig auch über die Gestalt der ,großen Perspektiven‘, die nun vor unseren Blicken verschwindet. Andere werden unbefangen für ihn eintreten müssen, um neue Möglichkeiten und Wahrheiten wenigstens für die Dauer eines Gedichts zu erfinden.

Es scheint noch heute nahezuliegen – gerade nach dem Tod meines Vaters – aus den letzten Gedichten wie Rudolf Langer auf Borns „Zeichen für sein nahes Verstummen“ zu schließen.
„Sein Leben und seine Arbeit scheinen sich nun wie eine Flut von Zeichen und Hinweisen hineinzudrängen in dieses grauenhafte und öde Faktum“, schrieb Born über den frühen Tod Rolf Dieter Brinkmanns.

Aber derartige Recherchen hätte er als erster lächerlich gemacht, denn jedes Leben ist eine Kette von Indizien für irgendeinen Tod. Ebenso lächerlich sind alle Spekulationen über seine Zukunft, wenn ihm eine Zukunft geblieben wäre.

Mein Vater erfuhr von seiner Krankheit nicht einmal acht Monate vor seinem Tod. Noch im Frühjahr I979 riß er mit Hilfe einer befreundeten Familie ein kleines Fachwerk-Backhaus aus dem 17. Jahrhundert auf deren Bauernhof ab und baute es auf dem neuen Grundstück in Breese als sein Arbeitshaus wieder auf. Kurz darauf, im März 1979, zeigten sich erste Krankheitssymptome.
In seiner Rede zur Petrarca-Preisverleihung an Ernst Meister hatte Born 1976 gesagt:

Und wenn es [das Gedicht] vom Tod ahnt und weiß und erzählt, dann vom Tod bei lebendigem Leib, vom Tod, meine ich, wie er – unsere äußerste Fähigkeit – lebendig antizipiert werden kann. […] Das Denken bis an den Rand des Todes, das Denken über den Tod hinaus ist nicht Resignation, es ist etwas ganz anderes, Unermeßliches, eine irgendwie auch heitere Wißbegier, die sich zusieht, wie sie selbst verschwindet. Ein Spiel auch, mit dem Ende, bitte sehr, zu Lebzeiten.

Die „trostlose Trauer“ in den späten Gedichten sollte wohl tatsächlich als das Verstummen des Lyrikers, des Utopisten, der Born war, verstanden sein. Aus dem Gedicht „Dienstag, 16. August 77“ spricht eine tiefe, auch persönliche Verzweiflung: „Wie schnell einer hier und da vernünftig wird, wie einer glatt wird stellenweis innen im Hals,“ heißt es da. „Eine zu Tode erschrockene Gesellschaft“ endet: „und ich weiß, hohl“. „Kein Gedicht, höchstens das Ende davon“ heißt es in „Entsorgt“.

Born schrieb schon länger nur noch sporadisch Lyrik. Als die Ärzte ihm nach der ersten Operation rieten, doch lieber Gedichte zu machen, weil er nicht mehr lange zu leben habe, bestand er darauf, ein Romankonzept zu beginnen. Er überarbeitete mit viel Mühe die Fahnen der Fälschung, des großen Romanerfolgs, der kurz vor seinem Tod 1979 erschien. Gleichzeitig nahm er auf Tonband, denn zum Schreiben war er zu schwach, die ersten und letzten Notizen zu einem neuen Roman auf. Es geht darin um den Verlust der Heimat und um seine Krankheit.
Bei einer ersten Operation wurden ihm Teile der Lunge entfernt. Born sollte für die Zeitschrift art Gedichte auswählen, konnte dies aber nur noch in zwei Ausgaben tun. Im Juni nahm er noch einmal an der Petrarca-Preis-Verleihung in Verona teil. Auf den Fotos trägt er einen weißen Anzug, ein dunkles Hemd. Er wirkt müde, blaß und ausgezehrt. Die Nachricht vom Tod Ernst Meisters, die ihn dort erreichte, traf ihn sehr.

Wir verbrachten einen letzten gemeinsamen Urlaub mit Günter Grass und Rolf Haufs und ihren Familien in Dänemark. Anfang September fuhr Nicolas Born noch einmal zum Stadtschreiberfest in Bergen-Enkheim, dann zog er sich zurück.
Mein Vater wollte nicht aufgeben und forderte eine Gehirnoperation, als sich die Metastasen weiter ausbreiteten. Aber auch das brachte keinen Aufschub. Die Ärzte schickten ihn nach Hause. Den Nachbarn im Dorf sagte er, es gebe eine gewisse Prozentzahl der Bevölkerung, die diese unheilbare Krankheit bekäme. Ihn habe es getroffen. Man müsse sich damit abfinden. Die Verleihung des Rilke-Preises für Lyrik, zu der Christoph Meckel die Laudatio hielt, fand am 5. Dezember in seiner Abwesenheit statt.
Wir Kinder, ich war sechs, meine Schwester wurde im November neun, waren in dieser Zeit häufig bei Freunden untergebracht. Alle paar Wochen, daran erinnere ich mich, fuhren wir zu einem Schafbauern, um die für Krebspatienten empfohlene Schafsmilch zu kaufen. Meine Mutter las alles, was über alternative Heilungsmethoden zu haben war; im Kühlschrank lagen Kiwis im Eierfach, die damals noch kaum jemand kannte, und die wir Kinder nicht essen durften. Mein Vater war im oberen Stockwerk. Er wollte nicht, daß wir ihn so sahen.
Einmal, als ich vom Nachbarbauern zurückkam, wo ich oft spielte und auch zu Mittag aß, fand ich meine Mutter in der Badewanne. Das Badezimmer war voller Dampf und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß sie weinte. Sie sagte dann, daß Papa gestorben war. Das war der siebte Dezember 1979.

Es war für mich keine leichte Entscheidung, als Tochter die Gedichte meines Vaters herauszugeben. Es war eine Entscheidung, die wir als Familie getroffen haben. Noch immer fällt es uns allen schwer, die vielen auch handschriftlichen Manuskripte, die Briefe und die kleinen Zettel mit unseren Kinderzeichnungen auf der Rückseite jemand anderem zu überlassen. Für uns sind die bald 25 vergangenen Jahre nach seinem Tod noch immer eine kurze Zeit.

Katharina Born, Nachwort

 

 

Nicolas Born (1937–1979)

zählt heute zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur. Anfang der siebziger Jahre erreichte er eine bis dahin für Lyrik ungewöhnliche Aufmerksamkeit. So zeitverbunden und typisch für die Erfahrungen seiner Generation, die von den Kriegsfolgen über das Wirtschaftswunder, die 68er-Bewegung und die schwere Desillusionierung der 70er Jahre reichten, so zeitlos erscheint seine Lyrik heute. Kritisch und humorvoll seziert er in seinen Gedichten eine zunehmend veränderte Wirklichkeit: das „Wahnsystem Realität“. Born widersetzte sich bereits zu Lebzeiten sämtlichen Versuchen einer Einordnung als politisch Engagierter, Alltagslyriker, Vertreter der sogenannten „Neuen Innerlichkeit“, der Naturlyrik oder der frühen Popliteratur.
In dieser kritischen Ausgabe wird ein Vierteljahrhundert nach seinem frühen Tod mehr denn je die herausragende Qualität seiner Lyrik deutlich. Erstmals sind hier neben den bekannten auch frühe, bisher unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass abgedruckt, die man bisher in einem Brand von 1976 vernichtet glaubte. Ein umfassender Anhang verzeichnet Vorformen, Nachdrucke und Varianten sowie frühe Entwürfe. So lassen sich Arbeitsweise und Einflüsse aufspüren und Entwicklungen des Werks Borns nachvollziehen.

Wallstein Verlag, Klappentext, 2004

 

Nicolas Born „Gedichte“

Wie kein zweiter bundesdeutscher Schriftsteller seiner Generation war Nikolas Born (1937-1979) ein Alltagslyriker und ein „engagierter Ankläger der Medien- und Industriewelt“, obwohl er sich selbst vehement gegen die Einordnung in solche Kategorien wehrte. 25 Jahre nach seinem frühen Tod erschienen nun im Göttinger Wallstein Verlag seine Gesammelten Gedichte. Katharina Born, die Tochter des Dichters, hat die opulente Ausgabe im Auftrag der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur zusammengestellt, kommentiert und mit einem ausführlichen biographischen Nachwort versehen. Neben den bereits zu Lebzeiten erschienenen Gedichtbänden enthält diese erste Gesamtausgabe nach 1978 eine umfangreiche Auswahl der unveröffentlichten Gedichte aus dem Nachlass. Zudem macht ein ausführlicher Kommentarteil mit Entwürfen und verschiedenen Gedichtvarianten bekannt.
1937 als Klaus Born in Duisburg geboren, begann der 14jährige eine Lehre als Chemiegraf und arbeitete zehn Jahre in einer Essener Großdruckerei. Mit zwanzig veröffentlichte er unter dem Namen Nicolas Born seine ersten Gedichte. 1965 erschien sein Debütroman Der zweite Tag. Es folgten Hörspiele, der vielbeachtete Gedichtband Das Auge des Entdeckers (1972) sowie die beiden Romane Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) und Die Fälschung (1979). Im Dezember 1979 starb er nach einem Krebsleiden. Geblieben sind seine Romane und die wunderbar geschriebenen Gedichte, die nach seinem Tod mehr und mehr in Vergessenheit gerieten. Nur in Lyrik-Anthologien fand man einige seiner Gedichte wie das berühmte „Das Erscheinen eines jeden in der Menge“.
Das Ende der 60er Jahre wurde für die junge Generation die Zeit bestimmender gesellschaftlicher und politischer Erfahrungen. Es war die Zeit der Demonstrationen gegen die Springer-Presse und den Vietnam-Krieg. Die Politisierung des Lebens nahm auch Einfluss auf die Literatur. Das scheinbar unmittelbare „Einfach-so-Reden“ in umgangssprachlichen Formulierungen und der konsequente Verzicht auf geheimnisvolle Chiffren führten zu neuen sprachlichen Signalen, zu neuen Bilderwelten. Nicolas Born verlieh neben Rolf Dieter Brinkmann der Lyrik dieser Jahre entscheidende Impulse. Ausgehend von eigenen Erfahrungen und Haltungen versuchen die Gedichte, die beispielhaft sind in der Präzision des Wahrnehmens und des Erinnerns, den Alltag und das eigene Ich zu erkunden.
Borns lyrisches Konzept begründete sich darin, dass die Selbstfindung im Zentrum seiner Poesie stand. „Gedichte können auch Gespräche sein zwischen unseren vielen möglichen Ichs und dem Ich, das aus uns geworden ist“, schrieb er im Nachwort von Das Auge des Entdeckers. Er sprach von einer „kollektiven Rolle“, die sein lyrisches Ich übernommen habe, weniger darauf bedacht, Neues zu erfinden als bereits Vorhandenes aufzugreifen und kritisch zu analysieren.
Die 666 Seiten sind eine Rückschau, bei der es vielerlei zu entdecken gibt, nicht nur einen verschwundenen Dichter sondern eine poetische Auseinandersetzung mit dem deutschen Wirtschaftswunder, mit der 68er-Bewegung und der Ernüchterung in den 70er Jahren. Die Gedichte spiegeln die alte Bundesrepublik wider, ihre Wirklichkeit und Demagogie. Sie sind keine Spielwiese eines bildungsbürgerlichen Poeten sondern voller Realitätssinn und Selbstironie.

Manfred Orlick, buchinformationen.de

Das Gedicht, die Daten und die Schöne Zunge

(…)
Nicolas Born
Nicolas Born, der vor einem Vierteljahrhundert, im Dezember 1979 an Lungenkrebs starb, wäre heute ein Mann von 67 Jahren. Was nun, mit reichlich 600 Seiten unter dem schlichten Titel Gedichte vor mir liegt, ist das lyrische Werk eines fast noch jungen Mannes – auf den das Klischee vom Frühvollendeten nicht passen will. Es ist ein Torso, den er hinterließ. Die Ärzte, die dem Todkranken nur noch wenig Zeit gaben, rieten ihm, nur noch Gedichte zu schreiben, anstatt einen weiteren, den vierten Roman zu beginnen. Born bestand auf dem Roman; vielleicht deshalb, weil er im Jahr zuvor einen Sammelband seiner Lyrik vorgelegt hatte, Gedichte 1967–1978, einen Band, der seine früheren Arbeiten zusammenfaßte, vermehrt um eine neue Sequenz „Keiner für sich, alle für niemand“ und reduziert um einige Etüden und Agitprop-Texte.
Seine Entwicklung war eigentümlich rapid. Born, am letzten Dezembertag 1937 in Duisburg geboren, begann in Essen eine Lehre als Chemigraph und arbeitete dort zehn Jahre für eine Großdruckerei. Er kam zum Schreiben und lernte Ernst Meister kennen, der für einige Jahre sein Mentor und lyrisches Vorbild wurde. Else Meister war es übrigens, die dem jungen Nicolaus Born zum Künstlernamen Nicolas Born riet. Der Ruhrpott-Provinz entriß ihn Walter Höllerers „Lehrgang Prosaschreiben“ im Literarischen Colloquium, und überhaupt das Berlin der aufkommenden Studentenrevolte. Borns zweiter Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) erhielt den Bremer Literaturpreis, der dritte, Die Fälschung (1979), erschien schon im Herbst seines Todes.
Als Lyriker begann Born mit einem den Amerikanern, Charles Olson vor allem abgelauschten Programm:

Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist; weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern (…) Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; und die rohe, unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie.

Born hat diese „unartifizielle“ Formulierung ausdifferenziert und zu beträchtlicher Kunst geführt; er hat aber immer an seiner Intention fest gehalten, die Umwelt direkt anzugehen, das heißt Poesie nicht mit Worten zu erfinden. Sie bestimmt alle Gedichtsammlungen. Marktlage (1967) brachte vor allem sozialkritische Skizzen aus dem Ruhrgebiet. Wo mir der Kopf steht (1970) unternahm, auf dem Höhepunkt der APO-Zeit, die Analyse von gesellschaftlichen und politischen Ritualen. Das Auge des Entdeckers (1972) war der Versuch, in der täglichen Erfahrung, im Alltagsdetail oder der Liebesbeziehung Utopisches sichtbar zu machen, „das Erscheinen eines jeden in der Menge“.
Der folgende Titel klingt da schon wie ein Widerruf. Die zwanzig Gedichte von Keiner für sich, alle für niemand komplettierten den Sammelband von 1978. Sie wirkten schon damals wie ein Abgesang auf die politischen Hoffnungen, auch auf die ökologische. Das schloß die persönliche Erfahrung, das Scheitern mit ein. Den Abschluß machte ein langes Gedicht, wie es damals gefordert wurde, die aus Snapshots und Reflexionsfragmenten komponierten „Notizen aus dem Elbholz“. Darin gibt es Passagen von reiner Schönheit:

das Gras, gefroren und funkelnd
von Reif, quietscht, der alte Wald
ächzt, und Dampf, rosafarben, steigt auf
wie von lagernden Herden.

Aber es gibt auch resignative Wendungen, die wie letzte Worte wirken; etwa:

Ich will nicht immer wüten und abgehn.
Gesagt hab ich mal, daß einer zum Krüppel wird
wenn er seiner Zeit böse bleibt
und jetzt bin ich Krüppel, böse nicht genug.

Man mag in dieser Konfession auch die Ahnung der aufkommenden Krankheit erkennen, doch das Gefühl des Verkrüppeltseins hatte bei Born – wie immer – wohl auch ein gesellschaftliches Moment. Er sah die Welt „am Tropf der Systeme“. „Kein Gedicht, höchstens das Ende davon“, heißt es in „Entsorgt“. Im Juni 1979, beim Petrarca-Preis in Verona, erreichte ihn noch die Nachricht vom Tod Ernst Meisters, die ihn sehr traf. Heute kann man im Anhang der von Katharina Born besorgten Gesamtausgabe jene Gedichte lesen, die der junge Born unter Meisters Einfluß schrieb. Eines davon, „Haltend die Standarte“, hat Meister 1961 in einer Tageszeitung publiziert und kommentiert. Ein anderes, „Bei Mondschein“, das 1965 im Essener Lesebuch stand, schlägt nicht bloß den Ton Ernst Meisters an, es wirkt auch wie die Projektion seiner Gestalt:

Es ging
der Körper eines Schattens
aufrecht.
Sein Gesicht, sehr weiß,
war helleres Licht,
sein Mund
formte Kiesel,
sein Schatten
kam zählend die Wege

nicht weit.

Vielleicht streifte Born eine Ahnung, daß er im Schatten Ernst Meisters „nicht weit“ gekommen wäre. „Echolandschaft“ war eine Mappe mit Gedichten überschrieben, die sich in Borns Nachlaß fand. Ein sprechender Titel! Eines dieser ungedruckten Gedichte ist Ernst Meister gewidmet. Es fragt:

war es wer
der mich fragte
ob ich wolle
den traum
oder lieber
das licht.

Born wählte das Licht. Seine veröffentlichte Lyrik läßt sich als Absage an den Hermetismus lesen, wie ihn Ernst Meister vertrat und wie er Celan, zu recht oder unrecht, zugeschrieben wurde.

Harald Hartung, Merkur, Heft 674, Juni 2005

Aufgeblättertes Herz

− Einer wie keiner: Die gesammelten Gedichte von Nicolas Born. –

Du lernst jemanden kennen, und plötzlich ist es da: dieses nicht erklärbare Gefühl, man kennt sich schon ein Leben lang. Du könntest die Sätze des anderen zu Ende führen oder sie beginnen, bevor er sie beginnt, kennst sein Lächeln, die Geste, wenn er nachdenkt, den tiefen Blick, die Falte auf der Stirn, die Art, wie er das Streichholz in die Hand nimmt und am Rand des Heftchens entzündet. Du kennst den Klang seiner Worte, die Melodie seiner Argumente, das unvermittelte Schweigen, die unterdrückte Wut, den versteckten Witz. Man ist schon zu alt, hat nicht mehr die Zeit, ein ganzes Leben nachzuholen, aber man muß es gar nicht, es ist da, alles. Die Zeit war auf der Überholspur, und wir in ihrem Windschatten.
Der 1979 verstorbene Nicolas Born, dessen zu Lebzeiten veröffentlichte und im Nachlaß gefundene Gedichte nun in einem wunderbaren Band versammelt sind, ist ein Autor, mit dem man sofort befreundet ist. Und wie das so ist mit Freunden: Man liebt sie, kann oft nicht einmal erklären, warum. Man geht mit ihnen ihre Wege, wie wirr sie auch sind, reist mit ihnen durch die Wüsten Amerikas und liegt mit ihnen am Pflasterstrand, empfindet eine Zärtlichkeit selbst für ihre Fehler.

Sollen dich meine schönen Verse immer
an meine häßlichen erinnern?

Nein, das sollen und werden sie nicht, nur die Schönheit der überraschend unangestrengten Verse brennt sich in die Erinnerung, nur ihr folgt die Spitze des Bleistifts, wenn er sie unterstreicht.
Natürlich gibt es auch Irritationen, man lebt sich auseinander, findet wieder zueinander, streitet sich, wirft sich die Wahrheit wie eine Flasche Bier an den Kopf und trinkt dann wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Selbst den diebischen Griff in Brechts große Manteltasche verzeiht man gerne, wenn er sich als „Selbstbildnis“ tarnt:

Ich Zigarettenraucher halb schon Asche
Kaffeetrinker mit den älteren Damen
die mir halfen
wegen meiner sympathischen Fresse und
die Rücksichtslosigkeit mit der
ich höflich bin.

Die ersten Gedichte sondieren noch die „Marktlage“, so der Titel des ersten Bandes, suchen ihren eigenen Ton, sind in ihrer Lässigkeit noch etwas bemüht, wollen alles so, als ob nichts wäre, spannen ihre Muskeln für die Schlagworte der Zeit: Papst, Krupp, Starfighter, Nato. Aber dennoch entwickeln sie schon ein Sensorium für die Zeit, die schleichende Veränderung der Sprache durch ihre Kommerzialisierung, den Wechsel der Utopien und Wunschträume in die Versprechungen der Werbung:

Stunden verwend ich auf mich
Tage auf das Mobiliar
ich esse Obst und bleibe gesund.
Selten mach ich die Liebe, selten bin ich Dieb im Discount.
Wöchentlich spare ich eine Rasur
mit der blauen Gillette.

Diese Gedichte sind ein Inventar der alten Bundesrepublik, ihrer Gegenstände, ihrer Ängste, ihrer Eitelkeiten und Selbstüberschätzungen, des anfänglich erstickenden Konservatismus und der Rebellion, sie erzählen von beschädigten und befreiten Biographien, von Nachrufen auf eine Arbeitswelt und ihre einfachen Menschen, die heute zugleich ein Nachruf auf die Arbeit sind, die fehlt wie den Menschen die Hoffnung darauf. Sie erzählen von als Parasiten denunzierten Künstlern, ihren Nöten, ihren privaten Widersprüchen, erzählen davon, daß alles nicht zusammengeht, die Politik und die Familie, das wilde Dichterleben und das Windelnwechseln, die bürgerliche Sicherheit und das sich Vergeuden in den Abenteuern, die an jeder Ecke lauern und in der Weite der Welt, deren Grenzen sich mit dem Erfolg dem suchenden Dichter immer mehr öffnen:

Wir sind keine Pferdediebe allerdings Deutsche
unsere Höflichkeit ist die Höflichkeit von Ausländern
wir werden schneller
wir meinen wir sausen
eingepackt in süße Luft
und in eine Musik die nie aufhört
altern wir ganz langsam
vielen Dank Pentagon
für diesen statistischen Verzögerungseffekt.

Die Reise in die Vereinigten Staaten hat seinen Gedichten einen neuen Sound und Beat gegeben, ohne daß er, trotz aller Bewunderung, ein Beatnik geworden wäre; vielmehr konnte er Hölderlin und Ginsberg zusammendenken und auf eine Zeile bringen. Nomaden reisen niemals ohne Grund.
So begleitet man in dem Band Nicolas Born Gedicht für Gedicht durch sein Leben, blättert in seinem Kopf, schlägt sein Herz um, hört auf seine Stimme, wenn sie flüstert, wenn sie schreit, will ihn in den Arm nehmen oder ermutigen, teilt seinen Haß und seine Freuden, und immer lacht man mit ihm und ist überwältigt von seiner Selbstironie:

Ich, einer wie alle, verletzt von Angst
komme täglich unverletzt
aus dem Kugelhagel heraus.

Mit Freunden hat man zusammen Geheimnisse, die man mit niemand sonst teilt, versteht Andeutungen, die den anderen ein Rätsel sind. Und immer wieder geht es um die Liebe, die Enttäuschung, das Glück, das doch so nah war, zum Greifen nah:

In Köln-Knapsack küßte ich eine Frau
(…)
Wir verabredeten uns auf einen Zufall.
So bald komme ich nicht mehr nach
Köln-Knappsack.

Und dann geht es auch um die Eifersucht, wenn plötzlich ein anderer Mensch näher dem Herzschlag ist als der Freund, wenn eine Fremdheit sich einschleicht, die nicht aus dem gemeinsam Erfahrenen erklärbar ist. Oder man hat verschiedene Ansichten, politisch, ästhetisch, im Leben. Aber so ist das mit Freundschaft, man verzeiht, drückt ein Auge zu, unterdrückt den Widerspruch, hat Geduld. Da ist etwas, das ist unverwundbar, etwas, das einem niemand mehr nehmen kann. Und weil die Freundschaft dies alles ist und mehr, müssen die Freunde auch ins Gedicht:

Piwitt fragt mich ob er hier vorkommt
ja sage ich aber nur als Name
er ist zufrieden und bricht auf
zu einer Wanderung.

Nicolas Born bricht das Gedicht auf ins Persönliche, nimmt ihm seine sakrale Aura, ersetzt das auratische „Es“, das spricht, durch ein simples „Ich“, er zeigt, wie ein Gedicht gemacht wird und was er macht, während er ein Gedicht schreibt:

Und hier schiebt sich zart und ungerecht
ein Rumpsteak ins Gedicht
das man irgendeinem namenlosen Tier
irgendwo in der Welt weggeschnitten hat.

Vor allem aber zeigt er, was es ihn kostet, das Gedichtemachen, oder was es nach Meinung seiner Zeitgenossen kosten sollte:

Auch ich könnte mitten in einer Gedichtzeile
wegbleiben
nichts trennt mich vom Sozialismus
aber mein Stoffwechsel dreht mich um
wird der Kaffee drei- bis fünfmal so teuer
wenn wir die Gerechtigkeit haben
ist es eine Tragödie wenn ich so lange
bei dir bin
wenn ich diesen Tisch verrücke
Ist das dann
ein Vorgang in Worten.

Bei allem Alltagszauber ist Born stets sprachreflexiv, erörtert bis an die eigenen Schreibblockaden die Grenzen des Gedichts:

Wenn ich vor mir selbst bestehen will
mache ich immer etwas anderes, hol Kohlen
aus dem Keller
oder verbrenne einen Satz von dem ich tagelang meine
er hätte gehalten.

Wir sind bei ihm immer „Im Inneren der Gedichte“, dort erkennt er:

Du kannst nicht davon leben
mit der Wirklichkeit zu konkurrieren
noch kannst du von der Wirklichkeit leben
aber du kannst einen Eingriff überleben
und alles zurück kriegen
und durch Das Leben gehen
durch schnell verfallende Bilder
das warst du.

Diese „verfallenden Bilder“ sind auch die Bilder des Film, wie überhaupt das Kino für Born eine ästhetisch zentrale Rolle spielt, seine Schnitte, Rückblenden, schnellen Wechsel, die neuen Erzählformen, die fremden Welten. Er ging mit seinen Frauen ins Kino – „NACH DIESER ERSTEN ZEILE / bin ich erst mal ins Kino gegangen“ – und ging mit dem Kino in seine Gedichte:

Ich taste mich ab
ich bin zweifellos in einem Film
ich bin voll
synchronisiert.

Er beobachtet eine Frau in einem Bahnhof und plötzlich erscheint sie ihm „wie die Rückblende in einem Zufallsfilm / den noch keiner gesehen hat“. Genau so ergeht es einem beim Lesen, man denkt, man kennt das alles schon, selbst die Zufälle, aber man hat es so noch nicht gesehen und blendet sich ein in dieses Leben.
Man ist dankbar für diese Rückblende auf einen Dichter, dessen Gedichte fast verschwunden waren und so ein Gewinn sind für das Jetzt, das Erinnern in die Zukunft aus dem Wissen um das Geschehene, die Geschichte und ihre Geschichten. Die Tochter Katharina Born hat diesen fast siebenhundert Seiten starken Band mit viel Liebe, Einfühlvermögen, umfassenden Textnachweisen und -varianten, und einem sehr persönlichen biographischen Essay herausgegeben, hat nicht ohne gemischte Gefühle und auch mit etwas Angst den alten Schrank geöffnet, der den Nachlaß ihres Vaters hütete.
Man ist am Anfang etwas erschrocken, braucht die ganze Hand, um diesen Gedichtband zu umfassen, aber er umfaßt ja auch ein ganzes Dichterleben. 1979 starb Nicolas Born an Krebs. Ende November 1977 schreibt er in dem Gedicht „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“:

Wenn ich sterbe will ich allein sein
nicht mich berühren, nichts verwischen
kein Wort
es soll alles echt aussehen.

Es ist nichts verwischt, nichts vergessen. Seine Gedichte sind echt, so echt wie die Freundschaft und so lebendig wie die Erinnerung an einen Freund, der uns zu früh verlassen hat.

,leben‘ ist auch so ein Wort
das sich langsam dreht
als wäre wirklich alles ganz einfach
und es ist einfach
ein ganzes Stück Welt in sich zu spüren.

Albert Ostermaier, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.1.2005

Ein Projektil ziert jede Wand

− Der früh Verstorbene hinterließ viel in seinem Wandschrank. Jetzt hat sich Nicolas Borns Familie an den reichen Nachlass herangewagt. –

Vor 25 Jahren ist in Breese in der Elbmarsch bei Dannenberg der Lyriker und Romancier Nicolas Born gestorben. Als einen „werdenden deutschen Camus“ hat ihn später sein Verleger Ledig-Rowohlt bezeichnet. Das mag man übertrieben finden, aber tatsächlich wurde Borns literarisches Werk in seinem Rang und Umriss eben erst erkennbar, als der Autor mit kaum 42 Jahren starb. Trotz solcher posthumen Prophezeiungen wurde es um Born zunehmend stiller. Zwar verschaffte Volker Schlöndorffs Verfilmung der Fälschung, Borns Roman, ein halbwegs beständiges Nachleben, aber zugleich nährte der Film – mit einem schwermütig dreinblickenden Bruno Ganz – auch den Verdacht, Borns Bücher seien der „bleiernen Zeit“, den depressiven Siebzigern derart verhaftet, dass sie später allenfalls noch als Zeitdokument in Betracht kamen. Irgendwann hatte man Born das Etikett „Neue Subjektivität” angeheftet, und Born war nicht mehr die Zeit gegeben, es zu widerlegen oder wenigstens es abzustreifen.
Wer Born sagt, kann an Camus denken, aber vielleicht fallen einem auch lange nicht gehörte Namen wie die von Jürgen Theobaldy oder Hermann Peter Piwitt wieder ein, von Freunden, Weggefährten und Verlagskollegen Borns aus den siebziger Jahren, die wie er in Jürgen Mantheys Taschenbuchreihe Das neue Buch publizierten und das ihre zum kurzen Sommer einer „Rowohlt-Culture“ beitrugen. Hier erschien, neben neuen Büchern von Rühmkorf und Jelinek, 1972 auch Das Auge des Entdeckers, der erste vom breiten Publikum beachtete Gedichtband von Nicolas Born. Es sollte sein letzter in Rowohlts Reihe bleiben, in der ein paar Jahre später die Selbsterfahrungsprosa der Maria Erlenberger (Der Hunger nach Wahnsinn) für Aufsehen sorgte. An Borns Lyrik lässt sich dieser eigentümliche deutsche Stimmungsumschwung zwischen den Jahren 1972 und 1977, der Gang in die Depression, mustergültig nachvollziehen. Kaum ist das Auge des Entdeckers als lyrisches Sehwerkzeug ausgerufen, hat es auch schon wieder ausgedient. Der imaginative Optimismus des Jahres 1972 hielt nicht lang.
Seiner offenkundigen Historizität, seinem schweren „Zeitgefühl“ zum Trotz findet Nicolas Borns Werk seit einiger Zeit wieder stärkere Beachtung. Es gibt Nicolas-Born-Preise, ein Born-Archiv und eine Born-Ausstellung im Wendland, wo Born in den letzten Lebensjahren mit seiner Familie lebte. Und es gibt neuerdings eine von seiner Tochter Katharina Born herausgegebene kritische Ausgabe seiner Gedichte, die neben den bereits veröffentlichten Arbeiten eine große Zahl unveröffentlichter Gedichte aus Borns Nachlass enthält. Sie enthält auch ein liebevolles und kluges Porträt des Schriftstellers und Vaters Nicolas Born, verfasst von seiner Tochter, die bei Borns Tod sechs Jahre alt war. Darin erzählt sie von dem alten Schrank, der die gesamte literarische Habe ihres Vaters beherbergte, nachdem das erste Wohnhaus der Familie im Wendland 1976 abgebrannt war. „Für uns Kinder“, schreibt Katharina Born, „war der Schrank immer das einzige Terrain im großen Bauernhaus in Breese gewesen, in das wir nicht eindringen durften.“ Der Bann hat lange über Borns Tod hinaus Bestand gehabt. Erst jetzt mochten Borns Frau und die beiden Töchter an die Sichtung des Nachlasses gehen.
Dass Born nach der Schule als Chemigraf im Ruhrgebiet tätig gewesen sei, steht in jeder Kurzbiografie des Autors, aber hier erfüllt sich dieser Beruf erstmals mit Leben. In der Klischee-Anstalt Vignold in Essen hat Born als Vierzehnjähriger begonnen, Klischees zu ätzen, Druckplatten also, die als Vorlagen für Plakate und Fotos dienten. Literarisch ist der junge, lesewütige Mann Autodidakt: Ernst Meister im nahen Hagen ist eines seiner Vorbilder, Johannes Bobrowski wird später ein anderes. Ein Meilenstein in Borns literarischer Entwicklung ist der Lehrgang Prosaschreiben, der 1964 im Literarischen Colloquium Berlin stattfindet. Unter den Schülern befinden sich Peter Bichsel, H.C. Buch, Hubert Fichte und Ror Wolf; Vorträge werden gehalten von Michel Butor, Ernst Bloch, John Steinbeck, Witold Gombrowicz und anderen. Born gerät in den Einzugsbereich der Gruppe 47 und später in die Nähe der von Dieter Wellershoff propagierten „Kölner Schule“. Mitte der sechziger Jahre, als sein erster Roman, Der zweite Tag, erscheint, ist Born mit einem Mal etabliert, lebt in Berlin, und zieht mit Grass und Chotjewitz durch die Kneipen am Savignyplatz. Mit Grass verbindet ihn der unakademische Habitus, die Erfahrung mit Handarbeit, die sozialdemokratische Gesinnung und die Abneigung gegen den studentischen Radikalismus.
Literarisch bedeutsam wird Born wohl erst in dem Moment, da er die in manchen frühen Gedichten spürbare Grass-Affinität aufgibt und sich ebenso von Wellershoffs „Neuem Realismus“ verabschiedet, um mit dem „Auge des Entdeckers“ erstmals aufs Ganze zu gehen: aufs Ganze einer damals vielleicht neuen Subjektivität, für die als erster Karl Heinz Bohrer die passenden Worte fand, als er Borns Gedichte, namentlich eines mit dem Titel „Drei Wünsche“, mit einer neuen Tendenz zum Utopischen in Verbindung brachte:

Sind Tatsachen nicht quälend und langweilig?
Ist es nicht besser drei Wünsche zu haben
unter der Bedingung, daß sie allen erfüllt werden?
Ich wünsche ein Leben ohne große Pausen
in denen die Wände nach Projektilen abgesucht werden
ein Leben, das nicht heruntergeblättert wird
von Kassierern

Der demokratische Hedonismus, den Born hier verkündet, ist politisch anspruchslos geworden. Er zehrt von der Einsicht, dass das Wünschen nur noch denen helfen kann, die ihr Heil im Privaten suchen. Von Grass zu Handke, so ließe sich Borns Weg beschreiben, ein Weg in die „Innerlichkeit“ vielleicht, jedenfalls ein Weg ins Freie, wo, nach Handkes Wort, nichts anderes einen bedrücken darf und soll als das „Gewicht der Welt“.
Dieses Gewicht allerdings erweist sich in Borns letzten Lebensjahren als unerträglich. Mit Die erdabgewandte Seite der Geschichte legt Born 1976 einen der finstersten Romane der deutschen Literatur vor. Die Beziehungen sind kaputt, die Umwelt ist bedroht, und wir hängen am „Tropf der Systeme”, so klingt es aus den späten „Notizen aus dem Elbholz“, aber dann finden sich andererseits und immer noch auch Spuren des absichtslos Schönen, die den Idylliker Born besänftigen. In Borns späten Gedichten ist ein stilles Pathos am Werk, eine karge Innigkeit, die man wohl ganz zu Unrecht mit seinem bevorstehenden Tod und mit der Geste des Abschieds in Verbindung bringt. Vielleicht hatte der Lyriker Born damals gerade erst seine Sprache gefunden.

Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 30.11.2004

Fremdheit des Lebens

− Peter Handke hat einmal in einem Gedenkblatt die Frage gestellt, warum denn über die Gedichte seines toten Freundes Nicolas Born nicht ebenso viel begeistertes Geschrei herrsche wie über die Lyrik des für seine Radikalität bewunderten Rolf Dieter Brinkmann. Wie berechtigt diese Frage noch immer ist, bewiesen im vergangenen Jahr die Autoren einer viel diskutierten Lyrik-Anthologie, die in devoten Reminiszenzen den wilden Poeten Brinkmann hochleben ließen, während sie den lyrisch komplexeren Nicolas Born offenbar gründlich vergessen hatten. Das mag daran liegen, dass die bei Brinkmann üblichen schrillen Feinderklärungen in den Werken des mit 42 Jahren gestorbenen Alltagsrealisten vom Niederrhein nicht zu finden sind. Nicolas Borns skeptische Utopien und melancholisch-hellsichtige Erkundungen seiner Lebenswelt sind ästhetisch sehr viel schwerer fassbar. −

Die stillen Provokationen dieses Dichters leben von der Verhaltenheit seiner poetischen Gestik, von präzisen Momentaufnahmen des Alltags und der genauen Beobachtung eines zunehmend bedrohlichen Weltzustands. Als er im Nachwort zu seinem 1972 publizierten Band Das Auge des Entdeckers den Begriff der Utopie ins Spiel brachte, standen gleich die linken Freunde Spalier, um ihn ins systemkritische Milieu einzugemeinden. Dabei hatte sich Born ausdrücklich von einer Literatur abgesetzt, die nur auf „die Misere abonniert“ ist. „Jeder“, so schrieb Born damals, „ist eine gefährliche Utopie, wenn er seine Wünsche, Sehnsüchte, Imaginationen wiederentdeckt unter dem eingepaukten Wirklichkeitskatalog.“
Die kritische Ausgabe mit sämtlichen Gedichten Nicolas Borns, die soeben im Göttinger Wallstein Verlag erschienen ist, hat nun den längst fälligen Versuch unternommen, mit einigen Legendenbildungen um den vor 25 Jahren gestorbenen Dichter aufzuräumen. Die entscheidende Prägung empfing der junge Born nämlich nicht, wie bislang kolportiert wurde, von seinen kulturrevolutionär gestimmten Berliner Freunden Hans-Christoph Buch und Hermann Peter Piwitt, sondern von dem Dichter Ernst Meister, mit dem er 1959 in Kontakt gekommen war. Der Ehefrau Ernst Meisters verdankt Born auch den Einfall, sich den Künstlernamen Nicolas zuzulegen. So steht auch die um 1960 konzipierte, aber nie veröffentlichte Gedichtsammlung „Echolandschaft“ noch ganz im Bann von Meisters Sprachmagie.
Zu den größten Verdiensten dieser kritischen Ausgabe gehört die Neuakzentuierung des Born-Bildes, das bislang Hans-Christoph Buch und Hermann Peter Piwitt mit ihren biographischen Skizzen geformt hatten. Die Herausgeberin der Ausgabe, die Born-Tochter Katharina, entdeckt in ihrer sorgsamen Rekonstruktion der Lebensgeschichte Nicolas Borns viele neue Facetten im Leben ihres Vaters. Hier werden auch erstmals die Gedichte aus dem Nachlass veröffentlicht, die man nach einem verheerenden Brand in Borns Haus im Jahr 1976 vernichtet glaubte. Die dokumentierten Arbeitsprozesse an einzelnen Gedichten zeigen einen Autor am Werk, der die scheinbare Leichtigkeit und Beiläufigkeit seiner Gedichte in strenger formaler Selbstdisziplinierung hergestellt hat.
Was man später „Neue Subjektivität“ genannt hat – in diesen Gedichten ist es am differenziertesten entwickelt: Ein instabiles, unruhiges Ich, das sich neugierig in die Welt hinein tastet und nach verlässlichen Orientierungen sucht. Nicht immer gelingt es Born, dieses Ich von bräsigen Exhibitionismen freizuhalten. Wenn sein lyrisches Subjekt lamentiert: „Und wieder sitze ich im Suff am frühen Morgen“ – so ist das ein Vorbote der später epidemisch werdenden Geschwätzigkeit der Alltagslyrik. Konzentrierter wirken die frühen Gedichte in dem Band Marktlage von 1967, in dem der Dichter auf die ihm vertraute Lebenswelt und die Menschen des Reviers blickt.
Er weigere sich, schrieb Born in einem Brief an Günter Kunert, sich von den herrschenden Identitäts-Konstruktionen einfangen zu lassen. Er wolle lieber ohne Identität sein und „zusammengesetzt sich fühlen aus lauter sich gegenseitig abstoßenden Fremdorganen.“ Dieses Bewusstsein des Ich-Verlusts hat ihn in den späten Gedichten fast erstickt. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Krebstod im Dezember 1979 wird nun ein Dichter wieder entdeckt, der die Fremdheit des Lebens und den Zusammenbruch der Utopien in unvergesslichen Versen fixiert hat:

Mit uns macht die Geschichte Schluss.
Am genauesten sieht man sie wenn der Zug
langsam entlangfährt an den Rückseiten der Städte
Lagerhallen Höfe, die Kehrseite der Wäsche
und der Blumenfenster
die erdabgewandte Seite der Geschichte.

Michael Braun, Deutschlandfunk, 7.12.2004

Für Nicolas Born, der am 31. Dezember 75 geworden wäre,

Sind Tatsachen nicht quälend und langweilig?
Ist es nicht besser drei Wünsche zu haben
unter der Bedingung daß sie allen erfüllt werden?
Ich wünsche ein Leben ohne große Pausen
in denen die Wände nach Projektilen abgesucht werden
ein Leben das nicht heruntergeblättert wird
von Kassierern.
Ich wünsche Briefe zu schreiben in denen ich
ganz enthalten bin −,
Ich wünsche ein Buch in das ihr alle vorn hineingehen
und hinten herauskommen könnt.
Ich möchte nicht vergessen daß es schöner ist
dich zu lieben als dich nicht zu lieben

(Aus dem Gedicht „Drei Wünsche“)

Schöne, ehrliche, moderne, vielfältige Gedichte hat der Schriftsteller Nicolas Born geschrieben. Die Utopie als ein kleiner Zettel, den man in der Brusttasche mit sich herumträgt, so blitzt sie einen durch seine Gedichte, durch die Unruhe und absonderliche Wahrhaftigkeit seiner Verse und Gesten, seiner poetischen und seiner gewöhnlichen Ausdrücke an. Alles in einem Borngedicht scheint wichtig zu sein und alles gehört einfach nur dazu.

Ich, einer wie alle, verletzt von Angst
komme täglich unverletzt
aus dem Kugelhagel heraus.
Die Dürre tötet nicht meine Kinder
aber bald sind sie todkrank von Nachrichten
vergiftet
[…]
Immer besetzen uns zu schnell die neuen Toten.
Wir lernen nicht mehr die Gräser zu unterscheiden
Sträucher, die Bäume.
Wie wächst der Unsinn die Zwiebel zu preisen
Roggen, den Mais
wie wächst der Unsinns über die Köpfe.
[…]
Wenn wir immun sind dann sterben wir
an unseren Immunitäten.

Er war ein großer Engagierter, hat mit dem Buch Die Fälschung auch eines der beeindruckendsten Werke der Romankunst ablegt. Eine unautomatische, innere Gewandtheit und Gelassenheit, mit der er sich durch die Sprache bewegt, liegt in seinen Versen, genau wie eine nicht zu verbergen versuchte Zerrissenheit, die die Welt in uns alle näht mit jedem Tag. Doch mit den Gedichten Nicolas Borns hat sie einen unbeeindruckten, starken Gegner gefunden – und zugleich einen abwandelnden Fürsprecher.

Wenn Sonne scheint, reckt sich das Holz
Stimmen schwirren, Gefieder säuselt
Wasser strahlt Luft an, Wolken so weiß
− die Welt schließt sich und zieht
woanders hin

Bei den einzelnen Gedichtbänden Marktlage, Wo mir der Kopf steht und Das Auge des Entdeckers finden sich noch weitere Rezensionen, in denen ich die Poesie Born noch etwas genauer beleuchtet habe – dort steht alles andere Wesentliche.
Bleibt mir nur noch, hier am Ende zu sagen, dass ich Born für einen der besten deutschen Nachkriegsdichter halte. Die Zärtlichkeit, die seine Verse in mir innerlich anbringen, den Mut, den sie im Angesicht des Lebens offenbaren und die Schwäche, der sie ihre unkopfschüttelnde Weisheit schenken, haben mich tief beeindruckt. Es sind Gedichte, zu denen ich wohl noch oft zurückkehren werde, einfach weil sie eine immer wieder neue, einnehmende, natürliche Geborgenheit ausstrahlen, die sagt: Hier bewegst du dich in einem echten Gedicht! Lass dir Zeit. Erforsche und sehe, was alles möglich ist, wenn du es nur liest.

An der Geschichte ist das beste dass sie genau
bei uns aufhört
obwohl viele noch mitschreiben.

Timo Brandt, amazon.de, 14.12.2012

Echt beeindruckend! Gedichte die man gerne liest

Ich war ja zuerst ein wenig ängstlich, als ich den dicken Band im Uni-Seminar in die Hand nahm. Aber das sind echt mal Gedichte, die man einfach lesen kann und die so schön sind, daß man sie am liebsten allen seinen Freunden schicken möchte.
Lohnt sich, auch wenn man sonst noch nichts von Nicolas Born gelesen hat. Ein toller Autor.

loanna77, amazon.de, 17.6.2005

Eine wunderbare Entdeckung!

Ich kannte bislang nur Borns Prosa und habe seine Gedichte auf dem Münsteraner Lyrikertreffen kennengelernt, vorgetragen von seiner Tochter Katharina. Habe mir danach sofort den Band gekauft und bin restlos begeistert. Es gibt ein wunderbares Nachwort, in dem die Tochter viel bislang Unbekanntes über Born preisgibt und es zum Teil auch einbettet in ihr eigenes Erleben. Das ist nicht nur interessant, sondern auch anrührend. Die Gedichte selbst sind sehr unterschiedlich, man kann an ihnen gut Borns Entwicklung nachvollziehen. Wer sich mit jemals mit Born beschäftigt hat oder dies vorhat, kann hier viel entdecken.

Ein Kunde, amazon.de, 15.6.2005

wunderbar an der Wirklichkeit entlanggeschrieben

Borns Gedichte spielen mit sprachlichen Stereotypen, entwerfen utopische Gegenbilder und beschwören das große Glück oder auch nur die kleine Liebe.
Die Sammlung enthält neben den seit langem vergriffenen Bänden Marktlage, Wo mir der Kopf steht und Das Auge des Entdeckers die Folge Keiner für sich, alle für niemand aus den Jahren 1972-1978 und stellt auch eine ganze Reihe neuer, bislang unveröffentlichter Gedichte aus dem Nachlass vor.
„Man lernt Born kennen als einen Autor, der alles persönlich nimmt und in seinen wundervoll ungeschützten Ich-Gedichten listig Widerstand gegen die Zumutungen des modernen Lebens leistet, ja gegen alles, was ihn einengt, festlegt, determiniert… wunderbar an der Wirklichkeit entlang geschriebene Gedichte.“ Peter Henning, Die Zeit
„Die Fortsetzungsgeschichte Lyrik hat nichts mit Idylle und noch weniger mit ,Idee‘ zu tun. Eine zusammenhanglose Traurigkeit liegt hinter der Fülle loser, momentaner Zusammenhänge, mit denen sich der Gedichtschreiber so gelassen wie möglich eingerichtet hat. Es ist eine Gelassenheit, in der jederzeit alles mögliche, auch das Phantastische, ,passieren‘ könnte“ (Karl Krolow in Stuttgarter Zeitung).

Ein Kunde, amazon.de, 15.12.2004

Wunderschöne Gedichte – endlich mehr davon

Wunderschöne Gedichte des berühmten, früh verstorbenen Lyrikers der sechziger und siebziger Jahre. Im ausführlichen Anhang wird deutlich, wie sie entstanden sind und es lassen sich herrliche Schätze in Vorstufen und anderen Versionen finden. Auch ein unveröffentlichte Gedichte und Notizen sind sehr lohnenswert im Anhang aufzustöbern. Ein ausführliches biografisches Nachwort läßt die Zeit und die Entstehung und die Entwicklung Nicolas Borns verständlicher werden. Empfehlenswert auch für Leute, die sonst keine Lyrik lesen.

Ein Kunde, amazon.de, 15.12.2004

Das Glück der Katharina und des Nicolas Born

Vor einer Woche las ich die neuen und einige bekannte, mir vertraute Gedichte von Nicolas Born, dann Katharinas Borns Nachwort, eine kurze Biografie aus der Feder der Tochter, neben persönlichen Anmerkungen die Reflektion einer Generation, die – wie Borns Gedichte – Skepsis und Leidenschaft, Liebe und Wut, vor allem Subjektivität der Wahrnehmung bewegte und immer wieder einmal bewegt.
Vor 25 Jahren starb der Dichter, Anfang 40, kurz bevor sein von Schlöndorff inszenierter Film Die Fälschung erschien. Jetzt kommen seine Gedichte in neuem Gewand heraus, von Katharina Born gesammelt, aus dem Nachlaß ergänzt und liebevoll kommentiert.
„Wie todernst ist dieses Kommen und Gehen auf Leitern und Stiegen wenn einer sich abwendet und tatsächlich mit einem Wort geht wie leer ist dann die Straße wie verlassen der Verlassene…“ schrieb Nicolas Born.
Wir Zeitgenossen spüren nicht mehr nur den Verlust, wir gewinnen aus vielen seiner Gedichte ein Glück , das, wie Nicolas Born sagt, „geflogen“ kommt. Ich habe im letzten Jahrhundert keine schöneren und humorvolleren Gedichte gelesen, gestern kehrten sie wieder ein bei mir, diese lyrischen und machmal lockeren Gäste. Ich habe auch nichts erlebt, was mich zuversichtlicher gestimmt hätte, als die Lyriklektüre der letzten Woche. Und mich freut besonders, daß der große Gedichtband sofort den 1. Platz der Bestenliste des SWR eingenommen hat.

Nora, amazon.de, 10.11.2004

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Michael Braun: An den Rückseiten der Städte
Frankfurter Rundschau, 15.12.2004
auch in: Der Tagesspiegel, 12.1.2005

Hermann Peter Piwitt: Landschaft mit großem Glück
der Freitag, 14.1.2005

Peter Henning: Mensch gegen Megamaschine
Basler Zeitung, 9.2.2005

Harald Hartung: Das Gedicht, die Daten und die Schöne Zunge
Merkur, Heft 6, 2005

Angelika Overath: Erinnerung an die Zukunft
Neue Zürcher Zeitung, 25./26.3.2006

Peter O. Chotjewitz: Sehnsucht nach Zerbrechen
Stuttgarter Zeitung, 3.12.2004

anonym: Ansteckender Fatalismus
Badische Zeitung, 4.12.2004

Uta Beiküfner: Die Kellnerin war Kölnerin
Berliner Zeitung, 9.12.2004

Willi Winkler: Ich, Born, Sohn des Born
Die Weltwoche, 24.2.2005

Werner Jung: Dunkle Stellen
neues deutschland, 24.3.2005

Mitschnitt der Preisverleihung des Peter-Huchel-Preises (postum) vom 3.4.2005

Beim entsichern der Verse

– Zu einigen aufgefundenen Gedichten von Nicolas Born. –

Arnfrid Astel erinnert sich spontan nicht an sie als an etwas Besonderes. Wie so vielen Dichtern hat er auch Nicolas Born gelegentlich im Saarländischen Rundfunk die Möglichkeit gegeben zu lesen und Geld zu verdienen, so auch 1974, als von dem Konvolut von zwölf Gedichten zehn am 27. Juni aufgenommen und am 27. Oktober gesendet wurden. Nun, beim Digitalisieren früherer Sendungen, sind Ralph Schock und Arnfrid Astel auf dies Konvolut gestoßen – und haben es Katharina Born, der Tochter und Herausgeberin der Gedichte, zur Verfügung gestellt. Und siehe da: Acht der zwölf Gedichte waren nicht in ihrer Ausgabe! Deren Manuskripte sind wohl, wie andere Werke Borns, bei dem Brand des bornschen Hauses 1976 vernichtet worden, so dass Born sie nicht in seine Sammlung Keiner für sich, alle für niemand (Gedichte 1972–78) aufnehmen konnte.
Arnfrid Astel kam damals und er kommt heute noch den Dichtern und der Literatur entgegen; er betrachtet sie nicht literaturgeschichtlich; da wäre eine Hervorhebung jetzt eine nachträgliche Fessel. Und doch möchte ich diese Hervorhebung wagen, weil ich meine, dass dies Konvolut etwas für Borns Werk und nicht nur für Borns Werk, sondern für die Lireratur der 1970er Jahre Besonderes und Aufschlussreiches ist – und von Born auch so, als eine Art Manifest, gemeint war.
Das erscheint Älteren, den Zeitzeugen (in diesem Fall: nach der jahrzehntelangen, merkwürdig verächtlichen, ja hysterischen Aburteilung der Literatur der 1970er Jahre), evident, wenn ich sage, dass zu dem Konvolut die Gedichte „LIEBESGEDICHT“, „Dick vermummtes Winterbild“ (unter dem Titel „In acht Tagen ist Weihnachten“) und „FORTSETZUNGSGESCHICHTE“ gehören, die dann zusammen 1975 im ersten Heft der Akzente veröffentlicht wurden und, wegen der in ihnen gefassten prognostischen Formeln, als Gesprächs- und Essay-Zündstoff für Furore gesorgt haben, vor allem jene Schlussverse der „FORTSETZUNGSGESCHICHTE“:

Mit uns macht die Geschichte Schluß.
Am genauesten sieht man sie wenn der Zug
langsam entlangfährt an den Rückseiten der Städte
Lagerhallen Höfe, die Kehrseite der Wäsche und der Blumenfenster
die erdabgewandte Seite der Geschichte.

Dies umso mehr, als Born diesen letzten Vers dann zum Titel seines zweiten Romans (1976) genommen hat, der die Verwüstungen der privaten und gesellschaftlichen Geschichten zur Zeit der Angst vor dem globalen Verschleiß der Ressourcen für ein friedliches und selbstbestimmtes Leben erzählt: (neu)subjektiv als Komposition bzw. Dekomposition eines Ich. Zur Zeit der geistigen Hegemonie spätmarxistischer Gesellschaftskritik, des „Tods der Literatur“, der RAF und, dann, der Atomkraftkritik und, später, der Friedensbewegung: der gesellschaftlichen und politischen Formierung ökologischen Bewusstseins also. In dieser Welt-Öffentlichkeit bei uns wurde dieser Vers eine Weile zu einem Slogan der Bewusstseinsbildung, der Notwehr.
Born war nach seinem Aufsehen erregenden Gedichtband Das Auge des Entdeckers (1972) mit dem Villa-Massimo-Stipendium in Rom gewesen (in herausfordernder Nachbarschaft zu Rolf Dieter Brinkmann), er war zurückgekehrt in den Kreis der (Berliner) Kollegen um Hans Christoph Buch, F.C. Delius und Hermann Peter Piwitt, die wiederum Jügen Manthey vom Rowohlt Verlag für seine Reihe mit dem leuchtroten (gegenüber dem nur roten altlinken) Rahmen um sich gesammelt hatte und die nun eine neue Literaturzeitschrift herausgaben, genannt, in Ermangelung eines anderen, treffenderen Namens, Literaturmagazin, dessen erste Nummer im Oktober 1973 unter der Überschrift: „Für eine neue Literatur – gegen den spätbürgerlichen Literaturbetrieb“ erschienen war. Mit Essays von Piwitt und Buch, von Rolf Hochhuth und Peter Rühmkorf, von Ingeborg Drewitz, Wolfgang Harich und Hartmut Lange. Und mit einer Sektion „Lyrik und Prosa“, für die Nicolas Born (Prosa!); F.C. Delius, Ludwig Fels, Hubert Fichte, Günter Herburger, Heinz Knappe, Michael Krüger, Gert Loschütz, Wolfgang Maier, Peter Sauernheimer, Michael Scharang, Peter Schneider, Klaus Stiller, Jürgen Theobaldy, Peter-Paul Zahl Beiträge geliefert hatten. Im Anhang wurde der von Peter O. Chotjewitz mit bissigen Korrekturen und Anmerkungen versehene Einladungsbrief an die künftigen Beiträger abgedruckt – der also, in dieser kritischen Form: auffordernd zu Entwurf, Korrektur, Selbstkorrektur, gültig blieb.
Delius’ Beitrag war ein langes Gedicht mit dem Titel „Brief an Born in Berlin“: eine Erfahrungsskizze aus Rom, wo Delius damals gerade (u.a. mit Piwitt) Stipendiat der Villa Massimo ist und Born, dem noch in Berlin weilenden, aber bald ebenfalls in Rom erwarteten Stipendiaten, so etwas wie eine Vor-Erfahrung, eine Erfahrungs-Partitur zukommen lässt (was sie einst als Erfahrungen teilen werden). Ein übrigens etwas anderes Gedicht als Delius’ konzentrierte Gedichte aus „Kerbholz“, kolloquialer, offener, eben brieflicher (und sogar eine Spur zu „parterre“, zu quatschig, zu forciert). „Mensch Born“, beginnt er, „wenn du hierher kommst, wirst du das alles auch erleben, / auf deine gute Bornsche Weise, aber / ich schreib dir schon mal, was / mir so durch den Kopf geht, wenn ich beispielsweise mit zwei, drei / Briefen rüber zum Briefkasten an der Piazza Bologna geh.“
Es ist, wenn man so will, das Anzapfen der (Brief-)Sprech-Kultur einer Szene für das Gedichtschreiben, die Öffnung des Gedichts hin zum Brief, und das, da als Gedicht (Lyrik) veröffentlicht, übrigens für den Adressaten, der auch, und gerade so gerühmte, ähnliche Gedichte schreibt, ebenso eine Herausforderung sein soll wie die zu erwartende Rom-Erfahrung, die ja, wie wir aus Brinkmanns Rom, Blicke wissen (auch das übrigens Briefe, sieben monströse Briefe an seine Frau Maleen in Köln), gewaltig sein kann (jede Fassung sprengend).
Für die eigene Erfahrung die zugleich offene und gültige Form zu finden, auf seine „gute Bornsche Weise“ und dabei die kritischen Voraussetzungen der Kapitalismus-Kritik und der Brandmarkung des gesellschaftlichen Hetz- und Hass-Klimas hier und dort (all das, was Delius in seinem Brief noch einmal eröffnet) mitzudenken – das ist hier die Herausforderung.
Born, inzwischen, offenbar mit wenig literarischem Gepäck, aus Rom zurück, ist nun mit Buch dabei, sich im Wendland anzusiedeln: ein Haus, ein Arbeitshaus auf dem Land, außerhalb der Exklave Brennpunkt Berlin, nicht weit von der kleinen Künstlerkolonie der Rixdorfer Maler… So unversehens mit dem preisgünstigen Refugium dem künftigen gesellschaftlichen Brennpunkt: Gorleben und der Protestbewegung dort näher rückend. Born also spricht mit Buch über das gemeinsame Projekt Literaturmagazin, liest die neuen Gedichte aus der Nr. 1, liest sie, und auch andere von diesen Autoren (vor allem wohl Theobaldys Gedichte aus den Blauen Flecken, die im April 1974 in der Reihe erscheinen), am Kneipentisch, nimmt Themen, Motive und Sound auf: das Antörnende, wie man damals sagt, und kommt dann zu seiner neuen „guten Bornschen Weise“; ein Abgesang freilich, so scheint es.
Arnfrid Astel, als langjähriger Herausgeber der Lyrischen Hefte und zündender Epigrammatiker der literarischen Öffentlichkeit zu Zeiten des ausgerufenen Todes der Literatur (will sagen der Vorordnung politischer Aufklärungsarbeit in allen Medien und gerade im klassischen der Literatur, der „Dichtung“), mag Born als die ideale Adresse für die neuen Gedichte erschienen sein. Deren Abfolge lässt einen Anspruch, eben, so meine ich, den eines Manifests in Gedichten, erkennen: 1) Ein Motto, 2) Briefgedicht, 3) Für Wolfgang Maier (1934–1973), 4) LIEBESGEDICHT, 5) Mein Erscheinen im Mantel…, 6) Ich sitze hier in einer Gegend, 7) Die geheimen Gesetze, 8) Es ist ein Montagmorgen, 9) In acht Tagen ist Weihnachten, 10) FORTSETZUNGSGESCHICHTE, 11) Übersetzt, 12) Langsame Zukunft.
Die beiden letzten Gedichte wurden nicht gelesen, vermutlich aus Zeitgründen, vielleicht auch, weil sie, obwohl, wie meist bei Born, voller Witz und Pfiff, als schwächere oder doch den früheren Born-Gedichten ähnlichsten erschienen. Sie sind auch, im Gegensatz zu den übrigen, relativ diskursiv und gut zusammenzufassen: „Übersetzt“ ist eine ironische Apologie der Übersetzbarkeit, der Verständigung, der Konterfeis (der so genannten Widerspiegelung damit), dem aber doch das Original der Wirklichkeit von Konjunktur und (!) Natur vorgezogen gehört, reizvoll vor allem durch die umwerfend schlichte Parenthese, die ganze Jahrgänge von quälenden Dichter-Skrupeln und Dichtungs-Diktaten vom Tisch fegt: „(es ist auf jeden Fall falsch / nicht über Bäume zu schreiben)“.
Das Gedicht „Langsame Zukunft“ gibt sich in der Hochzeit der Utopie betont harmlos und ist ganz im Vergangenheitstempus gehalten, lässt sozusagen die ruhige Vergangenheit abfahren („Ursprünglich war ich Pfeifenraucher / und konnte den Tabak in der Hand reiben“) und macht dann eine Pause, denn das ist schon ein Gedicht. Langsame Zukunft –? fragt man sich, und soll man sich fragen: Heißt das, die Zukunft kommt langsam, sie lässt (sich) Zeit? Oder sie ist (wie) eine Vergangenheit, eine Erzählung, eine Lüge gar (wenn man die idyllischen Signale kritisch würdigen will)? Aber ist das letztlich nicht eins: das andere – wovon? Das Gedicht hält ja nicht unmittelbar vor der Zukunft an, sondern an der Schwelle der Gegenwart. Die Gegenwart freilich, das dichten die übrigen Gedichte, ist allgegenwärtig und alles andere als ruhig und langsam.
Diese beiden Gedichte korrespondieren auch formal, in ihrem einsinnigen, wenn auch abgründigen Zustreben auf eine Erkenntnispointe (Aufklärung, Selbstaufklärung), mit dem Motto-Gedicht, dessen Apologie des fantastischen, träumerischen Kopfes („Kopfgeburten“ sagt Born mit einer seiner zündenden Prägungen, die Grass vielleicht zu seinem Buchtitel gelockt hat) in den Versen mündet:

Ein Kopf der träumt wird abgeschlagen
oder er wird gefährliche Wünsche sagen
vom Gedanken des Knechts im Gedanken des Herrn.

Dieses so spielerisch daherkommende Lob der Subversion kann man, bei damals, in Zeiten marxistischer Bildung, wohl vorauszusetzender Bekanntschaft mit Hegels Dialektik von Herr und Knecht (der Knecht gewinnt durch seine Arbeit die Kompetenz, mit der er dann den Herrn ablösen kann) auch ein wenig ernster als Vorstellung einer (aberwitzigen) Neu-Revolution lesen, wonach der Revolutionär also nicht Knecht und nicht proletarisch sein muss, sondern kurzerhand – Freibeuter, sage ich, sagen die folgenden Gedichte, freilich nicht einsinnig, ordentlich zusammenfassbar.
Das „Briefgedicht“ (nun wird Delius’ Formfindung kategorial) legt auch gleich mit dem neuen Beute-Elan los. Es nennt die Namen der Dichter, deren Themen und Gesten aufgenommen und einverleibt werden: das rohe „Jedem das Seine“ von Ludwig Fels, Günter Herburgers langes Dichten gegen die verlogene (genauer vielleicht: „verlügende“) Kunst, Jürgen Theobaldys Liebes-Wirklichkeit Zwischen dir und mir, sein Wieder – zum erstenmal (um es, stellvertretend für viele Anspielungen, Adaptionen, „Schmierinfektionen“, zu pointieren). Diese provokativ (sozusagen unter Kumpanen) sich als Beutezug in der letzten (Gedicht-)Gegenwart inszenierende Haltung erweist sich in der Abfolge dieser Gedichte als grandiose Erzählung der eigenen poetischen Selbstbehauptung; und sie stößt trotz oder vielleicht gar wegen des mangelnden Respekts vor Tradition, Grenzen, Spielregeln und (geistigem) Eigentum merkwürdigerweise nicht ab, denn sie verheißt die Entdeckung dieser euphorisierenden letzten Wirklichkeit, die Teilnahme am Beutezug.

Hier ist mein Brief an euch
Fels Herburger und Theobaldy
und ich sage euch ich bin erschüttert
und nicht schwach oder stark
ein kleiner scharf eingestellter Ausblick
aus dem Müllhaufen der Geschichte
und ich hab auch meine guten Momente
wo ich platzen könnte vor Lust am Leben sogar
und ich bin etwas auf diesem Planeten
der mit mir drauf kreist und jammert
und ich werde nichts sein als ein paar
längerfristig gespeicherte Daten
die bestimmt meine Verse überleben.

Und er fährt fort:

Ich wollte oft unauffindbar sein
mit vielen Adressen von denen nicht eine
sicher ist.
Arm und schwach bin ich auch, warum aber
sollte ich Armut und Schwäche besingen?

Man möchte weiter zitieren; und das ist das erste Kriterium für die Güte (und für die Bedeutung) dieser Gedichte: Sie erreichen die Autorität des Zitats und werden gültig. Mit ihnen werden das Niveau, die neue Offenheit, der Reichtum der Bezüge und Klänge, des Gesangs der anderen Dichter (und zu den Angesprochenen kommen noch einige) also nicht nur angepeilt, gewonnen, gehalten; sie sind dieses neue Niveau; und so kann Born am Ende seines „Liebesgedichts“ anmerken:

Einige Ausdrücke und Motive, von mir zitiert oder frei verwendet, stammen aus Gedichten Pablo Nerudas. Den Schluß verdanke ich Jürgen Theobaldy, der ihn Neruda verdankt.

Das Pathos des beiläufigen, erbeutenden Spiels im übrigens als agonal empfundenen Ernst der historischen Situation kippt nicht selten in Albernheit (eine Kategorie, die Adorno geschätzt hat). Medium und Mentor dieser Qualität als literarischer Kunstgriff mag auch Kenneth Koch gewesen sein. Born war wie Brinkmann in Amerika; aber die berühmten Dichter der Beat-Literatur, der Black-Mountain-Schule, die New Yorker, also Allen Ginsberg, Frank O’Hara, Gregory Corso etc. waren damals schon von Brinkmann und anderen übersetzt. Born entschied sich für den virtuosen, 1925 geborenen Kenneth Koch, der auch Stücke für Off-Broadway-Produktionen geschrieben hatte, Kurse als Anleitung zum Gedichteschreiben veranstaltete und im Übrigen Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University (also ein idealer Anreger) war. Der von Born übersetzte Sammelband Vielen Dank. Gedichte und Spiele erschien in der Reihe das neue buch im Mai 1976. Einige Sätze aus der knappen und mit einem knappen N. B. (man kann es auch als „notabene“ lesen) gezeichneten Nachbemerkung signalisieren Nachbarschaft, Sympathie, Aufmerksamkeit. „Kenneth Koch ist unter allen amerikanischen Lyrikern derjenige, der die meisten Einflüsse verarbeitet hat.“ „In Kenneth Kochs Gedichten kommt alles vor, was in Gedichten, den Lehrmeinungen nach, nicht vorkommen darf,“ „Wenn die Verhältnisse danach wären, könnte man Kenneth Kochs ,Schöpfungen‘ (der Begriff trifft hier zu) als die einer neuen, von Verpflichtung befreiten Spieltätigkeit betrachten. Das Kalkül ist, wie in den Anfängen des Surrealismus, ausgeschaltet.“ „Vielleicht ist es das Lustprinzip, dem Kenneth Kochs Phantasie in aller Spontaneität gehorcht, eine Phantasie, die infantil ist bzw. infantile Phantasie repetieren kann.“ „Bei uns könnten sich diese Gedichte den Vorwurf des Eskapismus einhandeln, denn Kenneth Koch macht keine Anstrengungen, sie in ein dialektisches Verhältnis zu realen Vorgängen zu bringen.“
Diesem Vorwurf setzt sich Born allenfalls für den flüchtigen Leser aus; denn es ist, fast umgekehrt, spürbar, wie sehr seine Kunst Anschlusskunst an die Probleme der Gesellschaft, des Planeten sein will (und darin liegt ein Teil seiner, jedenfalls damals, enormen intellektuellen Wirkmächtigkeit begründet). Die zeilenweisen Entdeckungen seines Bekenntnis-Redens (mit großer stilistischer Amplitude vom Argot bis zum O!), das, sich selbst unterbrechend, ein all-umfassendes lyrisches An-maßen ist, sprechen immer auch diagnostische Formeln von großer Brisanz und Prägnanz mit (gleichsam ein Feuerwerk zur Eröffnung von Tagungen), um sie dann freilich sofort wieder im Konglomerat verschwinden und sie so „halluzinatorisch“ erscheinen zu lassen.
Aber, das muss man sich inzwischen vergegenwärtigen: Es waren immer auch Anfeuerungen für die intellektuellen Baustellen der Gesellschaft: und Vietnam und, RAF & Co., Ansiedlung im Gefahrenland… „Das sind“, wie es in diesem „Briefgedicht“ heißt, „schwere tiefe platte Ideen“, die in konkreten sprechenden (sprich: entlarvenden) Nachbarschaften „aufgehoben“ – und so beglaubigt werden, wie hier in jener von Irmgards goldenen Pfannkuchen:

(…) Ich zwinge mich
sehr intensiv an Irmgard zu denken
sie stellt mir einen großen goldenen Pfannkuchen neben die
Schreibmaschine, es ist unpassend aber der Pfannkuchen
ist wunderbar leicht und schmeckt wie die Kindheits-
erinnerung an Irmgards Pfannkuchen. Ich zerteile
ihn gerecht in viele kleine Stücke die ich ruhig
nacheinander esse.
Ich denke intensiv an die dritte Welt

Es geschieht alles sehr intensiv in dieser Gedichtwelt, aber der Narzissmus (genial durch den Binnenvergleich!) und der unverschämte Egoismus, so will mir scheinen, dringen heute besonders „intensiv“ aus diesen Versen. Kein Wunder, dass es mit dem armen Freibeuter zu Ende sein wird, wenn „irgendein sensibler Mensch mir ein Gedicht auf Mund / und Nase drückt bis es vorbei ist“.
Problemgedichte (zu Zeiten des damaligen Labels „Problemfilm“, weshalb wir ja heute noch sofort beruhigt werden: Kein Problem!) also sind Borns Gedichte vor allem auch als Gedichte, die dieses (auch sein) Ich als problematisches neues Ich ausstellen, seine böse Bedingtheit als Motor einer maßlosen, romantisch-emanzipatorischen Sehnsucht: einer Sehnsucht vor allem, unter Menschen mit Gedichten zu sein, einer wie alle, nicht nur einer wie das Gruppen-Wir. Insofern greift Borns Entwurf über die üblichen privilegierten Adressaten etwa von Stendhals happy few, von Nietzsches freien Geistern, dem Jünger-Kreis Georges, der Gruppe 47: über alle Eliten-Sehnsucht hinaus und übt so etwas wie das demokratische Gedicht (aber das macht die Sache nicht besser, nur allgemeiner, heißt das).
Das Mantel-Gedicht nimmt in seinem Versuch der Verortung des Subjekts (wie viele Gedichte der damaligen Zeit) William Carlos Williams’ Konzept des Gedicht-Felds auf, um die Offenheit für das Ich, die Entsicherung des Einfältigen und Sinnfälligen sinnlich ins Bild zu bekommen. Daraus ist dann auch der Gestus des Über-setzens abzulesen, zwischen Sprachflecken, Sprachschichten, Milieus, Fächern, Geschichten. Das wird ein Jahrzehnt später bei Peter Waterhouses anarchischem Gedichtdichten (ab)grundlegend sein. Der definitorisch-philosophische Geist der Ich-Existenz als Schreiber steuert immer neue Paradigmen-Dichtung (Thomas Kuhn hatte damals seine epochale Paradigmen-Theorie für die Wissenschaftstheorie vorgestellt): Darin werden die unheimlichen Wendungen aus den gebräuchlichen Redewendungen zur heimatlichen Erfahrung des Ab- und Aufbruchs, der aufgegebenen Kontinuität (der Geschichte) gewonnen.
Die Metapher, sagte man, sei das hervorragende Kennzeichen des Gedichts, sein Einheit stiftender Königsweg. Die einzelnen Metaphern Borns freilich sind eher nicht besonders aufregend und wirken, isoliert betrachtet, noch als Genitivmetaphern wenig imponierend; sie sind mitunter pfiffig, aber auch abgeschmackt, verwackelt, im falschen Ton, daneben; sie sitzen sozusagen nicht, kommen aber immerhin überraschend. Es ist ihre weitere Zusammenstellung über die Verse hin, ihr durch die Verse gesprengter und entdeckter Zusammenhang, der die metaphorischen Energien der Einzelheiten herauskehrt und sie ungewöhnlich und bildkräftig im Zusammenspiel macht, inspirierend eben (zu einem sarkastischen Humor). Im Detail oft eher gebräuchliche, gern „kernige“ Metaphern und Redeweisen etwa des Volksmunds, die eigentlich ihre Leuchtkraft schon ein wenig oder sogar ein wenig sehr eingebüßt haben oder einfach nicht besonders originell, auf eine bekannte kunstvolle Weise: anspruchsvoll oder „erregend“ sein zu können, wirken, ernst genommen, sogar degoutant und spielerisch spielverderberisch:

Ich möchte die Lenden von einem Stier haben

Und dann geht es weiter:

und doch nicht wie ein gewöhnlicher Mann
an eine Frau geraten die einen gewöhnlichen
Mann aus mir macht.

Hier ist es, wie nicht selten, das Stilmittel der Wiederholung, das etwas anderes herausholt: den schöpferischen Zwischenraum der eigenen Vorstellung.
Oder ähnlich listig schlicht einsetzend:

Der Arbeiterklasse will ich Zunder geben
daß sie mich hinwegfegt mit zärtlichem Verstand

Und inzwischen sind wir in einem anderen Repertoire und Stilregister, und nun in einem ganz anderen – und dann in einem immer anderen:

o wann seid ihr soweit
wann seid ihr wenigstens soweit wie ich?

Nun wird das Gefühl für Angemessenheit des Sprachgebrauchs und für grammatische Logik irritiert und getestet:

Dann werde ich die Vögel unterstützen
denn selbst eine Fliege kann mich zum Heulen bringen.
Und mit euch

es sind immer noch die anderen Dichter angesprochen! Mit ihren großgültigen Liebesgedichten –

aaaaaaaaaaaazusammen will ich solange vögeln
bis ich mit euch zusammen die Welt ernähren kann

Also die privat rücksichtslose mit der weltgesellschaftlich rücksichtsvollsten Anstrengung – bis zur Massen-Kultur bringen:

derart unterschiedlich im Geschmack
daß es jedem schmeckt.

Um zur conclusio, zur Formel des neuesten Narzissmus zu kommen:

Weil ich immer mehr für alle bin
muß ich immer mehr für mich sein.
Das sind schwere tiefe platte Ideen.
(…)

Wenn eher rohe, auf den ersten Blick belanglose metaphorische Redeteile erst durch die raffinierte, geistreiche Verknüpfung zünden, die Brücke schlagen für das poetische Ganze eines Gedichts, dann ist die Verknüpfung die eigentliche Metapher, der Vers-Umgang mit den Teilen, ist dies Borns poetische Brücke, eine riskante, gefährliche Brücke, für die Welt, für Elfriede Jelinek und den kleinen Harald Schmidt. Seine „gute Bornsche Weise“, auf einem neuen Niveau. So kann jede noch so spröde oder abgelutscht metaphorische Fachvokabel wie „Technikerheere“, aber auch jede „poetische“, das heißt vom poetischen Gebrauch schon vorgeformte oder nahe gelegte wie „Mondfenster“ und noch jeder schräge Witz Teil des anspruchsvollen metaphorischen Gedicht-Geschehens werden.

Schon spucken sich Topografen in die Hände
schon haben wieder mehr Leute Arbeit.

Sogar kann so die damals beliebte und immer beliebter werdende Meta-Gebärde, die das Denken und Dichten sinnlich gegenwärtig machen möchte, integriert werden, indem das Gedicht Teilnehmer einer übergreifenden Gesprächssituation (der damals nach Habermas emphatisch gewordenen „Öffentlichkeit“) wird, Einwänden und perspektivischen Metapher-Behandlungen ausgesetzt wie wir alle; und wie auch die Toten, ein eigenes Gedicht „Für Wolfgang Maier (1934–1973)“ erinnerte ja an den Gefährten seiner Poeten-Vergangenheit, der an einem Bratwurstzipfel erstickte.

Und diese armen Toten werden dann schön gemacht in einem
Gedicht. Das Gedicht schämt sich dafür. Da möchte ich so
mitreißend hassen können und schöne Gedichte zum Tode
verurteilen. Ich verurteile die Sonne, aber die wird ja nicht
gemacht. Das Land ist gepflügt, ich grabe um auf dem Land
nur für ein paar Küchenkräuter. Meine Ruine macht sich
und ich mach mich auch. Gedichte wachsen im Land, gut gedüngt

schämen sie sich nicht mehr. Warum wird alles so schön
wenn unsere Absicht gut ist. Nur weil wir leben wollen
bauen wir um jeden Toten ein Gedicht, in dem eine Musik
erklingt, fein und tonleiterhaft wie Regen, gleichmäßig
wie das Land. Ich könnte hier aufhören, nachdem ich das
Problem auf die Seite gedreht habe.
(…)

Es geht aber weiter, es geht eigentlich immer weiter mit der metaphorischen Vers-Maschine – und dass dann doch immer ein Ende gefunden wird und wie dann das Gedicht, mit einem Dreh, einem Sprung, dasteht, ist auch noch die Kunst.

Die Sonne
geht jetzt nicht unter. Sie ist untergegangen und bedeutet
hier nichts mehr.

Mit ihrer prognostisch-metaphorischen Verknüpfungstechnik, der Verknüpfung des Konglomerats aus Redewendung, Anspielung und Zitat, aus Pathos und Albernheit und Albernheit aus diesem und jenem sind diese Gedichte hervorragend in der Literatur ihrer Zeit, nach meiner Meinung Brinkmanns rebellischem Eklat-Dichten ebenbürtig (vielleicht nicht der Perspektive des: Alle machen weiter und ihrer Findung der endlosen Strophen-Kette in Westwärts 1&2). Es sind aber die Gedichte eines noch jungen Mannes, der sich neu sammelt – und dessen Gegenwarts-Dichtung mit den „paar Notizen aus dem Elbholz“ und den Versaufzeichnungen des Nachlasses, wenige Jahre später nur und nicht lange vor seinem frühen Krebs-Tod im Dezember ’79, fortgeschrieben (und wenn man will: avanciert) ist.
Die Gegenwart in ihrer blendenden Monstrosität und schäbigen Majestät, wie als immer letzte, furchtbare und so schöne Gegenwart empfunden, der Alltag als allerletzter und nun doch festlicher Alltag, für den man zittert: Dies anstehende Bewusstsein von „Global 2000“ hat (auch) bei Born zu einer Folge von Datums-Gedichten geführt, zu den pragmatischen Dichtungs-Versuchen, im Neuen das wahrhaft Wirkliche zu entdecken, das schockierend Krönende, und eine Weile festzuhalten, eine Sisyphos-Arbeit (und Camus, nicht Sartre war Borns Stern!), Die Lösungen, Freibeuter aller Länder einigt euch, können nur fortgeschrieben werden.

Ich bin die lange Liste von Problemen
die endlich erledigt werden müssen

ein langes schwebendes Gedicht
aaaaahingeschrieben, verbessert
das bringt mich auf die Idee, daß ich auf
aaaaaeiner Erde lebe, in einem All
in dem Ausgrabungen schwieriger werden

Hugo Dittberner, aus TEXT+KRITIK: Nicolas Born – Heft 170, edition text + kritik, April 2006

 

 

Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017

Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017

Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017

Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018

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Nachrufe auf Nicolas Born:

Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980

Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988

 

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