DAS WEITERKOMMEN
Wer geht kommt weiter.
Ich habe dagegen gesagt: es ist
das Gehen –
kein Vorankommen.
aaaWir haben Vögel geortet
essenden Schwarm, Luft und Wasser
nahmen von ihm, es war
kein Vorankommen Fallen.
Die Züge
in Richtung Osten und die Züge
in Richtung Süden
und die hinauffahren in den
tuffsteinernen Himmel der Niederlande –
aaa(der hat dort Mädchengesichter
nach allerbestem fernöstlichen
Zuschnitt)
kommen nicht leer zurück.
Science Fiction unterm Arm und einige
gestrige
Möglichkeiten von Kybernetik
essen wir am Wannsee Spiegeleier
von der holländischen Klasse A.
aaaOder wir kommen nicht weiter
und kehren um (da steht ein Warnschild)
mein Freund, 5 Gehminuten entfernt
von Kleist, liegt im Bett. Ihn
belasten unvorstellbar die Daunen.
Er überredet mich
zur Großschreibung der Substantive.
sind sehr persönliche Beispiele für das moderne Gedicht der offenen Form, das nicht mehr eine feste und ausgewogene, gleichmäßig durchgearbeitete denkmalhafte Gestalt sein will, sondern im Gegenteil mit Sprüngen, Lücken, unterschiedlichen Materialien, unterschiedlichen Graden der Durcharbeitung größte Unmittelbarkeit und Persönlichkeit des Ausdrucks erstrebt. Diese Gedichte lesen sich, als entstünden sie während des Lesens, als spontane, unwiederholbare Erregungs- und Gedankenspur. Sie haben die Individualität des zufälligen und glücklichen Moments. Aber selbstverständlich ist ihre Natürlichkeit nicht Formlosigkeit, sondern die Wirkung einer freieren und zugleich diskreteren Form, die nur dann gelingt, wenn der Autor sich von aller präformierten Poesie befreit hat.
Nicolas Born sagt selbst in einer programmatischen Äußerung: Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist; weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern; weg vom Ausstattungsgedicht, von Dekor, Schminke und Parfüm. Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; in die rohe, unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie, die nicht geschmäcklerisch oder romantisierend ist, sondern geradenwegs daher rührt, daß der Schreiber Dinge, Beziehungen, Umwelt direkt angeht, das heißt also, Poesie nicht mit Worten erfindet. Charles Olson sagt: „Form ist nie mehr als eine Ausdehnung von Inhalt“, und meint damit, daß Form heute kein aufstülpbarer vorgefertigter (metrischer) Mechanismus sein darf. Olson ist es auch, der vom „Gedicht als Feld“ spricht, dessen Energien und deren Anordnung Form ergibt. Emotionen müssen Erkenntniswert haben und selbst Energie sein. Es gibt keine Banalität außer der Banalität des Ausdrucks.
Kiepenheuer & Witsch, Klappentext, 1976
Alles drehn wir um
als Ironie kommt es zurückgehinkt
1979 starb einer der vielversprechendsten, wichtigsten und nicht zuletzt bedeutendsten Dichter und Schriftsteller unserer Zeit. Es blieben drei Gedichtbände, drei Romane, ein paar Erzählungen, Briefe und Reden, die in ihrer Gesamtdarstellung das Bild eines konsequenten Geistes offenbaren. Der Verleger Ledig-Rowohlt sagte an Borns Grab, er sei „auf dem besten Wege gewesen, ein deutscher Camus zu werden“. Man kann dies als nachträgliche Ehrung abtun, aber es trifft doch in gewisser Weise einen zentralen Kern von Borns Schreiben; ein Schreiben, welches ähnlich wie das von Camus zwischen Humanität, Kritik und Existenzschilderung seine Kreise zieht und dabei einfachste Sprache mit schlicht aufgemachter, subtiler Wirkung verbindet.
Eine Küche von vor zehn Jahren
war vor zehn Jahren noch mustergültig.
Heute reicht sie höchstens zum Kochen aus
oder wer möchte darin essen?
Der Bauer sagt: Wenn das Korn drin ist,
ist auch schon der Mähdrescher aus der Mode
bald platzt mir der Kragen
dann mache ich alles von Hand.
Die Zahl derer die glauben dass die Bombe
endlich den Frieden erhält
wächst.
Was einem sehr schnell auffällt, wenn man sich mit den Gedichten beschäftigt, ist ihre fast schon unnatürliche Offenheit, nicht bloß in Hinsicht auf Ehrlichkeit, sondern vor allem in Sachen sprachlicher, sinnlicher Transparenz. Mit wenig sprachlicher Artistik und viel wortmalerischer Geduld, gelingt es Born, seine Gedichte beweglich zu machen, ja, sie in das Gedichtäquivalent eines Songs zu verwandeln, der gleichsam als Kunst und verfeinerte Wahrnehmung durch das Bewusstsein fließt, rauscht und dabei allein durch seine Gesten nah an die Wahrheit herankommt.
Von einem Elternteil dieses
vom andern Elternteil dieses.
Die Nachteile nehmen kein Ende.
Meine Hemden wasch ich
meine Socken wasch ich
Arme Beine wasch ich
Wie ich mich wende wie ich auch liege
schief oder stehe – ich sehe mir ähnlich.
In diesem ersten Band Marktlage finden sich die frühsten Gedichte, entstanden zwischen 1965–1967. Überwiegend geht es darin um Gesellschaftskritik, gepaart mit subjektiven Aufnahmen und am Ende einigen Portraits von Menschen: Verbrechern, Freunden, alten Leuten. In den Gedichten steckt wenig Strebsames, kaum etwas Manierliches und, wie in dieser Zeit äußert unüblich, nichts Sprachverknotendes.
„In Zeiten, wo das Licht in die Schatten der Träume fällt“ heißt eine Gedichtzeile von Ezra Pound. So kann man Schönheit auf einen Punkt bündeln. Born gelingt in seinen Gedichten etwas noch erstaunlicheres. Er streut die Schönheit, fein, wenig, sodass es an allen Ecken und Enden kaum reicht und doch liegt in dieser knappen Schönheit etwas einzigartig Wichtiges. Oft am besten zu sehen in seinen Liebesgedichten.
Die Füchse sind einsam im Winter
auch wir gehen auseinander und frieren
damit wir uns schreiben können:
Regen seit Tagen,
heute früh Feierabend, man sitzt
zwischen Wänden und lebt schwer.
[…]
Man muss bescheidener werden aber
nichts geht über etwas besonderes.
Wald Sauerland weißt du sind
ohne Regen sehr schön. Aber es wird nun
schnell dunkel ich schließe: uns nicht
aus den Augen verlieren.
Nicolas Born sollte als Lyriker nicht vergessen werden, auch wenn er ebenfalls ein hervorragender Romancier war. Man kann oft nicht von Schönheit reden (wie ich es schon zu oft in dieser Rezension getan habe) ohne das Wort einer immensen Inflation auszusetzen. Aber wenn ich hier von ihr spreche, dann rede ich in etwa von Rauch, durch den die Sonne scheint, einer sparsamen, die Elegie ins Moderne transferierende Schönheit, die weniger mit tatsächlichem Glanz, als vielmehr mit dem unnachahmlichen Widerschein dieses Glanzes in den Fassungen der Wirklichkeit zu tun hat.
Karl Heinz Bohrer: Die Dinge und ihre Namen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.5.1967
Hans Christoph Buch: Realistische Lyrik
Der Monat, Heft 235, April 1968
Peter Hamm: Marktlage und Ventile
Süddeutsche Zeitung, 27.4.1967
Walter Hurck: „An der Ruhr sitzen wir, schweigend“
Neue Ruhr Zeitung, 8.4.1967
Karl Krolow: Lyrische Marktlage
Stuttgarter Zeitung, 8.7.1967
Wolfgang Mater: Von der Tiefe der Alltäglichkeit
Der Tagesspiegel, 2.7.1967
Jürgen P. Wallmann: Empfindsamkeit getarnt
Die Welt, 14.9.1967
auch in ders.: Argumente. Literatur der Gegenwart. Mühlacker: Stieglitz Verlag 1968
Borns literarischen und theoretischen Äußerungen – beidermaßen zu verstehen als wichtige konzeptionelle Grundsteine nach den sechziger Jahren, die den erhofften Umschlag der Theorie in gesellschaftliche Praxis nun nicht erbrachten – stellen eine „ruhige und undramatische Verteidigung der Dichtung“2 gegen die Gängelung seitens linker Pragmatik dar. Diese Maßgabe eröffnet sich bereits in Ansätzen durch die Publikation des ersten Gedichtbandes mit dem „antipoetische[n]“3 Titel Marktlage4 von 1967. Buch betont für die Lyrik dieses auslaufenden Jahrzehnts, daß erfahrungsgemäß „gesellschaftliche Veränderungen in ästhetische umschlagen“5 und findet sich durch Borns Marklage bestätigt, dessen Gedichte sich befreit haben „aus den Gettos der Ästhetik, der Metaphysik, des politischen Engagements, eine Lyrik, die auf dem Weg ist, eine Sprache von Menschen für Menschen zu werden.“6 Was Born zum Ausdruck bringen will, stehe nämlich „in den Zeilen, nicht zwischen den Zeilen“.7 So finde sich hier eine Sprache wieder, „die der Umgangssprache ihre gleichsam zufälligen Wendungen abgeguckt hat, und in der doch jedes Komma, jedes ,und‘, jedes ,ja‘ seinen genau berechneten Stellenwert hat“.8 Dabei gilt der Lyriker Born seinem Schriftstellerkollegen Hans Christoph Buch als ein Autor, „der in keine der angebotenen Klassifizierungen hineinpaßt, der weder als avantgardistischer Neuerer noch als politischer Raufbold, weder als Epigone der Tradition noch als konventioneller Modernist von sich reden machte.“9 Buch spricht letztlich von deutlich „politische[n] Gedichten“10 in Marktlage, denn sie enthielten „rational kontrollierte Emotionen“, ein „bewußtes Kalkül mit Gefühlen, die der Autor im Leser hervorrufen will“.11 Im Gedicht „In Berlin 1966“ (G, S. 13) etwa verschiebt sich mit dem Verweis auf die Jahreszahl der gewählte Wirklichkeitsausschnitt im Gedicht, wenn Borns Ich bekennt:
Der Wahrheiten müde loben wir wieder die Gärten
verlegen uns auf die Mädchen und suchen Leute auf
die wir mögen. (G, S. 13)
Born überrascht bereits in diesen Versen „mit einer Vorausahnung einer erst viel später virulent gewordenen Stimmung selbstironischer Bescheidung.“12
Mit dem Gedicht „Fernsehen“ (G, S. 15) intendiert Born – ganz dem Duktus realistischer Darstellung verpflichtet – „die Konfrontation mit jenen Realitäten, über die Wahrnehmung so leicht hinwegspringt“.13 Das Gedicht setzt unvermittelt mit der lyrischen Rede im Plural ein, und bereits hier versagt die Beschränkung auf ein singuläres Sprechen. Der Beobachter setzt stellvertretend das eigene Befinden zu den medialen Produkten ins Verhältnis, wobei diese im Gedicht beschriebene Relation einer Reduzierung des Subjekts auf Reiz-Reaktions-Mechanismen gleicht, ausgedrückt durch die Partizipien Perfekt („zurückgehinkt“, „gesehen“). Es zeichne sich in „Fernsehen“, so Schneider, jene „immer dichter werdende Beziehung zwischen dem Medium und dem lyrischen Ich“14 ab. Die eigenen Empfindungen „werden vom Fernsehen abhängig, das Medium diktiert das Lebensgefühl“.15 Der Gedichttitel macht überdies deutlich, daß in dem Gedicht – wie auch im beschriebenen Medium –, an der Oberfläche nicht das Subjekt ins Bild gesetzt wird, sondern die „Wetterkarte“, der „Kommentar“. Es mißlingt der Versuch, die subjektiven Bedürfnisse beständig zu sublimieren, er endet mit „Launen“ und „Verschlingungen“. Allerdings bleiben diese alltäglichen „Verschlingungen“, in deren Sog das Ich sich hineingezogen wähnt, undeutlich. Borns Ausführungen im Aufsatz „Die Welt der Maschine“ scheinen diese Wendung zu erhellen: Der einzelne „verachtet die eigene Innerlichkeit, empfindet sie nur noch dumpf als Beunruhigung und Störung, als eine hoffnungslose, schwache und unbekannte Kraft. Er sagt lieber, daß er schlechte Laune hat; die braucht er weder zu erklären noch zu ergründen“ (WM, S. 18). Der Ich-Erzähler aus der erdabgewandten Seite fällt in ähnlich diffuse Erklärungsansätze über sein Befinden zurück:
Entschuldige meine grauenhafte Laune, sagte ich, du merkst ja, ich kann nicht reden jetzt. Ich hatte einfach Laune gesagt, wieder der Versuch einer Erklärung. (ESG, S. 118)
Die Realien scheinen das lyrische Ich im Gedicht „Fernsehen“ zu bestätigen, denn die tägliche „Wetterkarte“ verheißt Prognosen ohne nennenswerte Veränderungen der mißlichen Lage: Dies also sind die Aussichten für morgen. Hieraus spricht der Gesellschaft gegenwärtige und fortwährende „Unfähigkeit, etwas anderes auf sich zukommen zu sehen als die Hochrechnungen aus der Gegenwart“ (WM, S. 168): Der industrielle Apparat setzt sich dominant. Als Ironie – erklärtermaßen die „Lächerlichmachung unter dem Schein der Ernsthaftigkeit“16 – ist denn auch die zweite Strophe zu verstehen: Hier nun erfolgt seherisch die große Anrufung („O daß wir älter würden!“), deren Medienkritik sich anaphorisch in den folgenden Versen fortsetzt. Diese Kritik wird durch den längsten, bewußt nicht durch Zeilensprung durchbrochenen Vers „Dann wäre das Fernsehen noch mal so schön“ gesteigert: Einem Banner gleich, ragt der Vers über die anderen Zeilen hinaus. Nicht das Leben ist demnach verbesserungswürdig, Maß aller Dinge ist vielmehr das Medium, eines jener zahlreichen „Lebenshilfen“, auf die wir angewiesen scheinen. „Es gibt kein falsches Leben im richtigen Fernsehen“, persifliert Precht in seinem Artikel „Die Invasion der Bilder. Oder: Niemand stellt Fragen, das Digitalfernsehen antwortet“.17 Der letztlich trügerische Schein unbedarfter Teilhabe am Fernsehangebot entstehe, so Hickethier, „weil die institutionellen Bedingungen hinter dem Eindruck, den das audiovisuelle Bild erzeugt, verschwinden, weil sie sich in diesem nicht direkt vermitteln. […] Viele Angebote, die als banal und künstlerisch irrelevant abgetan werden, wie beispielsweise Fernsehserien, gewinnen auf diese Weise eine gesellschaftliche Funktion.“18 Im Fernsehen dargestellte Gegenstände sind dabei durch Diskurse konstituiert, wobei die gezeigte ,Wirklichkeit‘ durch eine regulierte Aussagepraxis strukturiert wird, etwa in bezug auf eine Decodierung der filmischen Zeichen Architektur, Kleidung oder Sprache. Zudem wird die Produktion von Diskursen durch die Entgegensetzung von Wahrem und Falschem kontrolliert. Das Massenmedium Fernsehen erweist sich somit als Forum diskursiver Praxis, in der sich das Subjekt bewegt. Das Fernsehen, das Born als eine jener „Schaltstellen unseres öffentlichen Lebens“ (WM, S. 16) bezeichnet, spiegelt nach Hickethier letztlich eine moderne Form freiwilliger Herrschaft wieder.19 Die Macht ist nach Foucault „produktiv; und sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“20 Foucault zufolge hat eine bestimmte herrschende Form von Rationalität den Status der allgemeinen Vernunft angenommen.21
Durch die ironische Spiegelung der Zuschauer denunziert Borns Gedicht ein Massenmedium, das als moderner Erfüllungsgehilfe jene diskursive Rationalität verstetigt. Zwar weist Born das autonome Subjekt im Gedicht „Fernsehen“ nicht gänzlich zurück, doch läßt er jene „Sprache von Menschen für Menschen“22 abseits des Mediums, abseits der „Krücken und Perücken“, der „Prothesen / und falschen Zähne“ lediglich durchleuchten.23 Denn noch wirke – im Sinne Marcuses – die „Mobilisation aller Medien zur Verteidigung der bestehenden Wirklichkeit“,24 die ein Sprechen fernab der Ideologie verweigert. Das Gedicht weist indes über die Beschreibung der medialen Oberfläche hinaus: Die Subjekte gehen nicht gänzlich in den ideologischen Zusammenhängen auf und ahnen die Diskrepanz zwischen dem vorgeführten und dem geträumten Leben („Auf die Wetterkarte führen wir unsere Launen zurück“). Denn das Leben, bekundet der lyrische Sprecher, findet im übrigen anderorts statt („rund um das Fernsehen“). Born rückt mit der Bezichtigung „blinde Künstler“ den einzelnen wieder in den Brennpunkt, dem das vorgeführte Leben nun wie ein Phantom anmuten soll: Ersatzprodukte können entschleiert, Weltsicht durchgesetzt werden. Nach Hickethier besteht die Funktion des filmischen Bildes darin, „das Abwesende im Bild anwesend zu machen“25 Da die Subjekte durch die medialen Produkte ihrer authentischen Bedürfnisse entfremdet werden, setzt Born das Subjekt und seine Bedürfnisse in ein sprachliches Bild, indem er das Medium metakommunikativ reflektiert.
Im Gedicht „Fernsehen“ noch behutsam und inkonsequent zum Ausdruck gebracht, wird Born später der Literatur ausdrücklich die Aufgabe zuweisen, „imaginative Energien, unterdrückte Bedürfnisse freizusetzen, die utopische Bilder mit phantastischer Willkür, ohne Rücksicht auch nur auf Einlösungsmöglichkeiten in der Realität zu nehmen, artikulieren soll“.26 Vorerst liefert das Gedicht – mit Marcuse gesprochen – eine „Erkenntnis, die das Positive unterhöhlt“, indem die dichterische Sprache „ein Medium schafft und sich in ihm bewegt, worin das Abwesende dargestellt wird […]“.27 Noch im Gedicht „Fernsehen“ zeige sich aber – so Schramm in der Rezension „Ein Spiegel von Armseligkeit“ – „wie weit diese Lyrik der ironischen Bestandsaufnahme nur gelingen konnte: sie kam übers ironische Feststellen nicht hinaus“.28 Als eine wesentliche Ursache macht Schramm „jene fatale Objektivitätsgläubigkeit des ,Direkten‘“29 aus. Erst in einem späteren Gedicht „Die Tänzerin“ (G, S. 70) stellt der Sprecher einen Antagonismus deutlich in Aussicht:
seht die Tänzerin auf dem Bildschirm
sie erklärt
die Welt zwischen den Nachrichten
In „Die Tänzerin“ gerät zwar „ein Detail des Fernsehprogramms zum Ausgangspunkt einer lyrischen Reflexion“,30 doch bleibt auch hier die Ambivalenz in der Geste, weil „zwischen den Bildern von Tod und Vernichtung eine bewußtseinslose Körperübung [der Tänzerin, d. V.] exekutiert wird“.31 Die beschriebenen Details aus dem Fernsehangebot konzentrieren sich in der mediatisierten Welt zur „Metapher einer bestimmten Weltsicht“.32 Born wird das Thema in seinem Roman Die Fälschung erneut zur Sprache bringen, in dem sich „das routinierte Mediendestillat, das den libanesischen Bürgerkrieg für den voyeuristischen Abendländer aufbereitet“,33 mit deutlicher Kritik an der lethargischen, weil gewohnheitsgemäßen, Rezeption widerspiegelt.34 Im Gedicht „Über die Berge“ (G, S. 32) beschreibt Born diesen Mißstand lakonisch als teleskopische Betrachtung:
Wir sehen das genau und sagen
ja dazu
Im Gedicht erscheint ein Massenmedium als „Sinnbild für die ,zweite Wirklichkeit‘, die sich den Schein einer an sich seienden Notwendigkeit gibt und dadurch die angeblich autonomen Subjekte hinterlistig in süchtige Abhängige verwandelt“.35 Im Aufsatz „Die Welt der Maschine“ schreibt Born:
Und eine Gesellschaft von Kranken und Süchtigen kann schon ein angedrohter Stromausfall oder der Entzug des abendlichen Fernsehprogramms in bedrohliche Krampfzustände versetzen. (WM, S. 14)
Und weiter:
Ist der Sinnverlust die neue große Marktlücke? Die Medien der zweiten Wirklichkeit haben Witterung aufgenommen. (WM, S. 20)
Jedoch ist Born mit den Gedichten aus Marktlage noch entfernt von seinem Anspruch, das utopische Sprechen gegen die rational gelenkten Abhängigkeiten zu richten, wie er es in einem späteren Text formulierte:
Das Mögliche muß sich im Trommelfeuer der Medien erst wieder einführen und revoltieren gegen das abgekartete Spiel der Fakten. (WM, S. 10)
Gemäß der Forderung nach dem Verzicht auf Symbol und Metapher sollte das Gedicht „die Reibungen darstellen […] zwischen dem Ich und seiner Umwelt“.36 Das Gedicht wurde „zum Schauplatz für das Zusammentreffen des Faktischen mit den Vorstellungen des erlebenden Subjekts“.37 Der Anspruch auf jenes unverstellte Verfahren, die subjektiv erlebte Umwelt schmucklos zu skizzieren, erweist sich mitunter als reaktive Verarbeitung der Realien. Theobaldy und Zürcher fragen, warum Born solcherart Lyrik abfaßt, ohne „diesem als gewöhnlich gezeigten Vorfall eine ungewöhnliche, überraschende Deutung oder Wendung zu geben?“38 Allkemper, der das lyrische Werk Borns einer kritischen Analyse unterzogen hat, sieht den im Band Marktlage offenbarten Anspruch an Gedichte, ohne „Dekor, Schminke und Parfüm“39 und ohne „Bedeutungsträger“40 zu sein, nicht widerspruchsfrei eingelöst: Die propagierte unvermittelte Darstellung im Gedicht sei demnach „allzu naiv und unaufrichtig, wenn sie unterstellt, der Verzicht auf alles Artifizielle genüge, um im direkten Zugang der Realität literarisch beizukommen. Naiv deshalb, weil die Verdoppelung der Realität nicht deren Erkennbarkeit impliziert, vielmehr ihrem Schein aufsitzt, und unaufrichtig, weil in der Betonung des direkten Zugangs die notwendig vermittelnde Leistung des Subjekts unterschlagen wird.“41 Born erlegt seiner Lyrik eine „Reduktionsdiät“42 auf, die – unter Verzicht auf die notwendig „subjektive Brechung“43 des Dargestellten – eine „widerspruchlose Registratur des Faktischen“44 zu ihrem Ergebnis hat, wie sie bereits in dem Kapitel „Eine Reise durch den Stillstand: Borns erster Roman Der zweite Tag“ isoliert wurde. Dabei läuft Born Gefahr, allzusehr auf gemeine, in ihrem Detail beobachtete Erlebnisse zu setzen und damit einer Ohnmacht gegenüber, so ein Rezensent, „zu vielen äußeren Dingen“45 zu verfallen. Die „Zuwendung zu den einfachen Dingen droht in eine neue zarte Ding-Mystik umzuschlagen“,46 wirft Drews den Lyrikern der Neuen Subjektivität vor. Bisweilen behauptet auch Borns lyrisches Ich eine Transzendenz der wahrgenommen Wirklichkeitspartikel: So hebt etwa der Sprecher im Gedicht „DIE SCHWIERIGKEITEN nehmen zu:“ (G, S. 34) seine profanen Beobachtungen in den Stand einer überhöhten Bedeutung, die ihnen innerhalb der lyrischen Rede nicht zukommt:
Es ist schwierig
sich in den Außenbezirken aufzuhalten
wo jede Bewegung Raum hat und
zum Verzweifeln vieldeutig ist –
schwierig dabei zu notieren wenn
die Sonne durch Wolken bricht
ein Café aufmacht oder
im Winter wenn sich im Schnee des Parks
ein Damenschuh findet
ein festgetretener Pfad unweigerlich
an die eigene Haustür führt.
Diese mystische Beschwörung des Alltags, welche jede notwendig subjektive Position zum Gegenstand vermissen läßt, treibt Handke in seiner „Stunde der wahren Empfindung“ geradewegs auf die Spitze:
Im Sand zu seinen Füßen erblickte er drei Dinge: ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange. Sie hatten schon die ganze Zeit so dagelegen, doch auf einmal rückten diese Gegenstände zusammen zu Wunderdingen. – „Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?“47
Und ein wenig später faßt Handkes Hauptfigur Keuschnig den Gedanken:
Indem ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden.48
Dennoch gelingt Born in einzelnen Gedichten der Bruch mit der Wirklichkeit, wenn er etwa im Titelgedicht „Marktlage“ (G, S. 10) schreibt:
Was ist los?
Die Hunde gebärden sich heute
wie toll.
Die Bewegungen der Hauswartfrau
ergeben wieder Reglosigkeit
Die aufgeworfene Frage am Gedichtanfang bereitet den Zweifel vor, der die zweite Strophe durchziehen soll: Inmitten der bloßen Reihung von Details des Wochenmarktes, auf dem Angebot und Nachfrage das gewöhnliche Treiben initiieren („Auf dem Markt ist Leben“), findet es der lyrische Sprecher „erstaunlich wie Bananen / verschleudert werden“. Und nahezu abseits dieses Geschehens stellt der lyrische Sprecher fest:
Merkwürdig ist der Winter
bevor er kommt
Die anfängliche Frage stellt Raum und Zeit, die „Marktlage“ des öffentlichen Lebens, in ein – wenngleich rezessiv hervorgebracht – subjektiv durchbrochenes Licht.
Jörg Eggerts, aus Jörg Eggerts: Langsam kehrten die Farben zurück. Zur Subjektivität im Romanwerk, im lyrischen und literaturtheoretischen Werk Nicolas Borns, Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002
– Zu Jürgen Becker und Nicolas Born. –
Nicolas Born gehört zu unsern hervorragenden Begabungen wie Jürgen Becker, er ist, nach dem Tod Rolf Dieter Brinkmanns, unter den ersten zu nennen, wenn von Gedichten in diesen Jahren gesprochen und geschrieben wird.49
Das ist ein Satz von Karl Krolow, auch wenn man meinen möchte, daß so steif nur Literarhistorikern eine wertende Bestandsaufnahme gegenwärtiger Poesie geraten könnte. Doch gleichviel – uns interessiert die Konfiguration Becker-Born, die einer Nachprüfung wert scheint. Denn im mittlerweile vielstimmigen Gespräch über die ,neue Lyrik‘, die Lyrik der Subjektivität und der Sensibilität, über das wiederentstandene Erlebnis- oder Gelegenheitsgedicht ist der Hinweis auf Becker und Born nicht selten. Texte beider Autoren werden als Beleg für lyrische Dichtung zitiert, der man Bestand über aktuelle Moden hinaus zutraut. Freilich werden sie auch zitiert, wenn man den derzeit herrschenden Trend selbst kennzeichnen möchte, ihn durch typische Ausdrucksformen illustrieren will.50
Becker und Born: zwei Autoren demnach, deren Schreibweise sie verknüpft mit dem Stil vieler anderer, zugleich oder dennoch zwei Schriftsteller von individuellem Profil und besonderem Rang. Von beiden Aspekten wird zu sprechen sein. Nicht aber soll davon die Rede sein, wie Becker und Born sich zu Brinkmann verhalten. Es soll nicht gefragt werden, ob Krolows Andeutung zutrifft, daß diese Dichter nur insofern Anspruch auf bevorzugte Beachtung erheben können, weil der eigentlich originale Lyriker der jüngeren Generation – Rolf Dieter Brinkmann – nicht mehr lebt. Brinkmanns Name gewinnt inzwischen ja fast mythische Färbung, der Topos vom frühvollendeten Genie stellt sich ein, der zweideutige Glanz eines Rimbaud der sechziger Jahre läßt die Lebenden blasser, epigonaler erscheinen. Gewiß ist es an der Zeit, Brinkmanns Werk – und nicht nur die Lyrik – heute neu zu analysieren, seine poetische Leistung zu beschreiben, ein Stück authentischer Literatur unserer jüngsten Vergangenheit dem Gedächtnis einzuprägen. Doch dies ist ein anderes Thema – unsere Aufmerksamkeit soll denen gelten, die gleichzeitig mit, ja schon vor Brinkmann Texte schrieben von der Art, welche heute als dem öffentlichen Bewußtsein besonders adäquat empfunden wird, deren schriftstellerische Entwicklung zugleich einen Einblick erlaubt in die Genese wie die permanente Problematik deutscher Gedichte nach dem Ende hermetischer Lyrik
1.
„Nach dem Ende der hermetischen Lyrik“, das allerdings ist eine so handliche wie mißverständliche Formel,51 die einen epochalen Bruch dort suggeriert, wo es sich in Wahrheit um allmähliche Veränderungen, um einen zögernden Austausch der Vorbilder, eine schrittweise Positionsverschiebung handelt. So problemlos, wie das sich heute etwa bei Hans Eppendorfer im Lyrik-Katalog liest, ist man nicht vom einen zum andern Paradigma gelangt:
Warum schreibe ich Lyrik? Weil ich die Lyrik von Marie Luise K. nicht mochte, weil ich mit den Texten von Gottfried B. nichts anfangen konnte, weil mir die Wald- und Wiesen-Flurschäden von Herrn L., die ich in der Penne bis zur Maulsperre pauken mußte, stanken, weil (…) und so weiter, und so schrieb ich mir Lyriktexte, die ich lesen mochte, die mir Spaß machten, meine Eindrücke wiedergaben, Gefühle widerspiegelten, Impulse vermitteln wollten, Denkanstöße, Nachdenklichkeiten.52
„… und so weiter“ – da hätten noch Karl Krolow, Ingeborg Bachmann und vor allem Paul Celan genannt werden können, jene Lyriker also, die bis in die sechziger Jahre bestimmend gewesen sind für die deutschsprachige Aneignung einer internationalen Moderne der Poesie. So unterschiedlich bei genauerem Hinsehen Themen und Sprachform der einzelnen Autoren waren, so verwandt konnten sie dem Publikum, einem jugendlichen zumal, erscheinen, weil Esoterik, Hermetik, Dunkelheit, metaphorische Komplexität ihnen allen eigentümlich schien. Die Zusammengehörigkeit der entschieden modernen Lyriker wurde vollends durch zwei Publikationen fixiert, deren Wirksamkeit für die jüngste Literaturgeschichte nicht zu unterschätzen ist: H. Friedrichs erstmals 1956 vorgelegte Abhandlung in rowohlts deutscher enzyklopädie: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart53 und Hans Magnus Enzensbergers Anthologie von 1960 Museum der modernen Poesie im Suhrkamp-Verlag.54 Fand man bei H. Friedrich eine einprägsame Theorie der Genese des modernen, nicht realistischen, nicht-klassizistischen Stils – Beginn in der deutschen Romantik, Baudelaire als Inaugurator, Rimbaud und Mallarmé als jeweils traditionsbildende Oppositionsfiguren, Symbolismus und Surrealismus, ein vorläufiges Ende bei Benn, Krolow, Kaschnitz –, so machte Enzensberger die Vielfalt lyrischer Sprechweisen im 20. Jahrhundert zugänglich, präsentierte in Original und oft vorzüglicher Übersetzung Beispiele von knapp hundert Lyrikern aus fast allen europäischen Ländern, aus der Sowjetunion und aus Amerika. Hatte Friedrich seine Darstellung auf der Kategorie der Negation aufgebaut, so betonte Enzensberger die Konsolidierung der lyrischen Weltsprache, sprach von einer „Negation der Negation“, die zum „Aufbau einer neuen Poetik“ hinführen müsse. Aber seine Stichworte waren im Grunde dieselben, die Friedrich formulierte, auch Enzensberger konnte keinen anderen Weg anbieten, als die „Hervorbringungen“ der modernen Poesie
auf das hin zu lesen, was man zu kennen glaubt: Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunktionierung des Reimes; Dissonanz und Absurdität; Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfremdung und Mathematisierung; Langverstechnik, unregelmäßige Rhythmen; Anspielung und Verdunklung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfindung neuartiger metaphorischer Mechanismen und Erprobung neuer syntaktischer Verfahren.55
Es scheint mir wichtig – zumal angesichts einer Lyrik-Debatte, die auf die Alternative „politische“ oder „private“ Gedichte fixiert zu sein scheint –, in Erinnerung zu bringen: Wer in den frühen sechziger Jahren zu schreiben begonnen hat – und dies ist bei Jürgen Becker und Nicolas Born der Fall56 –, der tat dies im Horizont eines die literarische Öffentlichkeit bestimmenden Konsenses: Ziel gegenwärtiger Dichtung sei, die Verfahrensweisen der nunmehr klassisch gewordenen Moderne weiterzubilden, das eigene Ausdrucksbedürfnis zu transformieren in artistische Energien, sprechend die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache zu reflektieren, nicht aber mitzuteilen von eigenem, privatem Dasein und beim Leser unmittelbares Einverständnis oder direkte politische Wirkung zu suchen. Dieser Konsens betraf nicht nur die Lyrik, sondern auch die andern Gattungen, zumal die Erzählprosa, wovon etwa Walter Jens in Deutsche Literatur der Gegenwart. Themen, Stile, Tendenzen57 1961 beredtes Zeugnis ablegte. Es ist kennzeichnend, daß Roland H. Wiegenstein die Rezension des ersten Buches von Jürgen Beckers Felder (1964) mit einem Hinweis auf den bis Joyce erreichten Standard eines nichtrealistischen Erzählens einleitet, an welchem der Rang neuer Darstellungsversuche sich bemesse.58 Die Folge solcher Erinnerung wäre: in der Kommentierung von Gegenwartsliteratur sich mit impressionistischer Spiegelung des gerade Aktuellen nicht zu begnügen, literarhistorisch zu verfahren, die Ungleichzeitigkeiten im Gleichzeitigen aufzudecken. Das heißt beim hier gegebenen Anlaß, unter den Lyrikern der „neuen Subjektivität“ von den jüngeren, welche in und nach der Studentenbewegung zu schreiben begannen, die älteren zu unterscheiden, deren „literarische Sozialisation“ – damit die Intention nicht nur der ersten Texte, sondern auch der folgenden, der neuesten Gedichte – geprägt worden ist von dem eben skizzierten Horizont einer Poetik der Moderne. Ein solcher Rückgriff unterstellt nicht diesen Autoren Entwicklungslosigkeit, Unfähigkeit sich zu wandeln, er ist vielmehr gerade dem Interesse verpflichtet, das Widerspiel alter und neuer Erfahrungen, die Kontrastierung und Mischung früher und später Denkmuster und Sprachstrukturen wahrzunehmen, die Geschichtlichkeit gegenwärtiger Poesie offenzulegen.
2.
Wie unterschiedlich die lyrischen Texte Jürgen Beckers und Nicolas Borns sind – der Sprachform wie dem Gehalt nach –, stellt jeder leicht fest, der ihre Veröffentlichungen in die Hand nimmt. Aber Gedichte werden auch als einzelne publiziert, in Zeitschriften, Anthologien und mag sein, einst – in Lesebüchern, und dann ergibt sich mitunter eine überraschende Nähe zum gleichfalls isolierten Gedicht eines andern Autors. Etwa: Nicolas Born, „Miniatur“ und Jürgen Becker, „Skizzenblock“.
MINIATUR
Käfersammlung, begrenzte Farben, blaue Kohle.
Meine Taschenuhr hab ich zum Reinigen gebracht
nun ist der Uhrmacher gestorben
Fahrräder surren an seinem Laden vorbei
Meine Handschrift, liebesunfähig
unter dem Aschenbecher mir Kippen, Kronkorken
Kugelschreiber schwarz, Not am Mann
Kontoauszug als Lesezeichen im Nabokov (Ada)
Das Gesicht unserer Erde: eine Riesenlibelle
vor dick aufgetragenem Abendrot
Großer Teddybär auf dem Fenstersims im Hof59
SKIZZENBLOCK
Morgens in der Westluft, klar und blau,
der Geruch der Rheinischen Olefin; ich betrachte
das farbige Land hinter verschlossenen Fenstern.
Die Garagen öffnen sich; Mittelklassen unterwegs.
Kräne, hinter den Wäldern, blitzen auf; die Konvois
auf den Zubringern stehen. Wintersaat, einzelne Traktoren;
einzelne kreisende Vögel, zwischen den Reihen
der Hochspannungsmasten. In einer Seitenstraße, schwankend,
eine alte Frau, mit Plastiktüten am Fahrrad.60
Ein Abendbild, ein Morgenbild; das betrachtende Ich und seine Anstrengung, Einzelheiten wahrzunehmen, der eigenen Situation sich zu vergewissern, wenn die Uhr nicht mehr repariert werden, die Außenwelt nicht mehr betreten werden kann, die Koordinaten raum-zeitlicher Wirklichkeit keine Sicherheit mehr gewähren: ein ästhetischer Zustand hier wie dort, eine Situation des Meditierens, ausgegrenzt von jeglicher Praxis. Es handelt sich auch in beiden Fällen um Texte, in denen der Leser deutliche Signale erhält, die eingetretene Verschränkung eines alltäglichen Momentes zeitgenössischen Daseins mit Kunstwelten zu bedenken, zugleich kritisch das Defizitäre seiner Lage, die Signaturen der Entfremdung zu reflektieren eines Lebens ohne Geschichte, ohne Liebe, ohne Kommunikation. Aber die Differenz dieser Texte ist nicht zu übersehen: Wenn Becker die Distanz des betrachtenden Ichs von kollektivem wie individuellem Handeln, von Naturresten wie technisierter Umwelt darstellt in einer elegant komponierten Impressionen-Sequenz, reduziert er die Sinndimension seines Werks auf die einer Notiz, einer Marginalie, welche diskret die Frage verschweigt, ob und wie ein solches Dasein sich noch aushalten läßt. Borns Miniatur fehlt solche Stimmigkeit. Nicht die Geduld in einer unbewohnbaren Welt, sondern die ratlose Betroffenheit durch Vorgänge und Dinge, die fremd nebeneinander erscheinen und durch keinen Sinnzusammenhang – auch keinen ästhetischen – versöhnt werden können, dominiert in diesem Gedicht, das in sechs gegeneinander gesetzte Blöcke, sechs Sprechphasen zerfällt, dessen Rhythmus durch Brüche und Pausen konstituiert wird. Da es aber so diskontinuierlich ist, wird in ihm möglich, was Becker streng vermeidet: die Spiegelung der Empirie in der Metapher, die surrealistische Transponierung. „Das Gesicht unserer Erde: eine Riesenlibelle / vor dick aufgetragenem Abendrot“ – ein mit pathetischem Gestus eingeführtes, halbmythisches Bild sprengt die „begrenzten Farben“ der Miniatur, läßt expressionistische Vision die Nabokovsche Psychologie glücklosen Daseins überbieten und verändert den ganzen Text derart, daß nun kein Detail in ihm mehr seinen Ort in wahrnehmbarer Wirklichkeit hat, sondern zum Fragment eines Traumes wird, eines Angsttraumes, dessen Farben und Figuren nur eins bedeuten können: Sterben, Tod.
Zwei Gedichte „neuer Subjektivität“, publiziert 1978 und 1977 – wie lassen sich ihre Verwandtschaft und ihr Unterschied verstehen? Woher kommen die, die sie geschrieben haben?
3.
Jürgen Becker ist 1932 geboren, in Köln, wohin er mehrfach und, wie es jetzt scheint, endgültig zurückgekehrt ist. Sein Studium hat er abgebrochen, wechselnde Tätigkeiten ausgeübt, seit 1959 arbeitet er für Rundfunkanstalten, war einige Zeit Lektor in Hamburg, lebte als Stipendiat in Rom, er ist Leiter der Hörspielabteilung am Deutschlandsender. Becker begann früh zu publizieren, einzelne Prosa- und Gedichttexte seit 1956, er hat mit Wolf Vostell zusammengearbeitet, wurde bekannt seit 1962 durch einen Vorabdruck aus den Feldern, seit 1964 durch diese selbst. Es folgte 1968 der Band Ränder, der sehr stark beachtet wurde, da sein Autor 1967 den Preis der Gruppe 47, den letzten, den sie vergeben konnte, erhalten hatte. Die nächsten Veröffentlichungen waren Hörspiele (Bilder Häuser Hausfreunde, 1969), ein Prosaband Umgebungen (1970), das Theaterstück Die Zeit nach Harrimann (1971) und Fotografien unter dem Titel Eine Zeit ohne Wörter (1971). Gedichte publizierte das Literarische Colloquium Berlin (Schnee, 1971), aber erst 1974 hat Jürgen Becker einen größeren Lyrikband vorgelegt: Das Ende der Landschaftsmalerei. Ihm ist 1977 sein letztes Buch gefolgt: Erzähl mir nichts vom Krieg. Gedichte. Dies ist ein beachtliches Œuvre, und schon 1972 konnte L. Kreutzer einen Aufsatzband Über Jürgen Becker herausgeben, der eine vielfältige Resonanz – von Böll bis Heißenbüttel, von Blöcker bis Raddatz oder W. Hinck – dokumentierte. Darauf sei denn auch verwiesen, weil im folgenden nur ein einziger Aspekt erläutert werden kann.61
In den Bibliographien erscheinen Felder und Ränder, die ersten Bücher, zumeist als Prosaarbeiten. Aber das ist eine problematische Gattungszuweisung. Schon Enzensberger hatte beobachtet:
Es handelt sich (bei den von 1 bis 101 durchnumerierten Passagen der Felder E. R.) nicht um Miniaturkapitel; die Textabschnitte sind nicht eingezäunt, sondern offen, wie magnetische oder Gravitationsfelder, deren Struktur durch die Kraftlinien der Vergegenwärtigung bezeichnet wäre. Nach Figur und Ausdehnung gehorchen sie eher poetischen als epischen Gesetzen.62
Die Gattungsmischung ist kennzeichnend, sie wird etwa auch von Böll sehr betont:
In den Feldern wird die so herkömmliche, so irrig wie selbstverständlich und hemdsärmelig angewandte kategorische Trennung von Poesie und Prosa (eine kategorische Trennung übrigens, die aus den Alben unserer lieben Großmütter stammt) wieder einmal und ausdrücklich widerlegt.63
Obgleich man freilich auf eine „Scheidung der Dichtarten“ (A.W. Schlegel) in der Wissenschaft von der Literatur als Kunst nicht ganz wird verzichten dürfen, sei solchem Befund keineswegs widersprochen. Vielmehr erlaubt die damals noch nicht absehbare Entwicklung Beckers zum Lyriker gerade eine Neubewertung der frühen Texte als Prototypen späterer Gedichte. Der thematische Zusammenhang ist ohnehin offensichtlich: Lebens- wie Sprachraum ist damals wie heute Köln und seine östlichen Vororte, und Sensibilität und Reflexionskraft des Subjekts erwiesen und erweisen sich daran, wie es sich in der Spannung zwischen Erinnerung und Aktualität bewährt. Nicht die epische Sukzession war das Strukturprinzip der ersten Bücher, obgleich in ihnen auch Geschichten erzählt werden, sondern die systematische Entfaltung einer einzigen, konstanten Situation: Zwar heißt es am Ende der Felder „vorne ist vor drei Jahren; hinten ist jetzt“, aber die Rekapitulation der 99 voraufgehenden Abschnitte durch auf sie bezogene Stichworte im hundertsten verklammert den Beginn mit dem Abschluß, versucht aufzuheben, was mit Bedauern konstatiert wurde:
die Gleichzeitigkeit verschiedener Vorgänge ist wahrnehmbar, aber nicht darstellbar. In jeder syntaktischen Anordnung erscheinen die Vorgänge immer nur aneinandergereiht, nicht in ihrer wahren Dimension.64
Diesem Ziel sich zu nähern, ist entschiedener noch in den Rändern versucht worden, deren elf Teile spiegelbildlich angeordnet sind: die Texte von 1 bis 5 werden ständig kürzer, ihre Syntax vereinfacht sich bis zu lückenhaften Wortreihen – Kapitel 6, die Mitte, bleibt wortlos, ein leeres Blatt – und von 7 bis 11 wird die Sprache wieder rekonstruiert, so daß sie erneut die am Anfang aufgerufene Realität zu benennen versuchen kann. Verändert wird allein das Medium der Sprache, die Welt, auf die sie sich bezieht, bleibt konstant.
Dies ist Beckers Modernität. Er wäre mißverstanden als ein Heimatdichter Kölns, ein Registrator der fortschreitenden Umweltzerstörung am Fuße des Bergischen Landes, als ein seine Eindrücke protokollierender Berlin-Tourist. Das primäre Interesse gehört dem Medium, den Sprachzuständen zwischen Reduktion und – in den Umgebungen – überquellender Expansion, den Sprachton-Mischungen in der Vielstimmigkeit der Hörspiele, der Leistungsfähigkeit der Photographie in Eine Zeit ohne Wörter. Die Wirklichkeit des Autors, und dieses Autors zumal, ist seine Sprache. Aber insofern diese immer schon ein gesellschaftliches Phänomen ist, kann sie nur bedingt ,seine‘ Sprache werden, geht das ihr sich anvertrauende, mit ihr arbeitende Subjekt ein in die komplexe Sozialstruktur gegenwärtigen Daseins, vermag es ihr gegenüber auch nicht in Opposition zu beharren, grundsätzliche Kritik an ihr zu üben. Becker ist ein von der Inhumanität, der Glücklosigkeit gegenwärtigen Lebens Betroffener, er ist kein politischer Autor. Befragt nach dem Anteil des eigenen Ichs an der Darstellung der Umwelt, antwortet er:
Privates ist dabei gar nicht denkbar ohne den Zusammenhang mit allgemeinen Erfahrungen, mit Öffentlichkeit, zeitgenössischen Zuständen und geschichtlichen Vorgängen, und dieser Zusammenhang wiederum ist nicht denkbar ohne die Sprache, in der er erkennbar wird, nämlich in dem Repertoire unserer Wörter und Sätze, unserer Sprechgewohnheiten und Redearten. Dieses Repertoire ist zugleich meines als Autor, und indem ich damit umgehe, gehe ich mit der Sprache um, in der unsere Umgebung ihr Selbstverständnis zu erkennen gibt.65
Vergleichbar wird er damit – worauf F.J. Raddatz einen überzeugenden Hinweis gegeben hat66 – mit einem der Ahnherren der literarischen Modere in Deutschland, mit Arno Holz. Er teilt mit ihm das Konzept, „die Sache zur Sprache und die Sprache zur Sache zu machen“,67 ein Konzept, das ebenso an den Romanepen des von Holz stark beeindruckten Alfred Döblin ablesbar ist: in Berlin Alexanderplatz erzählt die moderne Großstadt im Gemisch ihrer vielen Sondersprachen sich selbst, der private Erzähler verschwindet hinter der Anonymität der Schlager und Zeitungstexte, der Verwaltungsvorschriften und politischen Phrasen.68 Aber Holz hat, nachdem er den Phantasus begonnen hatte, keine Gedichte mehr geschrieben, und Döblin nie. Jürgen Beckers Entwicklung jedoch endet – vorerst – bei der Lyrik. Nur wenige Bemerkungen zu ihr sind noch möglich. Deren erste wäre: Seitdem Jürgen Becker Gedichte schreibt, und insbesondere kurze Gedichte, er auf den Holz-Döblinschen Ehrgeiz einer extensiven Sprachtotalität verzichtet, hat der einzelne Satz, ja das einzelne Wort Intensität, Suggestivität gewonnen. Es entstehen Sprachgebilde, die an die lakonische Prägnanz sinnlichen Denkens erinnert, wie man sie aus Günter Eichs Gedichten kannte. (Ein sehr schönes Nachruf-Gedicht auf Eich steht im ersten Lyrikband.69) Etwa:
MORATORIUM
Es gibt neue Nachricht; man will
verhandeln. So wäre zunächst
kein Krieg. Das Frühjahr kann kommen.
Iris und Krokus
besetzen das leere Gelände. Wie
sieht es aus im Sommer; bis dahin
sind Zäune vom Efeu getarnt
und wächst die Abschreckung der Rosen.70
Zwei Themenbereiche lassen sich Beckers Texte zuordnen, und insofern die verknappte Sprache zur deutlicheren Artikulation nötigt, werden sie, die immer schon Beckers Themen waren, überraschend aktuell, ja zum Politikum: die fortschreitende Zerstörung des Lebensraums einerseits und Krieg als die nicht-vergangene Vergangenheit, als jederzeit latente Bedrohung einer labilen Normalität andererseits. An solchen Themen erweist poetische Sensibilität für Sprach- und Bildmomente sich als Maßstab gesellschaftlicher Praxis:
Natur-Gedicht
In der Nähe des Hauses,
der Kahlschlag, Kieshügel, Krater
erinnern mich daran –
nichts Neues; kaputte Natur,
aber ich vergesse das gern
solange ein Strauch steht71
Am Stadtrand, Militärringstraße
Diese Männer abends auf den Wiesen
vorbeifahrend sehe ich
den Ernst und die Wut beim Ballspiel,
sie könnten gut kämpfen,
und sie kämpfen ja auch
bis zum Dunkelwerden
vor der brennenden Front der Forsythien.72
Becker hat auch weiterhin lange Texte geschrieben, er benutzt sie als Ausdrucksform vor allem dann, wenn Autobiographisches reflektiert wird, die Stimmungsschwankungen eines sensiblen Melancholikers durch Benennung stabilisiert werden sollen – Poesie als Therapeutikum des Autors und seiner Leser.73 Dann werden auch die Verfahren der früheren, der „offenen Schreibweise“74 wieder aufgenommen, die assoziative Reihenbildung, das Zitieren der Medien, welche Wirklichkeit präformieren und authentische Wahrnehmung verhindern. Indem die hier angeführten Gedichte mit solchen langen Texten korrespondieren, wird die unmittelbare Evidenz der Kurzlyrik relativiert, dem Leser der Rückfall in eine „vormoderne“ Rezeption verwehrt. Dennoch wird man auf diese Gedichte hinweisen dürfen als auf seltene Beispiele einer poetisch hergestellten – nur durch Poesie herstellbaren – Korrespondenz zwischen Innenwelt und Außenwelt, Subjektivität und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
4.
Nicolas Born, fünf Jahre jünger als Becker, wurde Ende 1937 geboren (und starb im Dezember 1979). Dies ist keine unwichtige Differenz, weil nicht mehr Krieg, sondern Nachkriegszeit Horizont der frühesten selbständigen Umwelterfahrungen war. Born stammte aus Duisburg, er war Chemigraph von Beruf, lebte aber seit 1965, dem Jahr, in dem er seinen ersten Roman Der zweite Tag75 publizierte, als freier Schriftsteller, und zwar lange Zeit in Berlin, dann in Dannenberg, bzw. – weil er dort zum ,Stadtschreiber‘ gewählt wurde – in dem Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim. Born hat mehrere Auszeichnungen erhalten, die bedeutendste wohl war der Bremer Literaturpreis nach der Veröffentlichung seines zweiten Romans Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976).76 Als Herausgeber und Redakteur war er für das Literaturmagazin des Rowohlt Verlages tätig. Im übrigen aber war Born Lyriker: 1967 Marktlage,77 1970 Wo mir der Kopf steht,78 1972 Das Auge des Entdeckers,79 und schließlich, mit vierzig Jahren, schon so etwas wie eine Gesamtausgabe: Gedichte 1967–1978.80
Born hat in den Berliner Jahren – wie kurze Zeit auch Becker – zum Kreis des „Literarischen Colloquiums“ gehört, dessen Initiator Walter Höllerer durch viele Einladungen, Veranstaltungen und Publikationen einen Zugang zur Internationale der zeitgenössischen Literatur, der gegenwärtigen Lyrik im besonderen erschlossen hat. Die andere prägende Erfahrung ist die Studentenbewegung, die Außerparlamentarische Opposition gewesen. Das Spannungsfeld also zwischen Literatur und Politik war bestimmend, nicht nur für Born, sondern für eine Gruppe junger Autoren, zu der etwa Piwitt, Delius, Buch und der früh gestorbene Wolfgang Maier zählten. Freilich gab es keinen Gruppenstil, kein gemeinsames Konzept. Einer offenen Politisierung des Schreibens, wie sie Delius durchgeführt hat, nähern sich bei Born nur wenige Texte und diese hat er im Wiederabdruck zumeist getilgt. Aber schon mit dem Titel seiner letzten Gedichtgruppe „Keiner für sich, alle für niemand“ läßt sich belegen, daß das politische Grundproblem, die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Solidarität, individuellem und gesellschaftlichem Glück oder Unglück von zentraler Bedeutung geblieben ist.
Doch zunächst zum literaturtheoretischen Ansatz. Auf dem Klappentext des ersten Gedichtbandes wird als eine programmatische Äußerung Borns zitiert:
Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist; weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern, weg vom Ausstattungsgedicht, von Dekor, Schminke und Parfüm. Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; in die rohe, unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie (sic!), die nicht geschmäcklerisch oder romantisierend ist, sondern geradenwegs daher rührt, daß der Schreiber Dinge, Beziehungen, Umwelt direkt angeht, das heißt also, Poesie nicht mit Worten erfindet. Charles Olson sagt: „Form ist nie mehr als eine Ausdehnung von Inhalt“, und meint damit, daß Form heute kein aufstülpbarer, vorgefertigter (metrischer) Mechanismus sein darf. Olson ist es auch, der vom ,Gedicht als Feld‘ (wir erinnern uns an Becker. E. R.) spricht, dessen Energien und deren Anordnung Form ergibt. Emotionen müssen Erkenntniswert haben und selbst Erkenntnis sein. Es gibt keine Banalität außer der Banalität des Ausdrucks.81
Gegen wen auch immer Born da polemisiert, er ist aufrichtig genug, die poetologische Autorität, auf die er sich bezieht, zu nennen: Charles Olson. Er hätte wohl aber auch Höllerer zitieren können, denn dieser hatte im Dezember 1965 seine Theorie der modernen Lyrik82 herausgegeben und im Vorwort bezeichnenderweise geschrieben:
Insbesondere die Überlegungen von William Carlos Williams über veränderliches Metrum, von Charles Olson über den projektiven Vers und von Tadeusz Ročewicz gegen die Bildersucht geben Impulse, die in der gegenwärtigen, aktuellen Lyrik verändernd wirken können.
Höllerers im gleichen Zeitraum aufgestellte „Thesen zum langen Gedicht“83 postulierten in ebendiesem Sinne eine Abkehr von hermetischer, ins Kunsthandwerkliche abgleitender Lyrik. Es ist nicht ganz unwichtig, diesen Ausgangspunkt zu bestimmen, zumal die Kritiker der Marktlage Dieter Wellershoff mit seinem Programm eines ,Neuen Realismus‘ als den zuständigen Mentor ansahen.84 Denn es hat wenig mit Darstellung der Alltagswelt um ihrer selbst willen, viel jedoch mit der Ermutigung zum weit geschwungenen Sprechbogen, zum nicht-metrischen, wenn auch rhythmisch kontrollierten, im Vokabular in der Tat ungeniert ,rohen‘ Formulieren, mit der Ermutigung zur Subjektivität zu tun, wenn Born in seinen ersten Band das folgende Selbstbildnis85 setzt:
Oft für kompakt gehalten
für eine runde Sache
die geläufig zu leben versteht
doch einsam frühstücke ich
nach Träumen
in denen nichts geschieht.
Ich mein Ärgernis
mit Haarausfall und wunden Füßen
einssechsundachtzig und Beamtensohn
bin mir unabkömmlich
unveräußerlich kenne ich
meinen Wert eine Spur zu genau
und mach Liebe wie Gedichte nebenbei.
Mein Gesicht verkommen
vorteilhaft im Schummerlicht
und bei ernsten Gesprächen.
Ich Zigarettenraucher halb schon Asche
Kaffeetrinker mit den älteren Damen
die mir halfen
wegen meiner sympathischen Fresse und
der Rücksichtslosigkeit mit der
ich höflich bin.
Borns Verfahren differenziert sich in den folgenden Büchern, er schreibt lange Gedichte, in denen sich Fragmente sinnlicher Anschauung mischen mit Kommentaren, mit scheinbar nur privaten Räsonnements und in Großdruck hervorgehobenen Begriffen und Sätzen, deren Sinn nur mühsam zu dechiffrieren ist. Die Entwicklungslinie kann hier nicht mehr nachgezeichnet werden. Vor allem wäre über Das Auge des Entdeckers zu sprechen, das 1972 nach dem Ende der Jugendrevolte, am Beginn jener „neuesten Stimmung im Westen“ (Walser), der wir auch die „ neue Subjektivität im Gedicht“ verdanken, bewußt konzipiert wurde als poetischer Gegenimpuls gegen die Resignation, als Verteidigung phantastischer Utopie gegen das Wahnsystem der Realität.86 Auf schlichteste, weil märchenhafte Weise, am poetischen ,Prinzip Hoffnung‘ festzuhalten, bringt das folgende Gedicht solchen Gegenimpuls zur Sprache.
DREI WÜNSCHE
Sind Tatsachen nicht quälend und langweilig?
Ist es nicht besser drei Wünsche zu haben
unter der Bedingung daß sie allen erfüllt werden?
Ich wünsche ein Leben ohne große Pausen
in denen die Wände nach Projektilen abgesucht werden
ein Leben das nicht heruntergeblättert wird
aaaaavon Kassierern.
Ich wünsche Briefe zu schreiben in denen ich
aaaaaganz enthalten bin –.
Ich wünsche ein Buch in das ihr alle vorn hineingehen
aaaaaund hinten herauskommen könnt.
Und ich möchte nicht vergessen daß es schöner ist
dich zu lieben als dich nicht zu lieben87
Solcher Aufschwung allerdings regiert in den neuesten Texten Borns nicht mehr. In Essay88, Rede89 und Gedicht hat sich der Horizont verfinstert, und ob Versuche neuer Naturlyrik („Ein paar Notizen aus dem Elbholz“90) hier weiterbringen, ist bei einem Autor, der in der Nähe Gorlebens wohnt, schwerlich anzunehmen. So wäre dies ein letztes Gedicht, ein Text übrigens auch, der zeigt, daß Born nicht weniger als Becker Sprache als gesellschaftliche Macht zu begreifen gelernt hat – sich von der ostentativen Naivität amerikanischer Lyrik entfernend:
EINE ZU TODE ERSCHROCKENE GESELLSCHAFT
Eingebunkert
Leben im Zitat
das läßt sich gut finden ohne Seele.
Eingefärbtes Licht hebt Schatten auf,
es bleiben
Leute die ihre Sorge haben
mit der verschriebenen Biografie.
Vertreter, Abbonnentenwerber schwärmen aus
nach einem Plan mit Kaffeeflecken
aaaaavom Hotelfrühstück
gekränkt aber entschlossen
zur Macht des Kleingedruckten.
Und freundlich ist der Haß
zärtliche Würgemale,
Regen draußen in den schiefen Gärten,
das Verlangen der Honoratioren nach
aaaaaZerstreuung.
Unfallfreie Autoleichen, öde Gestalten
wenn sie nur so herumstehen,
knappe Selbstbeteiligung an Bewegung:
das große Abenteuer ein Juckreiz
oder ein Flug durch Fotos.
Sprache im Griff toben hören
daß nasse Pflaster sehen, Geisterwohnungen.
Nichts fehlt. Kein Wort angesichts
des frisch Eingetroffenen, der lückenlosen
aaaaaBestände.
Natur rächt nichts, nicht mal die verkleinerte
mordlustige Tierwelt.
Es regnet, mein Gott es regnet
und ich weiß, hohl.91
5.
Über den Vortragstitel – Subjektivität als Instrument? – ist explizit nicht gesprochen worden. Es dürfte aber deutlich geworden sein, daß mit solcher Formulierung der Anspruch und die Kunstleistung der zitierten Gedichte verfehlt werden. Borns und Beckers Texte lassen sich nicht zuschlagen jenem Lyrik-Typus, den Jürgen Theobaldy 1977 in seiner Anthologie Und ich bewege mich doch. Gedichte vor und nach 1968 als ein Instrument politisch-publizistischer Praxis zu charakterisieren suchte:
Worum es geht ist, daß die Sprache, in der sich die Lyrik derzeit organisiert (!), eine der persönlichen Erfahrung ist, ein Widerstand gegen die Massenmedien, Wirtschaftsverbände, Parteien und Ministerien mit ihren verstümmelnden, wirklichkeitsverzerrenden oder synthetischen Produkten. Der Bezug auf das Selbsterlebte ist der Versuch, Verläßliches, überprüfbares zu sagen angesichts der öffentlichen Parolen.92
So moralisch achtbar das klingt, Theobaldy verfehlt die spezifische Wirklichkeit der Sprache als Kunst. Wahrheit der Kunst ist in der Neuzeit schon immer gebunden an Subjektivität, an den Widerspruch zwischen Ich und Welt, und nur insofern im Werk solcher Widerspruch nicht verdrängt, sondern zur Sprache, zur Erscheinung gebracht wird, erschließt es uns Erkenntnis unserer selbst und unserer Geschichte. Darüber wäre dann insbesondere bei Hegel nachzulesen.
Es gibt gewiß auch bei Becker und Born Texte, in denen sich sentimentale, empfindsame Privatheit spreizt, in denen das sprechende Ich keine andere Wirklichkeit erfaßt als die zufälligen Lebensumstände und Ticks seines Autors. Beide aber halten – und auf diesen Hinweis kam es hier an – in einer Krise der Kunstformen, die seit langem die Signatur der Moderne ist, an der Möglichkeit der Sprache, Wahrheit zu vergegenwärtigen, fest. So reagieren sie denn auch ironisch, ja sarkastisch auf jenes verbreitete Interesse an „neuer Subjektivität“, welches sich im Zeitalter der Energiekrise an Gefühlen wärmen möchte. Zwei Gedichte zum Ausklang:
Jürgen Becker
IST DAS ALLES SO WICHTIG
Fortgesetztes Dilemma: Seite für Seite
ein perfektes Gedicht, oder die Notiz des Erlebten.
Gestern abend, unter Studenten, versuchte ich
zu erklären, daß beim Schreiben alles geschieht
nach Maßgabe der Erfahrungen und Einfälle,
der sprachlichen Möglichkeiten und wahrgenommenen Motive.
Aber sind Sie, wurde gefragt, denn immer so
sensibel, wenn Sie sagen, wie sehr es darauf ankommt?
Nein, und ich kann sie nicht einmal zählen,
die leeren Stunden und stumpfen Tage,
die Momente gleichgültig und kaputt.93
Nicolas Born
STILLES LEBEN
Versicherungsbeton wächst höher in den Zahlenhimmel
Bitte eine Boulette, aber schön scharf!
Geschwollene Beine in der U-Bahn
schöner blauer Havelhimmel
Gift nach dem Gießkannenprinzip
gefrorene Eisprinzessinnen im Europacenter
dampfende Pappbecher
schöne Mundharmonika im Fernsehspiel
flaue Filmemacher
graue Senatoren
ratternde Flipper in den Spielhallen.
Fühlst du dich auch so großartig?
So großartig bevorzugt? Es ist das Gefühl
aaaaanoch Gefühle zu haben.
Hast du auch eine soziologische Freundin?
Mensch, du sitzt so gut wie in der Zelle,
hast dir auch nur ein Fenster an die Wand gemalt
aaaaaoder siehst du noch was?
Schon wieder ein Kugelschreiber verloren oder
aaaaalösen die Dinger sich auf.
Gib mir den andern Schlüssel zu deiner Wohnung.
Hier, faß mal an! Das ist wahr, was du hier fühlst,
endlich Realität die man wie Theorie
aaaaain den Mund nehmen kann.
Einmal nach dem Krieg ist mein Schuh in der Straße
aaaaasteckengeblieben; stundenlang hab ich
aaaaaden anderen im Arm beweint.
Vielleicht schreib ich mal was über die Traumwelt
aaaaader Millionenerben, die vollkommen ungegenständlich
aaaaaarbeiten: sie schieben bloß Metaphern herum.
Aber eines Tages werden alle Bilder wahr: eine
vollkommene Frau auf meinem Sofa, so eine Große
aaaaaTraurige, mit makelloser Haut, eine Unmißverständliche
wie sie vorläufig in Illustrierten liegt
auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.94
Ernst Ribbat, in Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster, S. Fischer Verlag, 1981
Ausstellung Unter Tage vom 7.10. bis 18.11.2023 in der Galerie Amalienpark und im Kabinett ZeitMaschine. Eine Erinnerung an Nicolas Born, Lyriker
Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017
Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017
Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017
Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018
Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980
Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
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