– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Todes-Erfahrung“. –
RAINER MARIA RILKE
Todes-Erfahrung
Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Haß
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund
tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.
Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.1
Gert Westphal liest von Rainer Maria Rilke „Todes-Erfahrung“
manches mag ich nicht besonders. Mein Lieblingsgedicht von Rilke habe ich nicht gefunden; vielleicht hat er es gar nicht geschrieben. Eigentlich wollte ich eines jener bekannteren Gedichte vorlesen, „Herbsttag“ oder „Der Panther“, um zu zeigen, daß sie ganz zu Unrecht zu dumpfen Ablagerungen der Deutschstunden und Evergreens in Lesebüchern geworden sind. Aber dann spürte ich ungeheuer genaue Empfindungen, die von dem Gedicht „Todes-Erfahrung“ ausgingen, Empfindungen, die durch alle seidige Rhetorik hindurchleuchten.
Eine erfühlte Todeserfahrung, wie sie nur einem Lebenden zuteil werden kann, ist aufgegangen in einem Gebilde, das zugleich Faszination und heillosen Schrecken erzeugt. Es ist darin der Tod dargestellt als ein Nichtdarstellbares, eine Leerform oder besser, ein Spalt, durch den Licht auf die Bühne fällt, ein jenseitiges Licht, das unser diesseitiges Erkennen und Wahrnehmen betrifft.
Es geht seit längerem so ein Gemeinplatz um gegen den Tod, das Leben allein sei wichtig usw. Darauf kann man doch nur antworten, daß der Tod ja auch nur uns Lebende betrifft. Unsere Todeserfahrungen, wenn wir überhaupt noch Erfahrungen machen wollen, müssen wir bei lebendigem Leib machen.
Der Schrecken bleibt ja, selbst dann, wenn uns der Tod als die wirkliche Erfahrung eines absurden Augenblicks in unendlichen Zahlenkolonnen bloß noch als normaler Schwund oder Materialverlust erscheint, der uns selbst außerdem solange nicht betrifft, bis er uns selbst betrifft. Die täglichen massenweisen Menschenopfer, die jährliche anonyme Totenbevölkerung – bei dieser Vorstellung hört ja immer noch aller Gemeinschaftssinn auf; oder ist es ein Trost, daß man ja wahrscheinlich wie seinesgleichen sterben wird, nicht mehr da sein wird wie seinesgleichen. Auch dieses Rilke-Gedicht enthält keinen Trost gegen den Tod, nur die vorweggenommene Erfahrung, mit den Sinnen gelernt. Der Tod ist darin ganz deutlich eine Sache des Lebens, der große Gegenstand lebendiger Wahrnehmung und lebendiger Erfahrung.
Nicolas Born, 6.12.1975, Hommage à Rilke zum 100. Geburtstag in Frankfurt a.M., Insel Almanach auf das Jahr 1977, 1976
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