VIELLEICHT
Es regnet … Und trotzdem, ich muß euch leider sagen:
es war da ein Haus, ein großes, ein riesiges Haus.
aaaaaVerödet.
Ohne Fenster, und es hatte eine Vielzahl Balkone
und einen gewaltigen Schornstein. Dort saß ein
aaaaaMädchen
ohne Augen, das anstatt Stimme eine Blume hatte.
Es fragte mich:
− Was haben Sie so viel zu nageln seit heut früh?
− Ach, nichts … nichts. Ich sprach mit Homer.
− Mit Homer, dem Dichter?
− Ja, mit Homer, dem Dichter, und mit einem andern Homer,
einem aus Moschopolis, der sein ganzes Leben auf Bäumen zubrachte,
gleich einem Vogel, und war doch in den Vierteln
nah dem See bekannt als „Mensch der Brücken“.
ein systematischer Autor, ein littérateur. Die große Liebe meines Lebens gilt ausschließlich der Malerei. Jede Stunde, die ich nicht der Malerei widme, scheint mir eine verlorene Stunde. Aber ein Bild verlangt natürlich nicht die ständige Hingabe des Denkens und des Herzens. Es gibt Momente, in denen die Hand sozusagen wie von allein zeichnet. Das Gehirn jedoch arbeitet immer. Und davon profitiere ich und überlege mir verschiedene Dinge, oder, für gewöhnlich, denk ich mir Lieder aus. Wenn ich nach der Arbeit diese Lieder aufschreibe, ist es gut, wenn nicht, vergeß ich sie wieder […] Nach einiger Überlegung, und nach meiner Erklärung, daß ich nie ein „systematischer“ Schriftsteller gewesen sei, fühle ich mich bemüßigt zu erklären, daß ich auch nie ein „professioneller“ Maler war…
Nikos Engonopoulos (1977)
rotgesichtig, mit leuchtenden Augen und einer außerordentlich suggestiven Stimme, trug ständig ein schmales goldenes Kettchen um den Hals und einen dicken goldenen Ring am Zeigefinger seiner rechten Hand, den man unmöglich übersehen konnte. Entweder er sprach mit weit ausholenden Handbewegungen, oder er schwieg mit abgespreiztem Finger, ähnlich den Figuren, die er malte und die, in den meisten Details, byzantinischen Vorbildern glichen. Kein anderer kannte die französische Dichtung so gut wie er. Es genügte die kleinste Anspielung auf einen Text – und wäre es der abwegigste gewesen, der verlorenste im Reich der französischen Literatur des Mittelalters −, daß er ihn in perfektester Aussprache und mit Bravour zuende rezitierte.
Odysseas Elytis
während der Anfänge der surrealistischen Bewegung in Griechenland war, daß Nikos Engonopoulos, dessen Gedichte urplötzlich und mit ungewöhnlicher Kraft einschlugen, den Flügel der „Kompromißlosen“ stärkte. Er war ein geborener Orthodoxer. Vom Surrealismus durchdrungen wie von Elektrizität der Lichtmast. Der keine Berührung duldete, es sei denn, man war ihm zuliebe bereit, einen starken Schlag auszuhalten. Unnahbar, mißtrauisch, streitsüchtig, hatte er es lange Zeit abgelehnt, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber seine Stimme, und sei es nur von weitem, erreichte uns doch sofort…
Odysseas Elytis
Das Griechische, zumal in seiner irisierenden Idealisierung, war schon immer ein Fluchtpunkt idealer Entwürfe, ein konturiertes Bild des Menschen im Sosein seiner Möglichkeiten – gleichgültig, ob es nun „des Anciens“ oder „des Modernes“ betraf. So fern uns dieses ideale Bild immer schon war, so elementar sind wir in unseren europäischen Lebenswelten auf seine axiomatischen Kernaussagen bezogen. Alles Lebendige, so etwa sagt Aristoteles in unnachahmlicher Nüchternheit, trägt das Prinzip seines Geschehens, seine αρχή (arché) in sich. Alles Griechische trägt das Prinzip seiner Größe und seines Scheiterns gerade auch heute in sich, ob man es nach vorne oder rückwärts gerichtet denkt. Eine der vielen Verstörungen für einen zeitgenössischen Griechen ist neben dem Schmerz dieses Scheiterns die Wahrheit, die es an seinen Rändern der Niederlage für die übrige Welt der Funktionstüchtigen, der Leistungsfähigen, all der sprachverarmten Stützen von Wirtschaft und Gesellschaft entwickelter Nationen bietet: Sonnt euch nicht in euren dürftigen Erfolgen, den hochgezüchteten Informationssystemen, die uns, mehr als uns lieb sein kann, im Griff haben – wahrlich eine Kommunikation, die sich selber mit den Subjekten an den Rändern kommuniziert. Wir sind Zeugen einer ungeheuren, zunehmenden Verarmung an Sprachfähigkeit, an Vermögen, sich in Beziehung zu anderen zu setzen, an einem Sich-selber-lebendig-Spüren, das immer auch eine Dimension der Demut und des gestaltenden Entwurfes von Lebensbildern für sich und andere bietet. In dieser verstörenden Zeit des Scheiterns von Europa, des an seine Grenzen stoßenden Sozialstaats westlicher Prägung, der Fragwürdigkeit, ob moderne leistungsfähige Wirtschaftssysteme genug Gewinn abwerfen, damit Armut, Bildungsnotstand und kulturelle Verarmung vermeidbare Randphänomene bleiben, des Leidens arbeitender Menschen an ihrer Arbeit und der mannigfaltig Flüchtenden in eine Sphäre innerlichkeitstrunkener Verblödung, ist die Lektüre der Gedichte von Engonopoulos ein wahres Remedium.
Schaut man auf die Ergebnisse literarhistorischer Klassifizierungsbedürfnisse, so wird man ihn als einen Dichter des Surrealismus wiederfinden. Da der Surrealismus von den Absurditäten unseres heutigen Lebens auf vielgestaltige Weise eingeholt wurde, könnte man meinen, es sei obsolet, sich mit einem griechischen Dichter dieser eingeordneten und etwas angestaubten literarischen Epoche zu beschäftigen.
DAS GEDÄCHTNIS
… les croque-morts porteraient des gants transparents,
afin de rappeler aux amants le souvenir des caresses.
Fr. Picabia
Ich löse ihr Haar, versenk meine Hände in ihren dichten Flechten, und mein Lachen hallt wieder über Berge, Täler, Bäche, Bergesgipfel unter ewigem Schnee. Das Flehen ihrer weißen Augen bricht mir das Herz: ich muss wieder Bäume ausreißen, den Bach wieder fließen lassen, erneut müssen die schwarzhaarigen schönen Töchter kommen, ihre Brüste mit den Wassern des rosa Springbrunnens netzen. Ich muss, muss, muss…
Ich zerreib zwischen meinen höflichen Handflächen die Rose der Freude. Ich öffne den Käfig der Vögel, dass sie frei fliegen können hinaus in die Nacht.
Aus dem Spülbecken schlüpft plötzlich ein Engel.
Ich heiße ihn willkommen, biete ihm Briefmarken an, Feigen, Löwenfelle, Küsse.
Ich stehe vor dem Eingang zur Villa. Ich erforsche den Horizont und, mich bückend, suche ich mit den Fingern die Grabplatte zu säubern, dass Selene kommen und sich anlehnen kann.
Plötzlich, eine Stimme:
„Nikos Engonopoulos, das hättest du nicht tun sollen!“
Da, weinend, setzen wir uns alle rings um den Tisch mit der roten Decke, auf der eine Schale mit verschrumpeltem Obst uns der Vergeblichkeit jeder menschlichen Erwartung als auch Hoffnung erinnert.
Ins Deutsche übertragen von Ina und Asteris Kutulas
Diese Zeilen bieten Bilder von Verstörendem und merkwürdig Wohltuendem zugleich. Das lyrische Subjekt bewahrt gerade im Entwurfscharakter seiner Bilder, seines Vollzugs einer Teilhabe am Gesehenen, an der Sprache gewordenen Kontur ein Gleichgewicht des Sich-in-Beziehung-Setzens mit dem lyrischen Geschehen, ein Geschehen, das das Prinzip seines Wirkens in sich trägt und uns staunend daran teilhaben lässt.
DER HEIMLICHE DICHTER
hommage à ravel
der Schatten des Sees
dehnte im Zimmer sich aus
und unter jedem Stuhl
und sogar unterm Tisch
und hinter den Büchern
und in den dunklen Blicken
der gipsernen Modelle
zu vernehmen wie ein Flüstern
das Lied des
heimlichen Orchesters
des toten Dichters
und da trat ein die Frau, die ich so lang
erwartet
nackt
gekleidet in Weiß
unterm Mondlicht
mit gelöstem Haar
mit langen grünen Gräsern in den Augen
die kaum merklich schwankten
gleich den Schwüren
die niemals geleistet
in fernen namenlosen Städten
und in leeren
zerfallnen
Fabriken
und auch ich gedachte mich zu verlieren
wie der tote Dichter
in ihren langen
Haaren
mit ein paar Blumen
die ihre Kelchblätter öffnen
am Abend
und
sie schließen
am Morgen
dazu etwas Trockenfisch
der aufgehängt wurde
an einer Schnur
ganz oben
unter des Kohlenkellers Decke
und so fortgehn
weit weg
von Tumult
und Krach
auf dem Schießplatz
fortgehn weit fort
im Glas der zersplitterten
Fensterscheiben
und leben
ewig
oben an der Decke
aber
immer
in den Augen haben
die geheimnisvollen Lieder
des erstorbnen Orchesters
des
Dichters
Ins Deutsche übertragen von Ina und Asteris Kutulas
In Gedichten wie „Der heimliche Dichter“, aber auch in anderen Versen von Engonopoulos drückt sich weniger eine surreale Poetisierung des Weltlichen aus als etwas, das man einen lyrischen Realismus nennen könnte. Das Begegnende bedarf weder einer surrealen Zuspitzung noch einer irgendwie gearteten Poetisierung als kunstvoller Überhöhungshandlung. Das Lyrische, das uns in den Gedichten von Engonopoulos begegnet, ist Gesehenes, Verstandenes, Erkanntes in seinem Sosein der Weltbegegnung eines Dichters von Rang, auf eine einfache Weise ausgesprochen. Es ereignet sich auf seine eigene Weise, ist man nur bereit, zu hören und zu sehen. Diese Dichtung mutet wie eine Kunst des Syllabierens an, eine Buchstaben- und Wörterlehre für den, der bereit ist mitzugehen: „Ich zerreib zwischen meinen höflichen Handflächen die Rose der Freude. Ich öffne den Käfig der Vögel, dass sie frei fliegen können hinaus in die Nacht“ (aus: „Das Gedächtnis“). Das ist das Heilsame der Dichtung von Engonopoulos: eine traumwandlerische Bildersprache der geschichtlich verwobenen Innenwelten, eine Sphäre der Selbstbegegnung im Trümmerfeld historischer Trübsal.
So viele Verstörungen gibt es im Leben eines modernen Griechen, der sich etwa die Idolisierung Griechenlands im Deutschland des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigt, der etwa Hölderlins hellenisches Ideal der intim verdichteten Nähe in den Diotima-Gedichten goutiert, der auch das moderne Griechenland in seiner menschlichen Größe, seiner μεγαλοψνχἰα (megalopsychia) des Alltags schätzt, jenseits der Abgründe eines überbordenden Individualismus, der sich bis hierher der staatlichen Organisierungskunst erfolgreich widersetzt hat. Da ist etwas, das das Griechische auch heute noch ausmacht, schwindender freilich. Auch hier verselbstständigen sich die machtvollen Eigentümlichkeiten einer modernen Kommunikation und Lebenshaltung. Doch richten wir unseren Blick auf Angenehmeres. Denken wir an ein Dorf, irgendwo auf einer Insel in Griechenland oder auf dem Festland. Reisende sind heimgekehrt. Die Familie versammelt sich. Nichts anderes als Stühle in einem Raum, eine Tür, ein Fenster. Der Boden aus grobem Holz. Die hohen Stimmen der Frauen, das tiefere Gemurmel der Männer. Es werden Kaffee und Süßigkeiten gereicht. Der fein gesponnene Ablauf einer Würdigung der Ankunft von Ferngewesenen, ein Jetztpunkt im verfließenden Ganzen dieses Lebens: „die Reisenden sagst du gingen kamen / lösten auf den Zauber / lösten die Taue / die sie an die Mole gebunden hielten“ („Kaffeehäuser und Kometen nach Mitternacht“).
Die Trauer überwiegt in diesen Gedichten eines lyrischen Realismus, sie entspricht der Selbst- und Weltwahrnehmung seit der Spätantike: „Die Geschichte! / welch gedankenlose Informationen sie aufbewahrte / welch lancierte Gerüchte sie weitertrug! / welche Bosheiten und Intrigen!“ („Das Kästchen der Pandora“)
Und doch gibt es einen Trost in dieser Dichtung, marginal und dürftig, der Schwere der Zeitläufte des schäbigen 20. Jahrhunderts würdig. Es ist das Handwerk des Dichters, das dann beginnt, wenn die Tauben auf den Bäumen eingeschlafen sind. Noch in der Trostlosigkeit dieses Daseins artikuliert sich eine Stimme des Widerständigen, der sich nicht mit den Dingen abfinden mag: „Ich muss, muss, muss…“ („Das Gedächtnis“) Und das ist ein Trost, der vielleicht würdiger ist als mancher wohlmeinende Zuspruch unserer heutigen Selbstgestaltungstechniken. In dieser Dürftigkeit der widerständigen Kraft des poetischen Blickes öffnet sich eine Fülle des Verstörenden in der Dichtung von Nikos Engonopoulos.
und doch der Garten
– sag ich –
mit den zahllosen Fenstern
war riesig
und sein Grün
reicht bis nah ans Meer
(aus: Der Granatapfelbaum = SO4H2)
Grigoris Katsakoulis, die horen, Heft 249, Wallstein Verlag, 1. Quartal 2013
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