– Nach Georg Trakls Gedicht „Verfall“. –
GEORG TRAKL
Verfall
Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.
Nichts wird hier je für Astern sprechen,
es wächst nur Sperrmüll durch das Hinterhaus.
Kinder gibt es, die beim Glascontainer spielen,
Gitter, die vorm Kellerfenster rosten,
und Bäume, die ihr Laub verlieren.
Eine Flasche Wodka haucht ihr Leben aus.
Wolken suppen durch die Fensterritzen,
die Zeit erstarrt auf einem Plastikziffernblatt.
Wer träumt hier noch von hellen Wiesen,
träumt je nur aus dem Hofkarree heraus?
Der Herbst stinkt lau nach Kerosingewürzen,
die Nachbarn streiten zwischen Matt und Patt,
unnahbar kratzt ein Flieger über Neubauriesen.
Das letzte Bisschen Frieden geht auf Raten aus.
Nora Bossong, aus Mirko Bonné und Tom Schulz (Hrsg.): TRAKL und wir. Fünfzig Blicke in einen Opal, Stiftung Lyrik Kabinett, 2014
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